Ista stand in den Steigbügeln und bemühte ihr eingerostetes Roknari. Ihre Zunge war wie gelähmt, und es fiel ihr schwer, verständliche Worte zu formen: »Ich biete Lösegeld!« Und auf Ibranisch: »Ich bin Serady Ajelo, und der Herzog von Baocia ist mein Schutzherr! Ich verspreche Lösegeld für mich selbst und jeden meiner Männer!« Um sicher zu gehen, fügte sie auf Roknari hinzu: »Lösegeld für alle!«
Einer der Anführer löste sich aus der Reihe seiner Leute. Er trug ein Kettenhemd von besserer Qualität; das Leder seines Zaumzeugs, des Sattels und der Schwertscheide zeigte einen schmuckvollen Besatz aus Blattgold, und auf seinem Wappenrock aus grüner Seide waren die fliegenden Pelikane von Jokona mit goldenem und weißem Garn aufgestickt. Sein krauses Haar zeigte den typischen, bronze-blonden Farbton der Roknari; es war kunstvoll zu dünnen Zöpfen geflochten, die nach hinten gebunden waren und in einem dicken Zopf ausliefen. Mit einem Blick erfasste er die Zahl der Gefangenen aus Chalion. War da ein kurzes Aufblitzen von Respekt in seinen Augen gewesen, als er die Kleidung und Abzeichen des Ritterordens der Tochter erkannte? In all den Wochen ihrer Pilgerfahrt hatte Ista wie alle anderen die Lippen bei den Gebeten bewegt. Doch in Gedanken hatte sie jedes der gesprochenen Worte zurückgewiesen. Nun aber betete sie voller Inbrunst: 0 Herrin, in dieser Zeit Deiner Herrschaft, halte Deinen schützenden Mantel über diese Deine treuen Diener.
In passablem Ibranisch rief der Offizier: »Legt die Waffen nieder!«
Ein letztes, trotziges Zögern; dann löste Ferda seinen Mantel und zog sich das Wehrgehänge über den Kopf. Mit einem Scheppern fielen Schwert und Scheide in den Schmutz; dann gesellte sich sein Messer dazu. Die Männer folgten seinem Beispiel, ebenso widerwillig. Dann wurden ein halbes Dutzend Armbrüste sowie die zwei Speere jedes Reiters behutsamer auf den wachsenden Berg nutzloser Waffen gelegt. Die schaumbedeckten, schnaufenden Pferde standen still, als Ferda und seine Männer zum Absteigen gezwungen und ein Stück weggeführt wurden. Dann mussten sie sich niedersetzen. Die Jokoner umringten sie mit gezogenen Schwertern und gespannten Armbrüsten.
Einer der Krieger griff nach dem Zaumzeug von Istas Pferd und bedeutete ihr, abzusteigen. Als ihre Stiefel den Boden berührten, wären ihr beinahe die Beine unter dem Körper eingeknickt, so weich waren ihre Knie. Sie zuckte vor der erhobenen Hand des Mannes zurück, obwohl sie fast augenblicklich erkannte, dass er sie nur am Ellbogen hatte festhalten wollen, damit sie nicht zu Boden stürzte. Der Offizier kam näher und bedachte sie mit einem angedeuteten Gruß, der sie vielleicht beruhigen sollte.
»Edelfrau aus Chalion.« Es war zur Hälfte als Frage gemeint, denn ihre schlichten Gewänder bezeugten nicht den hohen Rang. Der Blick des Mannes glitt über ihren Körper hinweg auf der Suche nach Schmuck, Ringen, Broschen, doch er fand nichts dergleichen.
»Was tust du hier?«
»Ich habe jedes Recht, mich hier aufzuhalten.« Ista hob das Kinn. »Ihr habt meine Pilgerreise unterbrochen.«
»Quintarische Teufelsanbeter!« Er spuckte aus. »Für was betest du, Frau?«
Ista hob eine Augenbraue. »Um Frieden. Und Ihr werdet mich als Sera ansprechen.«
Er schnaubte, doch sie schien ihn überzeugt zu haben; zumindest hatte sie seine Neugier ein wenig befriedigt. Ein halbes Dutzend Männer stöberten in ihren Satteltaschen. Der Offizier schritt zwischen sie und scheuchte sie mit einem Wortschwall auf Roknari davon, der zu schnell war, als dass Ista folgen konnte.
Als der Rest des Heerzuges zu ihnen aufschloss, verstand sie allerdings die Zusammenhänge: Hastig ritten einige Männer mit grünen Beuteln herbei, die sie als Gehilfen der fürstlichen Schatzkammer auswiesen. Hinter ihnen kamen weitere Reiter heran, bei denen es sich offenbar um die befehlshabenden Offiziere handelte. Nun wurden die Satteltaschen abgenommen und noch einmal systematisch ausgeplündert, wobei eine ausführliche Bestandsliste aufgestellt wurde. Die Schreiber der Schatzkammer waren zugegen, um das Fünftel des Fürsten von Jokona zu sichern und dafür Sorge zu tragen, dass nichts unterschlagen wurde. Einer von ihnen lief ständig umher, und seine Feder huschte nur so über die Schreibtafel, während er die Pferde und Ausrüstung verzeichnete. Damit stand fest, dass dies ein organisierter Feldzug war, kein spontaner Raubzug.
Der Offizier erstattete seinen Vorgesetzten Bericht; zweimal hörte Ista das Wort Baocia heraus. Einer der Männer, der die Satteltaschen durchstöberte, ließ einen freudigen Ausruf hören. Ista nahm an, er hätte eine Geldbörse gefunden, stattdessen schwenkte er Ferdas Landkarten. Er eilte zu seinen Offizieren und rief auf Roknari: »Schaut her, edle Herren, schaut! Pläne von Chalion! Bald wissen wir wieder, wo wir sind!«
Ista blinzelte und schaute sich ein wenig genauer um.
