24

Auf schmerzenden Beinen schob Ista sich die engen Treppen zum Turm empor, tastete sich an der rauen, gerundeten Steinwand entlang, bis sie schließlich auf eine Fläche von unerwarteter Helligkeit trat. Zu Füßen der Brüstung im Norden und im Süden standen Kerzen aufgereiht, befestigt mit Tropfen ihres eigenen Wachses. In der reglos stehenden Nachtluft brannten sie hell und ohne Flackern. Die Hitze stieg in den sternübersäten Nachthimmel empor, doch alles in allem war die Luft auf dem Turm viel weniger schwer und abgestanden als im Vorhof.

Mit ihrer Ankunft schien die Plattform voll zu sein. Ista begutachtete das Arrangement, das sie angeordnet hatte, und atmete erleichtert auf. Lady Cattilara, mit einem einfachen Gewand bekleidet, lag auf der einen Seite still auf einem lakenbedeckten Strohlager. Ein weiteres Lager war neben ihr vorbereitet und ebenfalls mit abgenutztem Leinen bezogen worden. Es stand noch leer. Die Näherin mit ihrem Korb, Goram und dy Cabon, dessen Roben inzwischen völlig verdreckt waren — sie alle warteten besorgt ab. Diese kleine Gesellschaft musste ausreichen. Die wenigen Heilkundigen und Akolythen der Mutter, die in der belagerten Stadt noch am Leben waren, litten selbst unter Fieber oder Schlimmerem, und durch die eingestürzten Tunnel konnten sie ohnehin nicht in die Burg gebracht werden.

Illvin trat aus dem finsteren Treppenhaus und schirmte die Augen gegen den Kerzenschein ab. »Majestät, könnt Ihr so überhaupt Ausschau halten und das Vorankommen meines Bruders verfolgen?«

»Ich werde nicht diese Augen gebrauchen. Und Eure Pfleger müssen Euch auch sehen können.« Sie streckte die stoffliche Hand aus und berührte den unsichtbaren grauen Faden, der ihr eine gewisse Sicherheit vermittelte. Er schien sich von ihrem Herzen aus in die Dunkelheit unten auszudehnen. »Ich werde ihn gewiss nicht verlieren.«

Illvin holte tief Luft und ließ sich auf der leeren Lagerstatt nieder. Dann legte er sein Schwert zur Seite, schälte sich aus dem gesprenkelten und schweißfleckigen Hemd und rollte seine weiten Hosenbeine auf. Goram half ihm beim Ablegen der Stiefel. Illvin streckte seine langen Beine aus und legte sich zurück; sein Gesicht war eher erstarrt als gefasst, und seine dunklen, geweiteten Augen blickten hinauf zu den Sternen. Wolkenfetzen zogen wie graue Federn über das glitzernde Gewölbe, Feuchtigkeit außerhalb ihrer Reichweite. »Ich bin bereit.« Seine Stimme klang rau, und nicht nur vom Mangel an Wasser.

Aus der Burg unter ihnen hörte Ista das leise Rasseln der Zugbrücke, die langsam wieder hochgezogen wurde. Das Klirren von Rüstungen und Hufschläge entfernte sich von den Mauern und verlor sich in der Ferne. Der graue Faden bewegte sich nun wie durch einen finsteren Tümpel und ähnelte einer Angelleine, die von einem Hecht mitgezogen wurde. »Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen beginnen.« Sie kniete zwischen den beiden Liegen nieder.

Illvin ergriff ihre Hand und drückte sie gegen die Lippen. Als Ista sie zurückzog, streichelte sie seine schlüpfrige Stirn. Nahm sich zusammen. Schloss die verwirrenden Eindrücke aus, die auf ihre Augen einstürmten, und wandte sich der Wirrnis von Licht und Schatten zu, als die sie mittlerweile das Reich der Geister wahrnehmen konnte. Sie hatte den Verdacht, dass die Götter den Anblick für sie vereinfachten und die Wirklichkeit darunter noch sehr viel komplizierter und fremdartiger war.

Sie hob die Verengung auf, die sie um das weiße Rinnsal aus Illvins Herz gelegt hatte, öffnete die Verbindung weit. Seelenfeuer strömte hervor und vereinigte sich mit dem trägen, schwerfälligen Strom, der von Cattilara ausging. Es floss in die Nacht hinaus und wand sich dabei um den grauen Faden herum, ohne ihn zu berühren. Das Leben wich aus Illvins Gesicht; es wurde starr und wächsern. Ista schauderte.

Sie wandte sich ab und betrachtete die schlafende Cattilara. Hinter dem dünnen Brustbein wirbelte der Dämon wild umher. Hier baute sich ein erheblicher Druck auf und steuerte einem katastrophalen Zusammenbruch entgegen. Istas nächste Aufgabe war gefährlich für sie alle, doch sie konnte sich ihr nicht entziehen. Sehr viele Seelen standen bei diesem Ritt auf dem Spiel …

Sie verengte den Strom von Cattilara und drückte das Seelenfeuer von ihrem Herzen hinauf in den Kopf. Der Dämon versuchte zu folgen, doch sie legte ihre wie von Schnee gezeichnete Linke auf Cattilaras Schlüsselbein. Fasziniert schaute sie auf den gräulichen Glanz, der plötzlich von ihren Fingern ausging. Der Dämon schrumpfte wieder in sich zusammen und winselte in neuerlichem Schrecken. Cattilara schlug die Augen auf.

