Sie überquerten den blumengeschmückten Innenhof und stiegen hinter Arhys die Treppe hinauf. Über dem Tor gab es eine vorspringende Brüstung. Arhys schob sich an den Armbrustschützen vorbei, die entlang des Wehrgangs standen, stieg auf die Spitze der Zinnen und starrte von dort breitbeinig hinunter. Ista spähte zwischen den ausgezackten Steinen hindurch.
Zur Rechten beschrieb die Straße eine Biegung nach Oby, und dort schlugen die Jokoner ihr Lager auf, in einem Hain aus Walnussbäumen, gerade außerhalb der Schussweite von Armbrüsten oder Katapulten. Zelte wurden aufgestellt und Koppeln zum Festmachen der Pferde vorbereitet. Auf der entfernt liegenden Seite des Haines stellten Diener einige besonders große Zelte aus grünem Tuch auf. Mehrere dieser Männer trugen die Gewänder der Sänftenträger. Zur Linken im Tal rückte eine weitere Kolonne entlang des Flusses vor und bedrohte die Stadtmauern. Dahinter trieb ein Trupp Soldaten geplünderte Schafe und Vieh in die Arme ihrer Marketender — das künftige Abendessen.
Ansonsten wirkte die Landschaft trügerisch friedlich — menschenleer, hoffte Ista. Nur ein paar Scheunen oder weit entfernte Nebengebäude schienen in Flammen zu stehen, vermutlich Schauplätze eines kurzen, verzweifelten Widerstands. Der Feind hatte die Felder nicht oder noch nicht in Brand gesteckt. Gingen sie etwa davon aus, diese Gegend bis zur Erntezeit fest in ihrem Besitz zu haben? Der dritte Heerzug bezog vermutlich Stellung hinter der Burg, entlang der Anhöhe.
Die Zugbrücke war hochgezogen, die Tore der Burg geschlossen. Auf der anderen Seite der tiefen, wasserlosen Kluft, die unterhalb des Walles verlief, stand der Unterhändler der Jokoner, barhäuptig. Ein blauer Wimpel bezeichnete sein Amt und hing in der Nachmittagshitze schlaff vom Speer herab, den er in der Hand hielt. Flankiert wurde der Mann von zwei angespannten Wachen, die meergrüne Wappenröcke über ihre Rüstung trugen.
Als der Unterhändler nach oben blickte, holte Ista scharf Luft. Es war der Offizier, der in dem aus Rauma zurückweichenden Stoßtrupp als Dolmetscher gedient hatte. War seine neue Verpflichtung eine Belohnung oder eine Strafe? Er bemerkte Ista nicht, denn sie stand halb hinter der Mauerkrone verborgen. Doch daran, wie seine Augen sich beunruhigt weiteten, war deutlich zu erkennen, dass er Arhys als den schwertschwingenden Verrückten erkannte, der ihm in jener Schlucht beinahe den Kopf abgeschlagen hätte. Arhys’ versteinerte Miene ließ keinen Schluss darauf zu, ob er dieses Erkennen erwiderte.
Der Jokoner befeuchtete die Lippen und räusperte sich. »Ich komme unter dem Schutz der Parlamentärsflagge von Fürst Sordso zu Burg Porifors«, begann er in lautem, klarem Ibranisch. Er hielt den Schaft mit dem blauen Wimpel so, wie ein Mann einen Schild halten würde, und drückte das Ende ein wenig fester in den trockenen Boden zu seinen Füßen. Es galt als sehr unhöflich, einen Boten zu erschießen — die Art von Vergehen, die einem Offizier später kühlen Tadel von Kameraden und Befehlshabern einbrachte. Viel zu spät allerdings, aus der Sicht des Boten, um noch als Trost empfunden zu werden. »Dies sind die Forderungen des Fürsten von Jokona …«
»Stört es Euch nicht, Viergläubiger«, unterbrach Arhys ihn mit weithin hörbarer Stimme, »dass Euer Fürst zu einem dämonenbesessenen Zauberer geworden ist? Solltet Ihr als gläubiger Mann ihn nicht eher verbrennen anstatt ihm zu gehorchen?«
Die Wachen zeigten keine Regung. Ista fragte sich, ob sie eigens wegen ihrer fehlenden ibranischen Sprachkenntnisse ausgewählt worden waren. Doch der Ausdruck, der kurz auf dem Gesicht des Unterhändlers erschien, ließ erahnen, dass Arhys’ Worte ihn getroffen hatten. Dennoch gab er scharf zurück: »Man sagt, Ihr wärt schon seit drei Monaten tot. Stört es Eure Leute nicht, dass sie einem wandelnden Leichnam folgen?«
»Kaum«, sagte Arhys. Er achtete nicht auf das leise Murmeln seiner Bogenschützen, die hinter ihm versammelt standen. Die Blicke, die sie tauschten, drückten die verschiedensten Empfindungen aus: Unglauben und Unruhe, Furcht und Begreifen. »Ich denke allerdings, dass es für Euch ein Problem darstellen könnte. Denn wie wollt Ihr mich töten? Selbst ein Zauberer dürfte da vor Schwierigkeiten stehen.«
Mit sichtlicher Mühe zwang sich der Unterhändler dazu, wieder seine ursprünglich vorbereitete Rede vorzutragen. »Dies sind die Bedingungen des Fürsten von Jokona: Ihr werdet die Königinwitwe Ista unverzüglich ausliefern, als Faustpfand für die weitere Zusammenarbeit. Alle Offiziere und Soldaten Eurer Garnison werden die Waffen niederlegen und vor den Toren der Burg kapitulieren. Dann sollen Eure Leben verschont werden.«
»Damit wir als Dämonenfutter zusammengetrieben werden?«, murmelte dy Cabon, der ein Stück weit entfernt auf dem Wehrgang kauerte und zwischen zwei Zinnen hindurchspähte. Unwillkürlich dachte Ista, dass dies ein sehr viel gnädigeres Schicksal wäre, als ein Geistlicher des Bastards für gewöhnlich erwarten konnte, wenn er in einem solchen Konflikt in die Hände der aufgebrachten viergläubigen Truppen fiel.
»Nun kommt, Jokoner. Soll ich auf Euch herunterspucken?«, fragte Arhys.