Die Reittiere der Männer, die sie überholt hatten, waren mindestens so erschöpft wie ihre eigenen. Ista erinnerte sich an Liss’ Bemerkung über die Pferde, die spät im Rennen die Geschwindigkeit nicht hatten halten können. Vielleicht hätte ihre Schar die Verfolger letztlich doch noch abgeschüttelt, hätte die Vorhut ihnen nicht den Weg verlegt. Die Männer waren erhitzt, erschöpft, schmutzig, unrasiert. Ihre kunstvollen roknarischen Flechtfrisuren waren zerzaust, als hätten sie sich das Haar seit Tagen oder gar Wochen nicht mehr gerichtet. Am schlimmsten aber sahen die Männer aus, die als Letzte herankamen: Viele von ihnen trugen Verbände, hatten Schnittwunden oder verkrustete Verletzungen, und die meisten führten Pferde mit leerem Sattel hinter sich her, manche drei oder vier hintereinander. Es wart keine Beute zu sehen, denn die meisten Tiere waren im Roknari-Stil aufgezäumt. Einige dienten vielleicht als Ersatzpferde, aber nicht alle. Und der Tross, der ganz zum Schluss erschien, war viel zu klein für einen Trupp dieser Größe.
Wenn dieser Tross das Ende des Zuges war, und weder Foix noch dy Cabon waren unter den Gefangenen zu sehen … Ista erlaubte sich ein kurzes Aufkeimen von Erleichterung. Selbst wenn die Schreiber die Gefangenen genauso abzählten wie die Pferde, und falls ihnen auffiel, dass zwei Sättel leer blieben, wäre Foix gewiss schon mitsamt dem Geistlichen in ein besseres Versteck geflohen, ehe sie umkehren und eine Suche aufnehmen konnten. Wenn Foix seine Füße so geschickt zu gebrauchen verstand wie seine Zunge … Wenn der Bärendämon seinen Geist nicht allzu sehr verwirrt hatte … Wenn die Jokoner sie nicht kurzerhand erschlagen und ihre Körper achtlos am Straßenrand zurückgelassen hatten …
Eines war allerdings sicher: Das waren keine Krieger auf dem Weg zu irgendeinem heimtückischen Angriff. Alles deutete darauf hin, dass sie nach einer Niederlage die Flucht ergriffen hatten, oder nach einem teuer erkauften Sieg. Sie flohen nordwärts, in die Heimat. Ista war um Chalions willen erleichtert, doch umso größer waren ihre Sorgen um sich selbst und um Ferda und seine Leute. Angespannte, erschöpfte, überanstrengte Männer, die sich an der Grenze des Durchhaltevermögens bewegten, waren unberechenbare Entführer.
Der Offizier trat wieder an Ista heran und führte sie von der Straße fort an eine Stelle, wo sie im Schatten eines kleinen, verkrümmten Bäumchens sitzen konnte — eine merkwürdige Baumart aus dem Norden, mit breiten, gefächerten Blättern. Aus Foix’ Taschen hatten sie eine Börse mit Gold zu Tage befördert, die die fürstlichen Schreiber in Hochstimmung versetzte, und die Offiziere musterten sie mit Blicken, die deutlich mehr Respekt verrieten — zumindest mehr Berechnung. Die Gepäckstücke auf den wieder eingefangenen Maultieren wurden ebenfalls einer eingehenden Durchsuchung unterzogen. Ista wandte den Kopf ab, als die Soldaten johlend mit ihren Kleidungsstücken spielten. Der Offizier wollte genauer wissen, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zum Herzog von Baocia stand, und Ista erklärte ihm Sera dy Ajelos vorgeblichen Stammbaum. Besonders wichtig war ihm offenbar die Frage, ob der wohlhabende Herzog tatsächlich ein Lösegeld für sie stellen würde.
»Ja«, sagte Ista. »Er wird persönlich kommen, nehme ich an.« Mit zehntausend Kriegern, fünftausend Bogenschützen und der Reiterei des Marschalls dy Palliar. Doch der Gedanke, dass Männer für sie den Tod fanden, war ihr zuwider. Vielleicht gab es ja Gelegenheiten zur Flucht, oder man konnte sie für einen Bruchteil des wirklichen Wertes auslösen, sofern sie unerkannt blieb. Und Liss? War ihr die Flucht gelungen? Bisher waren keine Reiter gekommen, die eine widerstrebende Liss hinter sich her zerrten oder ihren Leichnam brachten, der schlaff über einem Sattel hing.
Die Offiziere standen über die Karten gebeugt und unterhielten sich aufgeregt, während die gemeinen Soldaten und die Tiere von Fliegen umschwärmt Rast machten und dabei jeden Schatten nutzten, den sie bekommen konnten. Der Ibranisch sprechende Offizier brachte Ista Wasser in einem übel riechenden Lederschlauch. Sie zögerte, leckte sich die staubigen, aufgesprungenen Lippen, und trank. Immerhin war das Wasser einigermaßen frisch. Ista bedeutete dem Mann, auch Ferda und seinem Trupp Wasser zu bringen, und er tat es. Schließlich setzte man sie wieder auf ihr eigenes Pferd, fesselte ihre Hände an den Sattelknopf und band das Pferd mit anderen zusammen, die hinter dem Tross geführt wurden. Ferdas Leute wurden in einer ähnlichen Reihe aneinander gebunden, allerdings weiter vorn, wo sie von einer größeren Zahl Bewaffneter umgeben waren. Die Vorhut wurde wieder ausgeschickt, und die Kolonne setzte sich erneut in Richtung Norden in Bewegung.
Ista musterte ihre Mitgefangenen, die wie sie selbst an ihre Pferde gefesselt waren. Es waren erstaunlich wenige, bloß ein paar Dutzend geschwächte Männer und Frauen, und kein einziges Kind. Eine weitere ältere Dame ritt in ihrer Nähe; ihre Kleidung war verdreckt, jedoch hervorragend gearbeitet und kunstvoll verziert. Offensichtlich war sie keine gewöhnliche Frau, sondern eine vornehme Dame, von deren Familie reiches Lösegeld zu erwarten war.
»Woher kommen diese Krieger? Von Jokona abgesehen?«, fragte Ista.
»Aus irgendeiner Hölle der Roknari, nehme ich an«, entgegnete die Frau.
