III

ÄBTISSIN HILDA STAND AN IHREM FEN-

ster in Streoneshalh und schaute auf den kleinen Hafen an der Flußmündung hinab. Im Hafen herrschte emsige Betriebsamkeit. Winzige Gestalten liefen eilig hin und her, um die vielen Schiffe zu entladen, die im Schutze des Hafenbeckens vor Anker gegangen waren.

«Seine Gnaden, der Erzbischof von Canterbury, und seine Gefolgschaft sind sicher gelandet», sagte sie bedächtig. «Und ich habe die Kunde erhalten, daß mein Vetter, der König, morgen mittag eintreffen wird. Unsere Beratungen können also wie geplant morgen abend beginnen.»

Hinter ihr, vor dem schwelenden Feuer in ihrem düsteren Gemach, saß ein hakennasiger, dunkelhäutiger Mann mit selbstherrlichem Gebaren. Er wirkte wie ein Mensch, der es gewohnt war, Befehle zu geben und diese Befehle auch befolgt zu sehen. Obgleich er das Gewand eines Abts trug, war an dem Kruzifix und seinem Ring unschwer zu erkennen, daß er gleichzeitig auch den Rang eines Bischofs innehatte. Und der von der Stirn bis zu einer von Ohr zu Ohr verlaufenden Linie kahlgeschorene Kopf zeigte auf den ersten Blick, daß er den Lehren Ionas verpflichtet war.

«Das ist gut», sagte er. Er sprach sächsisch und betonte dabei langsam und ausdrücklich jede einzelne Silbe. «Es kann nur Gutes verheißen, wenn wir unsere Beratungen am ersten Tag eines neuen Monats beginnen.»

Die Äbtissin wandte sich vom Fenster ab und sah ihn mit leuchtenden Augen an.

«Noch nie zuvor hat es eine so wichtige Versammlung von Kirchenführern gegeben, werter Colman.»

Colmans dünne Lippen zuckten verächtlich.

«Auf Northumbrien mag diese Bemerkung zutreffen. Ich kann mich allerdings an viele wichtige Synoden erinnern. In Druim Ceatt zum Beispiel, wo unser heiliger Columcille den Vorsitz führte, fand eine für unseren Glauben in Irland äußerst wichtige Versammlung statt.»

Die Äbtissin beschloß, den leicht herablassenden Ton des Abts von Lindisfarne zu überhören. Drei Jahre waren vergangen, seitdem Colman von Iona gekommen war, um als Bischof von Northumbrien die Nachfolge des seligen Finan anzutreten. Doch die beiden Männer hätten gar nicht unterschiedlicher sein können. Finan galt manchen zwar als Mann von grimmigem Temperament, doch war er ernsthaft, höflich und eifrig darauf bedacht, den Glauben zu lehren. Vor allem aber behandelte er alle Menschen wie seinesgleichen. Auf diese Weise war es ihm sogar gelungen, den grimmigen Heidenkönig Peada von Mittelanglien, einen Sohn Pendas von Mercia, der Geißel der Christenheit, zum Glauben zu bekehren und zu taufen. Colman dagegen war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er behandelte Angeln wie Sachsen mit unverhohlener Herablassung, ließ sich verächtlich darüber aus, daß sie gerade erst mit den Lehren Christi in Berührung gekommen waren, und verlangte von ihnen, daß sie alle seine Anordnungen unwidersprochen befolgten. Auch ließ er es sich in seinem Stolz nicht nehmen, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß es die Mönche von Iona gewesen waren, die den Northumbriern das Lesen und Schreiben beigebracht hatten. Der neue Bischof von Northumbrien begriff sich als Herrscher der Kirche und machte kein Hehl aus seiner Abneigung gegen jeden, der es wagte, seine Macht in Frage zu stellen.

«Wer wird die Eröffnungsrede für die Lehren Columcilles halten?» fragte Hilda.

Die Äbtissin machte kein Geheimnis daraus, daß sie der Kirche Columcilles folgte und den Lehren Roms widersprach. Als junges Mädchen war Hilda von dem Römer Paulinus getauft worden, der von Canterbury zur Bekehrung der Northumbrier zur Kirche Roms ausgeschickt worden war. Aidan, dem ersten Missionar von Iona, war es jedoch gelungen, überall dort, wo Paulinus der Erfolg versagt geblieben war, die Bekehrung Northumbriens voranzutreiben. Aidan war es auch gewesen, der Hilda davon überzeugt hatte, in den Stand der Geistlichkeit einzutreten. Ja, ihre Frömmigkeit und Gelehrsamkeit erwies sich bald als so groß, daß Aidan sie zur Äbtissin eines neuen Klosters in Heruteu weihte. Ihre Frömmigkeit hatte vor nunmehr sieben

Jahren zum Bau einer neuen Abtei namens Streo-neshalh - «große Halle an der Küste» - geführt. Unter ihrer Leitung war die Abtei seit dieser Zeit zu einer eindrucksvollen Ansammlung mächtiger Gebäude angewachsen. Noch nie zuvor hatte Northumbrien so prächtige Bauten gesehen. Und es dauerte nicht lange, bis Streoneshalh im gesamten Königreich als eines der wichtigsten Zentren der Gelehrsamkeit galt. Dieser Ruhm hatte sicherlich dazu beigetragen, daß König Oswiu die Abtei zum Schauplatz des großen Disputs zwischen den Anhängern Ionas und Roms gewählt hatte.