»Bitte spart Euch den Speichel, Lord Arhys. Ich habe gehört, solche Flüssigkeiten werden bald schwer zu finden sein — auf Eurer Seite der Mauer.«
Lord Illvin erschien gerade hinter der Brüstung und bekam diese Aussage noch mit. Er lächelte säuerlich. Mit einem raschen Blick über Istas Kopf hinweg erfasste er die feindliche Aufstellung. Arhys sah zu ihm hinab. Illvin lehnte seine Schulter gegen die Mauer unterhalb der Füße seines Bruders und schaute auf den Innenhof. Mit gedämpfter Stimme, damit die Jokoner nichts davon hören konnten, berichtete er: »Sie haben beide Zisternen erwischt. Sie sind durchlöchert wie Siebe. Ich habe Männer abgestellt, und sie schöpfen mit jedem unversehrten Gefäß, das sie auftreiben können. Außerdem versuchen sie, die Zisternen mit Segeltuch einzufassen, damit sie nicht so schnell leer laufen. Aber das nützt nicht viel.«
»In Ordnung«, murmelte Arhys, hob die Stimme wieder und sagte zu dem Unterhändler: »Wir lehnen Eure Bedingungen selbstverständlich ab.«
Der Jokoner nahm diese Antwort mit grimmiger Befriedigung entgegen. Offenbar hatte er nichts anderes erwartet. »Fürst Sordso und Fürstinnenwitwe Joen erweisen Euch eine unverdiente Gnade. Sie gewähren Euch einen Tag, um Eure Haltung zu überdenken. Morgen werde ich zurückkehren und Eure neue Antwort hören. Außer natürlich, Ihr sendet früher nach uns.« Er verneigte sich und wich langsam zurück, nur unzureichend gedeckt von seinen beiden Wachen. Erst nachdem er schon ein gutes Stück entfernt war, wagte er der Burg den Rücken zuzuwenden.
Nicht nur die erwartete Antwort — offenbar sogar das gewünschte Ergebnis.
»Was geschieht nun?«, fragte dy Cabon besorgt. »Ein Angriff? Werden sie tatsächlich einen Tag warten?«
»So weit würde ich ihnen nicht vertrauen«, befand Arhys und sprang wieder zurück auf den Wehrgang.
»Ein Angriff«, sagte Ista. »Aber bestimmt nicht durch ihre Truppen. Ich würde alles darauf setzen, dass Joen gern mit ihren neuen Schoßtieren herumspielen wird. Porifors ist die erste Gelegenheit, ihre Schar von Zauberern im offenen Kampf zu prüfen. Wenn die Ergebnisse sie zufrieden stellen …« Eine purpurne Linie, diesmal nur eine einzige, blitzte vor Istas innerem Auge auf.
Entlang des Wehrgangs rissen die meisten der gespannten Bogensehnen gleichzeitig. Einige Männer schrien auf, als sie von zurückschnellenden Sehnen getroffen wurden. Eine gespannte Armbrust wurde ausgelöst, und ihr Bolzen traf den Oberschenkel des am nächsten stehenden Mannes. Der schrie auf und stürzte rücklings von der Mauer, prallte auf die Steine im Innenhof und blieb reglos liegen. Sein entsetzter Kamerad starrte auf die Armbrust und schleuderte sie von sich, als hätte sie in seinen Händen zu brennen begonnen. Dann beeilte er sich, zu seinem gestürzten Gefährten zu gelangen.
Ein weiterer, noch dunklerer Blitz zuckte vorüber.
»Was jetzt?«, murmelte Foix beunruhigt und starrte die Reihe der entsetzten Bogenschützen entlang. Einige von ihnen zogen bereits Ersatzsehnen unter ihren Gürteln hervor und stellten fest, dass diese in ihren Händen zerfielen.
Einige Augenblicke später stieg über den Dächern im Innern der Burg eine Rauchwolke auf.
»Ein Feuer in den Ställen«, stellte Illvin fest. Seine ungerührte Stimme stand im Widerspruch zu seinem plötzlichen Sprung nach vorn. »Foix, ich brauche Eure Hilfe, bitte.« Er eilte die Treppen hinunter, wobei seine langen Beine drei Stufen auf einmal nahmen.
Nun fängt es richtig an, dachte Ista. Ihr Magen verkrampfte sich.
Liss’ Augen waren weit aufgerissen. »Majestät, kann ich mit ihnen gehen?«, keuchte sie.
»Ja, geh nur«, entließ Ista sie. Liss stürzte davon. Man würde jede hilfreiche Hand gebrauchen …
Und was ist mit mir?
Schließlich wandte sie sich von der Mauer ab.
Arhys lief hinter ihr her und rief: »Herrin, wollt Ihr nach Cattilara sehen?«
»Natürlich.« Immerhin eine Art von Aufgabe. Oder vielleicht wollte Arhys als umsichtiger Befehlshaber auch nur allen überflüssigen Ballast sicher an einem Ort untergebracht wissen.
Ista fand Cattilaras Damen aufgelöst vor. Sie sorgte dafür, dass sie sich zumindest auf das Maß einer gut unterdrückten Hysterie beruhigten. Cattilara lag unverändert da, abgesehen von einem bereits deutlich sichtbaren Einsinken des weichen Gewebes an ihrem Gesicht — schon spannte sich dort die Haut über den Knochen. Das Leuchten des Dämons in ihr war dicht zusammengeballt. Offensichtlich versuchte er im Augenblick nicht, um die Vorherrschaft zu kämpfen. Voller Unbehagen stieß Ista den Atem aus, stellte aber sicher, dass das Seelenfeuer weiterhin ungehindert zu Arhys floss.
Während des endlosen Nachmittags unternahm Ista regelmäßige Erkundungsgänge von den Gemächern der Gräfin aus, um den Auswirkungen der verschiedenen Wellen an Zauberlicht nachzugehen, die durch ihre Wahrnehmung zuckten. Nur der erste große Angriff auf die Wasservorräte schien sorgsam aufeinander abgestimmt; danach wurde die Attacke ungeordnet fortgeführt, wie sich auch an den Folgen zeigte. Die Pferde, die man aus den Ställen gerettet hatte, waren in den Sternenhof getrieben worden und liefen dort frei herum. Aufgeregt sprangen sie durcheinander und rissen dabei eine Galerie herab. Ein Wespennest stürzte mit hinunter, und drei Männer starben schreiend, röchelnd und zuckend an den Stichen. Weitere Männer wurden von den durchgehenden Pferden umgerannt und verletzt.