Sie versuchte, sich zu erheben, doch ihr Körper war weiterhin gelähmt. »Ihr!«, schrie sie Ista an. »Verflucht, lasst mich gehen!«

Ista atmete langsam aus. »Arhys ist unterwegs. Habt Mitleid mit seinen Feinden, denn der Tod kommt über sie aus der Finsternis auf einem Dämonenpferd, und Schwert und Feuer bringt er mit sich. Viele werden ihn heute Nacht begleiten, auf seiner Reise zum Anwesen seines Vaters, und ihre Seelen werden vor dem hallenden Tritt seiner Füße hergetrieben wie zerfetzte Flaggen. Ihr müsst nun wählen. Werdet Ihr ihm helfen oder ihn behindern auf seiner letzten Reise?«

Cattilara warf den Kopf vor und zurück in verbissenem Leugnen. »Nein! Nein! Nein!«

»Der Gott selbst erwartet seine Ankunft. In diesem schicksalhaften Augenblick hält er den heiligen Atem an. Arhys’ Herz fliegt ihm schon voraus zu den Händen des Vaters wie eine Brieftaube. Selbst wenn er nun noch zurückgezogen werden könnte, er würde den Rest seines Lebens — und es wäre nicht mehr lang, denke ich — vor diesem Fenster verbringen und sich nach seiner letzten Heimat verzehren. Er würde es Euch nicht danken. Er kann Euch nicht lieben, wenn sein ganzes Herz bereits in jenem anderen Reich weilt. Ich fürchte, er könnte gar lernen, Euch zu hassen; denn nun weiß er, was für einer Herrlichkeit Ihr ihn beraubt. Für diesen abschließenden Moment, den letzten Augenblick der Zeit und der Wahl, denkt nicht daran, was Ihr begehrt. Denkt daran, was er begehrt. Nicht an Eure Wünsche, sondern an sein Bestes.«

»Nein!«, schrie Cattilara.

»Also gut.« Ista streckte die Hand aus, um die Verengung zu lösen. Dabei behielt sie stets den unruhigen, aufrührerischen Dämon im Blick.

Cattilara drehte den Kopf zur Seite und flüsterte: »Ja.«

Ista hielt inne, atmete aus. Flüsterte zurück: »Dann bete ich, dass die Götter mich noch verstehen mögen und mein geflüstertes Ja alle gerufenen Nein übertönt und bis in ihr fünffältiges Reich emporsteigen kann. Wie ich gehört wurde, so höre ich auch Euch.« Sie schluckte schwer. »Haltet Euren Dämon auf Kurs. Das wird nicht einfach.«

»Wird es sehr wehtun?«, fragte Cattilara. Endlich blickte sie Ista in die Augen. Ihre Stimme wäre fast unhörbar gewesen, wäre es auf der Plattform nicht so still gewesen. Nicht einmal ein Rascheln von Kleidung war zu vernehmen von den Leuten, die dastanden und abwarteten.

Ja. Nein. Ich habe keine Ahnung. »Ja, ich glaube schon. Wie bei jeder Geburt.«

»Oh. Gut.« Sie wandte sich wieder ab, doch diesmal nicht, um die Wirklichkeit zu leugnen. Ihre Augen glänzten feucht, aber ihr Gesicht war noch immer so reglos wie geschnitztes Elfenbein.

Ista hob die Hand, musste allerdings gar nicht mehr eingreifen. Cattilaras Gesicht wurde schlaff, und das weiße Feuer entströmte mit doppelter Heftigkeit ihrem Herzen, vereinte sich mit dem Strom, der von Illvin ausging, wurde zu einem Sturzbach, der über die Brüstung nach unten brauste.

Also werdet Ihr nicht alleine reiten, Arhys. Bei Euch sind die Herzen der beiden Menschen, die Euch am meisten lieben. Sie hoffte, dass sein Körper am anderen Ende dieser weißen Leine den Ausbruch als eine Woge von Begeisterung empfing.

Sie erhob sich und eilte zur Brüstung, bedeutete dabei den anderen, Verbände und Aderpressen bereitzuhalten. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Die Straßen glichen grauen Bändern, die offenen Flächen lagen faltig zu ihren Füßen, wie dunstverhangene Decken auf einem ungemachten Bett. Die Bäume des Walnusshaines standen schwarz und schweigend. Einige vereinzelte Wachfeuer brannten im feindlichen Lager, und jokonische Reiter patrouillierten gemächlich außerhalb der Bogenschussweite. Ein Mosaik aus dahingleitenden Schatten erreichte die Bäume und schlüpfte zwischen den Patrouillen hindurch.

