12

Das Gemach war heller, als sie es aus ihrer Vision in Erinnerung hatte. Die Fensterläden an der gegenüberliegenden Wand standen offen und gaben den Blick auf den blauen Himmel dahinter frei, was den Raum luftig und freundlich wirken ließ. Es roch nicht wie in einem Krankenzimmer. Es gab keine Bündel intensiv duftender Kräuter, die von den Dachsparren hingen und es doch nicht schafften, den unterschwelligen Geruch nach Fäkalien, Erbrochenem, Schweiß und Verzweiflung zu übertünchen. Hier waren bloß kühle Luft, der Geruch nach Bohnerwachs und ein schwaches, nicht unangenehmes männliches Aroma. Alles andere als unangenehm.

Ista zwang sich, zum Bett zu blicken, und stand wie angewurzelt.

Das Bett war gemacht. Er lag auf der Tagesdecke — nicht wie ein Mann auf seinem Krankenlager, sondern wie einer, der sich für einen Augenblick hingelegt hatte, um an einem anstrengenden Tag kurz zu ruhen. Oder wie ein Leichnam, der in seiner besten Kleidung für die Beerdigung aufgebahrt lag. Er war groß und schlank, wie in ihren Träumen, war aber gänzlich anders gekleidet: kein Patient oder Schläfer, sondern ein Höfling. Er trug eine braune Tunika, bestickt mit rankenden Blättern; passende Hosen steckten in polierten Stiefeln. Ein kastanienbrauner Mantel lag ausgebreitet unter und neben ihm, und auf dessen sorgsam angeordneten Falten lag ein Schwert in einer Scheide. Der mit Einlegearbeiten verzierte Griff befand sich unter den kraftlosen Fingern des Kranken. An einem der Finger funkelte ein Siegelring.

Sein Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt und zu Schnüren geflochten, die von den Schläfen aus über den Kopf liefen. Der dunkle, mattierte Schopf endete in einem Zopf, der über die rechte Schulter gelegt war und auf der Brust ruhte. Das Ende des Zopfes war hinter der kastanienbraunen Schnur glatt ausgebürstet. Der Kranke war frisch rasiert. Der Duft von Lavendelwasser stieg Ista in die Nase.

Sie bemerkte, dass Goram sie mit schmerzhafter Eindringlichkeit musterte. Seine Finger spannten sich, während seine Hände einander fest umschlossen hielten.

Diese stille Anmut musste sein Werk sein. Was war die Gestalt auf dem Bett für ein Mann gewesen, dass ihm eine solche Hingabe von einem Lakaien zuteil wurde — jetzt, wo er so offensichtlich jede Macht verloren hatte, zu bestrafen oder zu belohnen?

»Bei den fünf Göttern«, stieß Liss hervor. »Er ist tot

Goram schnüffelte. »Nein, ist er nicht. Er fault nicht.«

»Aber er atmet nicht!«

»Doch. Mit dem Spiegel kannst du’s sehen. Schau.« Er schlich sich um das Bett und hob einen kleinen Handspiegel von einer daneben stehenden Truhe auf. Dann warf er dem Mädchen unter seinen buschigen Augenbrauen einen ärgerlichen Blick zu, und hielt den Spiegel unter Lord Illvins Nasenlöcher. »Siehst du?«

Liss beugte sich näher über die reglose Gestalt und warf einen misstrauischen Blick hinunter. »Das ist dein Daumenabdruck.«

»Ist es nicht!«

»Nun … meinetwegen …« Liss richtete sich auf und wich mit einer abgehackten Bewegung zurück, als wollte sie Ista auffordern, an ihre Stelle neben das Bett zu treten und sich selbst ein Urteil zu bilden.

Unter Gorams sehnsüchtigen Blick kam Ista näher und dachte darüber nach, was sie dem grauhaarigen Burschen sagen könnte. »Du sorgst gut für ihn. Es ist tragisch, dass Ser dy Arbanos auf diese Weise niedergestreckt wurde.«

»Ja«, sagte er, schluckte und fügte hinzu: »Also … dann macht, Herrin.«

»Was?«

»Küsst ihn.«

Für einen Augenblick biss sie die Zähne so fest zusammen, dass sie ein Stechen im Kiefer spürte. Doch auf Gorams zerfurchtem, angespanntem Gesicht war kein versteckter Schalk zu erkennen, kein Hinweis auf irgendeinen Streich.

