23

Es war kurz vor Mitternacht, als Lord Arhys sich zur Ruhe in seine Gemächer zurückzog und Cattilara, auf der anderen Seite der Tür, zum Essen geweckt werden konnte. Sein Page zog ihm die Stiefel aus, aber sonst nichts. Dann ließ er sich am Fußende des Bettes nieder, um über die Ruhe seines Herrn zu wachen. Ista nahm an, dass der erschöpfte Junge auf dem Boden einschlafen würde, noch bevor fünf Minuten vorüber waren. Arhys legte sich auf den Rücken. Seine Augen waren weit aufgerissen und schimmerten dunkel im Licht der einzigen Kerze des Raumes.

»Seid sanft zu ihr«, bat er Ista. »Sie muss schon viel zu viel ertragen.«

»Ich werde nach meinem besten Urteilsvermögen verfahren«, gab Ista zurück. Arhys akzeptierte ihre Worte mit einem Nicken. Illvin allerdings warf ihr einen neugierigen Blick zu.

»Seid achtsam mit ihr, ebenso wie mit ihrem Dämon, und ich meine das nicht so wie Arhys«, murmelte er Ista zu. »Nach dieser verfluchten Eskapade mit dem Wagen fürchte ich, dass sie bei der Verfolgung ihrer Ziele zu allem fähig ist.«

»Ich werde nach meinem besten Urteilsvermögen verfahren«, wiederholte Ista ausdruckslos. Sie ließ Foix und Liss vor sich her in Lady Cattilaras Gemächer eintreten und schloss vor Illvin die Tür.

Die Vernünftigste von Cattilaras Damen traf gerade eben mit dem Speisetablett ein. Der hungrige Ausdruck in ihrem Gesicht und die Sorgfalt, mit der sie das Essen abstellte, verrieten Ista, dass sie dessen Wert erkannte. Ista entließ die Frau, doch sie durfte bleiben und auf einer Truhe bei der Wand sitzen. Liss hielt sich an Istas Seite, als diese zu Cattilaras Bett ging.

»Foix, stellt Euch an ihre Füße. Behaltet den Dämon im Auge«, befahl Ista. Foix nickte und tat, wie geheißen. Es behagte Ista nicht, dass sie noch einen weiteren Dienst von ihm verlangen musste, denn er war offensichtlich so sehr erschöpft, dass er schwankte. Vor dem Gefecht musste er dringend noch einige Stunden ruhen. Doch Joen hatte sie gelehrt, Dämonen gegenüber vorsichtiger zu sein.

Ista rief ihr zweites Gesicht herauf und schloss die Hand um den Fluss von Seelensubstanz, der von Cattis Herz ausging. Sie verengte ihn zu einem winzigen Rinnsal, das die Verbindung zu Arhys aufrechterhielt. Ista stellte sich vor, wie im Nebenraum alle Anzeichen von Leben aus seinem Gesicht schwanden, und ihr wurde die Brust eng. Der Schatten des Dämons wand sich aufgeregt, doch er wehrte sich nicht gegen Istas Kontrolle. Cattilara schlug die Augen auf und atmete ein. Abrupt setzte sie sich auf, schwankte benommen. Liss drückte ihr einen Blechbecher mit Wasser in die Hand. Catti führte den Becher an ihre trockenen Lippen und leerte ihn gierig. Liss trug das Tablett zu einem kleinen Tisch neben dem Bett und entfernte die Leinendecke. Es war einfache Kost, aufgetragen auf einem Sammelsurium alter Teller.