Ista hielt Ausschau, mit aller Kraft ihres zweiten Gesichts, folgte dem weißen Strom und dem dünnen grauen Faden bis zu dem Ort, wo ein Dutzend Seelenfunken sich im Dunkel rührten, auf den schwächeren Lebenslichtern ihrer Pferde. Arhys’ gräuliches Glühen war unverkennbar, und Foix’ violett getönter Doppelschatten ebenso. Durch all die dazwischenliegenden, umherziehenden Massen konnte sie deutlich sehen, wie Arhys dem dämonisch leuchtenden Umriss seines Pferdes die Sporen gab und das Tier zum Galopp antrieb. Rasch näherte er sich dem ruhigen, farbigen Faden zum Lebensglanz eines Zauberers und stieß darauf hinunter wie ein Falke auf die ahnungslose Beute.

»Seht Ihr Foix?« Liss’ atemlose Stimme erklang dicht neben ihrem Ohr.

»Ja. Er reitet an Arhys’ Seite.«

Erst als das erste Zelt umstürzte, wurden Alarmrufe laut. Weitere Schreie und das Klirren von Stahl schnitten durch die Nacht, und die berittenen Patrouillen wirbelten herum und hielten auf das Lager zu. Unvermittelt dehnte sich die Schlange aus dämonischem Zauberlicht und riss. Eine bläuliche Fontäne von Seelenfeuer schoss empor, trennte sich, während Ista noch zusah, von einem gleißend purpurroten Streifen, der davoneilte, Splitter von Seelensubstanz mit sich riss und in davonfliegenden Fetzen hinter sich herzog. Das bläuliche Aufwallen wand sich in Qual und verging ins Anderswo. Der purpurrote Streifen setzte sich in einem herannahenden Seelenfunken irgendwo unter den Bäumen fest. Sowohl der Dämon wie auch der Empfänger wurden durch die Erschütterung der Ankunft zunächst einmal niedergestreckt. Doch die Schlange blieb verschwunden.

»Der Erste«, verkündete Ista laut.

Keine Schreie oder Rufe waren von den Angreifern zu vernehmen. In grimmiger, entschlossener Lautlosigkeit rückten sie vor. Erreichten den bleichen Umriss eines weiteren Zeltes, in dem der Kopf einer weiteren farbigen Schlange endete. Das Zelt schwankte, bebte, und fiel dann in sich zusammen. Der jokonische Zauberer bündelte seine Kraft für einen Zauber gegen seine Angreifer. Ista sah das Aufblitzen dämonischer Magie, und der Blitz ging geradenwegs durch Arhys hindurch, ohne Halt zu finden. Sie hörte den überraschten und ängstlichen Aufschrei des Zauberers, und wie er abgeschnitten wurde. Der ferne, dumpfe Laut, den sie noch vernahm, mochte von einer Enthauptung herrühren. Ein weiterer violetter Streifen löste sich von einem weiteren blauweißen Ausbruch. Der violette Schimmer bewegte sich erschüttert und unsicher und fuhr dann hektisch in ein Pferd, das soeben von einem jokonischen Reiter ins Gefecht gelenkt wurde. Das Tier stolperte, brach zur Seite aus, warf seinen Reiter ab und fuhr herum. In gestrecktem Galopp floh es über die Straße Richtung Oby. Der herausgerissene Schlangenkopf schien noch einen Augenblick hinterher zu tasten, als suche er nach einer Möglichkeit, erneut zuzustoßen. Dann aber fiel er in sich zusammen und verging in einem Funkenregen.

»Zwei erwischt«, verkündete Ista.

Ein Zelt fing Feuer, und flackernder Schein loderte unter den Bäumen auf, gelb und hell. Auf der anderen Seite des Hains, in den großen grünen Kommandozelten, wurden Lichter entzündet. Ohne Zweifel waren nun auch die Zauberer auf den Beinen, die beim ersten Schlag noch geschlafen hatten. Wenn sie nicht durch den Lärm geweckt worden waren, hatte gewiss Joen sie inzwischen aus dem Schlaf gerissen. Wie lange würden die überraschten Jokoner brauchen, um ihre Verteidigung zu ordnen? Oder den Gegenangriff?

Ein weiteres Aufspritzen von Seelenfeuer brannte sich in Istas inneres Auge, diesmal ohne Dämon. War ein gewöhnlicher Feind erschlagen worden, oder einer von Arhys’ wagemutigen Freiwilligen? Aus dem Blickwinkel der Götter, erkannte sie, machte es keinen Unterschied. All diese Tode, all diese Geburten wurden gleichermaßen in ihrem Reich willkommen geheißen.

»Drei«, zählte sie mit, während der Angriff weiterging.

»Gewinnen wir?«, frage Liss atemlos.

»Kommt darauf an, was du darunter verstehst.«

Am vierten Zelt scheiterten die Angreifer schließlich. Drei Zauberer-Schlangen hatten sich dort vereint. Vielleicht war Arhys für sie irgendwie unsichtbar, denn sie konzentrierten sich auf Foix. Natürlich — sie mussten annehmen, dass ein anderer Zauberer die größte Bedrohung für sie darstellte, mussten ihn fälschlich für das Herz oder Haupt des feindlichen Vorstoßes halten. Leuchtende Seelenfunken schwankten, ruckten, wirbelten durch Istas benommene Wahrnehmung. Brüllend ging der Bär zu Boden, unter einem Netz aus Feuer. Dann wurden die vierte und die fünfte Schlange enthauptet. Ihre langen Leiber peitschten zornig im Todeskampf, ehe sie in einem strahlenden Licht zerstoben. Ista hörte eine Frau aufschreien, wild und wütend, vor diesem fernen, grün illuminierten Zelt. Doch die roknarischen Worte waren unverständlich und verzerrt vor Entfernung und Zorn.