»Sie kommen nicht von dort, sie werden dorthin gehen«, gab Ista unterdrückt zurück.
Die Frau lächelte bitter. Immerhin war sie ansprechbar und nicht von Sinnen vor Angst. »Darum bete ich, jede Stunde. Sie haben mich aus Rauma entführt. Eine Stadt in Ibra.«
»Ibra!« Ista warf einen Blick nach links auf die Bergkette, die sich in der Ferne abzeichnete. Sie mussten über irgendeinen kaum genutzten Pass aus Ibra entkommen sein, um in Chalion die Berge zu verlassen und dann geradenwegs nach Norden zu halten, Richtung Heimat. Ein verzweifelter Plan. Ihre Verfolger mussten ihnen erbittert zugesetzt haben. »Kein Wunder, dass sie scheinbar vom Himmel gefallen sind.«
»Wo in Chalion sind wir?«, fragte die Frau.
»Im Herzogtum Tolnoxo. Diese Plünderer haben noch mehr als hundert Meilen vor sich, ehe sie sich sicher fühlen können. Sie müssen ganz Tolnoxo durchqueren, und das gesamte Herzogtum Caribastos. Erst dann sind sie an der Grenze von Jokona — falls sie es schaffen.« Sie zögerte. »Ich habe Grund zu der Hoffnung, dass ihre Anwesenheit kein Geheimnis mehr ist, denn einige Mitglieder meines Trupps konnten entkommen.«
Die Augen der Frau glühten auf. »Gut«, sagte sie, hielt kurz inne und fuhr fort: »Sie sind in der Morgendämmerung über Rauma hergefallen, ganz überraschend. Es war sorgfältig geplant. Offenbar sind sie mehrere Dutzend besser vorbereitete Städte in der Nähe der Grenze in weitem Bogen umgangen. Ich hatte meine Töchter in die Stadt gebracht, um Gaben am Altar der Tochter niederzulegen. Meine Älteste steht nämlich kurz vor ihrer Hochzeit, der Göttin sei Dank. Die Jokoner waren mehr an Beute interessiert als an Entführung und Verwüstung … jedenfalls zu Anfang. Den Rest des Tempels ließen sie in Frieden, obwohl sie jeden festhielten, den sie dort ergriffen hatten. Dann aber verzögerten sie ihren Rückzug, um den Turm des Bastards einzureißen und die bedauernswerte Geistliche des Tempels zu foltern.« Die Frau verzog das Gesicht. »Man hat sie noch in ihren weißen Roben erwischt; sie hatte keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ihren Mann haben sie erschlagen, als er sie verteidigen wollte.«
Bei einer Frau, die dem fünften Gott geweiht war, würden die Anhänger des vierfältigen Glaubens ebenfalls mit den Daumen und der Zunge anfangen, um dann mit Vergewaltigung weiterzumachen.
»Am Ende haben sie die Geistliche im Turm ihres Gottes verbrannt.« Die Frau seufzte. »Zu dem Zeitpunkt war es beinahe eine Gnade. Aber wegen dieser Gotteslästerung haben sie dann alles verloren, was sie vorher gewonnen hatten, denn der Graf von Rauma und seine Truppen erwischten sie noch in der Stadt. Möge der Sohn seinem Schwertarm Kraft verleihen! Er zeigte keine Gnade, denn die Geistliche war seine Halbschwester gewesen. Vermutlich hatte er ihr dieses Amt besorgt, damit sie gut versorgt war.«
Ista schwieg, lauschte gebannt.
»Meine Töchter konnten in dem Durcheinander entkommen … glaube ich. Vielleicht hat die Mutter meine Gebete erhört, denn in meiner Angst habe ich mich selbst als Opfer für sie angeboten. Doch als diese Plünderer dann ausgebrochen und geflohen sind, haben sie mich einfach über ein Pferd geworfen und mitgenommen. Offenbar erkannten sie an meiner Kleidung und dem Schmuck, dass ich ihnen etwas einbringen kann …«
Inzwischen trug die Frau natürlich keinen Schmuck mehr.
»Nur ihrer Gier wegen bin ich vorerst verschont geblieben, nehme ich an, obwohl sie mein Mädchen missbraucht haben … Ich hoffe, sie ist noch am Leben. Alle weniger wertvollen Gefangenen haben sie in der Wildnis zurückgelassen, weil sie beim Aufstieg in die Berge im Weg waren. Wenn alle zusammengeblieben und nicht in Panik geraten sind, könnten sie inzwischen in Sicherheit sein. Ich hoffe nur, sie haben die Verwundeten mitgenommen.«
Ista nickte verstehend. Sie fragte sich, weshalb Fürst Sordso von Jokona diese Meute ausgeschickt hatte. Es schien nicht der Beginn einer Invasion zu sein, sondern eher ein Vorstoß, um die Stärke der Gegner zu erproben. Vielleicht wollte er bloß Nord-Ibra in Aufruhr versetzen und die Truppen des alten Königs in Verteidigungskämpfen binden, damit sie Chalion während des Herbstfeldzugs gegen Visping nicht zur Seite stehen konnten. Wenn dem so war, hatten sie die ibranischen Truppen ein bisschen zu schnell aufgescheucht. Obwohl natürlich die Möglichkeit bestand, dass diese Männer ohne ihr Wissen als Opfer eingeplant waren …
Die leicht Verletzten ritten ebenfalls mit dem Tross. Die schwer Verletzten, vermutete Ista, waren unterwegs zurückgelassen worden, der zweifelhaften Gnade ihrer früheren Opfer ausgeliefert. Ein Mann fiel Ista besonders auf: Ein älterer Offizier von sehr hohem Rang, seiner Kleidung und Ausrüstung nach zu urteilen. Er trug keinen Verband und hatte keine sichtbare Wunde, war aber an den Sattel gebunden wie ein Gefangener und ritt stöhnend und mit ausdruckslosem Gesicht dahin. Seine Zöpfe hingen schlaff herab. Vielleicht hatte er einen Schlag auf den Kopf bekommen? Sein Sabbern und die sinnlosen Laute, die er ausstieß, raubten Ista den letzten Nerv. Sie war beinahe erleichtert, als der Tross sich neu formierte, sodass der brabbelnde Mann weiter weg von ihr ritt.