Catti funkelte Ista über den Becher hinweg an und blickte dann finster auf das Tablett hinunter. »Was ist das? Essen für Dienstboten? Oder für Gefangene? Ist die rechtmäßige Herrin von Porifors inzwischen so sehr ihrer Würden beraubt?«

»Es ist das letzte und beste unverdorbene Essen in der Festung, eigens für Euch zurückgehalten. Wir sind inzwischen von einer jokonischen Armee eingeschlossen, und eine Truppe von Zauberern belagert uns. Ihre dämonische Magie zerschmettert alles in diesen Mauern und schleudert uns die Überreste entgegen. Alles Wasser ist fort. Das Fleisch wimmelt vor Maden. In der Hälfte der Gebäudeflügel haben Brände gewütet, und ein Drittel der Pferde ist tot. Heute Nacht sterben Männer an Krankheit und Wunden, ohne dass sie auch nur in Bogenschussweite von Joen und Sordsos Armee gekommen sind. Joens neue Art der Kriegsführung ist gerissen, grausam und wirkungsvoll. Außerordentlich wirkungsvoll. Also esst, denn das ist die einzige Mahlzeit, die Arhys heute Nacht bekommen wird.«

Cattilara biss von einem Stück trockenem Brot ab. »Wir hätten fliehen können. Wir hätten fliehen sollen! Ich hätte Arhys inzwischen vierzig Meilen von hier weghaben können, und in Sicherheit. Uneinsichtige Schlampe!«

Foix und Liss zuckten bei der Beleidigung zusammen, doch Ista hob die Hand und hielt sie zurück. »Arhys hätte es Euch nicht gedankt. Und wen meint ihr mit wir? Seid Ihr Euch überhaupt sicher, welche Stimme im Augenblick aus Euch spricht? Esst.«

Catti plagte wütender Hunger, und so konnte sie nicht einmal daran denken, das angebotene Essen zu verschmähen. Liss reichte beständig Wasser nach. Cattilaras eingesunkene Gesichtszüge verrieten, wie gefährlich ausgetrocknet sie inzwischen war. Ista ließ sie ein paar Minuten kauen und schlucken, bis sie sichtlich langsamer wurde.

»Später in der Nacht«, fing Ista wieder an, »reitet Arhys zu einem gefährlichen Ausfall aus, ein Wagnis, um uns alle zu retten. Oder bei dem Versuch zu sterben.«

»Ihr wollt seinen Tod«, murmelte Catti. »Ihr hasst ihn. Ihr hasst mich.«

»Ihr habt mit beidem Unrecht, obwohl ich zugeben muss, dass ich mitunter das starke Bedürfnis verspüre, Euch zu schlagen. Jetzt, zum Beispiel. Lady Cattilara, Ihr seid die Frau eines Kriegers und die Tochter eines Kriegers. Ihr könnt unmöglich, hier in diesem bedrohten Grenzgebiet, zu einer derart maßlosen Selbstsucht erzogen worden sein.«

Cattilara blickte beiseite, vielleicht, um die Schamesröte in ihrem Gesicht zu verbergen. »Dieser dumme Krieg währt schon seit Ewigkeiten. Er wird sich noch in alle Ewigkeit hinziehen. Doch wenn Arhys fort ist, ist er fort für immer. Und alles Gute in der Welt geht mit ihm. Die Götter werden ihn aufnehmen und mich ausgeplündert allein lassen. Ich verfluche sie!«

»Ich habe sie jahrelang verflucht«, stellte Ista trocken fest. »Es wird Zeit für eine Ablösung.« Cattilara war wütend und verzweifelt. Sie wand sich in unerträglicher Qual. Doch hatte sie bereits jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren?

Doch was ist die Wirklichkeit in diesem wahr gewordenen Albtraum? Was ist Vernunft? Absurd, dass gerade ich unter allen Frauen auf Vernunft Wert lege.

»Esst weiter.« Ista drückte den müden Rücken durch und verschränkte die Arme. »Ich habe einen Vorschlag für Euch.«

Cattilara funkelte sie misstrauisch an.