»Ich glaube, sie haben Foix«, verkündete Ista.

Hinter ihr ertönte ein dreimaliges Keuchen. »Hilfe!«, rief die Näherin. Kreidebleich fuhr Liss herum und nahm wieder ihren Posten an Cattilaras Seite ein.

Sowohl an Cattilaras wie auch an Illvins Oberschenkel klafften lange, dunkle Schnitte. Kurz sah man den rotbraunen, pulsierenden Muskel, das blasse Band einer Sehne, dann füllten sich die Zwillingswunden mit Blut. Die Näherin und Liss, Goram und dy Cabon beeilten sich, jeden Schnitt mit Kompressen zuzudrücken, zu verbinden und den Blutfluss zu stillen.

Ja. Ihre Strategie war gut. Hätte ein einzelner diesen Schwertstreich hinnehmen müssen, wäre er bis auf den Knochen durchgegangen. Doch die halben Wunden waren auch nur halb so ernst. Beinahe hätte sie laut, wenn auch düster aufgelacht, als sie sich das Entsetzen von Arhys’ Gegner vorstellte. Er musste wissen, wie schwer er getroffen hatte — vom Aufprall, anhand der Erschütterung der Klinge nach dem Auftreffen auf dem Knochen, von der Prellung, die seinen eigenen Arm erbeben lassen musste —, und doch würde er nun mit ansehen müssen, wie die Wunde sich vor seinen Augen wieder schloss. Vielleicht war es eben dieser Mann, dessen lauter Aufschrei jetzt aus dem Hain emporschallte. Habt ihr gedacht, ihr könntet alle Arten von Albträumen auf Porifors herabrufen und selbst unbeschadet dabeisitzen? Nun könnt ihr erleben, wie Porifors diesen Gefallen erwidert. Wir halten stand.

Noch für eine kleine Weile.

Sie wandte den Kopf und versuchte wieder, unter den Bäumen etwas wahrzunehmen. Sie hatte den Eindruck, dass sie Arhys’ beständiges Vorankommen im Lager allein anhand der Schreckenslaute verfolgen konnte, als die Gegner vor seinem bleichen Antlitz und seiner tödlichen Klinge schreiend flohen. Und natürlich an den Strömen strahlenden Seelenfeuers, die er auf seinem Weg hinter sich zurückließ. Er war nicht mehr beritten; sie konnte nicht genau sagen, wann das geschehen war. Sie hoffte, dass er noch nicht allein war, dass er noch Kameraden hatte, die ihm den Rücken freihielten.

Ich fürchte, inzwischen ist er allein.

Ein seltsamer feuchter Laut erklang hinter ihr. Sie schaute über die Schulter und sah, dass ihre Helfer eiligst Kompressen gegen Illvins und Cattilaras Leiber drückten. Das war ein Armbrustbolzen. Sie fragte sich, ob Arhys ihn herausgezogen und zurück auf seine verdutzten Feinde geschleudert hatte, oder ob er ihn als eine Art Abzeichen hatte stecken lassen. Für jeden anderen Mann, zu jeder anderen Zeit, wäre es ein tödlicher Treffer gewesen. Und bald wird es mehr davon geben. Bei den Göttern, hier ist ein dy Lutez, der es versteht, dreimal zu sterben. Und drei mal dreimal, wenn es sein muss.

Sie fiel hinter der Brüstung auf die Knie und klammerte sich an die Steine.

Ihr kam es vor, als schmelze ein großer, schwarzer Gletscher in ihrem Herzen, ein eisiger Damm, als Fiele die Hitze von hundert Sommern in einer Stunde darüber her. Risse bildeten sich, er fiel auseinander. Und in dem meilentiefen und meilenlangen See dahinter kräuselten sich Wellen erwartungsvoll im eisig grünen Wasser, liefen von Ufer zu Ufer und wühlten die Fluten auf, von der Oberfläche bis zu den tiefsten Tiefen. Arhys, im Vorhof habe ich Euch gesegnet. Doch Ihr habt den Segen erwidert. Wir retten uns gegenseitig. Die Götter mögen Zeuge sein, wie wir in diesem Morgengrauen zusammen reiten.

Ihr fünf mögt Ehrfurcht in uns erwecken. Doch ich denke, auch wir können eure Ehrfurcht erringen.

»Sieben«, flüsterte sie halblaut.

Und dann ging irgendwas schief. Ein Zögern, ein Zurückweichen. Zu viele, viel zu viele Seelenfunken umschwärmten nun die graue Flamme. Er ist umzingelt, abgeschnitten. Dutzende, die zuvor vor ihm geflohen sind, stürmen ihm nun entgegen, ermutigt von ihrer Zahl, kühn genug, ihn zu Fall zu bringen.

