11

Cattilaras Damen hüllten Ista in ein elegantes, hauchdünnes Nachthemd und steckten sie in ein Bett, das mit dem feinsten bestickten Leinen bezogen war. Auf Zehenspitzen schlichen die Frauen dann aus dem Schlafgemach und schlossen die Tür zur äußeren der beiden Kammern, wo die Akolythin und ein Mädchen in dieser Nacht schlafen würden, in Rufweite der Königin. Die Kerze blieb brennend in einem Glas auf dem Tisch zurück. So lag Ista auf der Anhäufung weicher Kissen, betrachtete das flackernde Licht und die Dunkelheit, die es zurückdrängte, und dachte nach.

Es war möglich, einige Tage ohne Schlaf auszukommen, bis einem das Gemach vor den Augen zu schwanken begann und merkwürdige Trugbilder durchs Blickfeld zogen, wie Funken, die aus einem Feuer emporstieben. Sie hatte das schon einmal versucht, damals, als die Götter sie zum ersten Mal in ihren Träumen heimsuchten. Als sie befürchtet hatte, den Verstand zu verlieren, und Ias zugelassen hatte, dass sie so dachte. Es hatte nichts gebracht.

Es war auch möglich, Verstand und Träume in Alkohol zu ertränken. Für kurze Zeit jedenfalls. Das hatte sie auch schon ausprobiert, und es hatte noch weniger gebracht, langfristig gesehen. Auch der Rausch bot keine Zuflucht vor den Göttern — im Gegenteil.

Sie grübelte darüber nach, wer wohl auf dem anderen Bett liegen mochte, im Gemach auf der anderen Seite der Galerie — einem Bett ähnlich dem ihren, wenn auch nicht so fein parfümiert. Sie war ziemlich sicher, wie dieses Bett und der Teppich und das Gemach aussahen — und der Bewohner. Sie musste es nicht einmal sehen. Allerdings habe ich zuvor nie Goram den Knecht gesehen. Aber dessen Existenz, nahm sie an, war wohl mit eingeschlossen.

So, bis hierher hast Du mich jetzt also gezerrt, wer von euch es auch sein mag, der mich jetzt bedrängt. Aber Du kannst mich nicht zwingen, durch diese Tür zu gehen. Genauso wenig kannst Du sie selbst öffnen. Du kannst noch nicht einmal ein Blatt anheben. Eisen zu biegen oder meinen Willen — beides übersteigt gleichermaßen Deine Kräfte.

Sie standen in einem Patt, sie und die Götter. Sie konnte sich ihnen den ganzen Tag lang widersetzen.

Aber nicht die ganze Nacht. Irgendwann muss ich schlafen.

Sie seufzte, lehnte sich zur Seite und blies die Kerze aus. Der Geruch nach heißem Wachs stieg ihr noch eine Zeit lang in die Nase, und der Glanz des Kerzenlichts hinterließ einen glühenden Fleck in ihrem Auge, als sie sich zur Seite drehte und das Kissen unter ihrer Schulter zurechtklopfte. Du kannst diese Tür nicht öffnen. Und du kannst mich auch nicht dazu zwingen, welche Träume du mir auch schickst.

Tu das Zweitschlimmste. Das Schlimmste hast du mir schon angetan.


Zu Anfang war ihr Schlaf traumlos und leer. Dann trieb sie eine Weile durch gewöhnliche Träume, in denen eine Absurdität mit der anderen verschmolz. Schließlich betrat sie ein Gemach, und alles war anders. In diesem Gemach war sie nie zuvor gewesen. Es war nicht das Gemach von Lord Illvin, und es war nicht ihr eigenes. Draußen war heller Nachmittag; das schloss sie zumindest aus dem Licht, das durch die fein gemusterten Öffnungen in den Fensterläden fiel. An der Bauweise erkannte sie, dass es ein Raum war, der zu Burg Porifors gehörte. Dann wurde ihr bewusst, dass sie das Zimmer doch schon einmal gesehen hatte, in einem kurzen Augenblick, von Kerzenschein erhellt. Lord Arhys hatte aufgeschrien …

Jetzt war alles still. Das Gemach war sauber und aufgeräumt. Und es war niemand hier außer ihr selbst … nein, einen Augenblick!

Die Tür schwang auf.

Eine vertraute Gestalt zeichnete sich kurz vor dem hellen Hintergrund ab, im trüben Licht, das in den blumengeschmückten Innenhof dahinter fiel. Die Gestalt füllte die Tür von einer Seite zur anderen aus; dann wuchtete sie ihre Körpermassen durch den Türrahmen und ließ die Tür hinter sich zufallen. Kurz verspürte Ista Erleichterung und Freude, als sie dy Cabon erblickte, sicher und wohlbehalten.

Nur … dass es nicht Cabon war. Nicht dy Cabon allein jedenfalls.

Er war fetter, heller, weißer und wirkte ein wenig androgyn. Schwoll dieses Fleisch an, um das Unfassbare zu fassen?

Seine Kleidungsstücke waren fleckenlos und leuchteten wie der Mond, und allein daran hätte Ista den Unterschied erkennen müssen. Ein Lächeln grub Falten in sein Gesicht, und die Augen des Gottes funkelten sie an. Sie waren weiter als die Himmel, tiefer als die Abgründe der See, und von endloser Vielschichtigkeit. Es waren Augen, die gleichzeitig jede Person auf der Welt betrachten konnten und ein jedes lebendes Ding, von innen und von außen, mit der gleichen ruhigen Aufmerksamkeit.

Lord Bastard. Ista sprach seinen Namen nicht laut aus, sonst hätte er es für ein Gebet halten können. Stattdessen sagte sie scheinbar leichthin: »Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand für mich?«

Er beugte sich über seinen ausladenden Bauch nach vorn. »Klein, aber stark. Ich kann nicht einmal ein Blatt anheben, wie Ihr wisst. Und kein Eisen biegen. Und nicht Euren Willen. Meine Ista.«

»Ich bin nicht die Eure.«

»Aus mir spricht die Hoffnung und die Vorfreude, wie man es einem Freier wohl nachsehen mag.« Das Lächeln auf seinem feisten Gesicht wurde noch breiter.

