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Ista saß im Rosengarten ihrer Mutter und zwirbelte unruhig ein Taschentuch zwischen den Fingern. Ihre Zofe saß dabei und arbeitete an einer Stickerei, mit einer Nadel, die so dünn war wie ihr Verstand, aber viel schärfer. Zuvor hatte Ista die frische Morgenluft genossen und war eiligen Schrittes im Garten auf und ab gegangen, bis die Zofe sie schließlich laut angefleht hatte, damit aufzuhören. Jetzt blickte sie kurz von ihrer Näharbeit auf und schaute auf Istas Hände, bis diese gereizt das missbrauchte Stück Leinen beiseite legte und stattdessen mit einem ihrer seidenbeschuhte Füße unruhig auf den Boden zu pochen begann. Nein, nicht unruhig — zornig!

Ein Gärtner lief geschäftig umher und goss die Blumen, die zur Jahreszeit der Tochter an sämtlichen Eingängen in Kübeln standen. So war es jahrelang gewesen, unter der Aufsicht der alten Herzogin. Wie lange würde es wohl dauern, bis sich diese alten Gewohnheiten verloren? Oder würde es ewig so weitergehen, als wachte der pedantische Geist der alten Herrin weiterhin darüber, dass sämtliche Pflichten erfüllt wurden? Nein, die Seele der Herzogin befand sich nun in der Obhut der Götter und hatte diese Welt endgültig verlassen. Es gab keine neuen Geister in der Burg, denn wenn es so wäre, hätte Ista ihre Gegenwart gespürt. Sämtliche verlorenen Seelen, die in der Burg umgingen, waren alt und müde und schwanden dahin, kaum mehr als kalte Stellen an den Wänden bei Nacht.

Zwischen gespitzten Lippen stieß Ista den Atem aus und spannte beide Füße ein. Tagelang hatte sie gewartet, bevor sie den Majordomus von ihren Plänen unterrichtete, noch in diesem Frühjahr eine Pilgerfahrt anzutreten. Sie hatte vermeiden wollen, dass das Beispiel der Witwe Caria ihm noch zu lebhaft im Gedächtnis haftete. Eine bescheidene Pilgerreise, nur in kleiner Gesellschaft; mit wenigen Begleitern und maßvollem Gepäck. Kein königlicher Wagenzug mit Hunderten von Reitern, wie der Majordomus es für erforderlich hielt. Dy Ferrej hatte sogleich ein Dutzend Einwände vorgebracht, die einer wie der andere gerechtfertigt waren. Doch das ärgerte Ista nur noch mehr. Außerdem hatte er sich über ihre plötzliche Frömmigkeit gewundert.

Ista hatte angedeutet, dass sie für ihre Sünden Buße tun wollte, aber damit konnte dy Ferrej gar nichts anfangen. Für ihn war es schlichtweg unvorstellbar, dass sie unter seiner gewissenhaften Obhut eine nennenswerte Schuld auf sich geladen haben könnte. Ista musste gestehen, dass er damit nicht Unrecht hatte — zumindest, was die Sünden des Fleisches betraf, an die er offenbar dachte. Und für theologische Feinheiten hatte er gar nichts übrig. Je leidenschaftlicher Ista sich eingesetzt hatte, umso vorsichtiger, ja sturer war dy Ferrej geworden. Zum Schluss hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Je drängender sie bat, umso verrückter musste ihr Plan in seinen Ohren klingen — davon war sie überzeugt. Eine ärgerliche Zwickmühle.

Ein Page eilte durch den Garten. Im Vorübergehen grüßte er Ista mit einer absonderlichen Verneigung, einem knappen Vorbeugen mitten im Sprung. Er verschwand im Bergfried. Einige Minuten später kam dy Ferrej heraus, den Pagen im Kielwasser, und schritt würdevoll durch den Garten. Die Schlüssel der Burg, Symbole seines Amtes, klimperten an seinem Gürtel.

»Wohin des Weges, dy Ferrej?«, rief Ista betont gelassen und zwang sich, die Füße still zu halten.

Er hielt kurz inne und verneigte sich — eine Geste, die sowohl Istas Rang angemessen war wie auch seiner Würde und seinem Körperumfang. Der Page tat es ihm gleich. »Mir wurde gemeldet, dass einige Reiter aus Cardegoss eingetroffen sind, Majestät.« Er zögerte kurz. »Ihr habt eingewendet, dass der Eid, den ich Euch und Eurer Familie geleistet habe, mich nicht nur zu Eurem Schutz verpflichtet, sondern mir auch Gehorsam auferlegt. Ich habe viel über Eure Worte nachgedacht.«

Aha, dieser Pfeil hatte also getroffen. Gut. Ista lächelte leicht.

Er erwiderte das schwache Lächeln, doch es lag auch eine tiefe Befriedigung auf seinem Gesichts. »Da meine Bedenken Euch anscheinend nicht überzeugen konnten, habe ich an den Hof geschrieben und diejenigen um Beistand gebeten, auf deren Stimme ihr hören werdet. Der alte dy Ferrej hat tatsächlich kein Recht, Euch zu widersprechen, abgesehen vielleicht von der Nachsicht, die Ihr ihm nach all den Jahren seiner treuen Dienste schuldet — nein, die Ihr ihm vielleicht gütigst gewähren mögt …«

Ista kniff bei diesen Worten die Lippen zusammen. Was für ein durchtriebenes Spiel.

»Aber Königin Iselle und Prinz Bergon sind Eure Lehnsherren, und sie sorgen sich natürlich um die Sicherheit ihrer Mutter. Und soweit ich weiß, ist auch Kanzler dy Cazaril ein Mann, dessen Meinung Ihr achtet. Wenn ich mich nicht täusche, dürften die Boten einige beruhigende Ratschläge mitbringen.« Er nickte zufrieden und ging weiter.

Ista biss die Zähne zusammen und unterdrückte die Flüche, die ihr zu Iselle, Bergon oder Cazaril auf der Zunge lagen. Obwohl sie eigentlich lieber auf den alten dy Ferrej geflucht hätte, wie er sich gern bezeichnete, was aber nichts weiter war als Sprücheklopferei, denn der Mann war kaum zehn Jahre älter als sie. Doch sie fühlte sich so eingeengt, dass ihr fast die Luft wegblieb. In ihren Bemühungen, sie vor dem alten Wahnsinn zu schützen, würden ihre Beschützer sie bald erneut in den Wahnsinn treiben!

Hinter der Ecke des Bergfrieds erklang klappernder Hufschlag, begleitet von den Stimmen und Rufen der Pferdeknechte. Ista stand rasch auf und folgte dy Ferrej. Ihre Zofe legte die Stickerei beiseite, erhob sich ebenfalls eilig und tippelte hinterdrein, wobei sie leise vor sich hin schimpfte, vermutlich aus bloßer Gewohnheit.

Zwei Ritter vom Orden der Tochter schwangen sich auf dem gepflasterten Vorhof soeben von den Pferden. Dy Ferrej betrachtete sie erfreut und wohlwollend. Es waren gewiss keine Angehörigen des Tempels hier in Valenda — ihre Kleidung und Ausrüstung war in bestem Zustand, und nichts an ihnen wirkte hausbacken oder bäuerlich. Ihre Gewänder zeigten die Handschrift der Schneider von Cardegoss, angefangen von den blank polierten Stiefeln über die ordentlichen blauen Hosen und Untergewänder, die sorgsam bestickten, ärmellosen Überwürfe aus weißer Wolle bis hin zu den grauen Kapuzenmänteln, die in ihrem Orden üblich waren. Ihre Waffen und deren Hüllen waren sauber und sahen überaus gepflegt aus — wenn auch nicht neu. Alle blanken Teile waren poliert, die Lederflächen eingefettet. Einer der Ritter war etwas mehr als mittelgroß, schlank und drahtig. Der andere wirkte muskulös, und an seinem Bandelier hing ein schweres Breitschwert, das ganz gewiss kein höfisches Spielzeug war.