Selbstgefällig faltete Colman die Hände vor dem Bauch. «Wie Euch bekannt ist, habe ich viele Menschen von großem Wissen und höchster Begabung nach Streoneshalh berufen, um die Sache unserer Kirche würdig zu vertreten», sagte er. «Allen voran Etain, die Äbtissin von Kildare. Bei solchen Gelegenheiten stelle ich immer wieder fest, daß ich ein zu einfacher, geradliniger Mann bin und über zu wenig gelehrsamen Hintersinn verfüge. Im akademischen Disput ist derjenige, der mit einfachen Worten offen seine Ansicht vertritt, gegenüber jenen, die Geist und Witz versprühen, um das Publikum auf ihre Seite zu ziehen, deutlich im Nachteil. Äbtissin Etain ist eine Frau von großer Wortgewalt, und sie wird für uns die Eröffnungsrede halten.»

Hilda nickte zustimmend.

«Ich hatte bereits Gelegenheit, mit Etain von

Kildare zu sprechen. Ihr Geist ist ebenso scharf wie ihr Äußeres anziehend.»

Colman schnaubte mißbilligend. Äbtissin Hilda hob eine Hand, um ihr Lächeln zu verbergen. Sie wußte, daß Colman sich nicht viel aus Frauen machte. Er gehörte zu den Asketen, die der Ansicht waren, daß die Ehe mit einem spirituellen Leben nicht zu vereinbaren sei. Dem weitaus größten Teil der christlichen Geistlichkeit in Irland und Britannien galten Ehe und Fortpflanzung nicht als Sünde. Im Gegenteil, in vielen Abteien lebten Ordensbrüder und -schwestern zusammen und wirkten gemeinsam an der Förderung ihres Glaubens. Auch Hildas Abtei Streoneshalh war ein solches Doppelhaus, in dem Männer und Frauen ihr Leben und ihre Kinder dem Werk Gottes weihten. Rom dagegen räumte zwar ein, daß selbst Petrus, der wichtigste aller Apostel, verheiratet gewesen war und der Apostel Philippus nicht nur eine Frau, sondern auch vier Töchter gehabt hatte, aber es war allgemein bekannt, daß die römischen Bischöfe den von Paulus befürworteten Zölibat am liebsten für alle Geistlichen verbindlich vorschreiben würden. Hatte Paulus den Korinthern nicht geschrieben, Ehe und Fortpflanzung seien zwar keine Sünde, aber dem Zölibat der Glaubensbrüder unterlegen? Und doch waren die meisten römischen Geistlichen, sogar Bischöfe, Äbte und andere hohe Würdenträger weiterhin verheiratet. Nur die Asketen trachteten danach, allen Versuchungen des Fleisches zu entsagen, und Colman war einer von ihnen.

«Ich nehme an, daß Wilfrid von Ripon die Eröffnungsrede für die römische Seite halten wird, auch wenn Deusdedit von Canterbury anwesend ist. Mir wurde gesagt, Deusdedit sei kein großer Redner», wechselte Colman das Thema.

Äbtissin Hilda schüttelte den Kopf.

«Meines Wissens wird Agilbert, der fränkische Bischof von Wessex, den Disput für sie eröffnen.»

Colman hob überrascht die Augenbrauen.

«Ich dachte, Agilbert habe sich mit dem König von Wessex überworfen und sei in seine Heimat zurückgekehrt?»

«Nein, er hält sich schon seit mehreren Monaten bei Wilfrid in Ripon auf. Schließlich war es Agilbert, der Wilfrid zum Glauben bekehrt und getauft hat. Sie sind gute Freunde.»

«Ich habe von Agilbert gehört. Ein fränkischer Aristokrat. Sein Vetter Audo ist der fränkische Prinz, der in Jouarre eine Abtei gegründet hat, welche seine Schwester Telchilde als Äbtissin führt. Agilbert hat gute Verbindungen und ist sehr einflußreich. Ein Mann, vor dem man sich in acht nehmen muß.»

Colman schien seine Warnung gerade bekräftigen zu wollen, als es an der Tür klopfte.

Auf Äbtissin Hildas Zuruf öffnete sich die Tür.

Eine junge Ordensschwester stand auf der Schwelle. Sie war hochgewachsen, und ihre anmutige Gestalt strahlte, wie die wachen Augen der Äbtissin sofort bemerkten, jugendliche Lebenskraft aus.

Ein paar widerspenstige rote Haarsträhnen schauten unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Sie hatte ein ansprechendes Gesicht - nicht schön, dachte Hilda, aber ansprechend. In diesem Augenblick bemerkte die Äbtissin, daß sie ebenfalls von einem Paar wachsamer, heller Augen gemustert wurde. In dem spärlichen Licht vermochte sie jedoch nicht auszumachen, ob die Augen der jungen Ordensschwester grün oder blau schimmerten.

«Was ist, mein Kind?» fragte die Äbtissin.

Fast ein wenig kampflustig schob die junge Frau das Kinn vor und stellte sich auf irisch vor.