»Ihr könnt es annehmen oder Euch weigern, doch eine andere Wahl bleibt Euch nicht. In dieser Hinsicht ähnelt es einem Wunder. Arhys reitet heute Nacht gegen Joens Zauberer aus. Illvin hat sich bereit erklärt, seine Wunden zu tragen, bis zum Punkt des Todes. Mir scheint, dass zwei Körper, die beide Arhys Schwertarm stärken und seine Verletzungen auf sich nehmen, ihn weiter tragen könnten als einer. Vielleicht der entscheidende Vorteil, der kleine Unterschied zwischen beinahe erfolgreich und beinahe gescheitert. Ihr könnt ein Teil seines Kampfes sein, oder ausgeschlossen.«

Erschrocken wandte Foix ein: »Majestät, Lord Arhys würde das nicht wollen!«

»Still«, beschied Ista ihm kühl. »Kein anderer hier wird Euch diese Wahl lassen, Cattilara.«

»Ihr könnt so etwas nicht hinter seinem Rücken tun!«, sagte Foix.

»Ich trage die Verantwortung für dieses Ritual. Das ist jetzt Frauensache, Foix. Schweigt jetzt. Cattilara …« Ista holte tief Luft. »Ihr seid Witwe und werdet es sein, doch die Trauer, die Ihr den Rest Eures Lebens mit Euch tragt, wird unterschiedlich sein, je nachdem, welche Entscheidung Ihr heute Nacht trefft.«

»Wie könnte es besser sein?«, knurrte Cattilara. Tränen strömten ihr aus den Augen. »Ohne Arhys ist alles nichts mehr wert.«

»Ich sagte nicht besser. Ich sagte unterschiedlich. Ihr könnt den Teil annehmen, der Euch zugewiesen ist, oder Euch zurücklehnen und übergangen werden. Wenn Ihr nicht Euren Teil beitragt und er scheitert, werdet Ihr niemals wissen, ob Ihr einen Beitrag hättet leisten können. Wenn Ihr Euren Teil beitragt und er dennoch fällt, werdet Ihr auch das wissen.

Arhys hätte Euch vor dieser Entscheidung bewahrt, wie ein Vater sein geliebtes Kind schützen würde. Darin täuscht er sich. Ich gebe Euch die Wahl, die einer Frau ansteht, hier, im letztmöglichen Augenblick. Er möchte Euch in dieser Nacht Schmerz ersparen. Ich denke an die Nächte während der nächsten zwanzig Jahre. Genau genommen gibt es keine richtige oder falsche Entscheidung. Doch die Zeit, Eure Entscheidungen zu überdenken, rinnt davon wie Porifors Wasser.«

»Ihr denkt, er wird in diesem Kampf den Tod finden«, klagte Cattilara.

»Er ist bereits seit drei Monaten tot. Ich kämpfe nicht gegen seinen Tod an, sondern gegen seine Verdammnis. Und diesen Kampf habe ich verloren. Während meines Lebens habe ich zwei Göttern in die Augen geblickt, und es hat mich versengt, sodass es beinahe nichts mehr gibt in der Welt des Stofflichen, das mir Angst machen kann. Doch davor habe ich Angst. Ich habe Angst um ihn. In dieser Nacht steht er am Rande des wahren Todes, des endgültigen Todes, und niemand ist da, um ihn von diesem Abgrund zurückzuziehen. Nicht einmal die Götter können ihn retten, wenn er jetzt stürzt.«

»Eure Wahl ist gar keine. Es ist immer nur Tod.«

»Nein, ein Tod in ganz unterschiedlicher Weise. Ihr hattet mehr von ihm als jede andere lebende Frau. Nun dreht das Rad sich weiter. Seid gewiss, eines Tages wird es sich auch für Euch drehen. In dieser Hinsicht sind alle gleich. Er geht zuerst, aber nicht als Einziger. Nicht einmal allein, denn ich nehme an, er wird eine große jokonische Begleitung bekommen.«

»Das wird er, wenn ich etwas dazu beitragen kann«, grollte Foix.