In der Mitte Eurer Feinde hat Euer Vater ein Festmahl für Euch bereitet, an einem Tisch, den er schon vor langer Zeit für Euch gedeckt hat. Und jetzt ist es soweit …

Ein weiterer dumpfer Laut ertönte, und noch einer. Hinter ihr rief Liss mit schriller Stimme: »Herrin, es sind zu viele Wunden! Ihr müsst das beenden!«

Dy Cabon knurrte angespannt: »Majestät, denkt daran, was Ihr Arhys versprochen habt. Cattilara soll leben …«

Und ein gewisser dickbäuchiger weißer Gott hat mir Illvin versprochen, falls ich Ihn nicht missverstanden habe. Falls wir beide überleben. Ein gottgesandter Liebhaber, aufdringlich und frech wie ein narbiger Streunerkater, der sich an meiner Wachsamkeit vorbei in mein Herz schmeichelt. Solange ich ihn füttern kann.

Sie blickte über die Schulter zurück. Illvins Körper zuckte hoch unter der übertragenen Wucht eines massiven Schlages gegen Arhys’ Rücken. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck drehte Goram ihn auf den Bauch, um den blutigen Riss zu erreichen. Cattilaras weiße Hand wurde am Gelenk halb abgetrennt, und Liss stürzte hinzu und stoppte das hervorschießende Blut. Jetzt. O ja, jetzt. Ista schloss die Hand um den Strom aus weißem Feuer, der an ihrer Schulter vorüberfloss. Der Zufluss endete abrupt. Heftige Erschütterungen pulsierten von ihrer Hand aus in beide Richtungen. Die violette Umfassung zersplitterte. Das weiße Feuer, seit Tagen der beständige Begleiter in ihrem zweiten Gesicht, erlosch.

Ein Augenblick der Stille. Dann erscholl aus dem dunklen Hain ein groteskes, mit Hysterie vermischtes, triumphierendes Brüllen von einem halben Hundert Jokonern.

Der Damm aus Eis zerbarst. Eine Wasserwand ragte auf, neigte sich und brach, schoss voran und brandete gegen die Ufer, drückte Istas Seele weit und noch weiter auf, wusch und spülte die Steine, die Trümmer, den modrigen, verklumpten Unrat einer ganzen Lebensspanne vor sich her, schwemmte alles brodelnd und donnernd vor sich her. Ista breitete weit die Arme aus, öffnete den Mund und ließ es heraus.

Der graue Faden war unter den heftigen Bränden kaum mehr zu sehen. Er spannte sich zu einem straffen Tau und bewegte sich zurück durch ihre plötzlich geweitete Seele, schneller und schneller, bis er sich unter der raschen Bewegung zu erhitzen schien. Er glich einem überbeanspruchten Seil, das jederzeit verkohlen oder in Flammen ausbrechen konnte. Für einen kurzen Augenblick querte Arhys überraschte, gequälte, ekstatische Seele die ihre.

Ja. Wir alle, ein jedes lebende Wesen, sind Tore zwischen den Reichen — dem des Stofflichen, in dem wir geboren werden, und dem des Geistes, in das wir alle durch den Tod neu geboren werden. Arhys war von seinem eigenen Tor abgeschnitten und hatte für immer den Weg dorthin verloren. Also oblag es mir, ihm für eine Weile das meine zu leihen. Doch eine so große Seele braucht ein weites Portal. Deshalb reiß meine Tore aus den Angeln, stürze meine Mauern nieder, drücke die Hindernisse meiner Seele beiseite und schaffe dir deinen Weg. Ich gebe dir die Erlaubnis. Und sage dir Lebewohl.

»Ja«, flüsterte Ista. »Ja.«

Er blickte nicht zurück. Wenn man bedachte, was er vor sich sah, war Ista nicht im Mindesten überrascht.

Es ist vollbracht, Herr Wintervater. Ich hoffe, Ihr seid zufrieden.

Sie hörte keine Stimme und sah keine strahlende Gestalt. Doch ihr kam es so vor, als spürte sie ein Streicheln auf der Stirn, und der Schmerz dahinter, der schon seit Stunden in ihrem Kopf gewütet hatte, wurde in eiserne Bande geschlagen und verebbte. Das Ende des Schmerzes war wie ein Vogelzwitschern am frühen Morgen.

Tatsächlich waren Vögel zu hören, erkannte sie benommen. Hier im lieblichen Reich der Materie erklang das lustige, geistlose Gezwitscher zwischen den Büschen unterhalb der Burgmauern. Die grauen Wolkenfetzen am verblassenden Sternenhimmel zeigten eben erst ein blasses, glühendes Rosa, und die Farben kehrten von Ost nach West in die Welt zurück. Ein kleiner Streifen zartgelben Lichts erstrahlte am östlichen Horizont.

Illvin stöhnte. Ista wandte sich um und sah, dass er sich in dy Cabons Griff aufsetzte und blutdurchtränkte Bandagen vom unversehrten Leib riss. Seine Lippen öffneten sich, als er das Ausmaß des Durcheinanders erfasste. Die Fetzen färbten sich rot, während die Farbe in die Welt zurücksickerte. »Fünf Götter.« Er schluckte einen Anflug von Übelkeit herunter. »Das war eine schlimme Geschichte, am Ende. Nicht wahr.« Es war keine Frage.