»Ich kann dir nicht ganz folgen.«

Goram biss sich auf die Lippe. »Eine Prinzessin hat ihn hergebracht, deshalb könnt Ihr ihn vielleicht wieder wecken, denn Ihr seid ja Königin …« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Königinwitwe.«

Es war ihm todernst, erkannte Ista mit Bestürzung. So sanft sie konnte sagte sie: »Goram, das sind Kindermärchen. Aber wir sind keine Kinder mehr, den Göttern sei’s geklagt.«

Ein leiser, erstickter Laut ließ sie zur Seite blicken. Liss’ Gesicht zuckte, doch sie verkniff sich ein Lachen, und Ista dankte den Göttern dafür.

»Ihr könnt es doch versuchen. Schadet ja nicht, es zu versuchen.« Wieder wippte er unbehaglich vor und zurück.

»Ich fürchte, das nutzt auch nichts.«

»Schadet doch nicht«, wiederholte er verbissen. »Man muss ja was versuchen.«

Gewiss hatte es ihn mehrere Stunden akribischer Vorbereitung gekostet, seinen Herrn für Ista herzurichten. Welche verzweifelte Hoffnung konnte ihn zu solch bizarren Auswüchsen antreiben?

Vielleicht träumt er auch? Der Gedanke schnürte ihr die Luft ab.

Die Erinnerung an den zweiten Kuss des Bastards ließ ihr Gesicht warm werden. Was, wenn es nicht nur ein ruchloser Scherz gewesen war, sondern eine weitere Gabe — eine, die sie weiterleiten sollte? War es ihr vielleicht gegeben, ein derart mildtätiges Wunder der Heilung zu vollbringen? So werden die Heiligen von ihren Göttern in Versuchung geführt. Ihr Herz pochte vor Aufregung. Ein Leben für ein Leben, und durch die Gnade des Bastards ist meine Sünde von mir genommen.

Sie beugte sich vor. Die rasierte Haut an Illvins Kinn spannte sich über den Knochen seines hageren Gesichts. Seine Lippen zeigten eine unbestimmte Farbe; sie waren leicht geöffnet und entblößten bleiche Zähne.

Seine Lippen fühlten sich weder warm noch kalt an, als Ista die ihren darauf drückte …

Sie entließ ihren Atem in den Mund des Mannes und erinnerte sich daran, dass die Zunge als dem Bastard heilig galt — wie der Leib der Mutter, die männlichen Geschlechtsorgane dem Vater, das Herz dem Bruder und das Hirn der Tochter —, weil die Zunge der Quell aller Lügen war, wie die vierfältigen Ungläubigen fälschlich vorbrachten. Ista wagte es, verstohlen die Zähne zu berühren, die kühle Spitze seiner Zunge mit der ihren zu ertasten, so wie der Gott in ihrem Traum in ihren Mund eingedrungen war. Sie breitete die Finger aus, ließ sie über seinem Herzen schweben, wagte aber nicht, ihn zu berühren und nach seinem Verband zu tasten, den er unter der reich verzierten Tunika um die Brust gewickelt trug. Sein Brustkorb hob sich nicht, und er schlug auch nicht plötzlich die Augen auf, deren Farbe sie bereits genau kannte. Er lag unbeweglich da.

Ista schluckte einen enttäuschten Schrei herunter, verbarg ihre Verlegenheit, richtete sich auf und gewann ihre Stimme zurück. »Wie du siehst, hilft es nichts.« Eine närrische Hoffnung und ein närrisches Versagen.

»Hm«, sagte Goram. Seine Augen waren schmal, und er starrte sie an. Auch er blickte enttäuscht drein, aber keinesfalls verzweifelt. »Muss was anderes sein.«

Lasst mich in Ruhe. Das ist zu schmerzhaft.

Liss, die dabeistand und das Schauspiel beobachtete, warf Ista einen Blick stummer Entschuldigung zu. Es schien ein kleiner Vortrag angebracht, später, über die Pflichten einer Zofe, Aufdringliche ebenso von ihrer Dame fern zu halten, wie naive und merkwürdige Personen.