Einige Meilen weiter die Straße entlang trafen sie auf jene Männer, die Liss hinterhergeschickt worden waren. Beide ritten auf einem vor Schwäche taumelnden Pferd und zogen das zweite, lahmende Tier hinter sich her. Ihr erboster Vorgesetzter empfing sie mit Schlägen und wilden roknarischen Flüchen. Die beiden zu Schanden gerittenen Tiere wurden losgebunden und durch zwei der zahlreichen Ersatzpferde ersetzt. Ista unterdrückte ein grimmiges Lächeln. Ferdas Karten wurden ein weiteres Mal ausführlich zurate gezogen, und weitere Kundschafter wurden ausgesandt. Dann setzte die Kolonne sich wieder schwerfällig in Bewegung.
Eine Stunde später erreichten sie den Weiler, wo Istas Schar ursprünglich ostwärts auf die Straße nach Maradi hatte abschwenken wollen. Er war vollständig geräumt worden. Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal ein Tier, abgesehen von ein Paar vereinzelten Hühnern, Katzen und Kaninchen. Es scheint, als hätte Liss es bis hierher geschafft, dachte Ista zufrieden. Eiligst durchstöberten die Jokoner den Ort und nahmen alles an Vorräten mit, was sie finden konnten. Sie stritten darüber, ob sie die Siedlung in Brand setzen sollten, diskutierten ein weiteres Mal über den Karten und folgten schließlich so schnell sie konnten der schmäleren Fortsetzung der bisherigen Straße weiter nach Norden. Noch behielten Disziplin und Besonnenheit die Oberhand, drohten aber jederzeit zu kippen.
Der Weiler blieb hinter ihnen zurück, ohne dass sich Rauchsäulen von den Häusern erhoben, die über Meilen hinweg sichtbar und eine Wegmarke für jeden gewesen wären, der Ausschau nach ihnen hielt. Die Sonne versank hinter den Bergen.
Allmählich senkte sich die Abenddämmerung herab, und die Kolonne verließ die leichter zu begehende, zugleich aber ungeschützte und damit gefährliche Straße. Sie kämpfte sich einen Abhang empor, der zu jeder anderen Jahreszeit ein trockenes Geröllfeld gewesen wäre; nun allerdings plätscherte ein Flüsschen in der Mitte herab. Nach einigen weiteren Meilen bogen sie wieder nach Norden ab und bahnten sich einen Weg durch Gestrüpp, bis sie zu einem Platz gelangten, der dichter mit Bäumen bestanden war und mehr Deckung bot. Offenbar ging es den Roknari um Verstohlenheit, doch Ista fragte sich, was ihnen das Versteck nutzen sollte: Sie ließen so viele Hufabdrücke, Pferdeäpfel und geschundene Vegetation hinter sich zurück, dass ein Blinder der Fährte hätte folgen können.
Die Reiter aus Jokona schlugen ihr Lager in einem düsteren, bewaldeten Tal auf. Sie entzündeten nur wenige Feuer, und auch nur lange genug, um die gestohlenen Hühner zu braten. Doch die Pferde brauchten Zeit, um das ebenfalls entwendete Heu und Korn zu fressen und wieder zu Kräften zu kommen. Das halbe Dutzend weiblicher Gefangener wurde zu einer Gruppe zusammengetrieben; dann erhielten sie Decken, die nicht schlechter waren als die ihrer Entführer — wahrscheinlich waren es dieselben. Auch ihr Essen war nicht schlechter als das der Jokoner. Jedenfalls waren es nicht die gegrillten Katzen. Ista fragte sich, ob sie auf dem Lager eines Toten schlief, und was für Träume es ihr bringen mochte.
Sie wälzte sich hin und her und schlief unruhig; jedes ungewöhnliche Geräusch ließ sie erschrocken hochfahren, etwa, als eine andere Frau unter ihren Decken zu schluchzen begann. Doch Ista blieb von prophetischen Träumen verschont — und weitgehend auch von gewöhnlichen.
Einer der verwundeten jokonischen Krieger starb in der Nacht, anscheinend an einem Fieber, das auf seine Verletzungen zurückzuführen war. Am Morgen wurde er rasch und ohne größeres Zeremoniell beigesetzt. Doch der Bruder in seiner Gnade nahm sich dennoch der Seele an, befand Ista; zumindest spürte sie nichts von der Präsenz eines verzweifelten Geistes, als sie an dem tristen, flachen, aufgewühlten Flecken Erde vorüberkam. Traurige Erinnerungen wurden wach; auch ihr Sohn Teidez war an einer entzündeten Wunde gestorben. Ista wartete ab, bis keiner der Jokoner in ihre Richtung blickte, dann machte sie verstohlen ein Segenszeichen über dem Grab des toten Jünglings, der einsam in einem fremden Land ruhte.
Der Zug kehrte nicht wieder zur Straße zurück, sondern schlug sich weiter nordwärts durch die hügelige Wildnis. Daher kamen sie langsamer voran, und Ista konnte spüren, wie ihre Entführer mit jeder Stunde angespannter wurden.
Die Berge zu ihrer Linken wichen zurück. Irgendwann in den späten Nachmittagsstunden überquerten sie die nicht gekennzeichnete Grenze zum Herzogtum Caribastos, und bald war die Kolonne immer wieder zu Umwegen gezwungen, die weiträumig um befestigte Städte und Dörfer führten. Die Wasserläufe wurden spärlicher. An einem dieser Bäche schlugen die Jokoner früh am Abend ein Lager auf und gönnten ihren Pferden eine Rast. Caribastos war ein Grenzgebiet Chalions und befand sich in der Nachbarschaft der fünf Fürstentümer. Dementsprechend war es gut bewaffnet, die Festungen besser in Stand gehalten und die Menschen aufmerksamer und stets auf örtliche Scharmützel vorbereitet. Der jokonische Trupp würde vermutlich versuchen, sich im Schutz der Dunkelheit durchzuschlagen. Noch drei weitere Tagesmärsche, schätzte Ista.