An anderen Stellen der Burg brachen kleinere Feuer aus. Die wenigen verbliebenen Wasservorräte schwanden schnell dahin. Das meiste eingelagerte Fleisch, gleichgültig, wie es haltbar gemacht worden war, begann zu faulen und zu stinken. Auf Brot und Früchten bildete sich grüner Schimmel, der zu wachsen schien, noch während man zusah. Mehlwürmer verbreiteten sich in den Vorräten. Taue und Lederriemen verrotteten und zerfielen, sobald man sie in die Hand nahm. Tongeschirr splitterte. Regale brachen. Rüstung und Schwerter rosteten so schnell, wie eine Jungfrau errötet.
Alle Männer, die an Wechselfieber litten, bekamen heftige Rückfälle. Cattilaras hübscher Speisesaal füllte sich bald mit Männern auf Pritschen, stöhnend, glühend, von Schüttelfrost und Halluzinationen geplagt. Dy Cabon musste sich um Kranke kümmern, und — unglaublich rasch — auch um Tote. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Soldaten und Diener, an denen Ista vorüberkam, änderte sich bis zum Abend von gereizt und furchtsam zu lähmendem, verständnislosem Entsetzen.
Bei Sonnenuntergang stieg Ista auf den Nordturm, den höchsten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Liss kam langsam hinter ihr her. Sie roch nach Rauch und hinkte seit der Begegnung mit einem Pferdehuf. Ein Mann in graugoldenem Wappenrock stapfte hinterdrein und kippte eine Hand voll Steine auf den wachsenden Haufen bei den Zinnen. Er tauschte besorgte Grunzlaute mit zwei Kameraden, deren unbrauchbare Armbrüste in irgendeiner Ecke lagen. Dann wandte er sich wieder um und stapfte die Wendeltreppe zurück.
Im flach einfallenden Licht der untergehenden Sonne wirkte die menschenleere Landschaft seltsam idyllisch und ruhig. Im Walnusshain schienen die Jokoner in ihrem wohl geordneten Lager ein Festmahl zu genießen. Der einzige Qualm hier waren die dünnen, aromatisch duftenden Rauchfahnen, die von Kochfeuern aufstiegen. Kleine Gruppen von Reitern ritten umher, auf Patrouille, oder zum Austausch von Nachrichten — für Ista sah es nach einem abendlichen Ausflug aus. Alle Menschen dort draußen trugen die meergrünen Wappenröcke.
Aus der Stadt, die sich im Tal hinter ihren Mauern verschanzte, stiegen ebenfalls Rauchwolken auf, aber schwarz und hässlich. Die Bürger dort hatten besseren Zugang zum Wasser als die Burg oben auf dem Hügel, und so hatten sie die Brände bisher unter Kontrolle halten können. Doch die wenigen kleinen Gestalten, die Ista dort unten sehen konnte, bewegten sich eingeschüchtert durch die Straßen und Alleen und wirkten steif vor Erschöpfung. Die Männer auf den Stadtmauern kauerten sich zusammen, saßen reglos oder lagen da, als hätten sie sich erschöpft zum Schlafen niedergelegt. Oder wie tot.
Schwere Schritte erklangen von den Steinstufen her. Ista blickte sich um und sah Lord Illvin auf die Turmplattform treten. Er trug einen schmierigen kleinen Stoffbeutel. Selbst im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs sah sein Gesicht schmutzig und blass aus. Ruß und Schweiß waren ineinander gelaufen und zu unregelmäßigen Schlieren verwischt worden, als er versucht hatte, sich den Schmutz aus den Augen zu reiben. Sein Kettenhemd und den versengten Wappenrock hatte er schon vor Stunden ausgezogen, und sein schlichtes Leinenhemd, punktiert mit kleinen Funkenlöchern, war halb am Oberkörper festgeklebt.
»Ah«, sagte er. Seine Stimme klang, als käme sie aus den Tiefen eines Minenschachts. »Hier seid Ihr.«
Sie nickte ihm grüßend zu. Er stellte sich neben sie, und gemeinsam starrten sie hinunter auf das Unglück, das Burg Porifors hinter den täuschend ausdruckslosen und massiven Wällen befallen hatte.
Sämtliche Stallgebäude waren abgebrannt. Geschwärzte Holzbalken lagen zwischen den Gebäuderesten verstreut, und eine Flut von zerbrochenen Dachziegeln hatte sich wie Blut darüber ergossen. Im Augenblick stieg kein weiterer Qualm empor, doch eine Ecke des Küchentrakts war ebenfalls geschwärzt und eingestürzt. Im Sternenhof herrschte heilloses Durcheinander — eine Galerie war zusammengebrochen, der Brunnen leer und mit Unrat verstopft. An einer Seite waren Pferde aneinander gebunden. Aus dieser hohen Warte sahen ihre Rücken seltsam lang gezogen aus. Die Menschen daneben eilten gebeugt und sorgenvoll daher.
»Habt Ihr in letzter Zeit dy Cabon gesehen?«, wollte Ista von Illvin wissen.
Dieser nickte. »Er harrt immer noch bei den Kranken aus. Wir haben inzwischen drei Räume mit Liegen voll gestellt. Ein halbes Dutzend Burschen haben gerade eben die Ruhr bekommen. Ohne Waschwasser braucht man nicht einmal Dämonen, um das in der ganzen Festung zu verbreiten. Bei der Hölle des Bastards. Wenn es so weitergeht, kann Sordso Porifors morgen im Sturm nehmen, und er braucht dazu nicht mehr als sechs Ponys, eine Strickleiter und einen Kinderchor aus dem Tempel.« Er biss die Zähne zusammen; sie zeichneten sich weiß in seinem geschwärzten Antlitz ab. »Oh.« Er hielt Ista den Beutel entgegen. »Wollt Ihr ein wenig gebratenes Pferdefleisch? Es ist nicht angefault. Noch nicht.«
Ista musterte das Fleisch zweifelnd. »Ich weiß nicht. Ist es Feder?«
»Nein, glücklicherweise.«
»Nicht … jetzt, danke.«
»Ihr solltet bei Kräften bleiben. Die fünf Götter wissen, wann wir wieder etwas zu Essen bekommen.« Er zog einen Brocken heraus und kaute pflichtbewusst darauf herum. »Liss?« Er hielt ihr den Beutel entgegen.
»Nein, danke«, schloss sie sich mit dünner Stimme Ista an.
Er schaffte es nicht, seinem eigenen Rat nachzukommen, und gab den Beutel an die früheren Bogenschützen, jetzt Steinewerfer, weiter, die ihn mit gemurmeltem Dank und weniger Abscheu entgegennahmen. Ein Krachen ertönte, als ein weiterer Balken in den Stallgebäuden nachgab und in einer Wolke von Ruß zu Boden fiel. Illvin kehrte zur Innenseite des Turmes zurück und starrte erneut auf die Katastrophe hinunter.