»Aber Ihr seid die, von der er immer geredet hat«, wiederholte Goram hartnäckig. Wie es schien, gewann er seine Dreistigkeit zurück. Oder das Scheitern ihres Kusses hatte seine Ehrfurcht vor ihr gemindert. Schließlich war sie ja nur eine verwitwete Königin, und offensichtlich nicht stark genug, die nahezu Toten mit einem Atemzug ins Leben zurückzuholen. »Nicht so groß, das Haar hängt in wirren Locken am Rücken runter, graue Augen, das Gesicht stets unbewegt — ernst, er sagte, Ihr seid ernst.« Er musterte sie von oben bis unten und nickte kurz, als wäre er zufrieden mit ihrer Ernsthaftigkeit. »Genau die.«

»Wer hat mich so beschrieben?«, wollte Ista aufgebracht wissen.

Goram stieß mit dem Kopf in Richtung des Bettes. »Na, er.«

»Wann?« Istas Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Liss zuckte zusammen.

Goram öffnete die Hände. »Immer wenn er aufwacht.«

»Wacht er denn auf? Ich dachte … Lady Cattilara gab mir zu verstehen, dass er nie mehr aus seiner Ohnmacht erwacht ist, seit er niedergestochen wurde.«

»Ah, Lady Catti«, sagte Goram und schnaubte. Ista war nicht sicher, ob es ein Kommentar sein sollte oder nur ein Naseputzen. »Aber er bleibt nicht wach, wisst Ihr? Er kommt fast jeden Tag kurz zu sich, so gegen Mittag. Wir versuchen dann immer, so viel Essen wie möglich in ihn reinzustopfen, solange er schlucken kann, ohne zu ersticken. Aber es reicht nicht. Er schwindet dahin, Ihr könnt’s ja sehen. Lady Catti hatte den schlauen Einfall, ihm Ziegenmilch zu geben, durch einem kleinen Lederschlauch. Das hilft ein bisschen, aber nicht genug. Er ist schon viel zu dünn. Mit jedem Tag wird er schwächer.«

»Ist er bei Sinnen, wenn er wach wird?«

Goram zuckte die Schultern. »Na ja …«

Das war keine ermutigende Antwort. Aber wenn er überhaupt aufwachte, warum nicht jetzt, durch ihren Kuss, oder irgendwann sonst? Warum nur dann, wenn sein Bruder in diesem reglosen Schlaf lag … ihr Geist schreckte vor diesem Gedanken zurück. Goram fügte hinzu: »Manchmal spricht er vor sich hin. Manche würden sagen, er redet wirr.«

Liss sagte: »Das ist unheimlich, findet Ihr nicht auch? Irgendwelche roknarische Hexerei?«

Ista zuckte bei der Vorstellung zusammen. Diese Frage wollte ich nicht stellen. Ich wollte nicht einmal darauf aufmerksam machen. Ich möchte mit dem Unheimlichen nichts zu tun haben. »Hexerei ist in den Fürstentümern und auf den Inseln nicht erlaubt.« Nicht nur aus theologischen Gründen; auch in Chalion wurde es nicht gerade gefördert. Und doch, wenn jemand die Gelegenheit erhielt und hinreichend verzweifelt war, oder verworfen, oder überheblich … Ein ungebundener Dämon konnte einen Menschen des vierfältigen Glaubens genauso in Versuchung führen wie einen Quintarier. Vielleicht sogar noch mehr, weil ein Mensch vierfaltigen Glaubens, der sich einen Dämon zugezogen hatte, gefährliche Anschuldigungen götterlästerlicher Sünde riskierte, wenn er um die Hilfe der Kirche ersuchte.

Goram zuckte wieder mit den Schultern. »Lady Catti meint, da war ein Gift an dem Dolch von den Roknari, weil die Wunde nicht richtig heilen will. Ich hab auch schon Gift gebraucht, für die Ratten in den Ställen, aber nie hab ich eins gesehen, das so eine Wirkung hatte.«

Liss kniff die Augenbrauen zusammen und musterte die reglose Gestalt. »Steht Ihr schon lange in seinen Diensten?«

»Drei Jahre schon.«

»Als Knecht?«

»Als Stallknecht, als Unteroffizier, als Bote, als Mädchen für alles, was immer. Jetzt als Pfleger. Den andern ist’s zu unheimlich. Die trauen sich nicht, ihn anzufassen. Bin der Einzige, der’s richtig macht.«