»Ja«, sagte Ista. »Doch nun ist er fort. Sicher hinübergegangen.« Irgendwie wusste sie, dass im Hain unter ihnen die Jokoner, rasend vor Furcht, Arhys’ Leib in Stücke hackten, ihn zerrissen aus Angst, er könne sich trotz allem wieder zusammenfügen und gegen sie erheben. Doch sie sah keinen Nutzen, dies jetzt Illvin gegenüber zu erwähnen.

Cattilara lag zusammengekrümmt auf der Seite und weinte in stummen, abgehackten Schluchzern. Sie hielt den Schwamm in den Händen, mit dem man die Blutung an ihrem Bauch gestillt hatte; sie umklammerte ihn so fest, dass das Blut zwischen ihren Fingern hervorquoll. Die Näherin tätschelte ihr die Schulter, ungeschickt und nutzlos.

Die Welt um Ista verdunkelte sich, als würde die Morgendämmerung wieder hinter den Horizont zurückweichen, abgestoßen von dem Anblick, der sich ihr bot. Wie ein zufälliger Wandersmann schlenderte eine Stimme in ihren Verstand und sprach zu ihr: vertraut, ironisch und überwältigend.

Meine Güte! Ist das mit einem Mal geräumig hier!

»Was macht Ihr denn hier? Ich dachte, dies wäre das Schlachtfeld Eures Stiefvaters?«

Du hast mich eingeladen. Na, na, das kannst du nicht abstreiten: Ich habe dein Flüstern in der Ecke gehört.

Sie war sich nicht sicher, ob sie noch irgendetwas hierbei empfinden konnte. Ganz sicher keinen Zorn. Ihre körperlose Ruhe mochte entweder auf Gelassenheit zurückzuführen sein, oder auf einen Schock. Aber der Bastard war ein Gott, dem man mit Vorsicht begegnete. »Warum zeigt Ihr Euch nicht?«

Weil ich nun hinter dir stehe. Seine Stimme klang warm und belustigt. Der Druck eines ungeheuren Bauches schien ihr den Rücken zu wärmen; hinzu kam die unanständige Andeutung von Lenden, die gegen ihr Gesäß drückten, und von breiten Händen auf ihren Schultern.

»Ihr habt einen abscheulichen Humor«, meinte sie schwach.

Ja, und du verstehst jeden meiner Scherze. Ich schätze Frauen mit feinem Gehör. Er schien in ihre Ohren zu atmen. Du solltest auch eine leidenschaftliche Zunge haben, finde ich.

In ihrem Mund brannte es wie Feuer.

»Warum bin ich hier?«

Um Arhys’ Sieg zu vervollständigen. Wenn du es vermagst.

Die Stimme verklang. Die Dunkelheit wich dem blassen, schattendurchzogenen Licht der Morgendämmerung. Sie stellte fest, dass sie auf dem Boden der Plattform kniete und Illvin sie beunruhigt stütze.

»Ista? Ista!«, sprach er in ihr Ohr. »Majestät, Liebste, verängstigt nicht Euren bedauernswerten, nackten Verehrer. Sagt doch etwas!«

Sie blinzelte, sah noch verschwommen. Enttäuscht stellte sie fest, dass er nur ein fast nackter Verehrer war. Die blutdurchtränkten Fetzen seiner Leinenhosen lagen immer noch hoch geschoben um seine Lenden. Davon abgesehen sah er allerdings abenteuerlich aus: Sein verfilztes Haar hing ihm wirr ins Gesicht und über die Schultern; es war schweißnass und rußverschmiert, stinkend und mit roten Schlieren durchzogen. Doch all seine Narben waren alt und verblasst. Als er sah, dass sie seinen Blick erwiderte, schnaufte er erleichtert. Er beugte sich vor und küsste sie. Sie wehrte seine Lippen mit der Handfläche ab. »Wartet. Nicht jetzt.«

»Was war denn los?«, fragte er.

»Habt Ihr etwas gehört? Oder jemanden gesehen?«

»Nein. Doch ich könnte schwören, Ihr habt!«

»Wie bitte? Könntet Ihr nicht eher schwören, dass ich verrückt geworden bin?«

»Nein.«

»Und dabei seht Ihr gar nichts vom Licht der Götter, und Ihr hört keine Stimme. Wie könnt Ihr Euch sicher sein?«

»Ich habe das Gesicht meines Bruders gesehen, als Ihr ihn gesegnet habt. Und das Eure, als er Euren Segen erwiderte. Wenn das Wahnsinn ist, dann würde ich mich in seine Arme werfen, so wie ich bin. Und barfuß hinter ihm herlaufen.«

»Ich werde langsam gehen.«

»Gut …«

Er half ihr auf.

Besorgt fragte Liss: »Majestät, was ist mit Foix?«

Ista seufzte. »Foix ging zu Boden, umringt von vielen Kriegern und Zauberern. Aber ich habe nicht gesehen, wie seine Seele aufstieg oder sein Dämon floh. Ich fürchte, er wurde gefangen genommen, vielleicht auch verwundet.«

»Das … ist nicht so gut«, merkte dy Cabon an. Er kniete noch immer neben Illvins Lager. In einer abgehackten, nervösen Bewegung knirschte er mit den Zähnen. »Meint Ihr, Joen kann ihn in ihre Schar eingliedern?«

»Ich glaube schon. Wenn sie die Zeit dafür hat. Ich weiß allerdings nicht, wie lange er ihr widerstehen kann.« Ihr Götter, ich will nicht einen weiteren Jungen verlieren.