»Das war ein Tag. Nicht einmal. Tränen des Bastards, was wird in einer Woche noch von uns übrig sein?«
Mit zitternden Armen lehnte Ista sich auf die sonnengewärmten Steine. »Ich habe das alles auf Euch herabbeschworen«, sagte sie leise. »Es tut mir Leid.«
Er runzelte die Stirn, stützte sich neben ihr auf einen Ellbogen und blickte zu ihr hinüber. »Ich bin mir nicht so sicher, ob Ihr diese Ehre in Anspruch nehmen könnt, Majestät. Das alles war schon vorbereitet worden, bevor Ihr noch bei uns angekommen seid. Hätte Eure Gegenwart nicht jetzt die Jokoner zum Angriff verlockt, hätten sie gewiss binnen eines weiteren Monats zugeschlagen — gegen eine Festung, deren zwei erfahrenste Befehlshaber tot und verrottet gewesen wären. Und keiner hätte die Schrecken erklären können, die aus dem Nichts auf uns herabgestürzt wären.«
Ista rieb sich die schmerzende Stirn. »Also können wir uns nicht wirklich sicher sein, ob ich von Bedeutung bin. Nur, dass ich mich jetzt als Geisel und Schachfigur an Joen ausliefere.« Vielleicht. Sie starrte auf das Muster der Pflastersteine hinunter, tief unter ihr. Es gibt andere Möglichkeiten, zu vermeiden, dass ich eine Geisel werde.
Er folgte ihrem Blick und musterte sie durchdringend aus verengten Augen. Dann streckte er zwei Finger in ihre Richtung und drehte sanft ihr Gesicht zu sich. »Ihr seid für mich von Bedeutung«, sagte er. »Jede Frau, die einen Mann mit einem Kuss aus dem Todesschlaf wecken kann, ist einen zweiten Blick wert, würde ich sagen.«
Ista schnaubte bitter. »Ich habe Euch nicht mit einem Kuss geweckt. Ich habe nur den Fluss Eures Seelenfeuers unterbrochen und neu ausgerichtet, so wie ich es später bei Cattilara getan habe. Der Kuss war einfach nur … Wollust.«
Er verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln. »Hattet Ihr nicht gesagt, es war ein Traum gewesen?«
Oh. Das hatte sie. Seine Mundwinkel hoben sich noch weiter, provozierend. »Eine dumme Eingebung«, sagte sie.
»Kommt schon, ich hielt es für einen hervorragenden Einfall. Ihr unterschätzt Euch, meine Dame.«
Ista errötete. »Ich fürchte, ich habe keine Begabung für …«, sie schluckte, »Liebeleien. Als ich noch jung war, war ich zu dumm. Jetzt bin ich zu alt, zu uninteressant.« Zu dumm, dann zu verrückt, dann zu uninteressant, dann zu spät. »Ich bin einfach nicht dafür geeignet.«
»Wirklich?« Er wandte sich um, lehnte sich gegen die Zinnen und nahm mit dem Ausdruck größter Neugier ihre Hand in die seinen. Mit einem rußverschmierten Finger fuhr er die Schmutzlinien auf ihrer Handfläche nach. »Weshalb nicht? Man hält mich für klug. Ich sollte es herausfinden können, wenn ich mich der Angelegenheit ein wenig widme. Ich könnte einen Grundriss der Burg Ista zeichnen, die Verteidigung erkunden …«
»Die Schwächen finden?« Entschlossen zog sie die Hand zurück.
»Meinetwegen, wenn ich mich ihr längere Zeit widme.«
»Lord Illvin, dies ist nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort für solche Dinge!«
»Wahrhaftig. Ich bin so müde, ich kann kaum noch stehen.«
Es folgte ein Augenblick Schweigen.
Seine Lippen hoben sich und ließen die Zähne kurz aufblitzen. »Ha! Eure Mundwinkel haben sich bewegt. Ich habe es gesehen!«
»Haben sie nicht.« Jetzt taten sie es. Ista konnte es nicht unterdrücken, als sie sich an den Vogel in seinem Nest erinnerte.
»Noch besser — sie schmunzelt!«
»Tue ich nicht.«
»Die Dichter sagen, das Lächeln der Damen macht Hoffnung, doch ich gebe mich auch mit einem täglichen Schmunzeln zufrieden.« Irgendwie massierte sein Daumen schon wieder ihre Handfläche, fuhr die kleinen Muskelstränge entlang. Es fühlte sich wunderbar an. Sie wünschte sich, er würde ihre Schultern massieren, ihre Füße, ihren Hals, alles an ihr, was schmerzte. Und es schmerzte alles.
»Hattet Ihr nicht gesagt, Arhys wäre der große Verführer in Eurer Familie?« Sie versuchte, die Kraft aufzubringen, ihre Hand ein weiteres Mal zurückzuziehen, schaffte es aber nicht.
»Keineswegs. Er hat in seinem ganzen Leben noch nie eine Frau verführt. Sie haben sich alle von selbst aus dem Hinterhalt auf ihn geworfen. Nicht ohne Grund, kann ich Euch versichern.« Er lächelte kurz. »So ist das, wenn man der Übungspartner des besten Schwertkämpfers in Caribastos ist. Ich habe immer verloren. Doch wenn ich jemals dem drittbesten Schwertkämpfer in Caribastos begegne, dann dürfte der ein großes Problem haben. Arhys war stets besser, in allem, was wir angefangen haben. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Sache gibt, die ich kann, er aber nicht.«
Die Handmassage war schuld. Sie lullte Ista ein. Unbedacht sagte sie: »Was?«
»Mich in Euch verlieben, süße Ista.«
Sie sprang zurück. Dieses Kosewort hatte sie schon einmal gehört, doch nicht von diesen Lippen. »Nennt mich nicht so.«
»Bittere Ista?« Er runzelte die Stirn. »Verschrobene Ista? Ärgerliche, mürrische, muffelige Ista?«
Sie schnaubte. Er entspannte sich und lächelte wieder. »Nun, ohne Zweifel kann ich lernen, meinen Wortschatz anzupassen.«
»Lord Illvin, seid doch ernst.«
»Gewiss«, sagte er sofort. »Wie Ihr befehlt, Majestät.« Er verbeugte sich leicht. »Ich bin alt genug, um vieles zu bedauern. Meinen Anteil an Fehlern habe ich gemacht. Manche …«, er verzog das Gesicht, »… waren schrecklich, wie Ihr sehr wohl wisst. Doch es sind die einfachen, kleinen Dinge — die Küsse, die ich nie gegeben habe, und die Liebe, von der ich niemals sprach, weil nicht der richtige Zeitpunkt war oder nicht der richtige Ort, und dann keine Gelegenheit mehr. Das sind überraschend scharfe Kümmernisse, angesichts ihrer Größe. Ich denke, heute Nacht können wir unsere Gelegenheiten schwinden sehen. Also sollte ich von den Dingen, die ich zu bedauern habe, zumindest eins noch auskosten …«
Er beugte sich näher zu ihr. Fasziniert ließ sie es zu. Irgendwie hatte sein langer Arm den Weg um ihre schmerzende Schulter gefunden. Er zog sie zu sich heran. Er war ziemlich groß, stellte sie fest. Wenn sie nicht den Kopf in den Nacken legte, würde ihre Nase gegen sein Brustbein gedrückt. Sie blickte hinauf.