Sie neigte den Kopf zur Seite. Ihre gerunzelte Stirn glättete sich nicht. »Warum hast du sein Haar auf roknarische Weise gerichtet? Obwohl es ihm steht, wie ich zugeben muss.«

»Er ging da rüber. Als Kundschafter vom Grafen. Er fiel da nicht auf, weil er die Sprache kannte — die Mutter von seinem Vater war Roknari, obwohl sie gelernt hat, zu den Fünfen zu beten. Das hat er mir mal erzählt.«

Draußen waren Schritte zu hören, und Goram blickte ängstlich auf. Die Tür öffnete sich. Lady Cattilaras scharfe Stimme erklang: »Goram, was machst du denn da? Ich habe Stimmen gehört … oh. Ich bitte um Entschuldigung, Majestät.«

Ista drehte sich um und verschränkte die Arme. Lady Cattilara machte einen Knicks, obwohl sie einen raschen, mürrischen Blick auf den Knecht warf. Über dem feinen Kleid, mit dem sie zum Abendessen erschienen war, trug sie jetzt eine Schürze, und hinter ihr kam eine Magd herein, die einen Krug mit Deckel bei sich trug. Als ihr Blick auf die höfischen Gewänder des Patienten fiel, weiteten sich ihre Augen. Sie stieß die Luft durch die Nase aus, ein erbostes Schnauben.

Goram krümmte sich zusammen. Er blickte zu Boden und suchte Zuflucht in seinem unverständlichen Genuschel.

Er war dermaßen zerknirscht, dass er Ista Leid tat; sie beschloss, ihm zu Hilfe zu kommen, um ihm Ärger zu ersparen. »Ihr müsst Goram entschuldigen«, warf sie ein. »Ich habe ihn gefragt, ob ich einen Blick auf Lord Illvin werfen darf, weil …« Ja, warum? Um zu sehen, ob er seinem Bruder ähnlich sieht? Nein, das klang zu schwach. Um zu sehen, ob er meinen Träumen ähnlich sieht? Das klang noch schlimmer. »Ich habe festgestellt, dass Lord Arhys ob der Notlage seines Bruders sehr beunruhigt ist. Daher habe ich beschlossen, einer gewissen, sehr erfahrenen Heilerin meines Vertrauens in Valenda zu schreiben, der Geistlichen Tovia. Vielleicht weiß sie ja Rat. Also wollte ich mir ein Bild von dem Patienten und den Krankheitsäußerungen machen, um beides möglichst genau schildern zu können. Tovia legt großen Wert darauf.«

»Das ist überaus freundlich von Euch, Majestät, uns Eure eigene Heilerin anzubieten«, sagte Lady Cattilara sichtlich bewegt. »Mein Gemahl leidet tatsächlich sehr unter der Tragödie seines Bruders. Wenn die herausragenden Heiler, nach denen wir geschickt haben, auch weiterhin nicht bereit sind, so weit zu reisen — denn wir mussten feststellen, dass solche Meister meist sehr, sehr alt sind —, wären wir sehr dankbar für Eure Hilfe.« Sie warf der Magd mit dem Krug einen zweifelnden Blick zu. »Glaubt Ihr, Eure Heilerin möchte auch wissen, wie wir ihm die Ziegenmilch verabreichen? Ich fürchte, es ist kein schöner Anblick. Mitunter würgt er alles wieder aus.«

Die Schlussfolgerungen waren deutlich, unheilvoll und abstoßend. Ista dachte an die viele Arbeit, die Goram auf sich genommen hatte, um seinen gefallenen Meister möglichst würdig erscheinen zu lassen, und sie wollte nicht zusehen, wie dieser Mann allen höfischen Schmucks entledigt wurde und eine schmachvolle Behandlung hinnehmen musste, so nötig sie auch sein mochte. »Ich gehe davon aus, dass Tovia auch damit gut vertraut ist. Ich muss ihr nicht jede Einzelheit schildern.«

Lady Cattilara wirkte erleichtert. Mit einer Geste bedeutete sie der Magd und Goram, fortzufahren; dann geleitete sie Ista und Liss zurück auf die Galerie und ging mit ihnen bis zu Istas Gemächern. Das Zwielicht wurde intensiver. Der Innenhof lag bereits völlig im Schatten, obwohl die höchsten Wolken noch pfirsichfarben vor dem zunehmend dunklen Blau des Himmels leuchteten.