«Ich bin gerade angekommen, Mutter Oberin, und wurde gebeten, Euch und Bischof Colman meine Anwesenheit zu melden. Mein Name ist Fidelma von Kildare.»

Ehe die Äbtissin noch fragen konnte, warum eine irische Nonne für würdig befunden worden war, ihnen ihre Anwesenheit zu melden, hatte sich der Bischof auch schon von seinem Stuhl erhoben und ging mit ausgestreckten Händen auf die junge Frau zu, um sie willkommen zu heißen. Hilda schaute ihn verwundert an. Es sah dem hochmütigen Colman, der für Frauen sonst häufig nur Verachtung übrig hatte, gar nicht ähnlich, sich zur Begrüßung einer jungen Ordensschwester zu erheben.

«Schwester Fidelma!» sagte Colman mit freudig erregter Stimme. «Euer Ruf eilt Euch voraus. Ich bin Colman.»

Die junge Ordensschwester nahm seine Hand und neigte den Kopf. Hilda hatte sich schon an die mangelnde Unterwürfigkeit der Iren gegenüber ihren Oberen gewöhnt, welche sich grundlegend von der demütigen Art der Sachsen unterschied.

«Das ist zuviel der Ehre, Euer Gnaden. Ich wußte gar nicht, daß ich einen Ruf besitze.»

Die wachen Augen der Äbtissin sahen das belustigte Lächeln, das die Lippen der jüngeren Frau umspielte. Es war schwer zu sagen, ob sie nur bescheiden war oder sich über den Bischof lustig machen wollte. Die hellen Augen - inzwischen war sich Hilda sicher, daß sie grün waren - wandten sich fragend in ihre Richtung.

Verlegen, weil er die Äbtissin vernachlässigt hatte, wandte Colman sich um.

«Dies ist Äbtissin Hilda von Streoneshalh.»

Schwester Fidelma trat vor und neigte den Kopf über Hildas Ring.

«Seid mir willkommen, Fidelma von Kildare», sagte Hilda, «auch wenn ich gestehen muß, daß der Bischof von Lindisfarne mich bisher, was Euren Ruf betrifft, in Unkenntnis gelassen hat.»

Hilda sah den hakennasigen Colman herausfordernd an.

«Schwester Fidelma ist eine hochangesehene dalaigh der irischen Brehon-Gerichtsbarkeit», erklärte Colman.

Äbtissin Hilda runzelte die Stirn.

«Ich fürchte, ich bin mit dieser Bezeichnung nicht vertraut», erwiderte sie und sah die junge Frau fragend an.

Eine zarte Röte stieg in Schwester Fidelmas Wangen, als sie es mit leicht atemloser Stimme zu erklären versuchte.

«Ich bin eine Gesetzeskundige, eine Advokatin, berechtigt, vor den Gerichten meines Landes aufzutreten, um all jene anzuklagen oder zu verteidigen, die sich vor dem Gesetz verantworten und dem Urteil unserer Richter, den brehon, beugen müssen.»

Colman nickte. «Schwester Fidelma hat den Rang einer anruth errungen, den zweithöchsten Rang im Rechtswesen unseres Landes. Die Kunde von ihrem Scharfsinn und ihrer Gelehrsamkeit ist bis zu den Glaubensbrüdern von Lindisfarne gedrungen. Selbst dem Hochkönig in Tara hat sie bei der Lösung einer höchst heiklen Angelegenheit hilfreich sein können.»

Fidelma hob abwehrend die Hand.

«Ihr tut mir wirklich zuviel Ehre», sagte sie. «Jeder hätte diese Sache lösen können, wenn man ihm nur Zeit genug gegeben hätte.»

Es lag keine falsche Bescheidenheit in ihrer Stimme. Sie hatte einfach nur ihre Meinung kundgetan.

Äbtissin Hilda betrachtete sie neugierig. «Eine angesehene Gesetzeskundige, so jung und eine Frau? Leider ist es unseren Frauen nicht vergönnt, solch hohe Ränge anzustreben, die ausschließlich den Männern vorbehalten sind.»

Schwester Fidelma nickte bedächtig.

«Auch mir ist schon zu Ohren gekommen, daß die Frauen bei den Angeln und Sachsen verglichen mit ihren Schwestern in Irland viele Nachteile hinnehmen müssen.»

«Mag sein», versetzte Colman in herablassendem Ton. «Doch vergeßt nicht, was das Buch der Bücher sagt: »

Hilda warf Colman wütende Blicke zu. Daß er Northumbrien mit einer Wildnis verglich, war nur ein weiteres Zeichen seiner Überheblichkeit, die sie in den letzten Jahren mehr und mehr verärgert hatte. Fast hätte sie ihm heftige Widerworte gegeben, doch sie besann sich und wandte sich wieder Fidelma zu. Beunruhigt stellte sie fest, daß die hellen, grünen Augen sie so forschend betrachteten, als hätte die junge Frau ihre Gedanken gelesen.

Fast herausfordernd sahen die beiden einander an, dann brach Bischof Colman schließlich das Schweigen.

«Ich hoffe, Schwester, Eure Reise ist ohne weitere Vorkommnisse verlaufen?»

Schwester Fidelma runzelte die Stirn.