Seine Lippen schmeckten nach Ruß, salzigem Schweiß und dem längsten Tag ihres Lebens. Und nach Pferdefleisch, aber zumindest war es frisches Pferdefleisch. Seine dunklen Augen glitzerten unter den gesenkten Augenlidern, als ihre Arme sich um seinen narbigen Oberkörper legten und zu sich heranzogen. Was hatte sie dy Cabon zugefaucht — oben imitieren, was unten begehrt wird?
Einige Minuten später — zu viele? Zu wenige? — hob er den Kopf wieder und schob sie ein wenig von sich, als wolle er sie ansehen, ohne schielen zu müssen. Sein leichtes Lächeln war nun frei von jeder Ironie, aber nicht frei von Befriedigung. Sie blinzelte und trat zurück.
Liss saß auf der gegenüberliegenden Seite der Plattform, mit überkreuzten Beinen gegen die Brüstung gelehnt, und starrte offenen Mundes zu ihnen empor. Die beiden Soldaten taten nicht einmal mehr so, als würden sie die Jokoner beobachten. Sie zeigten den gebannten Gesichtsausdruck von Zuschauern, die ein beängstigendes Schauspiel verfolgten und froh waren, nichts damit zu tun zu haben — einen verheerenden Großbrand zum Beispiel, oder den vordersten Mann auf einer Sturmleiter.
Illvin murmelte: »Zeit ist, wo man sie sich nimmt. Sie wartet nicht auf einen.«
»Das ist wahr«, flüsterte Ista.
Eines musste sie seiner Liebelei lassen: Die Steine hatten als Lösung für ihre Notlage viel von ihrem Reiz verloren. Das war auch ohne Zweifel seine Absicht gewesen.
Ein dunkelvioletter Lichtstrahl blitzte vor ihrem inneren Auge auf, und Ista drehte den Kopf in die Richtung, in die er zielte. Von irgendwo unten erklang ein empörter Schrei. Sie seufzte, zu erschöpft, um dem nachzugehen. »Ich habe nicht einmal mehr Lust, nachzuschauen.«
Bei dem Schrei war Illvins Kopf ebenfalls herumgefahren. Doch offenbar teilte er ihren Überdruss an Schrecken, denn auch er beugte sich nicht weiter hinab. Dann aber schaute er zu ihr zurück, und seine Augen wurden schmal. »Ihr habt Euch herumgedreht, bevor wir etwas gehört haben«, stellte er fest.
»Ja. Ich sehe die Angriffe der Zauberer als Lichtstrahlen vor meinem inneren Auge. Wie Blitze, die von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel fliegen, oder wie dahinrasende Brandpfeile. Nur vom Sehen her kann ich allerdings nicht sagen, was sie bewirken. Sie alle sehen für mich ziemlich gleich aus.«
»Könnt Ihr denn nur vom Sehen her Zauberer von gewöhnlichen Menschen unterscheiden? Ich kann das nicht.«
»O ja! Sowohl Cattilaras Dämon wie auch der von Foix erscheinen mir als Gestalten aus Schatten und Licht innerhalb ihrer eigenen Seelen, die wiederum, da sie beide lebende Menschen sind, von ihren Körpern begrenzt werden. Foix’ Dämon besitzt noch immer die Form eines Bären. Arhys’ ausgebleichte Seele schleift ein wenig hinter ihm her, als müsse sie sich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten.«
»Aus welcher Entfernung könnt Ihr sagen, ob es sich bei einer bestimmten Person um einen Zauberer handelt?«
Sie zuckte die Achseln. »So weit ich sehen kann, nehme ich an. Nein, weiter … mein inneres Auge kann die Umrisse von Seelen durch Materie hindurch wahrnehmen, wenn ich mich darauf konzentriere und vielleicht die äußeren Augen schließe, um die Ablenkung zu vermindern. Zelte, Mauern, Körper … das alles ist für die Götter durchsichtig, und für die Sicht, die sie verleihen.«
»Was ist mit der Sicht eines Zauberers?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Foix schien nichts dergleichen zu besitzen, bevor ich meine mit ihm geteilt habe. Aber sein Dämon ist noch unerfahren.«
»Huh.« Einen Moment lang stand er da, wirkte zunehmend nachdenklich. »Kommt hier rüber.« Er nahm sie bei der Hand und zog sie zur Westseite des Turmes, von wo aus man den Walnusshain sehen konnte. »Glaubt Ihr, Ihr könnt eine ausführliche Auflistung aller Zauberer von Joen geben? In ihrem Lager, von hier aus?«
Ista blinzelte. »Ich weiß es nicht, ich könnte es versuchen.«
Graue Schatten umspielten die Wurzeln der Bäume, obwohl ihre Wipfel noch immer goldgrün erstrahlten im Licht der untergehenden Sonne. Lagerfeuer funkelten zwischen den Zweigen und den blassen Schemen der zahlreichen Zelte. Die Stimmen der Menschen trugen weit genug, dass sie auf den Mauern noch gehört werden konnten, obwohl man nicht mehr zu verstehen vermochte, was sie auf Roknarisch sagten. Auf der entfernten Seite des Hains erglühte die Ansammlung der großen grünen Zelte mit den bunten Wimpeln dank der Lampen im Innern wie bunte Laternen.