»Ganz und gar nicht gut«, stimmte Illvin zu.

Kaum hatte er ausgeatmet und stand selbst sicher auf den Füßen, ertönte ein Schrei. Gorams Stimme: »Lady Catti! Nein!«

Ista fuhr herum. Cattilara war aufgestanden, das blutige Kleid bauschte sich um ihren Leib. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen. Das Leuchten des Dämons in ihrem Innern erfüllte den gesamten Körper und pulsierte heftig.

»Der Dämon hat die Herrschaft an sich gerissen!«, rief Ista aus. »Er übernimmt sie. Ergreift sie, lasst sie nicht entkommen!«

Goram stand am nächsten und versuchte, sie am Arm zu packen. Ein violettes Licht erstrahlte in ihrer Handfläche, und sie schleuderte es ihm entgegen. Keuchend ging er zu Boden. Ista wankte auf sie zu, trat zwischen sie und den Durchgang zum Treppenhaus. Cattilara sprang vor, schreckte dann aber zurück. Sie riss die Hände empor, als müsse sie die Augen abschirmen. Wild blickte sie um sich. Ihre Knie spannten sich, und sie stürzte auf die Mauer zu.

Liss machte einen Satz und bekam sie am Knöchel zu fassen. Cattilara wirbelte herum, knurrte und riss Liss an den Haaren. Illvin sprang herbei, zögerte kurz und schätzte ab, dann schlug er ihr gezielt gegen die Schläfe. Halb betäubt taumelte sie zurück.

Ista stolperte und fiel neben ihr auf die Knie. Für ihre Augen war Cattilaras Dämon ein Geschwulst, das seine Ausläufer durch den gesamten Leib ausstreckte. Wie eine parasitische Ranke wand er sich um den Stamm der Seele, zehrte von ihrer Stärke, ihrem Leben, ihrem Licht. Stahl von der Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit, ihrer Sprache, ihres Wissens und ihrer Erinnerung, die er wegen der grundlegenden Unordnung seines Wesens niemals selbst würde ausbilden können.

Oh. Nun weiß ich, wie ich es anfangen muss.

Sie griff mit den Händen ihres Geistes zu und holte den Dämon mitsamt seiner sich zurückziehenden Ausläufer aus Cattilaras Seele. Er kam nur widerwillig, wälzte sich in Panik umher wie ein Geschöpf der See, das aus dem Wasser gezerrt wird. Ista streckte eine materielle Hand aus, faltete die Finger wie einen Fächer auseinander und schob die mitgerissenen Fetzen von Cattilaras Seele zurück, bis nur noch der Dämon in ihrem Griff zurückblieb. Unsicher hielt sie das Geschöpf vor ihr Gesicht.

Ja, ermunterte sie die Stimme. So ist es richtig. Mach weiter.

Sie zuckte mit den Achseln und schob sich den Dämon in den Mund, schluckte ihn hinunter.

»Und was jetzt? Möchtet Ihr diese Metapher bis zu ihrer logischen Auflösung fortführen? Es würde Euch ähnlich sehen, nehme ich an.«

Das will ich dir ersparen, süße Ista, stellte die Stimme belustigt fest. Doch ich schätze deinen bösen Humor. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Meinst du nicht auch?

In ihrer wohl bewehrten Seele gab es keine Ritze, in der sich der Dämon festklammern, festkrallen oder Halt finden konnte. Und das lag nicht nur daran, dass der Gott bei ihr war. Sie fühlte, wie der Dämon auf der anderen Seite ihre Seele verließ und in die Welt des Geistes überging, vor Furcht zu einem kleinen Rinnsal zusammengeschrumpft. Er ging in die Hände des Gottes, seines Herrn, und war fort.

»Was geschieht mit den Bruchstücken der anderen Seelen, die noch mit dem Geschöpf verstrickt sind?«, fragte sie besorgt. Doch die Stimme war wieder fort, oder antwortete zumindest nicht auf ihre Frage.

Cattilara lag zusammengekrümmt auf der Plattform. Sie keuchte, wurde von einem Schluckauf und abgehackten Schluchzern erschüttert.

Illvin räusperte sich entschuldigend und schüttelte seine Hand. »Der Dämon hat versucht, Euch zu Tode zu stürzen und so seine Freiheit zu gewinnen«, meinte er zu ihr.

Sie blickte mit verzerrtem Gesicht zu ihm auf. Mit abgehackter Stimme meinte sie: »Ich weiß. Ich wünschte, es wäre ihm geglückt.«

Ista winkte die Näherin, Goram und Liss zu sich heran. »Bringt sie zu Bett, in ein richtiges Bett, und ruft ihre Damen herbei. Lasst ihr sämtliche Annehmlichkeiten zuteil werden, die diese Burg noch bereitstellen kann. Sorgt dafür, dass sie nicht alleine bleibt. Ich sehe nach ihr, sobald ich kann.« Sie schaute ihnen zu, während sie die Wendeltreppe hinabschritten. Cattilara war inzwischen selbst zum Weinen zu erschöpft, und sie stützte sich auf die Näherin und zuckte vor Liss zurück.