»Ja. Glaubt Ihr, keiner von ihnen wird ebenso geliebt wie Arhys? Ihr habt Gelegenheit, Arhys in Würde gehen zu lassen, mit klarem Geist, ungehindert und zielgerichtet wie das Schwert, das sein Symbol ist. Ich werde Euch nicht erlauben, ihn gequält und enttäuscht vorzuschicken, verwirrt und traurig.«

Cattilara knurrte: »Weshalb sollte ich ihn dem Tod ausliefern — oder den Göttern, oder Euch, oder irgendjemanden? Er gehört mir. Mein ganzes Leben ist das seine.«

»Dann werdet Ihr tatsächlich leer und ausgehöhlt sein, wenn er fort ist.«

»Ich kann nichts für dieses Unglück! Hätten einfach alle getan, was ich wollte, hätte das alles abgewendet werden können. Alle sind gegen mich …«

Sämtliche Speisen auf dem Tablett waren verzehrt. Seufzend berührte Ista die Verengung und ließ den Kanal wieder weiter werden. Fluchend sank Cattilara zurück. Das Seelenfeuer aus Cattilaras Herz floss langsam und unstet, doch es würde für die nächsten Stunden ausreichen.

»Ich hätte ihr gern Gelegenheit gegeben, sich zu verabschieden«, sagte Ista traurig. »Lord Illvins Bemerkungen über die zurückgehaltenen Küsse und unausgesprochenen Worte lasten schwer auf meiner Seele.«

Mit entsetztem Gesicht wandte Foix ein: »Was sie zu sagen hat, sollte in Lord Arhys’ Gegenwart besser unausgesprochen bleiben.«

»Das denke ich auch. Fünf Götter, warum nur wurde ich an diesen Hof gerufen? Geht, Foix. Sucht so viel Ruhe, wie Ihr bekommen könnt. Das ist jetzt Eure vordringlichste Pflicht.«

»Jawohl, Majestät.« Er blickte zu Liss hinüber. »Kommst du runter, um uns zu verabschieden? Später?«

»Ja«, flüsterte Liss.

Foix setzte zum Sprechen an, doch ausnahmsweise schien seine Kehle ihm den Dienst zu verweigern. Stattdessen nickte er nur dankbar, verbeugte sich und ging.


Schließlich legte sich auch Ista für einige Stunden in ihren Gemächern nieder. Sie sehnte sich nach einem traumlosen Schlummer, fürchtete sich vor den Träumen. Doch letztendlich döste sie nur, beunruhigt von gelegentlichen schmerzerfüllten Lauten, die durch ihr Fenstergitter hereindrangen, aus einer Burg, die sich rings um sie her scheinbar in Auflösung befand. Nach einer Weile kam Liss, um sie zu wecken. Ein Kerzenstumpf in einem Messinghalter, dessen Glasschirm irgendwo in Scherben lag, erleuchtete ihr erschöpftes Gesicht. Ista war bereits wach und angezogen. Die triste Trauerkleidung wirkte allmählich schmutzig und abgetragen, doch das schwarze Kleid passte zu ihrer Stimmung und zu den Schatten dieser Stunde.

Als Ista durch die Tür auf die Galerie trat, folgte Liss ihr und hielt das schwache Licht in die Höhe. Ista trat drei Stufen die leeren Treppen hinab und hielt an. Ihr stockte der Atem.

Ein hoch gewachsener, düsterer Mann stand zwei Stufen unter ihr, sodass sein Gesicht mit dem ihren auf derselben Höhe war. Sie standen in genau der gleichen Haltung, in der sie vor einer halben Ewigkeit den toten Arhys geküsst und herausgefordert hatte. Das Gesicht und die Umrisse des Mannes wirkten verschwommen. Sie fand, dass er Arhys ein wenig ähnlich sah, ein wenig aber auch Arvol und noch ähnlicher ihrem eigenen toten Vater. Ias, so dachte sie, sah er gar nicht ähnlich.