Nachdem dy Ferrej die beiden begrüßt und den Dienstboten ihre Aufgaben zugewiesen hatte, trat Ista an seine Seite. Sie kniff die Augen zusammen. »Kennen wir uns, meine Herren?«

Lächelnd übergaben sie ihre Zügel den Pferdeknechten und begrüßten Ista mit einer höfischen Verbeugung. »Eure Majestät«, meinte der größere der beiden. »Es ist uns eine Freude, Euch wiederzusehen.« Damit sie nicht weiter ihr Gedächtnis quälen musste, fügte er hinzu: »Ich bin Ferda dy Gura, und dies ist mein Bruder Foix.«

»O ja! Ihr seid die beiden jungen Männer, die Kanzler dy Cazaril vor drei Jahren während seiner berühmten Gesandtschaft nach Ibra begleitet haben. Ich bin Euch bei Bergons Amtseinführung begegnet. Der Kanzler und Prinz Bergon haben überaus wohlwollend von Euch gesprochen.«

»Wie liebenswürdig von ihnen«, murmelte der stämmige Foix.

»Wir haben die große Ehre, Euch zu Diensten zu sein, Herrin.« Der ältere dy Gura nahm vor ihr Haltung an und verkündete: »Kanzler dy Cazaril befiehlt uns mit den besten Wünschen an Eure Seite, damit wir Euch auf Eurer Reise begleiten, Majestät. Er würde sich freuen, würdet Ihr uns als Eure rechte Hand betrachten … als Eure rechten Hände.« Ferda stockte und setzte von Neuem an: »Oder als Eure rechte und linke Hand, sollte man wohl besser sagen.«

Sein Bruder zog spöttisch die Brauen hoch und sagte halblaut: »Fragt sich nur, wer welche Hand ist …«

Dy Ferrejs zufriedene Miene wich einem Ausdruck des Erstaunens. »Der Kanzler billigt diese … dieses gewagte Unternehmen?«

Ista fragte sich, welcher weniger schmeichelhafte Wort er heruntergeschluckt hatte.

Ferda und Foix blickten einander an. Foix zuckte die Schultern und wühlte in seiner Satteltasche. »Lord dy Cazaril überreichte mir dieses Schreiben für Euch, Majestät.« Mit schwungvoller Geste händigte er Ista ein gefaltetes Papier aus, das sowohl mit dem großen roten Kanzleisiegel wie auch mit Cazarils persönlichem Zeichen versehen war — einer Krähe, die auf den Buchstaben CAZ hockte und in blaues Siegelwachs eingedrückt war.

Ista nahm das Papier verdutzt entgegen und bedankte sich. Dy Ferrej reckte den Hals, als sie den Brief an Ort und Stelle öffnete, sodass das Wachs zerbröckelte und auf die Pflastersteine rieselte. Ista drehte sich ein wenig von ihm weg und las.

Das Schreiben war kurz und in säuberlicher Kanzleischrift verfasst; sie wurde mit vollem Rang und sämtlichen Titeln angesprochen, sodass die Inscriptio länger war als der eigentliche Text. Dieser lautete:

Ich schicke Euch diese beiden tüchtigen Brüder, Ferda und Foix dy Gura. Sie sollen Euch auf Eurem Weg als Hauptleute und Gefährten begleiten, wohin Ihr Euch auch wendet. Ich gehe davon aus, dass sie Euch ebenso treu zur Seite stehen werden wie mir. Mögen alle fünf Götter Eure Reise segnen. Euer demütiger und gehorsamer … Darauf folgte ein Halbkreis, der in einem kurzen Gekritzel auslief: dy Cazarils Unterschrift.

In derselben krakeligen Handschrift — dy Cazarils Hände waren eher stark als geschickt, erinnerte sich Ista — folgte ein Postskriptum: Iselle und Bergon übersenden Euch noch eine Reisebörse, im Gedenken an die Juwelen, die für eine andere Fahrt versetzt wurden und die letztendlich ein ganzes Reich erkauft haben. Ich habe sie Foix anvertraut. Lasst Euch von seiner Gemütsart nicht irritieren, er ist weit weniger einfältig, als er aussieht.

Ein Lächeln legte sich auf Istas Lippen. »Ich würde sagen, das ist ziemlich offensichtlich.«

Sie reichte den Brief an den ungeduldigen dy Ferrej weiter. Er überflog die Zeilen, wobei sein Gesicht immer länger wurde, doch er war zu beherrscht, seinem Missfallen laut Ausdruck zu verleihen — ohne Zweifel ein Ergebnis der guten Erziehung durch die alte Herzogin.

Dy Ferrej hob den Kopf und schaute die Brüder an. »Aber die Königin kann nicht allein mit zwei Reitern als Bedeckung auf Reisen gehen, wie tüchtig diese Reiter auch sein mögen.«

»Gewiss nicht, Herr.« Ferda verbeugte sich knapp vor ihm. »Wir haben unsere ganze Schar mitgebracht. Ich habe sie unten in der Stadt zurückgelassen, damit sie dem Tempel zur Last fallen und nicht Euch. Zwei Männer habe ich allerdings für eine andere Aufgabe abgestellt. Sie sollten morgen zurückkehren; dann sind wir wieder vollzählig.«

»Eine andere Aufgabe?«, fragte dy Ferrej.

»Marschall dy Palliar hat uns einen edlen Roknari-Hengst anvertraut, eine Kriegsbeute vom letzten Herbst. Wir sollen ihn zum Gestüt unseres Ordens in Palma bringen, wo er die Stuten decken soll.« Ferdas Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Oh, ich wollte, Ihr hättet das Tier gesehen, Majestät! Es schwebt förmlich über dem Boden! Sein Fell glänzt wie Silber! Seine Hufe klingen wie Zimbeln, wenn sie auf den Boden treffen! Sein Schweif weht wie ein Banner hinter ihm her, seine Mähne wie das Haar einer Jungfrau! Es ist ein Wunder der Natur …«

Sein Bruder räusperte sich.

»Ah … jedenfalls«, schloss Ferda, »ist es ein ausgezeichnetes Pferd.«

Dy Ferrej hielt das Schreiben des Kanzlers noch in der Hand und blickte ein wenig abwesend drein. »Nun«, sagte er. »Ich nehme an, wir können uns an Euren Bruder wenden, den Herzog dy Baocia in Taryoon. Er kann eine Einheit seiner Reiterei abkommandieren, um Eure Truppe zu verstärken. Und er kann Damen aus seinem Hause schicken, die in angemessener Weise für Euch sorgen. Eure brave Schwägerin vielleicht; womöglich ist eine Eurer Nichten im geeigneten Alter … jedenfalls Damen von seinem Hof und Eure eigenen Zofen, und die erforderlichen Dienstmägde und Reitknechte. Und wir müssen eine Nachricht an den Tempel schicken, damit er Euch einen geeigneten geistlichen Beistand stellt.« Er stockte kurz. »Nein, ich habe eine bessere Idee. Wir sollten eine Botschaft an Erzprälat Mendenal in Cardegoss aufsetzen. Er soll Euch einen geistlichen Gelehrten von hohem Rang empfehlen!«

»Das würde ja zehn Tage dauern«, meinte Ista aufgebracht. Mindestens. Ihr Entzücken über dy Ferrejs erzwungenen Meinungsumschwung verwandelte sich in Bestürzung. Für sie war die Pilgerfahrt eine Flucht. Doch wenn er es einrichtete, würde sie mit einer regelrechten Armee im Schlepp durch die Landschaft reisen. »Eine solche Verzögerung kann ich nicht hinnehmen. Das Wetter und der Zustand der Straßen haben sich in den letzten Tagen sehr gebessert«, warf sie verzweifelt ein. »Ich würde das klare Wetter gern ausnutzten.«

»Nun, darüber können wir später noch reden«, sagte dy Ferrej und blickte zum wolkenlos blauen Himmel, als würde er ihr dieses Argument zugestehen — unbedeutend, wie es war. »Ich werde mit Euren Damen sprechen und einen Brief an Euren Bruder aufsetzen.« Nachdenklich blickte er vor sich hin. »Iselle und Bergon haben sich gewiss etwas dabei gedacht, als sie Euch diese Börse übersandten. Vielleicht wünschen sie, dass Ihr die Götter um einen Enkel bittet, Majestät? Das wäre ein großer Segen für das Königreich Chalion, und ein geziemendes Anliegen für Eure Pilgerfahrt.« Dieser Einfall entzückte ihn offensichtlich mehr als Ista; immerhin war er selbst erst vor kurzem Großvater eines Enkels geworden. Aber weil er zum ersten Mal ihr gewagtes Unternehmen anerkannte, wollte sie ihm jetzt nicht widersprechen.