Ista atmete tief durch und ordnete ihre Gedanken. Sie griff mit ihren Sinnen aus, schloss die Augen. Wenn sie Joen oder Sordso von hier aus spüren konnte — konnten diese sie dann auch spüren? Und wenn Joen sie spüren konnte … sie atmete ein weiteres Mal durch und drängte diesen beängstigenden Gedanken beiseite. Entschlossen streckte sie ihre Seele wieder aus.
Mehr als fünfhundert schwache Seelenlichter bewegten sich wie Glühwürmchen zwischen den Bäumen: die jokonischen Soldaten und die Marketender, die ihren üblichen Aufgaben nachgingen. Eine kleine Anzahl Seelen glühte in einem viel heftigeren, unruhigeren Licht. Ja, da waren auch die Leinen, die Schlangen. Sie zuckten von diesen verstreuten Wirbeln aus durch die Luft und liefen alle in einem einzigen dunklen, beunruhigenden Punkt zusammen. Während sie noch zusah, kreuzte sich eine der Linien mit einer anderen, während die Menschen, die daran hingen, sich bewegten. Wie zwei Stränge aus substanzlosem Garn gingen sie durch einander hindurch und verwirrten sich nicht.
»Ja, ich kann sie sehen«, sagte sie Illvin. »Einige sind in Joens Nähe versammelt, andere im ganzen Lager verteilt.« Sie bewegte die Lippen, während sie zählte. »Sechs halten sich bei den Kommandozelten auf, zwölf sind entlang des Saums des Waldes aufgestellt, Porifors gegenüber. Achtzehn insgesamt.«
Sie blinzelte kurz und wandte sich halb um, blickte zum Fluss hinab und auf das zweite Lager der Jokoner, das die Stadt belagerte. Ein weiteres Mal schloss sie die Augen. Dann drehte sie sich vollends herum und wandte sich dem Biwak des dritten Heerzuges zu, der sich entlang der Anhöhe östlich der Burg aufgestellt hatte, die Straße nach Oby abschnitt und den Oberlauf des Flusses kontrollierte. »Alle Zauberer befinden sich im Hauptlager bei Joen. Ich sehe keine Bänder zu den beiden anderen Lagern. Ja, natürlich. Sie möchte all ihre Zauberer so gut im Auge behalten wie möglich.«
Ista vollendete ihre Drehung und öffnete die Augen wieder. »Die meisten Zauberer scheinen in Zelten untergebracht zu sein. Einer steht unter einem Baum und blickt hierhin.« Seinen materiellen Körper konnte sie durch die Zweige hindurch nicht sehen, aber sie konnte genau sagen, welcher Baum es war.
»Hm«, sagte Illvin und blickte über die Schulter. »Kann Foix sagen, was was ist? Wer ein Zauberer ist und wer nicht?«
»O ja. Jetzt kann er es. Mit mir zusammen sah er die Zauber aufleuchten, als die Tassen zerbrochen sind — und dann wieder, als wir auf der Mauer standen und es weiterging.« Misstrauisch schaute sie über die Schulter zurück in Illvins angespanntes, verschlossenes Gesicht. Seine Augen blickten nachdenklich. Er schien irgendeiner Vorstellung nachzugehen, die ihm keine große Freude bereitete. »Woran denkt Ihr?«
»Ich denke … dass Eurer Aussage nach Arhys anscheinend immun ist gegen Zauberei, aber dass die Zauberer nicht immun sind gegen Stahl. Wie Cattilara an der unglücklichen Umerue bewiesen hat. Wenn Arhys sie in einen Nahkampf verwickeln könnte, und nur sie, und wenn er den anderen tausendfünfhundert Jokonern rund um Porifors irgendwie aus dem Weg gehen könnte …« Er holte Luft und wirbelte herum. »Liss.«
Sie fuhr hoch. »Lord Illvin?«
»Such meinen Bruder und frag ihn, ob er zu uns heraufkommen kann. Hol auch Foix, wenn er sich auffinden lässt.«
Sie nickte, ein wenig überrascht, und eilte die Wendeltreppe des Turmes hinunter. Illvin starrte über das Lager von Fürst Sordso und Fürstin Joen hinweg, als müsse er sich jede Einzelheit einprägen. Ista stützte sich an seiner Seite auf die Brüstung und musterte sein Profil, das plötzlich abwesend wirkte.
Er erwiderte ihren Blick und lächelte entschuldigend. »Ein Gedanke beschäftigt mich. Ich fürchte, Ihr werdet feststellen, dass ich sehr leicht abzulenken bin.«
So würde sie ihn nicht beschreiben, aber sie erwiderte sein Lächeln kurz und versuchte, ihn zu bestärken.
Allzu bald erklangen Schritte auf der Treppe. Arhys trat in das leuchtende Zwielicht heraus, gefolgt von Liss und Foix. Im Augenblick sah er kaum mehr nach einer Leiche aus als irgendein anderer in Porifors, doch seinem Gesicht fehlte der übliche Schweißfilm. Foix’ Gelassenheit verbarg eine tiefe Erschöpfung. Den ganzen Nachmittag hatte er sich ungeschickt bemüht, überall in der Burg die Auswirkungen der Zauberei rückgängig zu machen, doch mit wenig Erfolg. Dy Cabon hatte den Versuch von vornherein für aussichtslos erklärt, aus verschiedenen theologischen Gründen, denen keiner zuhörte, und doch hatte er selbst um Foix’ Hilfe gebeten, als er sich mit den steigenden Anforderungen durch die Kranken konfrontiert sah.
»Arhys, komm her«, sagte Illvin. »Schau dir das an.« Sein Bruder schloss sich ihm an der westlichen Brüstung an. »Die fünf Götter wissen, dass wir uns mit dem Gelände hier auskennen. Königin Ista sagt, dass in Joens Rudel insgesamt nur achtzehn Zauberer sind. Ein Dutzend von ihnen befindet sich an der Vorderseite des Lagers, hier …«, seine Hand beschrieb einen Bogen, »sechs weitere in den Kommandozelten, ein sehr viel besser bewachter Bereich, wie ich fürchte. Mit einem großen Kreis können wir sie alle erwischen, wenn wir schnell genug sind. Wie viele Zauberer, glaubst du, kannst du mit der Klinge herausschneiden?«
Arhys hob die Brauen. »So viele ich erreichen kann, nehme ich an. Aber ich bezweifle, dass sie einfach nur herumstehen und warten, während wir auf sie zu galoppieren. Sobald sie auf die Idee kommen, unsere Pferde zu Fall zu bringen, sind wir auf unsere Füße angewiesen.«
»Was ist, wenn wir bei Dunkelheit angreifen? Du hast gesagt, dass du inzwischen im Dunkeln besser sehen kannst als andere Menschen.«
»Hm.« Arhys musterte den Hain genauer.