»Oder die Betrügerei einer Ratte.«

»Ratten«, bemerkte er seufzend, »sind unbedeutende Kreaturen, scheu und ehrlich. Und sehr beschränkt. Für Betrügereien braucht man einen Mann. Oder eine Frau. Falschheit, Verrat … Vertrauen, Frohlocken … Fallen für Bären …«

Ista zuckte bei dieser möglichen Anspielung auf Foix zusammen. »Ihr wollt irgendetwas. Die Götter können mit süßer Zunge sprechen, wenn sie etwas wollen. Als ich etwas wollte, als ich mit ausgebreiteten Armen auf dem Gesicht lag und gebetet habe, in Tränen und von Entsetzen erfüllt — über Jahre hinweg —, wo seid Ihr da gewesen? Wo waren die Götter in der Nacht, als Teidez starb?«

»Der Herbstsohn hat viele Männer ausgeschickt, als Antwort auf Eure Gebete, süße Ista. Sie haben sich auf der Straße abgewendet und eine andere Richtung eingeschlagen, und sie kamen nicht an. Denn er konnte nicht ihren Willen verbiegen und nicht ihre Schritte lenken. Und so verstreuten sie sich wie Blätter im Wind.«

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, in dem ein tieferer Ernst lag als in jedem missmutigen Gesicht, das Ista bisher gesehen hatte. »Nun betet ein anderer — in einer Verzweiflung, die so tief ist wie damals die Eure. Jemand, der mir so lieb ist, wie Teidez meinem Bruder lieb war. Und ich sende Euch. Werdet Ihr Euch auch abwenden? Wie Teidez’ Retter es tat? Auf dem letzten Stück, wenn nur noch wenige Schritte vor Euch liegen?«

Schweigen breitete sich aus.

Istas Kehle war vor Zorn wie zugeschnürt. In ihrem Innern brodelte eine Mischung komplizierter Gefühle, die sie selbst nicht unterscheiden oder benennen konnte. Ein Eintopf aus Leid, nahm sie an. Zischend stieß sie zwischen den Zähnen hervor: »Bastard, du Bastard

Er grinste nur, was ihren Zorn weiter entfachte. »Wenn ein Mann erscheint, der Euch zum Lachen bringen kann, ernste Ista, zornige Ista, eiserne Ista, wird Euer Herz geheilt. Darum habt Ihr nicht gebetet; das ist ein Lohn, den selbst die Götter Euch nicht geben können. Wir müssen uns mit so schlichten Dingen begnügen wie der Erlösung von Euren Sünden.«

»Als ich das letzte Mal den verworrenen, heiligen und unzureichenden Anweisungen der Götter gefolgt bin, wurde ich betrogen und zu Mord verleitet!«, tobte sie. »Aber von Euch brauche ich keine Erlösung! Ich möchte nichts mit Euch zu tun haben. Würde ich glauben, dass ich für Vergessen beten kann, würde ich es tun … zu vergehen, ausgelöscht werden, sich auflösen wie die verlorenen Geister, die einen wirklichen Tod sterben, und so dem Leid der Welt entfliehen! Was können die Götter mir geben?«

Seine Augenbrauen hoben sich zu einem Ausdruck von Wohlwollen, der zutiefst heuchlerisch wirkte: »Arbeit, süße Ista!«

Er trat näher, und die Holzdielen unter seinen Füßen knarrten und ächzten bedenklich. Beinahe wäre sie zurückgewichen angesichts der beängstigenden Vorstellung, dass sie beide durch den Boden brechen und in den Raum darunter stürzen würden. Er hielt die Hände leicht über ihren Schultern, berührte sie aber nicht. Verärgert stellte sie fest, dass sie nackt war. Er beugte sich nach vorne, und sein fetter Leib berührte ihr nackte Haut. »Mein Zeichen ist auf Euer Stirn«, murmelte er.

Seine Lippen berührten ihre Stirn. Der Fleck brannte wie Feuer.

Er hat mir die Gabe des zweiten Gesichts zurückgegeben. Eine unmittelbare, ungelenkte Wahrnehmung der Welt des Geistes, seiner Welt. Ista erinnerte sich, wie die Lippen der Mutter auf dieselbe Weise ihre Haut versengt hatten, in jenem Wachtraum vor langer Zeit, der so verheerende Folgen gehabt hatte. Du kannst mir deine Gaben aufdrängen, aber ich muss sie nicht benutzen. Ich verweigere sie, ich widersetze mich dir!

Seine Augen funkelten noch heller, und er ließ seine feisten Hände ihren bloßen Rücken hinunter wandern und zog sie fester in seine Umarmung, drückte sie tiefer in seine Leibesfülle und beugte sich erneut nach vorn. Er küsste sie mit selbstgefälligem, lüsternem Genuss auf den Mund. Peinliche Erregung erfasste ihren Körper, was ihren Zorn nur noch steigerte.

Unvermittelt verschwanden die dunklen Abgründe aus seinen Augen, die den ihren so nahe waren, dass ihr Blick sich kreuzte. Ein menschlicher Ausdruck trat an deren Stelle, und die Augen wurden erst weit, dann entsetzt. Der Geistliche dy Cabon rang nach Luft und sprang zurück wie ein erschrockenes Tier.

»Majestät!«, rief er mit schriller Stimme. »Vergebt mir! Ich … ich …« Sein Blick huschte durchs Gemach, richtete sich ruckartig auf Ista, und seine Augen wurden noch größer und huschten über die Decke, den Boden, die Wände. »Ich weiß nicht, wo ich bin …«

Sie träumte ihn nicht, dessen war sie ziemlich sicher. Er träumte sie. Und er würde sich ebenfalls sehr lebhaft dran erinnern, wenn er wieder erwacht war. Wo immer er sein mochte.

»Euer Gott«, stieß Ista wild hervor, »hat einen abscheulichen Sinn für Humor.«

»Was?«, fragte dy Cabon verständnislos. »Er war hier? Und ich habe ihn verpasst?« Sein Mondgesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an.

Wenn es tatsächlich ein Traum war, den sie beide teilten …

»Wo seid Ihr jetzt?«, fragte Ista drängend. »Ist Foix bei Euch?«

»Was?«

Ista riss die Augen auf.

Sie lag auf dem Rücken im dunklen Schlafgemach, zwischen zerwühlten Leinendecken und in Cattilaras durchschimmernden Nachtgewändern. Allein. Sie fluchte.

Es ging auf Mitternacht zu, vermutete sie. In der Burg war Stille eingekehrt. Durch das Flechtwerk vor ihrem Fenster drang das schwache Zirpen von Insekten. Ein Nachtvogel sang eine leise, einschmeichelnde Melodie. Ein wenig bleiches Mondlicht sickerte ins Innere, sodass das Gemach nicht in völliger Schwärze versank.

Wessen Gebete mochten sie hierher gelockt haben? Viele Menschen beteten zum Bastard. Er war der Gott der letzten Zuflucht, nicht nur der Menschen zweifelhafter Herkunft. Es konnte irgendwer in Porifors sein. Ausgenommen, nahm Ista an, ein Mann, der nach einem hoffnungslosen Zusammenbruch nie wieder aufgewacht war.

Wenn ich jemals herausfinde, wer mir das angetan hat, wird der Betreffende sich wünschen, er hätte nie ein Verslein vor dem Schlafengehen gesprochen …

Leises Knarren und schlurfende Schritte waren von den Treppen zur Galerie her zu hören.