Die Brüder dy Gura und ihre Pferde wurden der Gastlichkeit der Burg und ihrer Ställe zugeführt, und dy Ferrej machte sich eilig an die Umsetzung seiner selbst auferlegten Aufgaben. Istas Zofe plapperte sogleich von den Schwierigkeiten, welche die Auswahl der Kleidung für eine solch mühsame Reise mit sich brachte. Es hörte sich an, als hätte Ista eine Fahrt über die Berge nach Darthaca im Sinn, oder noch weiter, und nicht nur einen frommen Spaziergang quer durch Baocia. Ista zog in Erwägung, Kopfschmerz vorzutäuschen und sie so zum Schweigen zu bringen. Das aber konnte ihren Reiseplänen eher schaden, und so biss sie die Zähne zusammen und ließ das Geschwätz über sich ergehen.


Am späten Nachmittag schnatterte die Frau noch immer und verbreitete unablässig neue Sorgen. Drei Dienstmädchen im Gefolge, huschte sie durch Istas Gemächer im alten Bergfried, stellte Dutzende Kleider und festliche Gewänder zusammen, Mäntel und Schuhe, sortierte alles wieder um und wog die Bedürfnisse von Istas Trauerzeit, die selbstverständlich passende Farben vorschrieb, gegen die Erfordernisse jeglicher möglicher oder unmöglicher Eventualität ab. Ista saß auf einem Platz vor dem Fenster, mit Blick auf den Vorhof, und ließ den Wortschwall an sich vorüberplätschern wie das Wasser aus einer Traufe. Allmählich bekam sie wirklich Kopfschmerzen.

Geräusche und geschäftiges Treiben vom Tor her kündigten einen weiteren Besucher außer der Reihe an. Ista beugte sich vor und schaute durch die Fensterflügel. Ein großes, kastanienbraunes Pferd kam mit klappernden Hufen durch den Torbogen. Über seiner abgenutzten Kleidung trug der Reiter einen Wappenrock, auf dem eine Burg und ein Leopard zu sehen waren — das Emblem der Kanzlei von Chalion. Der Reiter schwang sich vom Pferd und wippte auf seinen — nein, ihren Zehen: Die Botin war eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar, das zum Zopf geflochten über ihren Rücken hing. Sie zog ein Bündel hinter dem Sattel hervor und rollte es mit einem Schnappen auseinander. Ein Rock kam zum Vorschein. Wenig sittsam schlug sie ihren Überwurf hoch und wickelte das Kleidungsstück über der Hose um ihre schlanke Taille. Mit einem übermütigen Hüftschwung schüttelte sie den Saum bis auf Knöchelhöhe über die Stiefel.

Dy Ferrej kam heraus. Das Mädchen öffnete die Kanzleitasche und drehte sie um, sodass ein einzelner Brief herausfiel. Dy Ferrej las die Anschrift und riss das Schreiben an Ort und Stelle auf. Ista schloss daraus, dass es sich um ein persönliches Schreiben seiner geliebten Tochter handelte, Lady Betriz, einer Zofe am Hof der Königin Iselle. Seine Miene entspannte sich. Vielleicht waren es Neuigkeiten von seinem Enkel. Bekam er schon die ersten Zähne? Nun, Ista würde bald davon hören. Sie konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.

Das Mädchen streckte sich, verstaute wieder ihre Tasche und betrachtete prüfend die Beine und Hufe ihres Reittiers. Dann übergab sie es dem Knecht mit einer Reihe von Anweisungen. Ista wurde sich bewusst, dass das Kammerfräulein ihr über die Schulter blickte.

Einer Eingebung folgend sagte Ista: »Ich möchte mit der Botin sprechen. Bringt sie zu mir.«

»Herrin, sie hatte nur diesen einen Brief.«

»Nun, dann muss sie mir die Neuigkeiten vom Hof wohl mündlich übermitteln.«

Die Zofe schnaubte. »So ein ungehobeltes Ding dürfte mit den Belangen der Hofdamen in Cardegoss wohl kaum vertraut sein.«

»Sei es, wie es sein mag. Bringt sie zu mir.«

Vielleicht lag es an ihrem scharfen Tonfall, jedenfalls machte die Frau sich auf den Weg.

Nach einer Weile erklangen feste Schritte vom Flur her, und der Geruch nach Pferden und Leder breitete sich in Istas Wohngemach aus und kündete von der Ankunft des Mädchens, noch bevor die missbilligende Stimme ihrer Zofe zu vernehmen war: »Majestät, hier ist die Botin, nach der Ihr verlangt habt.« Ista wandte sich auf dem im Mauerwerk eingelassenen Sitzplatz um und blickte auf. Sie bedeutete der Zofe mit einer Handbewegung, das Gemach zu verlassen; sie ging hinaus, nachdem sie vorher noch einmal abfällig die Stirn gerunzelt hatte.

Das Mädchen sah Ista neugierig, jedoch ein wenig eingeschüchtert an. Sie brachte eine ungeschickte Bewegung zustande, irgendetwas zwischen einer Verbeugung und einem Knicks. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Majestät?«

Das wusste Ista selbst kaum zu sagen. »Wie heißt du, Mädchen?«

»Liss, Majestät.« Nach einem Augenblick verlegenen Schweigens fügte sie hinzu: »Eine Abkürzung für Annaliss.«

»Woher kommst du?«

»Heute? Meine Botentasche habe ich in der …«

»Nein, überhaupt.«

»Nun, mein Vater besaß ein wenig Land in der Nähe der Stadt Teneret, im Herzogtum Labra. Dort züchtete er Pferde für den Ritterorden des Bruders, und Schafe für die Wolle. Das macht er immer noch, soweit ich weiß.«

Ein vermögender Mann. Es war also nicht Armut gewesen, die sie angetrieben hatte. »Weshalb bist du Kurier geworden?«

»Ich hatte vorher nie daran gedacht. Eines Tages aber ritt ich mit meiner Schwester in die Stadt, um ein paar Pferde am Tempel abzuliefern. Da sah ich ein Mädchen vorbeigaloppieren, das als Kurier für den Orden der Tochter unterwegs war.« Sie lächelte, als wäre es eine sehr erfreuliche Erinnerung. »Von diesem Moment an konnte ich an nichts anderes mehr denken.«

Vielleicht lag es daran, dass sie so überzeugt von ihrer Berufung war, vielleicht lag es aber auch an ihrer Jugend und ihrer Kraft: Das Mädchen war zwar überaus höflich, wirkte aber keineswegs scheu in Gegenwart der Königin. Ista nahm es mit Erleichterung zur Kenntnis. »Hast du denn keine Angst, wenn du so ganz allein auf den Straßen unterwegs bist?«