Er war wie ein Offizier von Porifors gekleidet, in ein Kettenhemd und einen grauen und goldenen Wappenrock. Doch seine Rüstung schimmerte, und der Wappenrock war glatt und saß perfekt; seine Stickerei war strahlend wie Feuer. Sein Haar und sein Bart waren grau, so kurz geschnitten wie bei Arhys, sauber und ordentlich. Das unruhige Kerzenlicht spiegelte sich nicht in seinem ihr zugewandten Gesicht, ebensowenig in den endlosen Tiefen seiner Augen. Stattdessen leuchteten diese Augen mit ihrem eigenen Licht.

Ista schluckte, hob ihr Kinn. Drückte die Knie durch. »Euch habe ich hier nicht erwartet.«

Der Wintervater bedachte sie mit einem ernsten Nicken. »Alle Götter sind auf sämtlichen Schlachtfeldern zugegen. Welche Eltern würden nicht besorgt an der Tür warten, wieder und wieder hinaus auf die Straße blicken, wenn ihr Kind nach einer langen und gefahrvollen Reise zu Hause zurückerwartet wird? Du selbst hast an dieser Tür gewartet, sowohl erfolgreich, wie auch vergebens. Vervielfache diesen Schmerz um das Tausendfache und bedauere mich, süße Ista. Denn ich habe ein Kind mit einer prachtvollen Seele, doch es ist sehr spät und hat sich auf dem Weg verirrt.«

Der tiefe Nachhall seiner Stimme schien ihren Brustkorb vibrieren zu lassen, ließ ihre Knochen klappern. Sie konnte kaum atmen. Tränen trübten ihr den Blick. »Ich weiß, Herr«, flüsterte sie.

»Meine rufende Stimme kann ihn nicht erreichen. Er kann das Licht in meinem Fenster nicht sehen, denn er ist von mir getrennt, blind und taub und unsicher auf den Beinen. Niemand ist da, der seine Hand ergreift und ihn führen kann. Und doch magst du ihn in seiner Finsternis berühren. Und ich kann dich in der deinen berühren. Nimm also dieses Garn und führe ihn durch das Labyrinth, das ich nicht betreten kann.«

Er beugte sich nach vorn und küsste sie auf die Stirn. Seine Lippen brannten wie kalter Stahl. Furchtsam hob sie die Hand und berührte ihn am Bart, wie sie es bei Arhys an jenem Tag getan hatte. Er kitzelte merkwürdig und weich unter ihrer Handfläche. Als er den Kopf neigte, fiel eine Träne wie eine Schneeflocke auf ihren Handrücken, zerschmolz und verschwand.

»Bin ich nun ein geistlicher Beistand in Eurem Namen?«, fragte sie benommen.

»Nein. Meine Tür.« Er lächelte sie rätselhaft an, ein weißer Fleck in der Nacht, der wie ein Blitz in ihre Sinne stach. Ihr unsicher taumelnder Geist wechselte von benommen zu geblendet. »Ich werde hier auf ihn warten, für eine kleine Weile.« Er trat zurück, und die Treppe war wieder leer.

Ista stand erschüttert da. Der Fleck auf ihrem Handrücken, wo seine Träne hingetropft war, fühlte sich eiskalt an.

»Majestät?«, fragte Liss behutsam und hielt hinter ihr an. »Mit wem redet Ihr?«

»Hast du einen Mann gesehen?«

»Nein …«

»Tut mir Leid.«

Liss hielt die Kerze hoch. »Ihr weint ja.«

»Ja. Ich weiß. Es ist in Ordnung. Lasst uns nun weitergehen. Vielleicht solltest du lieber meinen Arm halten, bis wir die Treppen hinter uns haben.«

Der steinerne Innenhof, der Torbogen, der Sternenhof mit seiner unruhigen Reihe Pferde und der Durchgang zum Vorhof zogen dunkel und verschwommen vorüber. Liss hielt sie die ganze Zeit am Arm und runzelte die Stirn über dessen heftiges Zittern.