Ista kämpfte sich unter den Decken hervor, schwang die bloßen Füße auf die Dielen, und schlich leise zu dem Fenster, das auf den Innenhof hinausging. Sie entriegelte den hölzernen inneren Fensterladen und schwang ihn zurück. Zum Glück quietschte er nicht. Sie drückte ihr Gesicht gegen das schmuckvolle eiserne Flechtwerk des äußeren Gitters und spähte in den Hof. Der abnehmende Mond war noch nicht unter die Linie der Dächer gesunken. Sein bleiches, kränkliches Licht fiel schräg auf die Galerie.

Istas an das Dunkel gewöhnte Augen konnten deutlich die schlanke Gestalt von Lady Cattilara erkennen. Sie war in eine blasse Robe gekleidet und glitt ohne Begleitung über den Balkon. Vor der Tür am gegenüberliegenden Ende der Galerie hielt sie kurz an, öffnete sie dann behutsam und schlüpfte hinein.

Soll ich folgen? Hinterherschleichen, an Fenstern lauschen, heimlich spähen wie ein Dieb? Nein, das werde ich nicht tun! Egal, wie neugierig du mich machst. Verflucht sollst du sein …

Sie würde Lady Cattilara auf keinen Fall ins Schlafgemach ihres Schwagers folgen. Dazu konnten nicht einmal die Götter sie bringen. Ista schloss die Fensterläden, drehte sich um und marschierte zurück zu ihrem Bett. Dort vergrub sie sich unter den Decken.

Lag wach, lauschte.

Nach einigen Minuten erhob sie sich wieder, trug leise einen Stuhl zum Fenster, setzte sich darauf, lehnte den Kopf gegen das filigrane eiserne Gitter und blickte hinaus. Schwacher Kerzenschein schimmerte durch das Gitterwerk gegenüber. Nach langer Zeit verlosch das blasse Licht. Nach einer weiteren kurzen Zeitspanne öffnete sich die Tür wieder, gerade weit genug, dass eine schlanke Frau sich hindurchzwängen konnte.

Cattilara ging denselben Weg zurück, den sie gekommen war, und stieg die Treppen hinunter. Sie schien nichts bei sich zu tragen.

Offensichtlich hatte sie die Pflege des kranken Mannes beaufsichtigt. Das war nicht unter der Würde einer Burgherrin, wenn es einen so hochwohlgeborenen Patienten, einen so bedeutenden Offizier, einen so nahen und offenbar hoch geschätzten Verwandten ihres Mannes ging. Womöglich benötigte Lord Illvin eine Medizin um Mitternacht, irgendeine Behandlung, die von den Ärzten angeordnet war. Es gab ein Dutzend mögliche harmlose Erklärungen.

Jedenfalls eine Handvoll.

Ein oder zwei zumindest.

Ista stieß zischend den Atem aus und kehrte zum Bett zurück. Es dauert lange, bis sie wieder einschlafen konnte.


Kurz nach Sonnenaufgang erschien Lady Cattilara in Istas Gemächern, viel zu früh für eine Frau, die sich nachts verstohlen in der Burg herumgetrieben hatte. Sie platzte beinahe vor fröhlicher Gastfreundschaft und wollte Ista zu morgendlichen Dankgebeten in den Tempel der Stadt begleiten. Mit Mühe unterdrückte Ista die bohrende Anspannung, die die Gegenwart der jungen Gräfin in ihr hervorrief. Als Ista den blumengeschmückten Eingangshof erreichte, entdeckte sie, dass Pejar dort bereits auf sie wartete und ein Pferd für sie bereithielt. Nun war es zu spät, sich zu entschuldigen. Ihre Muskeln taten immer noch weh, und sie fühlte sich schwach und alles andere als dankbar. Trotzdem ließ sie sich mitschleppen. Pejar führte ihr Reittier in einem schicklichen Tempo. Lady Cattilara setzte sich an die Spitze der kleinen Prozession. Sie hielt den Kopf hoch erhobenen, schwang die Arme und hatte noch genug Atem, mit ihren Damen während des Abstiegs auf dem trügerischen gewundenen Pfad ein Lied anzustimmen.

Hinter den Mauern und Toren des Ortes standen die Gebäude dicht an dicht. Porifors wartete offensichtlich nur darauf, eine Stadt zu werden — durch zusätzliche Mauern oder eine Zeit des Friedens, in der man auf Mauern verzichten konnte. Der Tempel des Ortes war ebenfalls klein und alt, die Altäre der vier Götter kaum mehr als überwölbte Ausbuchtungen das zentralen Innenhofs, und der Turm des Bastards war eines jener provisorisch errichteten, ein Stück abseits stehenden Gebäude, die länger Bestand gehabt hatten, als jemand erwartet oder gewünscht hätte. Trotz alledem war der alte Geistliche nach dem Gottesdienst begierig, der Königinwitwe sämtliche bescheidenen Kostbarkeiten seines Tempels zu zeigen. Ferda bedeutete Pejar, bei Ista zu bleiben, und entschuldigte sich. Er bliebe nicht lange fort, erklärte er. Istas Lippen zuckten angesichts seiner Wahl des Zeitpunkts.

Es stellte sich heraus, dass die Kostbarkeiten des Tempels so bescheiden gar nicht waren. Der Tempel hatte viele großzügige Zuwendungen von Lord Arhys erfolgreicheren Überfällen und Beutezügen erhalten. In den überschwänglichen Aufzählungen des Geistlichen wurde häufig auch Lord Illvins Name genannt. Ja, allerdings, das Verbrechen, das ihn niedergestreckt hatte, war ein schrecklicher Vorfall gewesen. Und leider, leider, konnten die ländlichen Heiler des Tempels nichts für ihn tun. Doch es bestand immer noch die Hoffnung, dass klügere Leute aus den größeren Städten in Ibra oder Chalion Wunder bewirken könnten, wenn nur Lord Arhys’ Gesandte endlich einen dazu bewegen konnten, hierher zu kommen. Nachdem der Geistliche die interessantesten Geschichten zur Herkunft seiner Stücke vorgetragen hatte — oder vielleicht auch die sensationslüsternsten —, beschrieb er genauestens die Pläne für einen neuen Tempel. Dieser sollte gebaut werden, sobald der Friede sowie die Förderung durch den Grafen und die Gräfin es möglich machten.

Schließlich kehrte Ferda zurück. Sein Gesicht war ernst. An der Altarnische der Frühlingsherrin hielt er kurz und kniete nieder. Seine Augen schlossen sich, seine Lippen bewegten sich. Erst dann ging er weiter und trat an Istas Seite.