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Zopf hin und her schwang. »Ich reite jeder Gefahr davon. Bisher jedenfalls.«

Ista glaubte das gern. Das Mädchen war zwar größer als sie, aber immer noch kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Mann — selbst als die drahtigen Burschen, die sonst bevorzugt für den Kurierdienst eingesetzt wurden. Ein Pferd würde ihr Gewicht kaum spüren. »Aber … aber ist es nicht unangenehm? Du musst bei Wind und Wetter reiten, bei Hitze, in der Kälte …«

»Ich bin doch nicht aus Zucker. Der Regen macht mir nichts. Und wenn es schneit, hält mich das Reiten warm. Wenn nötig, kann ich mich auch in meinen Mantel wickeln und unter einem Baum auf dem Boden schlafen. Oder auf dem Baum, wenn die Gegend unsicher aussieht. Obwohl die Pritschen in den Kurierstationen natürlich wärmer sind, nicht so ungemütlich.« Spöttisch kniff sie die Augen zusammen. »Nicht ganz so ungemütlich …«

Ista empfand eine gewisse Bewunderung für diese Tatkraft. »Wie lange bist du nun schon für die Kanzlei unterwegs?«

»Seit drei Jahren. Seit ich fünfzehn geworden bin.«

Was hatte Ista mit fünfzehn gemacht? Vermutlich hatte sie sich auf ihre Rolle als Ehefrau eines bedeutenden Fürsten vorbereitet. Als sie so alt war wie dieses Mädchen jetzt, war König Ias auf sie aufmerksam geworden, und damit hatten ihre Vorbereitungen sich in einem Maße ausgezahlt, wie ihre Familie es sich in den kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Nur war Ista von diesen Träumen in einen einzigen langen Albtraum geraten, als Ias’ uralter Fluch auch auf sie fiel. Ein Fluch, der inzwischen gebrochen war, dank der Gnade der Götter und der Taten von Lord dy Cazaril — gebrochen seit drei Jahren. An diesem Tag hatte ihr Geist sich aus dem erstickenden Nebel befreien können, in den der Fluch sie gehüllt hatte. Und die Mattigkeit, die ihr Leben umwob, und die Ausweglosigkeit ihres Daseins waren seither nur noch das Ergebnis langer Gewohnheit.

»Warum hat deine Familie dich so früh gehen lassen?«

Belustigung huschte über das Gesicht des Mädchens und erhellte ihre Züge wie Sonnenstrahlen, die durch grünes Blätterwerk stachen. »Wenn ich so darüber nachdenke … Ich fürchte beinahe, ich habe vergessen, vorher zu fragen.«

»Und der Postmeister hat dich einfach so aufgenommen, ohne die Erlaubnis deines Vaters?«

»Ich nehme an, auch er hat zu fragen vergessen. Damals hat er verzweifelt nach neuen Reitern gesucht. Ist schon erstaunlich, wie schnell die Regeln sich ändern, wenn man in einer Zwangslage steckt. Aber ich habe auch nicht erwartet, dass mein Vater oder meine Brüder den ganzen Weg hinter mir herlaufen und mich zurückschleifen. Schließlich hat er vier weitere Töchter, für deren Aussteuer er sorgen muss.«

»Hast du dich noch am selben Tag davongemacht?«, fragte Ista verblüfft.

Das breite Grinsen wurde noch breiter — auch ihre Zähne waren gesund, bemerkte Ista. »Natürlich! Ich hab mir gedacht, wenn ich jetzt wieder nach Hause gehe und noch einen einzigen Strang Garn spinnen muss, krieg ich einen Schreikrampf. Und meine Mutter hatte nie viel für mein Garn übrig. Sie meinte, es wäre zu knotig.«

Mit dieser Erklärung konnte Ista etwas anfangen. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Meine Tochter ist auch eine begeisterte Reiterin.«

»So erzählt man sich in ganz Chalion, Majestät.« Liss’ Augen leuchteten auf. »In einer einzigen Nacht von Valenda nach Taryoon, und dabei auch noch feindlichen Truppen ausweichen — so ein Abenteuer hatte ich noch nicht! Und auch noch nie solch einen Lohn.«

»Dann lass uns hoffen, dass nie wieder ein Krieg so nahe an Valenda herankommt. Wohin reitest du als Nächstes?«

Liss zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Erst einmal reite ich zurück zu meiner Kurierstation und warte darauf, dass der Postmeister mir die nächste Tasche in die Hand drückt. Dann sehe ich ja, wohin sie muss. Wenn Ser dy Ferrej gleich eine Antwort mitschickt, werde ich wohl etwas schneller unterwegs sein, ansonsten lass ich’s erst mal langsam angehen und gönne meinem Pferd ein bisschen Ruhe.«

»Heute Abend wird er kaum noch etwas schreiben …« Ista wollte nicht, dass das Mädchen fortging. Andererseits sah es ziemlich mitgenommen aus und war schmutzig von der Reise. Liss wollte sich bestimmt erst einmal waschen und sich erfrischen. »Wir sollten noch einmal miteinander sprechen, Liss aus Labra. In einer Stunde wird das Abendessen gereicht. Du wirst mir dort deine Aufwartung machen und an meiner Tafel speisen.«

Überrascht hob das Mädchen die dunklen Augenbrauen. Dann zeigte sie wieder die Mischung aus Hofknicks und Verbeugung. »Wie Ihr befehlt, Majestät.«


Die Speisetafel der alten Herzogin war gedeckt wie Tausende Male zuvor, wenn kein Feiertag die gewohnten Abläufe störte. Es war durchaus behaglich in dem kleinen Speisesaal im neuesten Gebäude der Burg, mit einem offenen Kamin und verglasten Fenstern.

Es war auch die gewohnte Gesellschaft zugegen: Lady dy Hueltar, eine ältliche Verwandte von Istas Mutter und deren langjährige Gesellschafterin; denn Ista selbst; ihre ranghöchsten Zofen sowie der ernste dy Ferrej. Nach stillschweigender Übereinkunft blieb der Stuhl der verstorbenen Herzogin frei. Ista hatte den Platz am Kopf der Tafel nicht beansprucht, und niemand hatte sie dazu gedrängt — vielleicht, weil man es als Ausdruck ihrer Trauer missdeutete.

Dy Ferrej traf ein und brachte Ferda und Foix mit, die beide überaus vornehm und sehr jung aussahen. Hinter ihnen kam die Botin herein und verbeugte sich höflich vor allen Anwesenden. Als sie der Königin allein gegenübergestanden hatte, war sie tapfer und entschlossen aufgetreten, doch der Speisesaal verströmte eine Atmosphäre gesetzten Alters, die selbst einem erfahrenen Veteranen Ehrfurcht eingeflößt hätte. Liss setzte sich steif auf ihren Stuhl und schien sich noch kleiner machen zu wollen, obwohl sie die beiden Brüder mit Interesse musterte. Der Geruch nach Pferd haftete nun nicht mehr so penetrant an ihr, obwohl Lady dy Hueltar immer noch die Nase rümpfte. Doch am Tisch gegenüber von Ista blieb noch immer ein Gedeck unbenutzt — und bestimmt nicht für die verstorbene Herzogin.

»Erwarten wir noch einen Gast?«, wollte Ista von dy Ferrej wissen.

Dieser räusperte sich und nickte der alten Lady dy Hueltar zu.