«Leider nicht. Nicht weit von hier trafen wir auf einen Mann namens Wulfric. Er behauptete, dort der Herr und Richter zu sein ...»

«Ich kenne ihn», warf Äbtissin Hilda ein. «Wul-fric von Frihops Halle liegt fünfzehn Meilen östlich von hier. Was war mit ihm, Schwester?»

«An einem Baum an einer Wegkreuzung fanden wir einen Bruder, den er hat hängen lassen. Wulfric behauptete, der Mönch sei hingerichtet worden, weil er ihn beleidigt habe. Der Bruder trug die Tonsur unserer Kirche, Bischof Colman, und Wul-fric machte kein Geheimnis daraus, daß er aus Eurer Abtei in Lindisfarne stammte.»

Colman biß sich auf die Lippe und unterdrückte ein Aufstöhnen.

«Das muß Bruder Aelfric gewesen sein. Er war auf der Rückkehr von einer Mission in Mercia und wollte sich hier mit uns treffen.»

«Aber wieso sollte Aelfric den Than von Frihop beleidigen?» fragte Äbtissin Hilda.

«Wenn Ihr erlaubt, Mutter Oberin», antwortete Schwester Fidelma, «ich hatte den Eindruck, daß das bloß eine Ausrede war. In besagtem Streit ging es um die Unterschiede zwischen Rom und Iona, und Wulfric gab sich als Anhänger Roms zu erkennen. Ich nehme an, Bruder Aelfric wurde förmlich zu einer Beleidigung gedrängt und dann dafür hingerichtet.»

Hilda musterte die junge Frau aufmerksam.

«Ihr habt viel Erfahrung mit rechtlichen Urteilen und einen scharfen Verstand, Fidelma von Kildare. Aber wie Ihr sehr wohl wißt, sind Vermutungen eine Sache, Beweise für Eure Behauptungen jedoch eine andere.»

Schwester Fidelma lächelte sanft.

«Es war nicht meine Absicht, ein rechtliches

Urteil zu fallen, Mutter Oberin. Dennoch glaube ich, Ihr tätet gut daran, ein Auge auf Wulfric von Frihop zu halten. Wenn er ungestraft einen Geistlichen hängen kann, nur weil sich dieser für die Liturgie von Columcille ausspricht, schwebt jeder von uns, der nach Streoneshalh kommt, um dafür einzutreten, in Lebensgefahr.»

«Wulfric von Frihop ist uns bekannt. Er ist Alh-friths rechte Hand, und Alhfrith ist Unterkönig von Deira», erwiderte Hilda in scharfem Ton. Dann seufzte sie achselzuckend und fügte etwas freundlicher hinzu: «Und seid Ihr gekommen, um an dem Disput teilzunehmen, Fidelma von Kilda-re?»

Die junge Ordensschwester lachte bescheiden.

«Unter all den großen Rednerinnen und Rednern, die sich hier versammelt haben, meine Stimme zu erheben, wäre reine Anmaßung. Nein, Mutter Oberin, ich bin nur hier, um rechtliche Ratschläge zu erteilen. Unsere Kirche, deren Lehren Ihr folgt, ist den Gesetzen unseres Volkes unterworfen, und Äbtissin Etain, die für unsere Kirche sprechen wird, bat mich herzukommen, falls es eines rechtlichen Ratschlags oder einer Erklärung in dieser Sache bedarf. Das ist alles.»

«Dann seid uns um so herzlicher willkommen, denn Euer Scharfsinn wird uns auf der Suche nach der Wahrheit äußerst nützlich sein», antwortete Hilda. «Und keine Angst, was Wulfric betrifft, wird Euer Rat nicht ungehört bleiben. Ich werde über die Sache mit König Oswiu, meinem Vetter, sprechen, wenn er morgen kommt. Schließlich stehen beide, Iona und Rom, unter dem Schutz des Königshauses von Northumbrien.»

Schwester Fidelma verzog das Gesicht. Der Schutz des Königshauses hatte Bruder Aelfric wenig genutzt. Doch sie beschloß, das Thema zu wechseln.

«Fast hätte ich vergessen, warum ich Euch eigentlich gestört habe.»

Sie griff in ihr Habit und holte zwei Päckchen heraus.

«Ich bin von Irland über Dal Riada und die heilige Insel Iona gereist.»

Äbtissin Hildas Augen glänzten.

«Ihr wart auf der heiligen Insel, wo der große Columban gelebt und gearbeitet hat?»

«Und habt Ihr den Abt getroffen?» wollte Colman wissen.

Fidelma nickte.

«Ich habe Cummene den Gerechten gesehen. Er läßt Euch beide herzlich grüßen und hat mir diese Briefe für Euch mitgegeben.» Sie reichte ihnen die Päckchen. «Natürlich ist er sehr dafür, daß Northumbrien auch weiterhin an der von Colum-cille praktizierten Liturgie festhält. Außerdem hat Cummene Finn der Abtei von Streoneshalh durch mich ein Geschenk zukommen lassen, das ich bereits bei Eurem librarius abgegeben habe. Es ist eine Kopie von Cummenes Schrift über Columcille und dessen wundersame Kräfte.»

Äbtissin Hilda nahm den ihr zugedachten Brief.