»Entschuldigt mich, Hochwürden«, unterbrach Ista schroff den Monolog des Geistlichen. »Ich muss kurz mit meinem treuen Ritter sprechen.«

Sie kehrten zur Nische der Frühlingsherrin zurück. »Was ist?«, fragte Ista leise.

Ferdas Stimme war ebenso leise. »Der morgendliche Bote von Lord dy Caribastos ist eingetroffen. Es gibt keine Neuigkeiten von Foix oder dy Cabon, und auch nicht von Liss. Daher wollte ich um Eure Erlaubnis fragen, mich mit zweien meiner Männer auf die Suche zu begeben.« In wohl überlegter Bewunderung blickte er hinüber zu Lady Cattilara, die es übernommen hatte, höflich dem Geistlichen zu lauschen. »Offensichtlich seid Ihr hier in besten Händen. Es wird mich nur einige Tage kosten, bis nach Maradi und wieder zurück zu reiten. Lord Arhys hat sich bereit erklärt, uns einige gute, frische Pferde zu leihen. Ich rechne damit, dass ich wieder zurück bin, bevor Ihr Euch gesund genug fühlt, um weiterzureisen.«

»Ich … das gefällt mir nicht. Ich möchte nicht auf Eure Unterstützung verzichten, sollte sich hier ein Notfall ergeben.«

»Wenn Lord Arhys Truppen Euch nicht zu beschützen vermögen, kann meine Hand voll Leute auch nicht mehr ausrichten«, sagte Ferda und verzog das Gesicht. »Wie bereits bewiesen wurde, fürchte ich. Majestät, unter normalen Umständen würde ich mich Euch ohne Zögern fügen.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Aber da ist noch die Sache mit dem Bären.«

»Mit diesen Schwierigkeiten kann dy Cabon besser umgehen als irgendein anderer von uns.«

»Falls er noch lebt«, sagte Ferda bedeutungsschwer.

»Da bin ich sicher.« Warum sie so sicher war, wollte Ista nicht näher erklären. Zumal sie sich nicht gleicherweise für Foix verbürgen konnte.

»Ich kenne meinen Bruder. Er kann sehr eindringlich und überzeugend sein. Und gerissen, wenn dies nicht ausreichen sollte. Wenn … er nicht mehr ganz nach seinem eigenen Willen handelt, und ihm doch noch all sein Verstand zu Gebote steht … Ich bin mir nicht sicher, ob dy Cabon mit ihm fertig wird. Ich dagegen schon! Ich habe meine Mittel.« Sein Gesicht hellte sich zu einem kurzen, brüderlichen Lächeln auf.

»Hm«, machte Ista.

»Und dann ist da noch Liss«, fügte Ferda vage hinzu.

Er ließ sich nicht genauer darüber aus, was mit Liss war, und Ista verzichtete gnädig auf weitere Nachfragen. »Ich hätte sie gern wieder an meiner Seite.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und dy Cabon.« Vielleicht ganz besonders dy Cabon. Was immer der Gott vorhatte — der verwirrte junge Geistliche spielte dabei eine Rolle.

»Habe ich dann Eure Erlaubnis, Majestät? Ritter Pejar kann Euch an diesem kleinen Hof gewiss ebenso gut zu Diensten sein. Und er würde es bestimmt mit dem größten Eifer tun.«

Ista ließ Cardegoss dieses kurze Aufblitzen von Überheblichkeit kommentarlos durchgehen. Wäre Porifors ein gewöhnlicher ländlicher Hof gewesen, hätte Ferda fraglos Recht gehabt. »Wollt Ihr sofort aufbrechen?«

Er senkte den Kopf. »Sofort, wenn es Euch recht ist. Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, ist es umso besser, je früher ich ankomme.« Auf ihr missbilligendes Schweigen hin fügte er hinzu: »Und wenn es keine Schwierigkeiten gibt, ist es umso besser, je früher ich zurück bin.«

Zweifelnd kaute Ista auf der Unterlippe. »Und dann ist da noch die Sache mit dem Bären, wie Ihr gesagt habt.« Fallen für Bären, hatte der Gott gesagt. Es war sein verfluchtes Haustier, das da entkommen war. Es brachte auch nichts, um den Schutz des Gottes zu beten. Hätte der Gott unmittelbare Kontrolle über die wilden Dämonen besessen, die ins Reich der Materie geflohen waren, hätte er diese Kontrolle vermutlich ausgeübt, statt die menschliche Schwäche zu seiner göttlichen Schwäche werden zu lassen.

»Also gut.« Sie seufzte. »Dann brich auf. Aber komm rasch zurück.«

Er lächelte gequält. »Wer weiß? Vielleicht treffe ich sie ja auf der Straße nach Tolnoxo, und wir sind wieder zurück, bevor die Nacht hereinbricht.« Er kniete nieder und küsste ihr dankbar die Hand. Augenblicke später verhallte der Klang seines flatternden Mantels bereits jenseits der Tempeltüren.

Sehr zu ihrem Missfallen stellte Ista fest, dass zum Mittagsmahl ein Fest auf dem Dorfplatz vorbereitet worden war, zu Ehren der Königinwitwe, wobei sogar ein Chor sang, der sich aus den Kindern der Dorfbewohner zusammensetzte. Diese trugen Lieder und Hymnen vor, außerdem einheimische Tänze. Lord Arhys war nicht anwesend. Die junge Gräfin jedoch erwies den Dorfbewohnern die Ehre ihrer Anwesenheit und lobte die Kinder auf warmherzige Art, was die stolzen Eltern offensichtlich glücklich machte. Mehr als einmal bemerkte Ista, wie die Gräfin die kleinsten Kinder voller Sehnsucht betrachtete.

Nachdem die Rangen den letzten unbeholfenen Tanz vollführt und Hinz und Kunz Ista die Hand geküsst hatten, wurde sie zurück auf ihr Pferd verfrachtet und durfte endlich entkommen. Verstohlen wischte sie an der Mähne des Tieres die schleimige Hinterlassenschaft ab, die von einem verwahrlosten, an Schnupfen erkrankten Kind an ihren Fingern zurückgeblieben war. Inzwischen freute sie sich beinahe darüber, wieder auf dem Pferd zu sitzen. Beinahe.


Nachdem Ista im blütengeschmückten Eingangshof vom Pferd gestiegen war, machte Lady Cattilara behutsam die Andeutung, dass eine Dame im Alter der Königin womöglich ein Nachmittagsschläfchen zu schätzen wüsste. Ista überlegte gerade, ob sie beleidigt sein oder sich freuen sollte, als ein Jauchzer von dem sich schließenden Tor her ertönte. »Ho, Burg Porifors! Kurier von Burg Oby!«

Bei der vertrauten, übermütigen Stimme wirbelte Ista auf den Fersen herum. Auf einem schaumbedeckten hellbraunen Klepper ritt Liss auf den Hof. Sie trug ihren Wappenrock mit der Burg und dem Leoparden und hielt eine der amtlichen ledernen Botentaschen, deren Wachssiegel an den Schnüren tanzten. Ihr Hemd unter dem Wappenrock war so schweißnass wie das Pferd, und auf ihrem sonnenverbrannten Gesicht spiegelte sich Erstaunen, als sie sich umblickte und die vielen Kübel mit den bunten Blumen und dem frischen Grün erblickte.