Ista drehte sich wieder um und stellte fest, dass Illvin und dy Cabon sich besorgt auf die östliche Brüstung lehnten. Sie starrten auf das Lager der Jokoner, das im zunehmenden Licht unter ihnen lag. Darin brodelte es vor Geschäftigkeit, doch das meiste davon blieb unter den Bäumen verborgen. Immer noch stiegen Rauchfahnen von den verbrannten Zelten auf. Ein entlaufenes Pferd floh vor dem Mann, der es einzufangen versuchte; seine roknarischen Flüche drangen schwach durch die feuchte Morgenluft zu ihnen. Ista reckte hoffnungsvoll den Hals, doch anscheinend war es nicht Illvins roter Hengst.

»Was ist denn nun eigentlich geschehen?«, fragte dy Cabon und schaute verwirrt nach unten. »Haben wir gewonnen oder verloren?«

»Es war eine großartige Jagd. Arhys hat sieben Zauberer erschlagen, ehe sie ihn zu Fall brachten. Er scheiterte am achten. Ich glaube, es war eine Zauberin. Ich frage mich, ob sie vielleicht jung und schön war, und ob seine Hand zögerte und nicht rasch genug war, um die Aufgabe zu vollenden …«

»Ah«, merkte Illvin traurig an. »Das wäre Arhys’ Untergang, nicht wahr?«

»Vielleicht. Die Jokoner mussten inzwischen allerdings bemerkt haben, wie gering die Zahl ihrer Angreifer war. Doch die befreiten Dämonen sind in alle Himmelsrichtungen geflohen, und Joen konnte keinen davon wieder einfangen.«

»Leider haben wir keinen weiteren Arhys, um die Aufgabe zu Ende zu bringen«, stellte Illvin fest. »Vielleicht müssen sich nun gewöhnliche Männer daran versuchen.« Er spannte die Schultern und blickte grimmig.

Ista schüttelte den Kopf. »Joen hat uns wehgetan, und nun haben wir ihr ebenfalls wehgetan. Doch wir haben sie nicht geschlagen. Immer noch hält sie elf Zauberer an ihren Leinen, und sie hat eine Armee zur Seite, die kaum angeschlagen wurde. Sie ist aufgebracht. Ihr Angriff wird nun mit der doppelten Stärke erfolgen, und ohne Gnade.«

Dy Cabon sank auf der Brüstung zusammen. Seine schweren Schultern hingen herab. »Dann ist Arhys vergebens ausgeritten. Wir sind verloren.«

»Nein. Arhys hat alles für uns erreicht. Wir müssen nur noch unsere Hände ausstrecken und es einsammeln. Ihr habt mich nicht gefragt, was ich mit Cattilaras Dämon angefangen habe, dy Cabon.«

Er runzelte die Stirn und wandte sich ihr zu. »Habt Ihr ihn nicht wieder in ihrem Innern gebunden, wie vorher?«

»Nein.« Ista verzog die Lippen zu einem Lächeln, das ihn zurückweichen ließ. »Ich habe ihn heruntergeschluckt.«

»Was?«

»Starrt mich nicht so an. Das ist eine Metapher, die Euer Gott gewählt hat. Ich habe endlich das Geheimnis um den zweiten Kuss des Bastards gelöst. Ich weiß nun, wie die Heilige von Rauma es geschafft hat, Dämonen aus der Welt und zu ihrem göttlichen Befehlshaber zurückzuschaffen. Denn wie es scheint, ist diese Gabe nun mir zugefallen. Arhys’ Abschiedsgeschenk, oder besser gesagt eine Gabe, die er erst ermöglicht hat.« Sie zitterte unter einem Anflug von Trauer, dem sie nicht nachzugeben wagte. Nicht jetzt, jedenfalls. »Illvin.«

Ihre Stimme klang scharf und eindringlich. Sie riss ihn aus der betrübten Teilnahmslosigkeit, die ihn zu überwältigen schien, während er sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Brüstung lehnte und ins Leere starrte. Ista erinnerte sich daran, dass er in der letzten Stunde eine Besorgnis erregende Menge Blut verloren hatte, vor allem wenn man daran dachte, wie ausgezehrt er vorher schon gewesen war. Vermischt mit dem von Cattilara bedeckte dieses Blut nun in eintrocknenden Lachen die halbe Plattform des Turmes. Seine Wunden hatten sich wieder geschlossen, als wären sie niemals da gewesen, abgesehen von einer Reihe schorfbedeckter Nadelstiche auf seiner Schulter. Er schaute Ista an und blinzelte eulenhaft.

»Was ist der schnellste und einfachste Weg, wie ich Joen von Antlitz zu Antlitz gegenübertreten kann?«

Mit gedankenlosem Scharfsinn entgegnete er einfach: »Ergebt Euch.« Dann sah er sie entsetzt an und schlug die Hand vor den Mund, als wäre ihm soeben eine Kröte von den Lippen gefallen.

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