Der fackelerhellte Vorhof war mit Männern und Pferden überfüllt. Die meisten Blumenkübel waren zerbrochen, von den Wänden gefallen oder umgekippt. Der trockene Mutterboden war überall zerstreut. Die Kakteen waren zerdrückt, und die zarteren Blumen hingen welk und schlaff herab wie gekochtes Gemüse. Die beiden ineinander gewachsenen Bäume an der gegenüberliegenden Mauer verloren in der windstillen, stickigen Nacht trockene Blätter, die eines nach dem anderen auf einen Haufen verrotteter Blüten fielen.

Foix war der Erste, der ihre Ankunft bemerkte. Er drehte sich um und öffnete den Mund. Ohne Zweifel bewegte sie sich in diesem Augenblick in einer Wolke aus göttlichem Licht, nachdem sie eben erst berührt worden war. Und ich trage eine Bürde bei mir, deren Übermittlung mir ernsthaft ans Herz gelegt wurde. Sie blickte über den Hof, entdeckte Arhys und Illvin, doch ihre Aufmerksamkeit wurde kurzzeitig abgelenkt durch das Pferd, mit dem sie sich beide beschäftigten. Aus sicherer Entfernung.

Es war ein großer, langnasiger, kastanienbrauner Hengst, der von drei schwitzenden Knechten gehalten wurde. Scheuklappen bedeckten seine Augen unter einem Zaumzeug, das mit einer Kandare ausgestattet war. Ein Knecht hielt die Oberlippe des Tieres fest in seinem Griff. Die Ohren des Pferdes lagen flach nach hinten an, und es kreischte wütend, entblößte lange gelbe Zähne und trat aus. Illvin hielt einigen Abstand und wirkte gekränkt.

Ista trat an seine Seite und sagte: »Lord Illvin, wisst Ihr, dass dieser Hengst von einem Dämon besessen ist?«

»Foix hat es mir eben mitgeteilt, Majestät. Es erklärt einiges über dieses Pferd.«

Ista blickte unter halb geschlossenen Lidern auf den sich windenden malvenfarbenen Schatten im Innern des Tieres. »Es sieht allerdings aus, als wäre der Dämon in seinem Innern nur ein schwacher, formloser und dummer Elementargeist.«

»Das erklärt noch mehr. Bei der Hölle des Bastards. Ich wollte dieses verfluchte Tier Arhys leihen. Sein gescheckter Grauer ist lahm geworden, zusammen mit der Hälfte der Pferde, die uns verblieben sind — Strahlfäule, der unnatürlich schnell voranschreitet. Ich hoffe, Arhys kann bald unseren Dank übermitteln, an jenen jokonischen Zauberer, der sich das ausgedacht hat.«

»Ist es ein besonders gutes Streitross?«

»Nein, aber es würde niemanden stören, wenn Arhys es zu Schanden reitet. Tatsächlich glaube ich, dass die Stallknechte sich darüber freuen würden. Die fünf Götter wissen, ich habe es versucht, und ohne Erfolg.«

»Hm«, meinte Ista. Sie trat vor. Die beiden Stallknechte, die den Kopf des Tieres festhielten, protestierten laut. Sie kniff die Augen zusammen, griff nach oben, und legte ihre von der Götterträne benetzte Hand auf die Stirn des Hengstes. Ein kleines sechszackiges Zeichen glühte auf ihrer Haut, schneeweiß vor ihrem äußeren Auge, ein wilder Funken vor ihrem inneren. »Entfernt seine Scheuklappen.«

Der Knecht warf Illvin einen verzweifelten Blick zu. Der aber nickte zustimmend. Allerdings zog er sein Schwert, hielt es mit der flachen Seite nach außen und sah angespannt zu.