«Der Abt von Iona ist großmütig und weise. Wie sehr ich Euch um Euren Besuch an einem so heiligen Ort beneide. Wir verdanken dieser kleinen Insel soviel. Ich freue mich schon jetzt darauf, Cummenes Buch zu studieren. Aber zunächst will ich mich in diesen Brief vertiefen ...»

Schwester Fidelma neigte den Kopf.

«Dann werde ich mich jetzt zurückziehen und Euch mit Euren Briefen alleine lassen.»

Colman hatte sich bereits über das Pergament gebeugt und schaute kaum auf, als Fidelma sich kurz verneigte und zur Tür hinausging.

Draußen, in dem mit Steinplatten ausgelegten Kreuzgang, hielt Schwester Fidelma inne und lächelte in sich hinein. Trotz der Erschöpfung von der langen Reise war sie in einer seltsam erregten Stimmung. Noch nie zuvor hatte sie Irland verlassen, und jetzt hatte sie nicht nur die graue, stürmische See nach Iona überquert, sondern war durch Dal Riada und Rheged bis nach Northumbrien gereist und hatte in kürzester Zeit drei verschiedene Länder kennengelernt. Es gab so viel zu sehen und zu bedenken.

Nun standen sie am Vorabend des mit Spannung erwarteten Disputs zwischen den Anhängern Roms und denen ihrer eigenen Kirche. Sie würde nicht nur Zeugin dieses wichtigen Ereignisses werden, sondern sollte auch selbst ihren Beitrag leisten. Das

Bewußtsein, jetzt an diesem Ort dabeizusein, während Geschichte geschrieben wurde, war überwältigend. Wenn sie nicht unter dem großen Brehon Morann von Tara das Gesetz studiert hätte, wäre sie wohl Geschichtsgelehrte geworden, dachte Fidelma oft. Aber dann hätte Äbtissin Etain von Kildare sie gewiß nicht aufgefordert, sich der Mission anzuschließen, zu der sie auf Einladung Bischof Colmans nach Streoneshalh aufgebrochen war.

Etains Ruf hatte Fidelma auf einer Pilgerfahrt nach Armagh erreicht. Fidelma war überrascht gewesen, denn als sie die Abtei in Kildare verlassen hatte, war Etain noch nicht Äbtissin gewesen. Sie kannte Etain seit vielen Jahren, wußte, was für eine große Gelehrte und ausgezeichnete Rednerin sie war. Deshalb war sie ihr auch als einzig richtige Wahl als Nachfolgerin der verstorbenen Äbtissin erschienen. Fidelma erfuhr, daß Etain bereits auf dem Weg nach Streoneshalh war, und beschloß daher, zunächst zum Kloster Bangor und anschließend über die stürmische Meerenge nach Dal Ria-da zu reisen. In Iona hatte sie sich dann Bruder Taran und seinen Gefährten angeschlossen, die ebenfalls nach Northumbrien unterwegs gewesen waren.

Außer Fidelma war nur noch eine Frau dabeigewesen: Bruder Tarans Landsmännin, die junge Schwester Gwid. Gwid war schlaksig und grobknochig, und ihre Hände und Füße waren viel zu groß, so daß sie auf den ersten Blick linkisch und unbeholfen wirkte. Dennoch schien sie stets darauf bedacht, es allen recht zu machen, und übernahm bereitwillig jede Aufgabe, mochte sie auch noch so stumpfsinnig sein. Erst später erfuhr Fidelma, daß Schwester Gwid nach ihrer Bekehrung zuerst in Iona und später in der Abtei von Emly studiert hatte, als Etain dort noch eine einfache Lehrerin gewesen war.

Besonders gut kannte sie sich, wie Fidelma mit Erstaunen hörte, mit der griechischen Sprache und den Schriften der Apostel aus.

Schwester Gwid vertraute Fidelma an, daß sie gerade auf der Heimreise nach Iona gewesen sei, als auch sie von Äbtissin Etain die Aufforderung bekommen habe, nach Northumbrien zu eilen und ihr während der Versammlung als Sekretärin zur Seite zu stehen. Gemeinsam schlossen sich Gwid und Fidelma daher auf der gefahrvollen Reise nach Süden der von Taran geführten Gruppe an.

Die Reise mit Bruder Taran hatte Fidelmas Abneigung gegen die von den Pikten abstammenden Ordensbrüder bestätigt. Taran war sich seines guten Aussehens sehr bewußt und schrecklich eitel. Er erinnerte Fidelma an einen Bantamhahn, der sich ständig putzte und wichtigtuerisch herumstolzierte. Da er sowohl die Angeln als auch die Sachsen sehr gut kannte, stellte sie seine Fähigkeit, sie durch das feindliche Land zu führen, nicht in Frage. Als Mann jedoch fand sie ihn schwach und wankelmütig. In einem Augenblick versuchte er, die Menschen um sich herum zu beeindrucken, im nächsten erwies er sich - wie beim Zusammentreffen mit Wulfric - als zaghaft und feige.

Fidelma schüttelte den Kopf. Die Reise mit Ta-ran lag hinter ihr. Jetzt gab es anderes zu bedenken. Neue Erlebnisse, neue Eindrücke, neue Menschen.