Auf deren runzligen Antlitz erschien ein Lächeln. »Ich habe beim Tempel in Valenda nach einer geeigneten Priesterin fragen lassen, die Euch auf der Fahrt als geistlicher Beistand zur Seite stehen kann, Majestät. Wenn wir schon nicht nach Cardegoss schicken und uns von dort einen Geistlichen kommen lassen, der mit den höfischen Gepflogenheiten vertraut ist, sollten wir zumindest nach einem geeigneten Ersatz Ausschau halten. Ich dachte an Hochwürden Tovia vom Orden der Mutter. Ihr Ruf als Theologin ist vielleicht nicht so bedeutend, doch sie ist eine ausgezeichnete Heilkundige, und sie kennt Euch von klein an. Es wäre gewiss eine Erleichterung, könnten wir auf jemand Vertrauten zurückgreifen, falls uns während der Reise irgendwelche fraulichen Beschwerden plagen, oder … oder wenn Eure früheren Probleme sich erneut einstellen. Und ich wüsste keinen, der Eurem Geschlecht und Rang angemessener wäre.«

Die Geistliche Tovia war eine Busenfreundin der verstorbenen Herzogin gewesen und war auch mit Lady dy Hueltar sehr gut bekannt; Ista konnte sich die drei gut auf einem gemütlichen Ausflug an einem sonnigen Frühlingstag vorstellen. Bei den Göttern, nahm Lady dy Hueltar etwa an, bei dieser Fahrt dabei zu sein? Ista unterdrückte das Bedürfnis, würdelos aufzuschreien — wie Liss bei dem Gedanken an das Garn.

»Ich wusste, Ihr würdet Euch freuen«, fuhr Lady dy Hueltar fort. »Und ich dachte mir, Ihr wolltet vielleicht schon während des Essens Eure Reiseroute mit ihr durchgehen.« Sie runzelte die Stirn. »Es sieht Tovia gar nicht ähnlich, sich zu verspäten.«

Ihre Stirn glättete sich wieder, als ein Dienstbote hereinkam und verkündete: »Der Gast aus dem Tempel ist eingetroffen, Herrin.«

»Ausgezeichnet. Führt sie sogleich herein.«

Der Diener öffnete den Mund, als wollte er noch etwas anmerken. Dann aber verbeugte er sich und verschwand.

Als die Tür erneut aufschwang, trat eine atemlose Gestalt hindurch, die unerwartet vertraut wirkte: Der übergewichtige junge Geistliche des Bastards, den Ista vor ungefähr zwei Wochen beim Pilgerzug gesehen hatte. Heute waren seine weißen Roben nur um Weniges sauberer — zwar frei von Straßenstaub, an Saum und Vorderseite aber mit Schmutzrändern gezeichnet. Abrupt blieb er stehen, als ihm auffiel, dass alle Anwesenden ihn anstarrten.

Sein Lächeln wurde unsicher. »Guten Abend, edle Damen, edle Herren. Ich wurde aufgefordert, der Lady dy Hueltar meine Aufwartung zu machen. Es ging um eine Pilgerreise, für die noch ein Geistlicher gesucht wurde …«

Lady dy Hueltar fand ihre Sprache wieder. »Ich bin Lady dy Hueltar. Soweit ich unterrichtet bin, wollte der Tempel eine Heilkundige der Mutter schicken, die Geistliche Tovia. Wer seid Ihr?«

Ista hörte deutlich heraus, dass Lady dy Hueltar nur mit größter Mühe eine unhöflichere Betonung der Frage unterdrücken konnte: Wer seid Ihr?

»Oh …« Er verneigte sich kurz. »Der Geistliche Chivar dy Cabon, zu Euren Diensten.«

Nun, immerhin konnte er mit einem angesehenen Namen aufwarten. Er blickte zu Ista und Ser dy Ferrej. Auch er erkannte sie wieder, stellte Ista fest, und war ebenso überrascht wie sie.

»Und wo ist Hochwürden Tovia?«, fragte Lady dy Hueltar verwundert.

»Soviel ich weiß, hat sie die Stadt verlassen. Ihre ärztlichen Fertigkeiten wurden verlangt, in einem schwierigen Fall in einiger Entfernung von Valenda.« Sein Lächeln wurde noch unsicherer.

»Dann heiße ich Euch willkommen, Hochwürden dy Cabon«, sagte Ista nachdrücklich.

Dy Ferrej erinnerte sich an seine Pflichten: »Ja. gewiss. Ich bin dy Ferrej, der Majordomus der Burg, und dies ist die Königinwitwe Ista …«

Dy Cabon kniff die Augen zusammen und musterte Ista eindringlich. »Tatsächlich …«, flüsterte er.

Dy Ferrej bekam nichts davon mit oder beachtete es nicht. In der Reihenfolge ihres Ranges stellte er die dy-Gura-Brüder sowie die anwesenden Damen vor, und zuletzt, ein wenig zögernd: »Liss, eine Botin der Kanzlei.«

Dy Cabon verbeugte sich gleichermaßen unbeschwert vor allen Anwesenden.

»Aber so geht das doch nicht … Da muss ein Irrtum vorliegen, Hochwürden«, fuhr Lady dy Hueltar fort und warf Ista einen flehenden Blick von der Seite zu. »Es ist die Königinwitwe persönlich, die zu einer Pilgerfahrt aufbrechen und die Götter um einen Enkel bitten möchte. Ihr seid nicht … das ist nicht … wir wissen nicht … ob ein Geistlicher aus der Kirche des Bastards, noch dazu ein Mann, tatsächlich die am besten geeignete, äh, Person …« Sie verstummte in der Hoffnung, dass jemand sie aus der Klemme befreite, in die sie selbst sich manövriert hatte.

Ista lächelte innerlich.

Weich wie Seide merkte sie an: »Irrtum oder nicht, es ist Zeit zum Abendessen. Wenn Ihr heute Abend unseren Tisch mit Eurer Gelehrsamkeit segnen würdet, Hochwürden, und unser Tischgebet anleiten wollt …?«

Seine Miene hellte sich auf. »Es wäre mir eine Ehre, Majestät.«

Ista wies ihm einen Stuhl an, und er setzte sich, lächelnd und blinzelnd. Erwartungsvoll schaute er zu dem Dienstboten, der ein Becken mit lavendelduftendem Wasser zum Händewaschen herumreichte. Mit wohlgesetzten Worten und wohlklingender Stimme segnete dy Cabon die Speisen. Was immer er sonst sein mochte, ein Bauerntrampel war er nicht. Dann machte er sich mit gesegnetem Appetit über die Mahlzeit her. Hätte der Koch der Herzogin es beobachten können — ihm wäre das Herz aufgegangen nach all den Jahren im Dienste gleichgültiger, älterer Herrschaften. Nur Foix konnte da ohne sichtbare Mühe mithalten.

»Seid Ihr ein Angehöriger jener Familie Cabon, die mit dem derzeitigen Großmeister des Ritterordens der Tochter verwandt ist, mit dy Yarrin?«, fragte Lady dy Hueltar höflich.

»Ich nehme an, ich bin so etwas wie ein Cousin dritten oder vierten Grades von ihm, verehrte Dame«, erwiderte der Geistliche, nachdem er einen weiteren Bissen verschlungen hatte. »Mein Vater war Ser Odlin dy Cabon.«

Die beiden dy-Gura-Brüder blickten interessiert auf.

»Oh«, warf Ista überrascht ein. »Ich glaube, ich bin ihm vor vielen Jahren am Hof von Cardegoss begegnet.« Unser fetter Cabon, hatte der König ihn leutselig genannt. Doch in der verhängnisvollen Schlacht von Dalus war er so tapfer gestorben wie jeder schlanke und ranke Edelmann. Ista zögerte einen Augenblick; dann fügte sie hinzu: »Ihr seht ihm ähnlich.«

Der Geistliche nickte in offensichtlicher Freude. »Das höre ich gern.«

Ein Anflug von Übermut bewog Ista, die Frage auszusprechen, die ganz gewiss keiner der anderen Anwesenden zu stellen wagte: »Seid Ihr ein Sohn der Lady dy Cabon?«

Der Geistliche zwinkerte ihr über das Fleischstück auf seiner Gabel hinweg zu. »Leider nein. Doch mein Vater fand trotzdem ein wenig Gefallen an mir und hinterlegte eine Stiftung bei der Kirche, als es an der Zeit für mich war, zur Schule zu gehen. Dafür war ich ihm später sehr dankbar. Meine Berufung für das geistliche Leben kam nicht eben mit der Heftigkeit eines Blitzschlags über mich. Sie entwickelte sich langsam, so wie ein Baum wächst.« Dy Cabons rundes Gesicht und seine geistlichen Gewänder ließen ihn älter aussehen, als er war. Er konnte kaum über dreißig sein; vielleicht war er sogar bedeutend jünger.