»Liss!«, rief Ista erfreut.

»Ha, Majestät! Ihr seid tatsächlich hier!« Liss schüttelte die Steigbügel ab, schwang ein Bein über den Hals des Pferdes und sprang zu Boden. Grinsend kniete sie zu Istas Füßen nieder wie ein Höfling. Ista fasste sie an den Händen und zog sie hoch. Beinahe hätte sie Liss umarmt.

»Wie kommst du hierher, auf diesem Pferd — hat Ferda dich gefunden?«

»Das Pferd ist eine ziemlich lahme Schnecke. Und Ferda? Ist Ferda in Sicherheit? He, Pejar!«

Der Ritter an Istas Seite grinste breit. »Der Tochter sei Dank, du hast es geschafft!«

»Wenn die Geschichten, die ich gehört habe, wahr sind, wart ihr alle schlimmer dran, als ich es je gewesen bin!«

Ista sagte besorgt: »Ferda ist vor nicht einmal drei Stunden aufgebrochen — du musst ihm auf der Straße nach Tolnoxo begegnet sein, nicht wahr?«

Liss runzelte die Stirn. »Ich bin über die Straße von Oby gekommen.«

»Aber wie bist du … na, komm, setz dich erst einmal zu mir und erzähl mir alles! Wie ich dein Striegeln und deine Fürsorge vermisst habe!«

»Ja, liebste Königin, aber erst einmal muss ich meine Briefe übergeben, denn heute bin ich wieder Kurier. Dann muss ich mich um das Tier kümmern. Es gehört mir nicht, den fünf Göttern sei’s gedankt! Es gehört der Kurierstation auf halbem Weg zwischen hier und Oby. Ich wäre übrigens auch für einen Eimer Wasser dankbar.«

Ista winkte Pejar, und dieser nickte und lief los.

Cattilara und ihre Damen schlenderten herbei. Die Gräfin lächelte das Kuriermädchen verwirrt an und wandte sich dann fragend an Ista: »Majestät …?«

»Das ist meine treue und tapfere königliche Zofe Annaliss aus Labra. Liss, begrüße Lady Cattilara dy Lutez, Gräfin von Porifors, und ihre Damen …« Ista ging Cattilaras Damen der Rangfolge nach durch. Diese blickten das Kuriermädchen mit großen Augen an, während Liss die Vorstellungen mit einer Abfolge von freundlichen kleinen Verneigungen begleitete.

Pejar stürzte mit einem überschwappenden Eimer Wasser herbei. Liss griff danach und steckte den Kopf hinein. Mit einem erleichterten Seufzer zog sie ihn wieder heraus, dass ihr nasser schwarzer Zopf in einem Bogen Wassertropfen durch die Luft schleuderte. Fast hätten sie Cattilaras zurückweichende Damen getroffen. »Ah! So ist es schon besser. Bei den fünf Göttern, Caribastos ist in dieser Jahreszeit ein heißes Land.« Sie ging mit dem Eimer zum Pferd und klopfte dem Tier den Hals.

Als das Pferd herandrängte, um an das Wasser zu gelangen, sagte Pejar eifrig: »Wir waren uns sicher, dass du das Dorf an der Kreuzung gewarnt haben musst, aber wir hatten keine Ahnung, wohin du anschließend geritten bist.«

»Als ich ins Dorf kam, war mein Kurierpferd am Ende, aber mein Wappenrock und mein Kurierstab haben die Leute bewogen, mir ein anderes Tier zu leihen. Es waren keine Krieger bei ihnen, um die Jokoner zu bekämpfen, also bin ich so schnell nach Osten geritten, wie ich den armen, schnaubenden Ackergaul nur antreiben konnte. Blieben die Dorfbewohner vor Schaden bewahrt?«

»Als wir kurz vor Sonnenuntergang dort angekommen sind, waren sie alle geflohen«, sagte Pejar.

»Ah, gut. Nun, gleich nach Sonnenuntergang am gleichen Abend erreichte ich eine Kurierstation an der Hauptstraße nach Maradi. Ich konnte die Leute dort überzeugen, dass ich nicht von Sinnen bin, und sie haben die Jagd eröffnet. Glaubte ich zumindest. Ich habe dort geschlafen und bin am nächsten Morgen gemächlicher nach Maradi weitergeritten. Als ich dort eintraf, hatte der Herzog von Tolnoxo gerade seine Reiterei aus den Toren geführt und die Verfolgung aufgenommen. So schnell, wie die Jokoner sich bewegt haben, fürchtete ich schon, dass er zu spät war.«

»Und so war es dann auch«, sagte Ista. »Aber ein Kurier gelangte rechtzeitig nach Burg Porifors, und Lord Arhys konnte einen Hinterhalt legen.«

»Ja, das muss einer von den Burschen gewesen sein, die direkt von meiner Kurierstation aus losgeritten sind. Mögen die fünf Götter ihre Klugheit segnen. Einer von ihnen sagte, er wäre in der Gegend geboren. Ich hatte darauf gehofft, dass er wüsste, was zu tun sei.«

»Hast du etwas von Foix und dy Cabon gehört?«, fragte Ista. »Nachdem wir sie in diesem Abfluss versteckt haben, wissen wir nichts mehr von ihnen.«

Liss runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Leuten an der Kurierstation von ihnen erzählt, und als ich an dem Zug vorüberkam, habe ich Lord dy Tolnoxos Unterführer gebetet, nach den beiden Ausschau halten. Zu der Zeit war ich mir nicht sicher, ob sie von den Jokonern gefangen genommen worden waren, so wie ihr, oder ob sie entkommen konnten, oder weiter über die Straße wandern würden, oder umkehren, oder sich in die Büsche schlagen. So habe ich den Tempel in Maradi aufgesucht und dort eine Geistliche aus dy Cabons Orden gefunden. Ihr habe ich von unseren Sorgen erzählt, und dass unser Geistlicher noch irgendwo draußen auf der Straße sein muss und dringend Hilfe benötigt. Sie wollte sich darum kümmern, Leute aussenden und nach ihnen suchen lassen.«

»Das war gut überlegt!«, sagte Ista anerkennend.