»Majestät.« Illvin wandte sich ihr eindringlich zu. »Was geschieht, wenn ein angeleinter Zauberer erschlagen wird?«
Ista runzelte die Stirn. »Ihr habt es selbst gesehen. Der Dämon springt zum nächsten Wirt, den er erreichen kann, und alles, was er schon von der Seele geschluckt hat, nimmt er mit sich. Der Körper stirbt. Was das Schicksal der verbliebenen Teile der Seele des Zauberers ist, das weiß ich nicht.«
»Noch etwas …«, sagte Illvin, und Erregung lag in seiner Stimme. »Die Leine zerreißt. Oder zumindest … Cattilaras Dämon hat sich bei Umerues Tod ihrer Kontrolle entzogen. Mehr noch: Im selben Moment wurde aus dem freien Dämon ein aufsässiger Feind Joens, entschlossen, so schnell wie möglich vor ihr zu fliehen. Wie viele Dämonen müssen wir aus Joens Schlachtordnung herauslösen — worauf sie sich auf unvorbereitete Wirte stürzen, oder sich sogar gegen ihre frühere Meisterin wenden —, ehe sie zu einem ungeordneten Rückzug gezwungen ist?«
»Wenn sie nicht noch weitere Dämonen in Reserve hält, die sie anspannen kann wie frische Pferde«, merkte Arhys an.
»Nein«, widersprach Ista. »Dass kann sie gewiss nicht. Es müssen alle dort sichtbar sein, in ihrem Netz gefangen, anderenfalls würden sie fliehen — voreinander, wenn schon nicht vor ihr. Umerues Aussage nach brauchte Joen drei Jahre, um diese Schlachtordnung aufzustellen, um jeden ihrer Zauberersklaven zu einem Höhepunkt an sorgsam ausgewählten gestohlenen Fähigkeiten zu bringen. Welches Hintertürchen zur Hölle auch immer ihr der Meisterdämon öffnet, ich zweifle, dass sie ihre Dämonen ersetzen kann, ohne diesen Ort noch ein weiteres Mal aufzusuchen. Und zunächst wird sie nicht mehr bekommen als eine Reihe geistloser, ungeformter und unwissender Elementargeister. Wir wissen auch, dass sie einige davon verliert. Sie kann den Vorgang unmöglich gut unter Kontrolle haben, nicht, wenn sie es mit der Essenz des Chaos selber zu tun hat. Andererseits … Cattilaras Dämon hatte Angst, wieder eingefangen zu werden. Wenn das nicht nur eine kindliche Besessenheit Umerues war, bedeutet es, dass ein Wiedereinfangen möglich ist. Ich habe keine Ahnung wie rasch Joen so etwas bewerkstelligen kann.«
»Wenn verschiedene befreite Dämonen in alle Richtungen auseinander fliehen, dürfte es schwieriger werden, würde ich sagen«, stellte Illvin fest.
Arhys stützte sich mit dem Ellbogen auf die Steinmauer und schaute zu seinem Bruder. »Du denkst an einen Ausfall. Eine Zaubererjagd.«
»Ja.«
»Das ist nicht möglich. Ich käme nicht ohne Wunden davon — die Catti tragen musste.«
Illvin blickte zur Seite. »Ich dachte, die Königin könnte mich wieder an dich binden. Unter den gegebenen Umständen.«
Ista keuchte protestierend. »Versteht Ihr, was das bedeuten würde? Arhys Wunden wären die Euren.«
»Ja, nun …« Illvin schluckte. »Aber dann könnte Arhys ein ganzes Stück länger durchhalten, als seine Feinde erwarten. Vielleicht könnte man Ärzte und Pflegerinnen an meiner Seite bereithalten, die die Wunden verbinden, sobald sie aufklaffen. Die uns zusätzliche Minuten verschaffen.«
Arhys runzelte die Stirn. »Und dann? Sollen wir bei deinem letzten Atemzug die Verbindung unterbrechen? Alle Wunden zugleich zu mir zurückschicken?«
Ista versuchte, ihre Stimme nicht zu einem Kreischen werden zu lassen. »Sollen wir Euch dann zurücklassen, in einem in Stücke gehauenen Körper, der weder sterben noch genesen kann?«
»So viel Gefühl habe ich eigentlich gar nicht mehr im Körper …«, sagte Arhys. »Vielleicht wäre ich gar nicht gefangen.« Er hob seine atemberaubend grauen Augen und kreuzte den Blick mit Ista, und das plötzliche Leuchten darin erschreckte sie bis in die Tiefen ihrer Seele. »Vielleicht könnte ich erlöst werden.«
»Durch den Tod in Verdammnis? Nein!«, widersprach Ista.
»Allerdings nicht!«, sagte Illvin. »Ich wollte, dass der Ausfalltrupp herumschwenkt und nach Porifors zurückkehrt. Die anderen würden mitreiten, um dich zu schützen und dir den Weg zu den Zauberern freizuschlagen. Und um deine Rückkehr sicherzustellen.«
Arhys starrte in die Dämmerung hinunter. »Was denkst du, wie viele Männer wir dafür benötigen?«
»Am besten wären hundert, aber die haben wir nicht. Fünfzig könnten es schaffen.«
»Wir haben auch keine fünfzig. Wir haben nicht einmal zwanzig, jedenfalls nicht beritten.«
Illvin richtete sich von der Brüstung auf. Die Aufregung verschwand aus seinem Gesicht. »Zwanzig sind zu wenig.«
»Zu wenige, um loszureiten? Oder zu wenige, um zurückzukommen?«
»Wenn es zu wenige sind, um zurückzukommen, sind es auch zu wenige, um auszureiten. Das könnte ich von keinem Mann verlangen, wenn ich nicht selbst mitreite, und ich würde zwangsweise hier zurückbleiben müssen.«
»Nur in gewisser Hinsicht«, sagte Arhys. Er wirkte zunehmend angetan von dem Gedanken. »Wir sterben hier mit jeder Stunde mehr. Schlimmer noch — Lord dy Oby wird zügig zum Ersatz herbeireiten. Er war nie für Trödelei bekannt, und um seiner Tochter willen wird er diesmal noch weniger eine Verzögerung dulden. Ohne Warnung vor Joens dämonischer Täuschung werden er und seine Truppen in diese Falle eilen.«
»Er kann frühestens übermorgen hier sein«, sagte Illvin.