Zum ersten Mal seit langem drehten die Gespräche bei Tisch sich nicht nur um die verschiedensten Gebrechen alter Leute, um Schmerzen und Zipperlein und Verdauungsbeschwerden. Stattdessen ging es um die neuesten Entwicklungen in Chalion-Ibra. Die dy-Gura-Brüder wussten einiges über den erfolgreichen Feldzug des letzten Jahres zu berichten, in dessen Verlauf Marschall dy Palliar die Bergfestung Gotorget zurückerobert hatte, eine Schlüsselstellung an der Grenze zu den feindseligen Fürstentümern der Roknari im Norden, und über die hilfreiche Anwesenheit des jungen Prinzgemahls Bergon auf dem dortigen Schlachtfeld.

»Während des letzten Angriffs auf die Festung bekam Foix einen üblen Schlag mit einem Kriegshammer ab«, erklärte Ferda. »Den halben Winter hat er dann im Bett verbracht, anfangs mit gebrochenen Rippen, zu denen später eine Lungenentzündung kam. Als er wieder auf den Beinen war, hat Kanzler dy Cazaril ihn als Kanzleigehilfen beschäftigt, damit die Knochen in Ruhe zusammenwachsen konnten. Unser Vetter dy Palliar war der Ansicht, ein kleiner Ausflug zu Pferde würde ihm helfen, seine Form wieder zu finden.«

Eine leichte Röte zeigte sich auf Foix’ breitem Gesicht, und verlegen schaute er zu Boden. Liss musterte ihn ein wenig zweifelnd, doch ob sie ihn sich mit einem Schwert oder mit der Schreibfeder in der Hand vorzustellen versuchte, vermochte Ista nicht zu sagen.

Unweigerlich brachte Lady dy Hueltar wieder einmal zum Ausdruck, wie sehr sie es missbilligte, dass Königin Iselle selbst in den Norden gereist war, um ihrem Gemahl und den aufregenden Ereignissen nahe zu sein. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Iselle im Anschluss daran eine gesunde Tochter zur Welt gebracht hatte — vielleicht war es ja gerade deshalb eine Tochter geworden!

»Ich kann mir kaum vorstellen«, merkte Ista trocken an, »dass es ein Junge geworden wäre, wäre Iselle die ganze Zeit in Cardegoss und im Bett geblieben.«

Lady dy Hueltar murmelte undeutlich etwas vor sich hin. Ista erinnerte sich an die bissigen Bemerkungen ihrer eigenen Mutter, als sie vor vielen Jahren Iselle geboren hatte, eine Tochter König Ias’. Als ob sie irgendetwas hätte tun können, dass es anders gekommen wäre. Und als ob es irgendetwas gebracht hätte, dass sie dann auch noch einen Sohn zur Welt brachte … Sie runzelte die Stirn bei der Erinnerung an diesen alten Schmerz. Als sie aufschaute, fing sie dy Cabons Blick auf, der sie eindringlich musterte.

Der Geistliche lenkte das Gespräch rasch auf unverfänglichere Themen. Dy Ferrej genoss es, die eine oder andere alte Geschichte vor einem neuen Publikum wieder hervorkramen zu können, und Ista neidete es ihm nicht. Dy Cabon erzählte einen anzüglichen Witz, der jedoch harmloser war als so manches, was Ista am Tisch des Königs zu hören bekommen hatte. Das Kuriermädchen lachte laut auf, worauf Lady dy Hueltar ihr einen tadelnden Blick zuwarf. Liss legte sich erschrocken die Hand auf den Mund.

»Lach ruhig«, sagte Ista zur ihr. »In diesem Haus habe ich seit Wochen kein Lachen mehr gehört. Seit Monaten.« Seit Jahren.

Wie mochte ihre Pilgerfahrt verlaufen, wenn sie nicht eine Schar selbst ernannter Wachhunde hinter sich herschleppen musste, missmutig und zu alt für den Ritt über beschwerliche Straßen? Wenn sie stattdessen mit Menschen reisen konnte, die lachten und scherzten? Mit jungen Menschen, die nicht von Verlust und Schuld bedrückt wurden? Und wenn sie es wagen durfte, daran zu denken: mit Menschen, für die sie selbst die geachtete Älteste war und nicht das missratene Kind, das zurechtgewiesen werden musste. Wie Ihr befehlt, Majestät, und nicht: Ich bitte Euch, Lady Ista, Ihr könnt doch nicht …

»Dy Cabon«, sagte sie unvermittelt. »Ich möchte dem Tempel danken, dass er an mich gedacht hat, und ich würde mich freuen, wenn Ihr mir auf der Reise als geistlicher Beistand zur Seite steht.«

»Ich fühle mich geehrt, Majestät.« Dy Cabon verbeugte sich im Sitzen so tief, wie sein Bauch es zuließ. »Wann brechen wir auf?«

»Morgen«, kündigte Ista an.

Rund um den Tisch erhoben sich die Stimmen im Chor. Einwände wurden vorgebracht; Personen wurden aufgezählt, die nicht anwesend waren — Kammerfräulein, deren Zofen und Pferdeknechte; fehlende Garderobe, Ausrüstung, Reit- und Packtiere kamen zur Sprache sowie die bewaffnete Begleitung, die der Herzog von Baocia zur Verfügung stellen sollte, die aber noch nicht eingetroffen waren.

»Ihr habt ja alle Recht!« Ista erhob die Stimme, um das Geplapper zu übertönen, und tatsächlich setzte wohltuende Stille ein. »Ich bin nicht mehr die Jüngste«, fuhr sie fort, »nicht die Kräftigste und nicht die Tapferste, und ich weiß auch nichts über die Unbilden einer solchen Reise. Also werde ich dafür sorgen, dass mir all diese Eigenschaften zu Gebote stehen: Ich werde Liss mitnehmen, die Botin der Kanzlei, als Zofe und Reitknecht zugleich. Kein weiteres persönliches Gefolge. Das spart uns schon mal drei Dutzend Maultiere.«

Liss hätte beinahe den Bissen wieder ausgespuckt, auf dem sie gerade kaute.

»Aber sie ist nur eine Botin!«, stieß Lady dy Hueltar hervor.