Die kostbaren weiblichen Gefangenen wurden wieder ein Stück beiseite und unter die Bäume geführt. Man brachte ihnen zu essen und ließ sie dann in Frieden. Schließlich, im letzten Schein der tief stehenden Sonne, kam der ibranisch sprechende Offizier zu ihnen, begleitet von zweien seiner Vorgesetzten. Er hielt irgendwelche Papiere in der Hand, und seine Miene wirkte aufmerksam und verwirrt zugleich. Er blieb vor Ista stehen, die auf einem Holzklotz saß, mit dem Rücken gegen einen Stamm gelehnt.
»Ich grüße Euch, Sera«, sagte er und betonte den Titel auf seltsame Weise. Ohne ein weiteres Wort reichte er Ista die Papiere.
Es handelte sich um einen halb fertigen Brief, zerknittert von der langen Reise in einer Satteltasche. Ista fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen: Der Brief war an Kanzler dy Cazaril in Cardegoss gerichtet. Nach einer respektvollen Auflistung sämtlicher Ämter und Würden des mächtigen Hofbeamten hieß es:
Mein hoch verehrter Herr, ich werde meinen Bericht fortführen, soweit die Umstände es erlauben. Wir haben Casilchas verlassen und sind nun in Vinyasca. Hier wird morgen ein Fest gegeben. Ich war froh, als wir Casilchas hinter uns ließen. Hochwürden dy Cabon hat keinen Sinn für die erforderliche Geheimhaltung, nicht einmal für ein Mindestmaß an Diskretion. Als er fertig war, wusste die halbe Stadt, dass Sera dy Ajelo in Wirklichkeit die Königinwitwe Ista ist. Die Leute versuchten, sich einzuschmeicheln, und ich glaube, sie war nicht allzu glücklich darüber.
Auf Grund meiner weiteren Beobachtung kann ich mich nun Eurem Urteil anschließen: Königin Ista ist nicht verrückt im üblichen Sinne, obwohl es Augenblicke gibt, da ich mich in ihrer Gegenwart dumm und unbehaglich fühle. Es ist, als würde sie Dinge sehen oder spüren, die mir verborgen bleiben. Immer noch verbringt sie mitunter lange Zeit in tiefem Schweigen, verloren in irgendwelchen traurigen Gedanken. Ich weiß nicht, wie ich jemals zu der Annahme kam, dass Frauen zur Schwatzhaftigkeit neigen. Im Gegenteil wäre mir wohler, wenn sie ein wenig mehr reden würde. Ich kann immer noch nicht sagen, ob ihre Pilgerfahrt tatsächlich auf eine von den Göttern geschickte Eingebung zurückzuführen ist, wie ihr nach Euren ausführlichen Gebeten in Cardegoss befürchtet habt. Andererseits bin ich wochenlang an Eurer Seite geritten, umgeben von Wundern, ohne etwas davon zu bemerken. Also beweist das gar nichts.
Die Feierlichkeiten zu Ehren der Tochter sollten mir eine willkommene Ablenkung von meinen Sorgen bieten. Ich werde morgen fortfahren.
Es folgte das Datum des nächsten Tages; dann stand dort in sauberer Handschrift:
Die Feierlichkeiten verliefen sehr angenehm … Es folgten zwei Absätze mit launigen Beschreibungen. Dy Cabon hat sich arg betrunken. Er will damit üble Träume auslöschen, sagt er, obwohl ich glaube, dass er sie auf diese Weise eher herbeiruft. Ferda ist nicht sehr angetan von seinem Verhalten, aber der Geistliche hatte schließlich mehr mit Königin Ista zu tun als wir anderen, und so braucht er diese Ablenkung vielleicht. Anfangs hielt ich ihn für einen fetten, ängstlichen Dummkopf — ich habe es Euch ja geschrieben. Inzwischen frage ich mich jedoch, ob nicht ich selbst der Dummkopf war.
Ich werde mehr dazu schreiben, wenn wir das nächste Mal Rast machen — in irgendeinem trostlosen Weiler irgendwo in diesen Hügeln, von dem aus irgendeine Heilige zu ihren Wundertaten auszog. Ich wäre ebenfalls von dort ausgezogen, wenn Ihr mich fragt. Die Niederlassung unseres Ordens in Maradi dürfte mir Gelegenheit bieten, diesen Brief sicher auf den Weg zu bringen, falls wir dort vorbeikommen. Ich werde es jedenfalls anregen. Ich glaube nicht, dass wir uns weiter nach Norden wagen sollten, und mir sind die Bücher zum Lesen ausgegangen.
An dieser Stelle brach der Brief ab; eine halbe Seite auf dem Blatt war leer geblieben. Offensichtlich war Foix zu erschüttert gewesen und hatte nicht mehr von dem Zwischenfall mit dem Bären berichtet, ehe sie tags darauf auf die Krieger aus Jokona gestoßen waren.
Ista schaute auf. Einer der Jokoner, ein dunkelhaariger, jüngerer Mann, beobachtete sie mit habgierigem Grinsen. Der ältere, stämmigere Edelmann legte nachdenklich die Stirn in Falten. Er trug einen grünen Schwertgurt mit schwerem Goldbesatz. Ista kam zu dem Schluss, dass er der Befehlshaber des Zuges war — zumindest der hochrangigste überlebende Offizier. Sie las aus seinem Blick weitergehende strategische Überlegungen, die sie viel mehr beunruhigten als bloße Gier. Der ibranisch sprechende Offizier schaute besorgt drein.
So sinnlos es auch schien, Ista unternahm einen weiteren Versuch, an ihrer aufgedeckten Tarnung festzuhalten. Mit gespielter Gleichgültigkeit hielt sie den Männern die Papiere hin. »Was hat das mit mir zu tun?«
Der Dolmetscher nahm die Unterlagen wieder an sich. »Das ist eine gute Frage. Majestät«, sagte er mit einer Verbeugung, wie sie in Roknar bei Hofe üblich war: mit einer gleitenden Geste der rechten Hand vor dem Körper nach unten, den Daumen fest gegen die Handfläche gedrückt. Die Bewegung brachte Ironie wie auch Vorsicht zum Ausdruck.