«Oh!» rief sie erschrocken, als sie um eine Ecke bog und mit einem jungen Mönch zusammenstieß.

Nur die Tatsache, daß er sie mit starken Händen auffing, rettete sie davor, rückwärts zu stolpern und zu stürzen.

Einen Augenblick lang starrten sie sich an. Ja, ihre Blicke schienen sich gar nicht mehr voneinander lösen zu wollen. Dann bemerkte Fidelma die römische Tonsur des jungen Mannes. Offenbar war er Sachse und gehörte zur römischen Delegation.

«Verzeihung», sagte sie steif auf lateinisch, weil sie vermutete, daß er ihre Sprache nicht verstand. Dann bemerkte sie, daß er sie noch immer festhielt, und zog sanft ihren Arm zurück.

Der junge Mönch ließ sie los, machte einen Schritt zurück und kämpfte erfolgreich gegen seine Verwirrung an.

«Mea culpa», erklärte er ernst und strich mit der rechten Faust über seine Brust. In seinen dunkelbraunen Augen glaubte Fidelma jedoch ein verschmitztes Lächeln zu sehen.

Fidelma zögerte, dann neigte sie höflich den Kopf, und während sie weiterging, fragte sie sich, warum das Gesicht des jungen Sachsen sie so gefesselt hatte. Vielleicht lag es an dem hintergründigen Humor, der in seinem Blick aufgeblitzt war. Sie hatte bisher noch nicht viele Sachsen kennengelernt, doch war keiner von ihnen besonders humorvoll gewesen. Auf einen Sachsen zu treffen, der nicht mürrisch und verdrießlich und bei der kleinsten Sache eingeschnappt war, war für sie etwas Neues. Die meisten waren ihr mißmutig und reizbar erschienen. Fidelma hatte es sich stets so erklärt, daß es sich bei den Sachsen um ein Volk handelte, das vom Schwert lebte und, mit wenigen Ausnahmen, noch immer an die Götter des Krieges glaubte, nicht an den Gott des Friedens.

Fidelma ärgerte sich über ihre eigenen Gedanken. Merkwürdig, daß eine so kurze Begegnung solch alberne Überlegungen auslösen konnte.

Sie wandte sich dem Teil der Abtei zu, der den vielen Besuchern während der bevorstehenden Versammlung als Unterkunft dienen sollte, dem domus hospitale. Die meisten Gäste waren in großen dor-mitoria untergebracht, doch für die vielen Äbte, Äbtissinnen, Bischöfe und anderen Würdenträger hatte man eine Reihe einzelner cubicula bereitgestellt. Schwester Fidelma hatte das Glück, eines dieser cubicula zugeteilt zu bekommen, eine winzige Zelle, die acht mal sechs Fuß maß und mit einer einfachen Holzpritsche, einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet war. Fidelma nahm an, daß sie diese Gastfreundschaft der besonderen Fürsprache Bischof Colmans zu verdanken hatte. Sie öffnete die Tür zu ihrem cubiculum und blieb überrascht auf der Schwelle stehen.

Eine zierliche, auffallend schöne Frau erhob sich von dem einzigen Stuhl und kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen.

«Etain!» rief Schwester Fidelma, als sie die Äbtissin von Kildare erkannte.

Äbtissin Etain war Anfang Dreißig. Als Tochter von Eoghanacht, König von Cashel, hatte sie, nachdem ihr Ehemann in der Schlacht gefallen war, die Welt des Reichtums und des Müßiggangs aufgegeben und war ins Kloster eingetreten. Dort war ihr Stern sehr rasch gestiegen, denn es stellte sich heraus, daß sie aufgrund ihres Wissens und ihrer Wortgewandtheit ohne weiteres in der Lage war, mit dem Erzbischof von Armagh und allen Bischöfen und Äbten Irlands äußerst fachkundig über theologische Fragen zu debattieren. Dank dieses Rufs wurde sie zur Äbtissin des großen Klosters von St. Brigit in Kildare berufen.

Gesenkten Kopfes ging Fidelma auf sie zu, doch Etain nahm sie bei den Händen und umarmte sie herzlich. Ehe Etain ihren jetzigen Rang erlangt hatte, waren sie viele Jahre lang gute Freundinnen gewesen.

«Es ist so schön, dich wiederzusehen, auch wenn wir uns in einem fremden Land befinden.» Etain sprach in einem weichen, volltönenden Sopran. Fidelma hatte Etains Stimme oft mit einem Musikinstrument verglichen, weil sie so grundverschiedene Töne erzeugen konnte: bei Wut ganz scharf, bei Empörung zitternd und in Augenblik-ken wie diesem unglaublich zart. «Ich bin froh, daß du die Reise gut überstanden hast, Fidelma!»

Fidelma lächelte verschmitzt. «Wie hätte es auch anders sein sollen, wo wir doch im Namen und unter dem besonderen Schutz des einen, wahren Gottes reisen?»

Etain erwiderte ihr Lächeln.

«Außerdem hatte ich irdische Unterstützung. Ich bin mit einigen Brüdern aus Durrow gekommen, und als wir in Rheged landeten, gesellten sich noch einige Glaubensbrüder aus Britannien zu uns. Und an der Grenze zwischen Rheged und Northumbrien erwarteten uns Athelnoth und eine Gruppe sächsischer Krieger, um uns nach Streo-neshalh zu begleiten. Hast du Athelnoth schon kennengelernt?»