»Ich kann Euch versichern, Kanzler dy Cazaril wird sie mir nicht missgönnen. Ein Kurier muss stets bereit sein, dorthin zu reiten, wohin man ihn befiehlt. Was sagst du dazu, Liss?«

Liss starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, schaffte es endlich, zu schlucken, und brachte hervor: »Ich … ich tauge mehr zum Reitknecht denn als Zofe, Majestät, aber ich werde mein Bestes versuchen.«

»Gut. Mehr kann niemand verlangen.«

»Ihr seid die Witwe des Königs von Chalion!« Dy Ferrej jammerte beinahe. »Ihr könnt doch nicht ganz ohne Förmlichkeiten durchs Land reisen!«

»Ich wollte in aller Demut eine Pilgerfahrt machen, dy Ferrej, keinen Triumphzug veranstalten. Andererseits … wenn ich nun keine Königin wäre? Nehmen wir einmal an, ich wäre eine gewöhnliche Witwe aus gutem Hause. Was würde ich an Bediensteten mitnehmen? Welche Vorsichtsmaßnahmen wären sinnvoll?«

»Ihr wollt also unerkannt reisen?« Dy Cabon wusste sofort, worauf sie hinauswollte, während die anderen weiterhin Einwände vorbrachten und gar nicht merkten, dass ihre Worte ins Leere liefen. »Das würde Euch gewiss einige Ablenkung ersparen, und Ihr könntet Euch leichter auf das spirituelle Anliegen Eurer Reise konzentrieren, Majestät. Ich nehme an … eine solche Dame würde einfach nur die Kirche um die übliche Eskorte bitten, und die Kirche würde der Bitte nachkommen, mit den Berittenen, die gerade verfügbar sind.«

»Gut. Dafür ist bereits gesorgt. Ferda, können Eure Leute morgen aufbrechen?«

Dy Guras schlichte Antwort beendete das lautstarke Wirrwarr der Einwände. »Gewiss, Majestät«, sagte er. »Wie Ihr befehlt.«

Erschrockenes Schweigen setzte ein. Erstaunen und Nachdenklichkeit spiegelten sich auf einigen Gesichtern.

Ista lehnte sich zurück, und ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

»Ich muss mir Gedanken über einen geeigneten Namen machen«, sagte sie schließlich. »Weder dy Chalion noch dy Baocia kommen in Frage. Beide sind ein wenig zu auffällig.« Dy Hueltar? Ista erschauerte. Nein. Im Geiste ging sie eine Liste weitläufiger Verwandter der Herzöge von Baocia durch. »Dy Ajelo würde passen.« Sie hatte kaum jemals ein Mitglied der Familie Ajelo gesehen, und diese hatte auch niemals eine Zofe Itas gestellt. Sie hegte keinen Groll gegen diesen Namen. »Doch ich werde weiterhin als Ista auftreten. Der Name ist nicht so ungewöhnlich, dass er Aufsehen erregen würde.«

Der Geistliche räusperte sich. »Wir werden uns heute Abend noch zusammensetzen müssen. Ich weiß nicht, welche Strecke ich für Euch auswählen soll. Eine Pilgerfahrt sollte einem spirituellen Reiseweg folgen, dessen Stationen aber nicht der Bequemlichkeit und Schnelligkeit der Reise im Wege stehen sollten.«

Ista hatte sich bisher weder über das eine noch über das andere Gedanken gemacht. Und wenn das nicht geschah, würde man ihr einen Reiseweg aufzwingen. Vorsichtig fragte sie: »Wohin führt Ihr die Pilger normalerweise, dy Cabon?«

»Nun, das hängt sehr vom Anlass der Fahrt ab.«

»Ich habe Karten in meinen Satteltaschen, die vielleicht die eine oder andere Eingebung bringen könnten. Ich hole sie, wenn Ihr wünscht«, bot Ferda an.

»Ja«, erwiderte der Geistliche dankbar. »Das wäre überaus hilfreich.«

Ferda eilte aus dem Speisesaal. Draußen neigte sich der Tag seinem Ende entgegen, und die Dienstboten gingen lautlos in der Halle umher und entzündeten die Wandleuchter. Foix stützte sich bequem mit den Ellbogen auf dem Tisch ab, lächelte Liss liebenswürdig zu und fand noch Platz für ein weiteres Stück Honig-Nuss-Kuchen, während er auf die Rückkehr seines Bruders wartete.

Wenige Minuten später kehrte Ferda mit großen Schritten zurück, sorgsam gefaltete Papiere in beiden Händen. »Hier habe ich eine Karte von Baocia, und von den Herzogtümern im Westen bis hin nach Ibra.« Er breitete eine fleckige, abgegriffene Karte auf dem Tisch zwischen Ista und dem Geistlichen aus. Dy Ferrej blickte skeptisch über dy Cabons Schulter.

Der Geistliche musterte die Karte einige Minuten lang mit gerunzelter Stirn; dann räusperte er sich und sah zu Ista hinüber. »Wie man uns beigebracht hat, soll der Reiseweg einer Pilgerfahrt deren spirituellem Anliegen dienlich sein. Letzteres mag einfach und direkt sein oder vielfältig und verschlungen, doch es umfasst zumindest eines der folgenden fünf Ziele: Dienst, Bitte, Dankbarkeit, Erkenntnis und Buße.«

Buße. Die Götter um Verzeihung bitten. Dy Lutez, dachte Ista unwillkürlich. Die eisige Erinnerung an diese finstere Stunde verdunkelte noch immer ihr Herz, selbst an diesem hellen Abend. Und doch, wer schuldete wem eine Entschuldigung für diese Katastrophe? Wir alle waren daran beteiligt — die Götter, dy Lutez, Ias und ich.

Wenn diese alte Verletzung sich heilen ließ, indem man sich vor dem Altar der Götter erniedrigte, hatte sie es bereits zur Genüge getan — ausreichend für ein Dutzend dy Lutez. Und doch blutete diese Narbe noch, tief im Innern, wenn man daran rührte.

»Ich habe mal erlebt, wie ein Mann um Maultiere gebetet hat«, warf Foix freundlich ein.

Dy Cabon blinzelte. Dann fragte er: »Hat er welche bekommen?«

»Ja, ganz hervorragende Tiere.«

»Die Wege der Götter sind manchmal unergründlich«, murmelte dy Cabon, der diese Geschichte offensichtlich erst einmal verdauen musste. »Nun … Eure Pilgerfahrt, Majestät, dient der Bitte. Der Bitte einen Enkel, soweit ich verstanden habe. Ist es nicht so?« Er legte eine einladende Pause ein.

Ist es nicht. Doch sowohl dy Ferrej wie auch Lady dy Hueltar äußerten ihre Zustimmung, und Ista berichtigte sie nicht.

Dy Cabon fuhr mit dem Finger über die fein gezeichnete Karte. Sie war dicht beschriftet mit Ortsnamen, durchzogen von kleinen Flüssen und mit mehr Bäumen verziert, als auf der Hochebene von Baocia tatsächlich zu finden waren. Dy Cabon wies auf den einen oder anderen Schrein hin, welcher der Mutter oder dem Vater geweiht war und im Umkreis von Valenda lag, und beschrieb die Vorzüge eines jeden. Ista zwang sich, weiterhin auf die Karte zu blicken.

Tief im Süden, außerhalb des Randes der Karte, lagen Cardegoss und der Palast und die Festung des Zangre, voller schlimmer Erinnerungen. Nein. Im Osten lag Taryoon. Auch nicht. Also nach Westen und Norden. Ista ließ die Fingerspitze über die Karte gleiten, bis sie zu den »Zähnen des Bastards« gelangte, eine Bergkette, welche die lange Grenze zu Ibra markierte — jenem Königreich, das erst vor so kurzer Zeit im Ehebett ihrer Tochter mit Chalion vereinigt worden war. Nordwärts, entlang der Ausläufer der Berge, auf irgendeiner leicht zugänglichen Straße. »Dort entlang.«

Dy Cabon kniff die Brauen zusammen und blickte blinzelnd auf die Karte. »Ich weiß nicht genau, was …«

»Ungefähr einen Tagesritt westlich von Palma liegt eine Stadt, wo der Orden der Tochter eine bescheidene Herberge unterhält, recht gemütlich«, merkte Ferda an. »Wir haben schon einmal dort übernachtet.«

Dy Cabon leckte sich die Lippen. »Hm. Ich kenne ein Gasthaus nahe Palma, das wir noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können, wenn wir nicht trödeln. Es hat eine hervorragende Küche. Außerdem gibt es dort eine heilige Quelle, sehr alt. Eine Stätte von minderer Bedeutung, doch wenn Sera Ista dy Ajelo eine Pilgerfahrt in aller Demut unternehmen möchte, ist ein bescheidener Anfang vielleicht das Beste für ihre Zwecke. Und die bedeutenden Heiligtümer sind um diese Jahreszeit für gewöhnlich überfüllt.«

»In diesem Fall sollten wir die Menschenmassen meiden, uns in Demut üben und unsere Gebete an dieser Quelle sprechen. Oder bei den Erzeugnissen dieser Küche, falls es sich so ergibt.« Istas Lippen bebten.