Liss lächelte dankbar. »Es schien mir wenig genug. Ich habe einen Tag in der Schreibstube der Kanzlei in Maradi gewartet, habe aber nichts mehr von Lord dy Tolnoxos Heerzug gehört. So habe ich mir eine schnellere Route in den Norden gesucht und mich freiwillig als Kurier nach Oby gemeldet. Ich rechnete mir aus, da es die größere Festung wäre, dass Ihr vermutlich von deren Soldaten gerettet und dorthin gebracht würdet. Dann flog ich beinahe — ich glaube nicht, dass je ein Kurier auf dieser Straße schneller geritten ist als ich an jenem Tag.« Sie strich eine Strähne nassen Haars aus ihrem sonnenverbrannten Gesicht und kämmte es mit den Fingern nach hinten. »Alle verharrten noch in angespannter Erwartung, als ich in derselben Nacht die Festung erreicht habe. Aber meine Mühen hatten sich gelohnt, denn am nächsten Morgen traf ein Brief des Grafen von Porifors ein, in dem es hieß, dass Ihr alle in Sicherheit seid. Obys Herr und seine Männer waren ebenfalls ausgeritten, um nach Jokonern Ausschau zu halten, aber sie kamen noch am selben Nachmittag zurück.«

»Der Graf von Oby ist mein Vater«, merkte Cattilara an. Ein Hauch von Neugier schlich sich in ihre Stimme. »Hast du ihn gesehen?«

»Er ist bei bester Gesundheit, Herrin. Ich habe mir von ihm das Recht erbettelt, als Kurier nach Porifors ausgeschickt zu werden, damit ich mich möglichst schnell wieder der Königin anschließen kann.« Sie hielt die Tasche in die Höhe. »Er hat mich heute Morgen bei Sonnenaufgang verabschiedet. Das hier habe ich aus seiner eigenen Hand empfangen. Vielleicht ist etwas für Euch dabei … ah.« Ihr Blick hellte sich auf, als der Majordomus von Porifors herankam, ein älterer landloser Edelmann, der Ista sehr an Ser dy Ferrej erinnerte, nur dass er sehnig war und nicht untersetzt. Der Knecht Goram folgte ihm auf dem Fuße. Der Majordomus nahm die Tasche in seine Obhut, sehr zu Liss’ Erleichterung, und eilte damit fort. Vorher trug er dem Knecht noch auf, sich um das Pferd der Botin zu kümmern.

»Du musst erschöpft sein«, sagte Lady Cattilara. Mehr als einmal waren ihre Augen bei Liss’ Vortrag groß geworden. »Was für eine beängstigende Prüfung!«

»Oh, aber ich liebe meine Arbeit«, sagte Liss fröhlich. Sie klopfte ihren schmutzigen Wappenrock aus. »Die Leute geben mir schnelle Pferde und gehen mir aus dem Weg

Bei diesen Worten zuckten Istas Mundwinkel nach oben. Das war allerdings ein Grund zur Freude.

Zumindest war Ferda vermutlich nicht völlig vergebens ausgeritten, auch wenn er Liss auf der Straße verfehlt hatte. Wenn er erst einmal Maradi erreichte, würde er hoffentlich dort seinen vom Bären befallenen Bruder und dessen Beistand sicher in der Obhut des Tempels finden.

Als Goram ihr Pferd davon führte, schickte Liss sich an, ihm zu folgen.

Ista sagte: »Wenn meine Zofe ihr Pferd versorgt hat, wird sie dringend ein Bad benötigen, so wie ich bei meiner Ankunft. Und eine Leihgabe an Kleidung, wenn es recht ist. Ihre Sachen wurden wie die meinen von den Jokonern gestohlen.« Tatsächlich hatte Liss ihre äußerst dürftige Garderobe hauptsächlich in ihren Satteltaschen gehabt. Ista vermutete jedoch, dass Cattilaras Damen ihre Nase nicht nur so hoch trugen, um dem Geruch nach Pferd und Schweiß zu entgehen, den das niedrig geborene und hoch gestimmte Kuriermädchen verströmte.

»Und was zu futtern bitte, liebste Königin«, rief Liss über die Schulter.

»Das Essen soll deines Rittes würdig sein. Ein Ritt, dessen Ruhm mit meinem nächsten Brief selbst Cardegoss erreichen wird«, versprach Ista.

»Solange es schnell da ist, könnt Ihr auftragen, was Ihr wollt!«


Liss blieb lange in den Ställen, schließlich aber stellte sie sich in Istas neuen Gemächern vor. Cattilaras Damen, die Töchter örtlicher Landadliger, hatten sich beinahe überschlagen für die Ehre, der Königinwitwe zu Diensten zu sein. Liss war da wohl eher eine lästige Pflicht, der sie sehr viel weniger eifrig nachkamen. Doch Liss bekam ihr Bad, unter Istas strenger Aufsicht. Zwischendurch schnappte sie sich immer wieder Bissen von einem Tablett mit Brot und Oliven, Käse und getrockneten Früchten, und kippte einen Becher lauwarmen Kräutertee nach dem anderen hinunter. Ihre stinkende Reitkleidung wurde von den Dienern mitgenommen, um erst einmal gründlich gewaschen zu werden.

Cattilaras abgelegte Kleider passten viel besser zu Liss’ Größe und Alter als zu Istas, auch wenn sie im Brustbereich ein wenig zu großzügig für Liss geschnitten waren. Sie lachte vor Vergnügen und wedelte mit einem der hängenden, hauchdünnen Ärmel, und Ista lächelte über die Freude und Ausgelassenheit des Kuriermädchens.

Noch jemand nahm Liss’ Anwesenheit mit ungetrübter Freude zur Kenntnis: die heilkundige Akolythin, die nun endlich die Gelegenheit erhielt, zu ihrem vernachlässigten Platz im Tempel und zu ihrer Familie zurückzukehren. Liss war noch nicht ganz trocken, da hatte die Akolythin schon ihre Anleitung beendet, wie Ista Verletzungen zu behandeln seien, hatte ihr einen Vorrat an Verbänden und Salben übergeben, ihre Sachen eingesammelt, eine angemessene Entlohnung von Ista eingesteckt und war nach Hause geeilt.


An diesem Nachmittag wurde das Abendessen in einem kleineren Saal eingenommen, der an den Innenhof mit dem sternförmigen Brunnen grenzte. Es stellte sich heraus, dass es diesmal eine fast ausschließlich weibliche Versammlung war, unter Lady Cattilaras Vorsitz. Diesmal wurde kein Stuhl rituell freigehalten.