Auf Roknari sagte der Anführer: »Das also ist die verrufene, wahnsinnige Mutter der Königin Iselle?«
»Es hat den Anschein, Herr.«
»Die Götter haben ihr Füllhorn über uns geleert«, warf der Dunkelhaarige ein. Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Er beschrieb das vierfältige Segenszeichen und berührte die Stirn, den Nabel, die Leiste und das Herz, wobei er den Daumen sorgsam in der Hand verbarg. »Mit einem einzigen glücklichen Streich wurden wir für all unsere Leiden entschädigt und haben unser Glück gemacht.«
»Ich dachte, man hätte sie in irgendeiner Burg weggeschlossen. Wie konnten sie so unvorsichtig sein und diese Frau so ungeschützt reisen lassen?«, wollte der Anführer wissen.
»Ihre Wache konnte nicht damit rechnen, hier auf uns zu stoßen. Nicht einmal wir selbst haben ja damit gerechnet, hier zu landen«, bemerkte der Dunkelhaarige.
Misstrauisch schaute der Anführer auf den Brief, obwohl deutlich war, dass er ohne die Hilfe seines Dolmetschers kaum jedes dritte Wort entziffern konnte. »Dieser Spitzel ihres Kanzlers schwatzt zu leichtfertig von den Göttern. Das ist lästerlich.«
Und das beunruhigt dich, dachte Ista. Gut. Es fiel ihr schwer, in Foix einen Spitzel zu sehen, auch wenn sie ihm noch mehr Verstand und Scharfsinn zubilligen musste, als sie es ohnehin tat. Foix hatte nicht den kleinsten Hinweis gegeben, dass er die Aufgabe hatte, über sie Bericht zu erstatten. Im Nachhinein betrachtet ergab das alles Sinn. Hätte er jemand anderem als Lord Cazaril geschrieben, hätte es Ista zutiefst beleidigt. Doch der Kanzler trug die Verantwortung für alles, was in Chalion vor sich ging — und sie schuldete dem Mann mehr, als man jemals ermessen konnte.
Der Befehlshaber räusperte sich und wandte sich an Ista. Er sprach Ibranisch mit schwerem Akzent. »Meint Ihr, Euch haben die Götter erwählt, verrückte Königin?«
Ista saß ganz still. Sie hob leicht die Mundwinkel — gerade genug für ein geheimnisvolles Lächeln. »Wärt Ihr von den Göttern erwählt, müsstet Ihr nicht fragen. Ihr wüsstet die Antwort.«
Er zuckte zurück und kniff die Augen zusammen. »Lästerliche Quintarierin!«
Sie erwiderte seinen Blick so ausdruckslos sie konnte. »Fragt Euren Gott. Ich kann Euch versprechen, Ihr steht Ihm bald gegenüber. Ihr tragt sein Zeichen auf der Stirn, und seine Arme sind geöffnet, um Euch willkommen zu heißen.«
Der Dunkelhaarige gab einen fragenden Laut von sich, und der Ibranisch sprechende Offizier übersetzte Istas Antwort. Für sie war es nur ein Pfeil, den sie auf gut Glück abgeschossen hatte. Allerdings musste man angesichts der gefährlichen Situation, in der die Jokoner sich zur Zeit befanden, kaum mit den Göttern Rücksprache halten, um eine derartige Prophezeiung zu wagen. Der Befehlshaber presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch eine dünne Linie bildeten, ließ sich jedoch auf keinen weiteren Wortwechsel mit Ista ein. Anscheinend wusste er, um wie viel gefährlicher ihre Flucht durch die Anwesenheit dieser Gefangenen wurde. Liss’ Entkommen musste ihm nun als weit größeres Unglück erscheinen, als er ursprünglich angenommen hatte.
Die Frauen wurden an einen Platz neben der Lagerstätte der Offiziere verlegt, und zwei zusätzliche Wachen wurden für sie abgestellt. Wenn Ista bisher noch die Hoffnung gehegt haben mochte, in der Dunkelheit in einem Moment der Verwirrung oder Unachtsamkeit im Wald untertauchen zu können, so hatte diese Hoffnung sich nun zerschlagen.
Kurz darauf wurde ein Soldat herangezerrt und wegen irgendeines Vergehens ausgepeitscht; wahrscheinlich hatte er zu desertieren versucht. Die Anführer saßen beieinander und besprachen, ob sie zur besseren Verteidigung den Zug zusammenhalten oder sich lieber in kleine Gruppen aufteilen sollten, um auf diese Weise das letzte Stück nach Jokona unauffälliger zurückzulegen. Dann und wann brachen sie in wütende Flüche aus, um dann rasch wieder die Stimmen zu senken.
Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis es zu weiteren Desertionen kam. Während des langen Rittes hatte sich Ista zeitweise abgelenkt, indem sie die Reiter aus Jokona gezählt hatte. Sie war auf 92 Mann gekommen. Es konnte interessant werden, morgen bei Sonnenaufgang noch einmal die Köpfe zu zählen. Je kleiner die Schar wurde, umso weniger Sinn machte es für die Kampfstärke, wenn sie zusammenblieben. Wie lange mochte es noch dauern, bis die Kolonne sich von allein aufteilte?
Der Befehlshaber der Jokoner hatte allen Grund, die Flucht so schnell wie möglich voranzutreiben, sowohl wegen der äußeren Bedrohung wie auch wegen der Stimmung seiner Leute. Daher war Ista nicht überrascht, als sie bereits um Mitternacht geweckt und erneut auf ihr Pferd gefesselt wurde. Diesmal allerdings nahm man sie aus dem Tross heraus und vertraute sie dem Ibranisch sprechenden Offizier persönlich an. Zwei weitere Reiter hielten sich dicht in ihrer Nähe. Die Truppe bewegte sich stolpernd und fluchend durch die Dunkelheit.