Fidelma schüttelte den Kopf. «Ich bin selbst erst vor einer Stunde angekommen», erklärte sie.

Etain verzog mißbilligend das Gesicht.

«Athelnoth wurde von König Oswiu und dem Bischof von Northumbrien geschickt, um mich zu begrüßen und nach Streoneshalh zu begleiten. Seine Abneigung gegen die irischen Lehren und unseren Einfluß in Northumbrien trug er allerdings so offen zur Schau, daß es manchmal schon fast beleidigend war. Er ist als Priester ordiniert, aber von Rom vollkommen eingenommen. Einmal mußte ich sogar einen unserer Brüder zurückhalten,

Athelnoth zu verprügeln, so unverblümt ist er über unsere Liturgie hergezogen.»

Fidelma zuckte achtlos die Achseln.

«Soweit ich gehört habe, ruft die Debatte über unsere Gebräuche überall Spannung und Streit hervor. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die unterschiedliche Datierung des Paschafests die Gemüter so erhitzen kann ...»

Etain grinste.

«Du wirst dich daran gewöhnen müssen, es als Ostern zu bezeichnen.»

Fidelma runzelte die Stirn.

«Ostern?»

«Ja. Die Sachsen haben die meisten unserer Lehren übernommen, doch was das Paschafest betrifft, bestehen sie darauf, es nach Eostre, ihrer heidnischen Gottheit der Fruchtbarkeit, zu benennen, deren Fest auf die Tagundnachtgleiche im Frühling fällt. Es gibt in diesem Land noch vieles, was heidnisch ist. Du wirst feststellen, daß die Menschen noch ihren alten Göttern und Göttinnen folgen und daß ihre Herzen mit Krieg und Haß angefüllt sind.»

Äbtissin Etain erschauderte.

«Ich empfinde vieles hier als bedrückend, Fidelma. Als bedrückend und bedrohlich.»

Fidelma lächelte beruhigend.

«Wo widersprüchliche Ansichten bestehen, kommt es immer zu Spannungen unter den Menschen. Ich glaube nicht, daß wir uns Sorgen zu machen brauchen. Während des Disputs werden sich alle mächtig in die Brust werfen. Wenn wir jedoch erst einmal eine gemeinsame Lösung gefunden haben, wird alles vergeben und vergessen sein.» Sie hielt inne. «Wann soll die Debatte beginnen?»

«König Oswiu und sein Gefolge werden nicht vor morgen mittag hier eintreffen. Äbtissin Hilda hat mir gesagt, daß sie, wenn alles nach Plan verläuft, die Versammlung am späten Nachmittag eröffnen wird. Bischof Colman hat mich gebeten, für unsere Kirche die Eröffnungsrede zu halten.»

Einen Augenblick lang glaubte Fidelma, im Gesicht der Äbtissin Angst zu lesen.

«Macht dir das Sorgen, Etain?»

Etain lächelte und schüttelte den Kopf.

«Nein. Wie du weißt, liebe ich Streitgespräche. Außerdem habe ich hervorragende Beraterinnen -so wie dich.»

«Das erinnert mich an Schwester Gwid», erwiderte Fidelma. «Wir sind zusammen gereist. Ein ausgesprochen kluges Mädchen, obwohl man das auf den ersten Blick gar nicht glauben möchte. Gwid sagte mir, du hättest sie zu deiner Sekretärin und Dolmetscherin berufen.»

Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein seltsamer Ausdruck auf Etains Gesicht, den Fidelma nicht recht zu deuten vermochte.

«Die junge Gwid kann manchmal recht lästig sein. Unsicher und viel zu unterwürfig. Aber sie hat ausgezeichnete Griechischkenntnisse, obwohl ich hin und wieder den Eindruck habe, daß sie zuviel

Zeit damit verbringt, für die Gedichte Sapphos zu schwärmen, anstatt die Schriften der Apostel zu studieren.» Sie hielt inne und zuckte mit den Schultern. «Ja, ich habe fähige Beraterinnen. Und doch habe ich kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Ich glaube, es liegt an der feindseligen Stimmung, die ich bei den Mitgliedern der römischen Fraktion verspüre. Bei Agilbert dem Franken zum Beispiel, der viele Jahre in Irland studiert hat, sich aber inzwischen zu Rom bekennt, und bei Wilfrid, der sich sogar weigerte, mich zu begrüßen, als Äbtissin Hilda uns einander vorgestellt hat .»

«Wilfrid? Wer ist das? Ich kann mir diese sächsischen Namen so schwer merken.»

Etain seufzte. «Das ist der junge Mann, der die römische Fraktion hier in Northumbrien anfuhrt. Ich glaube, er ist der Sohn eines Edelmanns und gilt als äußerst jähzornig. Er war in Rom und Can-terbury und wurde von Agilbert in den Glauben eingeführt und später auch zum Priester geweiht. Der Unterkönig von Deira hat ihm Kloster Ripon übergeben, nachdem er zwei unserer eigenen Glaubensbrüder, die Äbte Eata und Cuthbert, dort vertrieben hatte. Dieser Wilfrid scheint unser ärgster Feind zu sein, ein hitzköpfiger Verfechter der römischen Lehre.» Etain seufzte. «Ich fürchte, wir haben hier viele Feinde.»