»Ich nehme nicht an, dass wir unsere Gebete mit der Goldwaage abwägen müssen wie irgendeine zweifelhafte Münze«, entgegnete dy Cabon vergnügt, von ihrem flüchtigen Lächeln ermuntert. »Wir können ruhig beides tun und Fülle mit Fülle vergelten.« Der Geistliche ließ Zeige- und Mittelfinger wie Beine von Valenda nach Palma über die Karte wandern und weiter zu dem Ort, auf den Ferda gezeigt hatte. Er zögerte und drehte seine Hand ein weiteres Mal in eine andere Richtung. »Und wenn wir früh genug aufstehen, erreichen wir von dort nach einem weiteren Tagesritt Casilchas. Ein verschlafenes kleines Nest, doch meine Kirche unterhält dort eine Akademie. Einige meiner früheren Lehrer arbeiten immer noch dort. Die Akademie verfügt über eine ausgezeichnete Bibliothek, zumindest für eine Einrichtung dieser Größe. Viele Geistliche, die dort unterrichtet haben, hinterließen nach ihrem Tod ihre Bücher. Bedenkt man an den Zweck unserer Pilgerfahrt, ist ein Priesterseminar des Bastards sicher kein Ort, an den man Station machen würde. Aber ich muss gestehen, dass ich diese Bibliothek gern zurate ziehen würde.«

Ista fragte sich, ob dieses Seminar auch über einen guten Koch verfügte. Sie stützte das Kinn auf die Hand und musterte den beleibten jungen Mann, der ihr gegenübersaß. Wie war man im Tempel zu Valenda bloß auf die Idee gekommen, ihn zu ihr zu schicken? Seine halbwegs adlige Abkunft? Wohl kaum. Aber erfahrene Pilgerführer hatten gewiss schon sämtliche spirituellen Schlachtpläne ihrer Zöglinge im Voraus ausgearbeitet. Ohne Zweifel gab es sogar Bücher mit erbaulichen Belehrungen zu diesem Thema. Das war es vielleicht, was dy Cabon sich von der Bibliothek erhoffte: eine genaue Anleitung, die ihm verriet, wie er die weitere Reise gestalten sollte. Vielleicht hatte er zu viele geistliche Lehrstunden damals in Casilchas verschlafen.

»Gut«, befand Ista. »Die Gastfreundschaft der Tochter in den beiden ersten Nächten, und danach die des Bastards.« Dann war sie schon mal drei Tagesritte weit weg von Valenda. Ein guter Anfang.

Dy Cabon wirkte erleichtert. »Ausgezeichnet, Majestät.«

Foix brütete immer noch über den Karten. Er hatte eine weitere vor sich ausgebreitet, die ganz Chalion im Überblick zeigte und naturgemäß weit weniger detailliert war als diejenige, die dy Cabon benutzt hatte. Er folgte mit dem Finger dem Weg von Cardegoss nordwärts nach Gotorget. Diese Festung schützte das eine Ende einer Kette unzugänglicher, wenn auch nicht sonderlich hoher Berge, die entlang der Grenze zwischen Chalion und dem roknarischen Fürstentum von Borasnen verliefen. Foix runzelte die Stirn. Ista fragte sich, was für schmerzhafte Erinnerungen der Name dieser Festung in ihm wachrief.

»Diese Gegend wollt Ihr sicherlich meiden«, meinte dy Ferrej, der beobachtet hatte, wie Foix’ Hand auf Gotorget verweilte.

»Allerdings, Herr. Ich würde sagen, wir sollten uns vom gesamten mittleren Bereich der Nordgrenze Chalions fernhalten. Nach dem Feldzug letztes Jahr gibt es immer noch Unruhen in dieser Region. Königin Iselle und Prinz Bergon sammeln bereits Truppen für den nächsten Vorstoß im Herbst.«

Dy Ferrej hob interessiert die Brauen. »Planen sie bereits einen Angriff auf Visping?«

Foix zuckte mit den Schultern und ließ den Finger nordwärts gleiten, bis er die Küste und die bezeichnete Hafenstadt erreichte. »Ich bezweifle, dass man Visping überhaupt mit nur einem Feldzug einnehmen kann, aber wenn es gelänge — umso besser. Die fünf Fürstentümer in zwei Hälften teilen, einen Hafen für Chalion gewinnen, in den sich die Flotte von Ibra zurückziehen könnte …«

Dy Cabon beugte sich über den Tisch, bis die Kante sich tief in seinen Bauch drückte, und schaute ebenfalls auf die andere Karte. »Das Fürstentum Jokona, dort im Westen, wäre das nächste Ziel, wenn Borasnen fällt. Oder werden wir in Richtung Brajar vorstoßen? Oder in beide Richtungen zugleich?«

»Zwei Fronten gleichzeitig zu eröffnen wäre unklug, und Brajar ist ein unsicherer Verbündeter. Jokonas neuer Fürst ist jung und noch unerprobt. Zuerst sollten wir Jokona zwischen Chalion und Ibra in die Zange nehmen — und abzwacken. Dann wenden wir uns nach Nordosten.« Foix kniff die Augen zusammen, und sein wohlgeformter Mund nahm einen verbissenen Ausdruck an, während er über diese Strategie nachdachte.

»Werdet Ihr Euch dem Feldzug im Herbst anschließen, Foix?«, erkundigte Ista sich höflich.

Er nickte. »Wohin der Marschall dy Palliar zieht, dahin folgen die Brüder dy Gura. Als Rittmeister wird Ferda wahrscheinlich schon im Hochsommer anfangen müssen, Pferde für die Reiterei zu sammeln. Und damit ich ihn nicht vermisse und mich in Sehnsucht verzehre, wird er auch für mich irgendeine unangenehme, schmutzige Aufgabe dabei finden.«

Ferda kicherte, und Foix lächelte ihm freundschaftlich zu, offensichtlich ohne Groll.

Ista fand an Foix’ Einschätzung der Lage nichts auszusetzen. Sie konnte sich auch gut vorstellen, wie er dazu gekommen war. Weder Marschall dy Palliar noch Prinz Bergon noch Königin Iselle waren Dummköpfe, und Kanzler dy Cazaril war ein Mann mit scharfem Verstand. Und er hatte nicht viel übrig für die Seeherren der Roknari, die ihn einst in die Sklaverei auf die Galeeren verkauft hatten. Visping war eine Beute, die das Spiel wert war.

»Wir sollten uns jedenfalls westlich halten und all den Unruhen aus dem Weg gehen«, schloss sie. Dy Ferrej nickte zustimmend.

»Ausgezeichnet, Majestät«, sagte dy Cabon, faltete Ferdas Karten zusammen und gab sie zurück, wobei er einen leisen, wehmütigen Seufzer ausstieß. Beneidete er seinen Vater um den heldenhaften Tod in der Schlacht, oder fürchtete er ein ähnliches Schicksal? Ista konnte es nicht sagen.

Kurz darauf ging die Gesellschaft auseinander. Doch die Planungen und Diskussionen über die Reise und die Beschwerden von Istas Hofdamen hielten an.

Du kannst deine Probleme nicht lösen, indem du vor ihnen davonläufst, hieß es. Aber das traf nicht immer zu, wie Ista wusste. Manche Probleme konnte man nur lösen, indem man sich nicht darauf einließ. Und als die klagenden Damen endlich die Kerzen löschten und Ista zur Nacht allein ließen, kehrte ihr Lächeln zurück.

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