»Da wäre ich nicht so sicher. Wenn der heutige Kurier von den Jokonern abgefangen wurde und nicht in Oby angekommen ist, wird er sofort Bescheid wissen, denn ich weiß, dass ihn die Warnungen von dem Hinterhalt auf Foix und den Geistlichen erreicht haben. Die Festung von Oby ist bereits alarmiert.« Arhys runzelte die Stirn. »Je länger wir warten, umso schlechter wird unsere Verfassung sein.«
»Das scheint tatsächlich so«, räumte Illvin ein.
»Außerdem«, er senkte die Stimme, »wird auch mein Zustand nicht besser. Unsere Männer sterben inzwischen, ohne dass eine Klinge erhoben oder ein Pfeil abgeschossen wurde. Wenn es so weitergeht, können Sordsos Truppen bis morgen Abend ungehindert in eine Burg einmarschieren, die nur noch von Leichen bemannt ist — reglosen Leichen, abgesehen von einer. Und ich werde demselben Feind gegenüberstehen, allein, ohne Unterstützung.«
»Ah«, sagte Ista. Sie klang erschüttert.
»Hast du das nicht bis zu Ende gedacht? Ich bin überrascht. Majestät«, er wandte sich Ista zu, »ich bin jetzt schon verdammt. Werde ich von meinem Körper befreit, wird sich an diesem Zustand nichts ändern. Lasst es geschehen, solange noch ein wenig Ehre darin liegt. Irgendein Nutzen.«
»Arhys, das könnt Ihr nicht von mir verlangen.«
»Doch.« Er senkte seine Stimme noch mehr. »Und Ihr könnt es mir nicht verweigern.«
Ista zitterte, sowohl über seinen Vorschlag wie auch darüber, was er beschrieben hatte. Sie musste gestehen, dass dieses einsame Schicksal der logische Fortgang der Ereignisse sein würde.
»Nein, Arhys, das ist zu absonderlich«, widersprach Illvin.
»Sonderbar ist ein Mann, der seinen Tod herbeisehnt. Ich blicke auf meinen zurück. Ich denke, ich bin jenseits von sonderbar. Wenn dieses Wagnis eingegangen werden muss, so muss es bald sein. In der dunklen Stunde vor der Morgendämmerung.«
»Heute Nacht?«, sagte Illvin. Selbst er, der diesen Plan vorgebracht hatte, schien entsetzt zu sein über die plötzliche Beschleunigung.
»Gerade heute Nacht. Wir wurden mit äußerster Macht in die Defensive gedrängt, und die Jokoner halten uns für eingeschüchtert und rechnen nicht damit, dass wir den Spieß umdrehen. Wenn die Götter mir jemals die Gabe verliehen haben, den richtigen Augenblick auf dem Schlachtfeld abzupassen — ich schwöre, das ist er.«
Illvin öffnete den Mund, doch kein Laut kam hervor.
Arhys lächelte leicht und drehte sich wieder um. Im schwindenden Licht schaute er hinunter auf den Walnusshain. »Also, wie kann ich diese Zauberer finden, ohne meine Zeit damit zu verschwenden, gewöhnliche Männer niederzumetzeln?«
Foix räusperte sich. »Ich kann sie erkennen.«
Hinter ihnen saß Liss wieder klein und mit übergeschlagenen Beinen an der Mauer und hielt den Atem an.
Arhys schaute zu Foix hinüber. »Werdet Ihr an meiner Seite reiten, dy Gura? Wir geben ein gutes Paar ab. Ich glaube, Ihr seid weniger verwundbar für die Angriffe der Zauberer, als irgendein anderer Mann hier.«
»Ich … lasst mich nach unten schauen.« Auch Foix trat nun an die Zinnen, stützte sich darauf und blickte auf das Lager hinab. Daran, wie er die Augen öffnete und schloss, erkannte Ista, dass er sein zweites Gesicht herbeirief, um die Herausforderung abzuschätzen.
Arhys wandte sich an Ista. »Könnt Ihr das alles zu Wege bringen, Majestät? Weder Illvin noch ich werden mit Euch reden können — wir müssen uns auf Euer Urteilsvermögen verlassen, wenn es darum geht, die Verbindung herzustellen oder zu unterbrechen.«
Ich bin in jeder Hinsicht eingeschüchtert. Körperlich. Magisch. Moralisch. Doch Letzteres am meisten. »Ich nehme an, ich könnte Illvin von Euch trennen, ja. Was ist mit Cattilara?«
»Ich möchte sie schonen«, sagte Arhys. »Lasst sie schlafen.«
»Um als Witwe aufzuwachen? Ich bin mir nicht sicher, ob sie diesen Verrat jemals vergeben könnte. Sie mag jung sein und dumm, doch sie ist kein Kind mehr, und sie wird niemals wieder ein Kind sein. Auf jeden Fall muss ihr erlaubt werden, aufzuwachen und zu essen, damit sie Euch Stärke verleihen kann und nicht ohne eigene Schuld scheitert.«
Illvin sagte: »Ich fürchte, wenn sie irgendetwas davon erfährt, wird sie ziemlich aufgebracht sein. Und ich bezweifle, dass ihr Dämon auf unserer Seite stehen wird.«
Über ihnen erschienen die Sterne. Am westlichen Horizont verblassten rosa glühende Wolkenfetzen zu tristem Grau.
»Ich muss für Cattilara denken«, sagte Ista. Mir scheint, sonst tut es keiner.
Aus den zunehmenden Schatten sagte Foix: »Lord Arhys, falls Ihr ausreitet, gehe ich mit Euch, sofern die Königin mich dafür freistellt.«
Ista zögerte drei verzweifelte Herzschläge lang. »Ich stelle Euch frei.«
»Ich danke Euch für diese Ehre, Majestät«, sagte Foix förmlich.
»Komm«, sagte Arhys zu Illvin. »Lass uns nachsehen, ob es noch genug intakte Ausrüstung auf Burg Porifors gibt, um diesen seltsamen Jagdausflug auszustatten. Foix, kommt mit.« Er wandte sich der Treppe zu.
Illvin ging zurück, ergriff Istas Hand und führte sie an seine Lippen. »Ich sehe Euch bald wieder.«
»Ja«, flüsterte Ista. Der Griff verstärkte sich, dann war er fort.