Das Pferd hatte dunkelbraune Augen, mit einem purpurroten Punkt in der Mitte. Die Augen der meisten Pferde hatten einen purpurroten Mittelpunkt, ermahnte Ista sich selbst, doch für gewöhnlich glühten sie nicht so intensiv. Die Augen fixierten sie und verdrehten sich, bis das Weiße sichtbar wurde. Ista erwiderte den Blick. Das Tier stand plötzlich völlig reglos. Ista stellte sich auf die Zehenspitzen, griff es an einem Ohr und flüsterte ihm zu: »Benimm dich für Lord Arhys. Oder du wirst dir wünschen, ich hätte dir nur die Eingeweide herausgerissen, dich damit erwürgt und den Göttern zum Fraß vorgeworfen.«

»Den Kötern, wollt Ihr sagen?«, berichtigte sie der nervöse Stallknecht, der das Tier noch an der Leine hielt.

»Denen auch«, erwiderte Ista. »Nimm die Nasenbremse ab und tritt zurück.«

»Majestät …?«

»Es ist gut.«

Der Knecht wich zurück. Zitternd stellte das Pferd die Ohren auf, beugte den Hals und drückte unterwürfig den Kopf gegen Istas Oberkörper. Es stupste sie kurz an und hinterließ eine Spur aus roten Pferdehaaren auf dem schwarzen Seidenkleid. Dann stand es vollkommen still.

»Macht Ihr so etwas öfter?«, erkundigte sich Illvin und schlenderte herbei. Mit äußerster Vorsicht streckte er die Hand aus und versetzte dem Tier einen prüfenden Klaps auf den Hals.

»Nein.« Ista seufzte. »Es war ein Tag voll einzigartiger Erfahrungen.«

In Vorbereitung auf die Rolle, die er zu spielen hatte, war Illvin schlicht gekleidet. Er trug leichte Leinenhosen und sein funkenversengtes Hemd. Arhys sah so sehr wie bei ihrer ersten Begegnung aus, dass Ista den Atem anhielt. Nur, dass seine Rüstung und sein Wappenrock nicht blutbespritzt waren. Noch nicht. Er lächelte, als sie an seine Seite trat.

»Auf ein Wort, Majestät, bevor ich aufbreche. Auf zwei Worte.«

»So viele, wie es Euch beliebt.«

Er senkte die Stimme. »Zuerst einmal danke ich Euch, dass Ihr mich habt durchhalten lassen, bis sich die Gelegenheit zu einem besseren Tod ergab. Einen, der weniger schändlich ist, weniger bedeutungslos und dumm als mein erster.«

»Vielleicht können unsere Männer dich in dieser Hinsicht immer noch überraschen«, warf Illvin barsch ein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Vorhofes bereitete ein knappes Dutzend Soldaten ebenfalls die Reittiere vor. Pejar war unter ihnen. Ista bemerkte, dass sein Gesicht vom Fieber gerötet war. Er hätte auf einem Krankenbett liegen sollen, statt an diesem Unternehmen teilzuhaben. Dann fragte sie sich, wie viele Männer in Porifors inzwischen überhaupt noch laufen konnten.

Arhys lächelte seinem Bruder kurz zu und unterließ es, ihm zu widersprechen, ihn zu berichtigen oder ihn dieser schwachen Hoffnung zu berauben. Er wandte sich wieder an Ista. »Zweitens möchte ich Euch um ein Gefallen bitten.«

»Alles, was in meiner Macht steht.«

Seine klaren Augen betrachteten sie mit brennender Eindringlichkeit. »Wenn dieser dy Lutez heute Nacht gut zu sterben versteht, dann lasst damit jenes Unternehmen abgeschlossen sein, das vor so langer Zeit unvollendet blieb. Welchen Sieg ich auch immer erringen mag — lasst ihn für immer jenes alte, kalte Versäumnis auslöschen. Und seid geheilt von der lang anhaltenden Wunde, die ein anderer dy Lutez Euch zugefügt hat.«

»Oh«, sagte Ista. Oh. Sie wagte es nicht, ihre Stimme brechen zu lassen. Eine Aufgabe hatte sie noch zu erfüllen. »Auch mir wurde eine Botschaft für Euch mitgegeben.«

Er wirkte verblüfft. »Seit einem Tag hat kein Kurier den jokonischen Belagerungsring durchbrochen. Was für ein Bote soll das gewesen sein?«

»Ich habe ihn gerade erst auf den Treppen getroffen. Und dies ist die Botschaft.« Ihre Stimme klang belegt, und sie schluckte.