»Nimmt Lord Arhys heute nichts zu sich?«, fragte Ista, als sie ihren Platz zur Rechten der Gräfin einnahm. Oder sonst irgendwann? »Ich nehme an, sein Wechselfieber bereitet Euch Sorgen.«

»Nicht annähernd so große Sorgen wie seine militärischen Verpflichtungen«, erwiderte Lady Cattilara mit einem Seufzer. »Er ist mit einigen seiner Männer zu einer Patrouille entlang der Nordgrenze aufgebrochen. Bis zu seiner Rückkehr muss ich mit der Angst leben. Wann immer er ausreitet, leide ich Todesqualen vor Sorge um ihn, obwohl ich mir nichts anmerken lasse. Doch sollte ihm jemals etwas passieren … Ich glaube, ich würde verrückt.« Sie nahm einen Schluck Wein und hielt den Becher grüßend zu Ista hoch. »Ihr werdet das verstehen, da bin ich sicher. Ich wünschte, ich könnte ihn ständig an meiner Seite halten.«

»Sind seine großartigen Fertigkeiten im Kampf nicht Teil seiner Anziehungskraft?« Die zugegeben erschreckend war. »Fesselt ihn, und Ihr löscht vielleicht gerade das aus, was Ihr an ihm bewundert — in dem Versuch, es zu bewahren.«

»O nein«, stellte Lady Cattilara fest. Sie stritt den Einwand zwar ab, antwortete aber nicht darauf, wie Ista bemerkte. »Ich halte ihn dazu an, mir jeden Tag zu schreiben, wenn er unterwegs ist. Wenn er es einmal vergäße, wäre ich ziemlich wütend auf ihn.« Ihre Mundwinkel hoben sich, und ein Lachen lag in ihren Augen. »Zumindest für eine ganze Stunde! Aber er vergisst es nicht. Wie auch immer, vor Einbruch der Dunkelheit sollte er zurück sein. Ich werde vom Nordturm aus nach ihm Ausschau halten. Und wenn ich dann sein Pferd sehe, wird mein Herz nicht mehr schwer sein, sondern tausend Mal in der Minute schlagen!« Ihr Gesicht wurde weich vor Vorfreude.

Ista nahm einen großen Bissen Brot.

Das Essen war köstlich. Wenigstens versuchten Lady Cattilara oder ihr Koch nicht, die übertriebene Üppigkeit höfischer Bankette in Cardegoss nachzuahmen — oder schlimmer noch, was sie sich unter diesen Üppigkeiten vorstellten. Stattdessen wurde einfache, frische Kost aufgetragen. Allerdings schien es heute Abend mehr Süßigkeiten zu geben — was Ista jedoch nicht tadeln konnte und Liss sichtlich genoss. Sie nahm eine beneidenswerte Portion zu sich. Doch in dieser Gesellschaft war Liss sehr still; es schien, als hätte das Mädchen allzu viel Ehrfurcht vor ihrer Umgebung. Oder der Tratsch, mit dem die anderen sich die Zeit vertrieben, langweilte sie ebenso sehr wie Ista, die viel lieber Liss’ Geschichten gehört hätte.

Nachdem sie den Damen entkommen und in den gepflasterten Innenhof zurückgekehrt waren, erkundigte Ista sich nach dem Grund für Liss’ Schüchternheit.

»Nun«, erwiderte das Mädchen. »Ich denke, es liegt an dem Kleid. Ich fühlte mich neben all diesen hochwohlgeborenen Frauen wie ein Trampel. Ich weiß gar nicht, wie sie all diese Stoffmassen bewältigen. Ich jedenfalls werde irgendwann bestimmt darüber stolpern und dabei irgendwas zerreißen.«

»Lass uns ein wenig den Säulengang entlanggehen, damit ich meinen Wundschorf dehnen kann, wie die Akolythin mir geraten hat. Du kannst derweil ein bisschen üben, deine Seidenkleider zu schwenken, damit du mir an diesem Hof keine Schande bereitest. Erzähl mir dabei von deinem Ritt.«

Ista humpelte langsam den Kreuzgang entlang, genoss die Kühle und Stille und überschüttete Liss mit Fragen zu Einzelheiten ihrer Reise, doch Liss’ Stimme war ein so willkommener Klang, dass es letztendlich kaum eine Rolle spielte, worüber sie sprach. Von ihrem eigenen Ritt hatte Ista sehr viel weniger zu berichten. Sie konnte gut darauf verzichten, von den jokonischen Pferden zu erzählen, die sie als Strafe empfunden hatte, oder von den grün schillernden Fliegen, die sich um das vergossene Blut gesammelt hatten.

Als sie an einer Säule vorübergingen, streckte Liss die Hand aus und strich mit den Fingern über die filigranen Steinmetzarbeiten. »Es sieht aus wie steingewordener Brokat. Porifors ist eine viel schönere Burg, als ich erwartet hatte. Ist Lord Arhys dy Lutez tatsächlich so ein großer Schwertkämpfer, wie die Gräfin geprahlt hat?«

»Ja. Er erschlug vier von den Feinden, die versucht hatten, mit mir davonzureiten. Zwei weitere sind entkommen.« Sie hatte die beiden nicht vergessen. Im Rückblick war Ista beinahe froh darüber, dass der sprachkundige Offizier unter den Entkommenen war. Sie hatte mit ihm geredet, von Auge zu Auge, und konnte ihn nicht mehr nur als bloße Zahl sehen, die in den namenlosen Reihen der Gefallenen verschwand. Vielleicht war dies eine weibliche Schwäche — so wie die Weigerung, ein Tier zu essen, dem man einen Namen gegeben hatte und das man als Haustier betrachtete.

»Ist es wahr, dass Ihr bei Euer Rückkehr ins Lager auf dem Sattelbaum des Grafen geritten seid?«

»Ja«, sagte Ista knapp.

Liss riss vor Begeisterung die Augen auf. »Wie romantisch! Zu schade, dass er schon verheiratet ist, nicht wahr? Ist er wirklich so gut aussehend, wie seine Frau offensichtlich annimmt?«

»Das kann ich nicht sagen«, murmelte Ista, tat dann aber widerstrebend der Gerechtigkeit genüge und fügte hinzu: »Jedenfalls ist er ziemlich attraktiv.«

»Wundervoll, wenn einem so ein Herr zu Füßen liegt! Ich jedenfalls bin froh, dass Ihr nach all diesen Ereignissen an solch einen Ort gekommen seid.«

»Zu Füßen liegt« trifft es nicht ganz, dachte Ista, sagte aber: »Ich habe nicht vor, hier länger zu verweilen.«

Liss hob die Brauen. »Die Akolythin der Mutter meinte, Ihr könnt noch nicht weit reiten.«

»Ich sollte es wohl nicht. Zumindest wäre es nicht bequem. Aber ich könnte, falls nötig.« Ista folgte Liss’ bewunderndem Blick über den Hof, der so spät am Tag im Schatten lag, und versuchte, den Grund für ihr Unbehagen zu finden — einen Grund, der nichts mit schlechten Träumen zu tun hatte, sondern einen erklärbaren, vernünftigen Grund für eine Frau, die nicht im Mindesten verrückt war. Sie rieb sich die juckende Stelle auf der Stirn. »Wir sind hier zu nahe an Jokona. Ich weiß nicht, welche Bündnisse zu gegenseitiger Hilfeleistung es derzeit zwischen Jokona und Borasnen gibt, aber jeder weiß, dass der Hafen von Visping die Beute ist, auf die meine königliche Tochter ein Auge geworfen hat. Was für den Herbst geplant ist, wird nicht bloß ein Überfall an der Grenze sein. Außerdem gab es hier in diesem Frühjahr einen schrecklichen Vorfall, der die Beziehungen zum Fürsten von Jokona bestimmt nicht verbessert hat.« Ista blickte nicht zu dem Raum an der Ecke der Galerie hin.