Anfangs hatte Ista erwartet, dass die herzoglichen Truppen aus Tolnoxo auf der nur zu gut sichtbaren Spur hinter ihnen hergeeilt kämen. Aber diesen Teil Chalions hatten sie ohne Zweifel schon viele Meilen zuvor verlassen. Mit jeder zurückgelegten Meile verschoben sich die Wahrscheinlichkeiten: Nicht der Vorstoß von hinten, sondern der Hinterhalt von vorn war inzwischen eher zu erwarten. In taktischer Hinsicht machte das durchaus Sinn: Die Jokoner sollten sich auf dem Weg zu einem Schlachtfeld, das ihre Gegner für sie ausgesucht hatten, müde marschieren.
Andererseits … war es möglich, dass Liss immer noch Istas Inkognito gewahrt hatte? Dass sie den Verantwortlichen nur gemeldet hatte, die unwillkommenen Durchreisenden hätten irgendeine weniger bedeutende Edelfrau auf Pilgerfahrt aufgegriffen und mitgenommen? Ista konnte sich gut vorstellen, wie der Herzog von Tolnoxo gerade lange genug zögerte, um die fliehenden Jokoner zu einem Problem des Herzogs von Caribastos werden zu lassen. Dy Cabon und Foix hätten ein derart nachlässiges Vorgehen niemals zugelassen. Aber waren sie überhaupt in Sicherheit? Vielleicht irrten sie immer noch durchs Hügelland. War Foix’ ungeschliffener Dämon womöglich abrupt stärker geworden, verschlagener, indem er sich am scharfen Verstand seines Wirtes gütlich tat? Hatte er die beiden Menschen überwältigt oder in die Irre geführt?
Geleitet von Berichten ihrer Späher kamen die Jokoner aus den spärlichen Wäldern hervor und folgten einer Straße durch die Dunkelheit. Dort konnten sie mehrere Meilen in raschem Trab zurücklegen. Kurz vor der Morgendämmerung bogen sie in einen Flusslauf ab, der Niedrigwasser führte. Die Hufe ihrer Pferde knirschten laut auf Kies und Sand. Wenn die Männer etwas zu bereden hatten, ritten sie nahe zusammen und beugten sich einander zu.
Ista befeuchtete sich die trockenen Lippen und streckte den schmerzenden Rücken, so gut es die vor ihr gefesselten Hände erlaubten. Zwischen ihren zusammengebundenen Handgelenken und dem Ring, an dem das Seil befestigt war, blieb ein kurzes Stück Seil lose; wenn Ista die Hände hob und sich vorbeugte, konnte sie sich gerade eben an der Nase kratzen. Es war schon zu lange her, dass man ihr etwas zu trinken gegeben hatte, oder zu essen, und dass sie Gelegenheit gehabt hatte, sich zu erleichtern. Die Innenseiten ihrer Knie waren wund gescheuert.
Und was geschah, wenn der Zug jedem Hinterhalt auswich und schließlich doch über die Grenze nach Jokona entkam? Ohne Zweifel würde man sie Fürst Sordso übergeben, in seinen Palast führen und dort wie eine Königin unterbringen, mit Bediensteten und allem Luxus. Hatte sie die eine Burg verlassen, nur um als Gefangene in einer anderen zu enden? Und schlimmer noch, um zum politischen Druckmittel gegen die wenigen Menschen zu werden, die ihr etwas bedeuteten …?
Die Schwärze wich einem blassgrauen Zwielicht. Aus Schatten wurden Umrisse und schließlich Formen und Farben, während der sternklare Himmel allmählich zur Morgendämmerung hin ausbleichte. Tief hängender Dunst schwebte über dem Wasser und wogte das flache Ufer empor. Mit jedem Schritt rührten die Pferdebeine durch den Nebel wie durch Milch. Zu ihrer Linken erhob sich ein kleiner Steilhang, den das Flüsschen im Laufe der Zeit ausgehöhlt hatte. Die rötlichen Schichten im Stein erglühten eben erst im aufkommenden Tageslicht.
Ein Stein klatschte in das trübe Wasser, das den Fuß des Abhangs umspülte. Die Wache an Istas Seite fuhr herum und wandte den Kopf in Richtung des unvermittelten Geräusches.
Ein dumpfer Laut — und plötzlich steckte ein Armbrustbolzen in der Brust des Mannes. Mit einem erstickten Schrei stürzte er in den Kies. Im nächsten Augenblick spürte Ista die Erschütterung, die sein Tod verursachte. Es war wie Blitzschlag, der all ihre Sinne überreizte und sie benommen machte. Ein Zerren an der Führungsleine ließ ihr Pferd unvermittelt in Trab fallen, dann in leichten Galopp. Überall um sie herum schrien Männer, riefen Befehle, brüllten Flüche. Von oben antworteten andere Schreie, und Pfeile regneten herab.
O ihr fünf Götter, verleiht dem Angriff Schnelligkeit.
Ferda und seine Männer waren in größter unmittelbarer Gefahr, denn die Jokoner mochten in die Versuchung geraten, ihre gefährlichsten Gefangenen sogleich zu erschlagen, ehe sie sich den neuen Feinden zuwandten. Ein weiterer Tod brandete gegen Istas innere Sinne an, und noch einer, wie eine weiß glühende Feuerwand, obwohl ihre äußeren Sinne im wirbelnden Durcheinander der Bewegungen kaum noch etwas unterscheiden konnten. In wachsender Verzweiflung ruckte sie ihre aufgerissenen Handgelenke vor und zurück, um die Fesseln zu lösen, doch die Knoten waren fest geschnürt, und Ista hatte es nicht einmal auf ihrem langen Nachtritt geschafft, sie zu lockern. Vielleicht konnte sie die Füße aus den Steigbügeln nehmen und versuchen, sich vom Pferd zu schwingen … nein, dieser Versuch wäre aberwitzig, denn sie würde sich dabei eher die Handgelenke brechen als die Fesseln sprengen, und dann wie ein Sack neben ihrem Reittier hergeschleift.