Schwester Fidelma sah plötzlich wieder das Gesicht des jungen sächsischen Mönchs vor sich, mit dem sie im Hof des Klosters zusammengestoßen war.

«Und doch sind uns gewiß nicht alle, die Rom unterstützen, auch feindlich gesonnen?»

Die Äbtissin lächelte nachdenklich.

«Vielleicht hast du recht, Fidelma, und ich habe einfach nur Herzklopfen vor Aufregung.»

«Vieles hängt morgen von deiner Eröffnungsrede ab», stimmte Fidelma zu.

«Es gibt da noch etwas ...» Etain zögerte.

Fidelma wartete geduldig und betrachtete aufmerksam das Gesicht der Äbtissin. Offenbar fiel es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.

«Fidelma», platzte sie schließlich heraus, «ich werde heiraten.»

Fidelmas Augen weiteten sich, aber sie sagte nichts. Priester, selbst Bischöfe, waren verheiratet, und auch Nonnen und Mönche, ob sie nun in Doppelhäusern lebten oder nicht, konnten nach dem Brehon-Gesetz verehelicht sein. Bei Äbten und Äbtissinnen war dies jedoch etwas anderes, denn ihr Amt war meist an den Zölibat gebunden. So war es auch in Kildare. Nach irischer Sitte wurde der Nachfolger oder coarb des Gründers stets aus seiner Verwandtschaft gewählt. Da Äbte und Äbtissinnen keine unmittelbaren Nachfahren hatten, hielt man meist in einem anderen Zweig der Familie nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger Ausschau. Wenn sich im Kreise der weiteren Verwandtschaft kein Geistlicher fand, der einer solchen Stellung würdig gewesen wäre, wurde ein weltliches Mitglied der Familie zum coarb gewählt. Etain war mit der Familie Brigits von Kildare verwandt.

«Du müßtest Kildare aufgeben und wieder eine gewöhnliche Ordensschwester werden», stellte Fidelma fest.

Etain nickte. «Auf der langen Reise nach Streo-neshalh hatte ich Gelegenheit, gründlich darüber nachzudenken. Mit einem Fremden zusammenzuleben, wird nicht einfach sein, vor allem, nachdem ich so lange allein war. Doch bei meiner Ankunft war mir klar, daß ich fest dazu entschlossen bin. Wir haben bereits die Verlobungsgeschenke ausgetauscht. Die Sache ist entschieden.»

Fidelma ergriff die Hände ihrer Freundin und drückte sie fest.

«So will ich mich mit dir freuen, Etain, vor allem darüber, daß du dir so sicher bist. Wer ist denn dieser Fremde?»

Etain lächelte scheu.

«Wenn ich es auch nur einem Menschen anvertrauen könnte, Fidelma, dann ganz gewiß dir. Aber ich bin fest entschlossen, das Geheimnis zu hüten, bis die Debatte vorüber ist. Nach der großen Versammlung sollst du es erfahren, wenn ich meinen Verzicht auf Kildare erkläre.»

Immer lauter werdendes Geschrei unter dem Fenster ihres cubiculum lenkte sie ab.

«Was um alles in der Welt ist da los?» fragte Schwester Fidelma und runzelte mißbilligend die

Stirn. «Vor der Klostermauer scheint eine Rauferei im Gange zu sein.»

Äbtissin Etain seufzte.

«Seit meiner Ankunft habe ich schon viel zu viele Raufereien zwischen unseren Glaubensbrüdern und den Anhängern Roms mit ansehen müssen. Wahrscheinlich geht es wieder um unsere unterschiedlichen Auffassungen. Daß sich erwachsene Männer nicht anders zu helfen wissen, als zu persönlichen Beleidigungen und tätlichen Angriffen Zuflucht zu nehmen, nur weil sie über die Auslegung des Wortes Gottes uneins sind! Es ist traurig, daß unterschiedliche Antworten auf Glaubensfragen zu solchen Feindseligkeiten führen.»

Schwester Fidelma ging zum Fenster und schaute hinaus.

Unten stand ein Bettler, umringt von einer Menschenmenge. Nach der Kleidung zu urteilen, waren die meisten von ihnen Bauern, obgleich einige von ihnen das braune Habit der Mönche trugen. Sie schienen den ärmlich gekleideten Bettler zu verhöhnen, der mit heiserer Stimme ihre Spötteleien zu übertönen versuchte.

Schwester Fidelma hob die Augenbrauen.

«Der Bettler scheint ein Landsmann von uns zu sein», sagte sie.

Äbtissin Etain trat zu ihr ans Fenster.

«Bettler haben oft viel Hohn und Spott zu ertragen.»

«Hör doch nur, was er sagt.»

Die beiden Frauen lauschten angestrengt, um die heiseren Worte des Bettlers zu verstehen.

«Ich sage euch, morgen wird sich die Sonne am Himmel verfinstern, und dann wird Blut den Boden von Streoneshalh beflecken. Nehmt euch in acht! Ich habe euch gewarnt! Ich sehe Blut fließen in den Mauern dieser Abtei!»

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