»Euer Vater ruft Euch an seinen Hof. Ihr braucht nicht zu packen. Ihr geht, wie Ihr seid, und Euer Ruhm soll Euch kleiden. Er wartet sehnsüchtig an den Toren seines Palasts, um Euch willkommen zu heißen, und er hat einen Platz am Ehrentisch an seiner Seite vorbereitet, in der Gesellschaft der großen Seelen, der Geehrtesten und Höchstgeschätzten. So lautet die Botschaft. Neigt Euer Haupt.«

Erstaunt, mit weit aufgerissenen Augen, kam er der Aufforderung nach. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Seine blasse Haut war weder heiß noch kalt, und kein Schweiß glänzte darauf. Ihr Mund schien einen flüchtigen Kranz von Raureif zu hinterlassen, der in der schweren Nachtluft dampfte. Eine neue Linie erschien vor ihrem zweiten Gesicht, ein feiner Faden aus grauem Licht, der von ihr ausging. Das ist eine Rettungsleine. Irgendwie wusste sie, dass diese Leine sich von einem Ende der Welt zum anderen strecken konnte, ohne zu zerreißen.

Zutiefst bewegt vervollständigte sie den formellen Gruß, küsste beide Handrücken, beugte sich dann zu seinen Füßen nieder und berührte jeden seiner Stiefel mit den Lippen. Er zuckte ein wenig, als wolle er sie davon abbringen, dann aber stand er still und ließ es geschehen. Er griff ihre Hand und half ihr wieder auf die Füße. Ihre Knie fühlten sich an wie Wasser.

»Ganz gewiss sind wir gesegnet«, flüsterte er voller Ehrfurcht.

»Ja. Denn wir segnen einer den anderen. Seid getröstet. Alles wird gut.«

Sie trat zurück und ließ Illvin den Bruder umarmen. Danach hielt Illvin Arhys an den Schultern von sich und blickte mit verwirrtem Lächeln in diese seltsam jubilierenden Augen, die aus immer größerer Entfernung zu ihm zurückzublicken schienen. Auf seinen kühlen Lippen lag ein liebenswürdiges Lächeln. Illvin drehte sich um und half seinem Bruder auf den unterwürfigen roten Hengst, überprüfte ein letztes Mal dessen Sattelgurt, Steigbügel und Ausrüstung und klopfte dann in einer gewohnheitsmäßigen Geste auf Arhys’ ledergeschütztes Bein. Er trat zurück.

Ista blickte aus brennenden Augen um sich und entdeckte Liss, die neben Foix’ Pferd stand. Foix war bereits aufgesessen. Er grüßte Liss nach Art des Ordens der Tochter, indem er seine Stirn berührte. Sie antwortete mit dem Gruß der Kuriere, die Faust vors Herz gedrückt. Foix blickte Ista in die Augen und grüßte sie ebenso. Sie bedachte ihn mit dem fünffältigen Segenszeichen.

Die Männer aus Arhys’ verzweifelter kleiner Schar saßen auf seinen geflüsterten Befehl hin auf. Keiner von ihnen redete viel.

»Liss …«, stieß Ista erstickt hervor und räusperte sich. »Liss«, setzte sie erneut an. »Komm mit. Wir müssen auf den Turm.«

Liss und Illvin schlossen sich ihr an. Sie gingen zurück durch den Torbogen. Hinter sich hörte Ista, wie Porifors Tore knirschend aufschwangen. Das metallene Klirren der Ketten der Zugbrücke hallte zwischen den sterbenden Blumen wider. Illvin lief einen Moment rückwärts und starrte auf die flammendurchzogene Finsternis, doch Ista zwang sich, nicht zurückzublicken.

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