Nun wurden auch von der Spitze der Kolonne donnernder Hufschlag, Rufe und Schreie laut. Ein mit wildem Gebrüll geführter Kavallerieangriff prallte mit metallischem Klirren auf die vorderen Reihen der Jokoner. Pferde wieherten schrill, schnaubten und stürzten zu Boden. Weitere Schreie erklangen von hinten. Der Offizier, der Ista im Schlepp hatte, zerrte so heftig an den Zügeln, dass sein Pferd sich aufbäumte. In panischer Angst blickte er sich um.
Der Befehlshaber löste sich aus dem Gefecht und galoppierte mit gezogenem Schwert auf den Offizier zu. Er rief etwas auf Roknari und bedeutete einigen anderen Männern, ihm zu folgen. Sie rissen Ista und ihren Wächter mit sich, brachen zur Seite aus und kämpften sich dort die niedrige Böschung empor. Der Schwertkämpfer an der Spitze bahnte ihnen den Weg durch eine Reihe von Armbrustschützen in grauen Wappenröcken, die auf das Kampfgetümmel zuhielten. Ista und das halbe Dutzend Jokoner jagten an weiteren Reitern vorbei und ins Buschland hinein, das an die Bäume am Fluss grenzte.
Ista dröhnte der Kopf, und ihr Blick wurde verschwommen. Ihr wurde schwarz vor Augen; dann wieder wurde sie geblendet von weißem Feuer, das mit dem Sterben um sie her aufloderte. Die Wucht eines jedes Todes traf sie mit fürchterlicher Wucht und ließ sie schwanken. So viele Seelen, die zur selben Zeit und am selben Ort gewaltsam aus ihren Körpern gerissen wurden! Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren und vom Pferd fallen — bei dieser Geschwindigkeit konnten ihr leicht die Hände abgerissen werden. Wie ungerecht es gewesen war, den bedauernswerten Mann in der letzten Nacht auszupeitschen, wo doch seine eigenen Befehlshaber nicht zögerten, seinerseits ihn im Stich zu lassen …
Dann sah sie nur noch den Hals ihres Pferdes, seine zurückgelegten Ohren und den harten Boden, der unter ihr vorbeiflog. Ihr verängstigtes Reittier musste nicht einmal mehr gezogen werden, sondern rannte mit dem Pferd des Offiziers um die Wette, bis es fast die Spitze einnahm. In weitem Bogen wandten sie sich nach rechts. Schließlich wurden sie langsamer, als sie in eine unwegsamere Gegend gelangten, wo kleine Hügel, mit vereinzelten Wäldchen bestanden, sie zumindest vor den Blicken möglicher Verfolger schützten.
Schließlich nahm der Anführer sich die Zeit, sein Schwert wieder einzustecken. Es war unbefleckt, stellte Ista fest. Er führte sie durch die Wildnis, stets in der Deckung der Felsen und Bäume. Ista hatte den Verdacht, dass der Mann sich keine großen Gedanken darüber machte, wohin es ging, solange er nur mögliche Verfolger verwirren konnte. Die Wälder wurden dichter. Ista schätzte, dass sie sich mindestens fünf, sechs Meilen vom Ort des Hinterhalts entfernt hatten.
Schließlich suchten die Pferde sich vorsichtig ihren Weg durch das steinige Bett eines kleinen Baches in einer tiefen Klamm, und Ista kam allmählich wieder zu Atem. Sie fragte sich, in welcher Gefahr sie jetzt schwebte. Diese Offiziere hatten alles verloren — ihre Männer, ihre Ausrüstung, ihre Beute und selbst den richtigen Weg. Doch solange sie Ista vorweisen konnten, würde der Fürst von Jokona ihnen jede Katastrophe verzeihen. Ista verkörperte die Hoffnung dieser Männer auf Wiedergutmachung. Sie würden sie nicht gehen lassen, nicht gegen Geld und nicht unter Drohungen; sie würden sie nicht einmal gegen das eigene Leben eintauschen. Deshalb stand nicht zu befürchten, dass sie ermordet wurden; doch der Tod durch irgendein Missgeschick oder eine Fehleinschätzung ihrer überreizten Entführer war leicht möglich. Also war ihre Lage nicht viel besser geworden.
Über eine Meile folgten sie dem immer tieferen Felseinschnitt. Die Böschung wurde zunehmend steiler und war dicht mit Bäumen und Pflanzen bewachsen, doch in der Ferne bemerkte Ista einen dunstigen, hellen Fleck. Sie umrundeten eine weitere Biegung und stellten fest, dass die Schlucht unvermittelt in ein flaches, klares Flüsschen mündete.
Und zwischen beiden Wänden der Kamm stand ein einsamer Reiter und verstellte ihnen den Weg hinaus. Ista stockte der Atem, und ein eisiger Schauer überlief sie. Oder war es ein Gefühl der Erregung?
Die holzkohlengrauen Flanken des Pferdes, auf dem der Fremde saß, waren nass von flockigem Schweiß; die Nüstern des Tieres waren weit aufgerissen und gerötet, und die Hufe scharrten über den Boden. Unruhig bewegte sich das Pferd auf der Stelle. Die Muskeln waren angespannt, sprungbereit.
Der Reiter schien kein bisschen erschöpft zu sein.
Sein Haar war dunkelrot und nicht geflochten, sondern kurz geschnitten, wie es in Chalion üblich war. In wilden Strähnen kräuselte es sich um seine Ohren. Ein gepflegter Bart bedeckte sein Kinn. Er trug ein Kettenhemd, Armschienen aus schwerem Leder und einen grauen, mit Goldbesatz verzierten Wappenrock. Das Kleidungsstück war blutbespritzt. Die Blicke des Mannes schweiften hin und her, als er seine Chancen abwog. Dann wurden seine Augen schmal, und er hob sein Schwert wie zum Gruß. Die Hand, die sich fester um den Griff spannte, war schmutzig und von Blut verkrustet. Und dann, nur einen Lidschlag lang, blitzte ein Lächeln auf seinem Gesicht auf, heller als der Stahl seiner Klinge — das sonderbarste Lächeln, das Ista je auf dem Gesicht eines Mannes gesehen hatte.
Er stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken und preschte vor.