»Meint Ihr Porifors Rittmeister, der von diesem jokonischen Höfling niedergestochen wurde? Goram hat mir davon erzählt, als wir dieses fette Palominopferd abgerieben haben. Ein seltsamer Bursche. Ich glaube, er ist nicht ganz richtig im Kopf. Aber er versteht etwas von Pferden.« Sie bemerkte, dass Istas Humpeln schlimmer wurde. »Setzt Euch, Majestät, und ruht ein wenig aus.« Sie führte Ista zu einer Bank, die an einem Ende des Hofes im Schatten lag, und sorgte mit einer Aura entschlossener Achtsamkeit dafür, dass Ista sich niederließ.

Nach einem Augenblick des Schweigens warf sie Ista einen Seitenblick zu. »Wie ich schon sagte — ein seltsamer alter Kauz, dieser Goram. Er wollte wissen, ob eine Königin von höherem Rang ist als eine Prinzessin. Weil ja die Prinzessin die Tochter eines Fürsten ist, Ihr aber nur die Tochter eines Herzogs seid. Und die Witwe von König Orico, Sara, ist zudem noch eine neuere Königinwitwe als Ihr. Ich habe ihm gesagt, dass ein Herzog von Chalion jeden roknarischen Fürsten aufwiegt, und dass Ihr außerdem die Mutter der Königin von ganz Chalion-Ibra seid, und das ist sonst niemand

Ista rang sich ein Lächeln ab. »Er trifft nicht häufig auf Königinnen, nehme ich an. Haben deine Antworten ihn beruhigt?«

Liss zuckte mit den Schultern. »Sieht so aus.« Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist es nicht seltsam, dass ein Mann so betäubt daliegt, und das für Monate?«

Jetzt war es an Ista, mit den Schultern zu zucken. »Schlaganfälle, Schädelbruch, ein gebrochenes Genick … Ertrinken … manchmal geschieht es.«

»Manche erholen sich aber, nicht wahr?«

»Ich nehme an, wenn sie sich erholen, tun sie das … früher. Die meisten, die auf diese Weise niedergestreckt werden, leben danach nicht mehr lange, es sei denn, ihnen wird eine außergewöhnlich gute Pflege zuteil. Es ist ein hässlicher und langsamer Tod. Besser schnell sterben, von einem Augenblick auf den anderen.«

»Wenn Goram für Lord Illvin nur halb so gut sorgt wie für seine Pferde, erklärt es das vielleicht.«

Ista bemerkte, dass der kleinwüchsige Mann aus dem Gemach an der Ecke gekommen war und sich hinter das Geländer gehockt hatte, von wo er die Frauen beobachtete. Nach einiger Zeit erhob er sich wieder, stieg die Treppe hinab und überquerte den Hof. Als er näher kam, verkürzten sich seine Schritte; er zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, und seine eine Hand fasste die andere.

Ein Stück entfernt blieb er stehen, beugte die Knie und senkte den Kopf — erst in Istas Richtung, dann zu Liss, dann wieder zu Ista, als müsse er sich noch einmal vergewissern. Seine Augen besaßen die Farbe von mattem Stahl. Er starrte unter seinen buschigen Brauen hervor, ohne zu blinzeln.

»Ja«, sagte er schließlich und starrte zu Boden. »Sie ist die, wovon er immer geredet hat. Ja.« Er schürzte die Lippen, und sein Blick richtete sich plötzlich auf Liss. »Hast du sie gefragt?«

Liss lächelte schief. »Grüß dich, Goram. Ich war gerade dabei.«

Er schlang die Arme um den Oberkörper und wippte vor und zurück. »Dann frag sie.«

Liss neigte den Kopf. »Warum fragst du sie nicht selbst? Sie beißt nicht.«

»‘b ‘n ‘t«, nuschelte er und starrte wieder auf seine gestiefelten Füße. »Du.«

Liss zuckte in amüsierter Verwirrung mit den Schultern und wandte sich Ista zu. »Majestät, Goram wünscht, dass Ihr hinaufkommt und Euch seinen Herrn anseht.«

Ista lehnte sich zurück und schwieg für einen langen Atemzug. »Warum?«, fragte sie dann.

Goram blickte zu ihr auf, dann wieder hinunter auf seine Füße. »Ihr seid die, von der er immer geredet hat.«

Nach einem weiteren langen Moment sagte Ista: »Gewiss würde kein Mann sich wünschen, dass er von Fremden auf seinem Krankenlager begafft wird.«

»Das ist schon in Ordnung«, behauptete Goram. Er blinzelte; dann starrte er sie wieder unverwandt an.

Liss hatte Lachfältchen um die Augen. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie Ista ins Ohr: »In den Ställen war er redseliger. Ich glaube, Ihr macht ihm Angst.«

Ista dachte, dass sie glattzüngiger Überredungskunst wohl widerstehen könnte. Doch in diesem seltsamen Knäuel fand sie kein Ende, um sich daraus zu befreien. Eindringliche Blicke, eine unbeholfene Zunge, ein stiller Druck der Erwartung … sie konnte einen Gott verfluchen, aber nicht den Knecht.

Sie blickte im Hof umher. Es war weder Mitternacht noch Mittag; es gab nichts, das mit ihren Träumen übereinstimmte. In ihren Träumen waren weder Goram noch Liss zugegen gewesen, und es war die falsche Tageszeit … vielleicht war es sicher. Und mildtätig. Sie atmete tief durch.

»Nun gut, Liss. Wollen wir unsere Pilgerfahrt wieder aufleben lassen und uns eine weitere Ruine ansehen?«

Liss half ihr auf; Neugier spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Bei ihr untergehakt, erklomm Ista langsam die Treppe. Goram sah besorgt zu. Seine Lippen bewegten sich, als würde er in Gedanken jeden ihrer Schritte antreiben.

Die Frauen folgten dem Knecht bis zum Ende der Galerie. Er öffnete die Tür, trat zurück und verbeugte sich wieder. Ista zögerte, dann folgte sie Liss ins Innere.

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