»Goram ist ein sehr pflichtbewusster Mann«, sagte Cattilara entschuldigend zu Ista. »Aber ich fürchte, er ist mehr als naiv, obwohl er unter den Männern Lord Illvins, die sich um seine Pflege gekümmert haben, bei weitem der fähigste ist. Die anderen sind zu verängstigt, nehme ich an. Goram hat einst ein raues Leben geführt, und er ist nicht zimperlich. Ohne ihn könnte ich die Sache mit Illvin nicht einmal ansatzweise schaffen.«

Gorams Zunge mochte zurückgeblieben sein, seine Hände waren es gewiss nicht, auch wenn er wie das Musterexemplar eines beschränkten Faktotums wirkte. »Er scheint Lord Illvin außergewöhnlich ergeben zu sein.«

»Das ist nicht verwunderlich. Ich nehme an, in jüngeren Jahren war er ein Offiziersbursche, und er wurde während eines der gescheiterten Feldzüge von König Orico von den Roknari gefangen genommen und als Sklave verkauft. Auf jeden Fall hat Illvin ihn zurückgeholt — auf einer seiner Reisen nach Jokona vermutlich. Ich weiß aber nicht, ob Illvin ihn freigekauft hat, oder ob etwas anderes geschah. Jedenfalls hat es den Anschein, als wäre irgendein unangenehmes Missgeschick damit verbunden. Seither ist Goram an Illvins Seite geblieben. Ich nehme an, er ist zu alt, um weiterzuziehen und anderswo noch einmal neu zu beginnen.« Cattilara blickte auf. »Worüber wollte der arme Bursche mit Euch reden?«

Liss machte den Mund auf, doch Ista zwickte sie in den Arm, bevor sie etwas sagen konnte. Stattdessen erwiderte sie selbst: »Ich fürchte, er kann sich nicht besonders verständlich ausdrücken. Ich hatte gehofft, er wäre ein alter Bediensteter des Hauses und könnte mir deshalb etwas über die Jugend der Brüder erzählen. Aber es stellte sich heraus, dass dem nicht so war.«

Cattilara lächelte voll Mitgefühl. »Als Lord dy Lutez noch lebte und jung war, meint Ihr? Ich fürchte der Kanzler — war er schon der Kanzler des Königs Ias, damals, oder nur ein aufsteigender Höfling? — kam nicht häufig nach Porifors.«

»Das habt Ihr mir bereits erklärt«, erwiderte Ista kühl und ließ es zu, dass Cattilara sie und Liss behutsam in ihre Gemächer brachte. Dann zog sich die Burgherrin wieder zurück, um die Pflege zu überwachen, oder was immer sie für Illvin tat. Ista fragte sich, ob es außer dem Honig noch etwas anderes gab, das der Ziegenmilch zugegeben wurde, und was für seltsame Gewürze aufs Essen gestreut sein mochten, das er bekam … worauf er unzusammenhängendes Zeug redete und dann den ganzen Tag verschlief, ohne dass jemand ihn wecken konnte.

Eine verführerisch einleuchtende Überlegung: keine einzelne Dosis Gift durch den roknarischen Dolch, sondern eine fortgesetzte Verabreichung durch jemanden, der ihm viel näher stand. Das würde die sichtbaren Symptome ziemlich genau erklären.

Ein schrecklicher Gedanke, aber immerhin weniger verstörend als Träume von weißem Feuer.

»Warum habt Ihr mich in den Arm gezwickt?«, wollte Liss wissen, nachdem die Tür zugefallen war.

»Damit du nichts sagst.«

»Das hab ich mir gedacht. Warum?«

»Die Gräfin war nicht eben erfreut über die Dreistigkeit des Knechtes. Ich wollte ihm Schläge ersparen, zumindest einige scharfe Worte.«

»Oh.« Liss runzelte die Stirn. »Tut mir Leid, dass ich zugelassen habe, dass er Euch belästigt. In den Ställen machte er einen harmlosen Eindruck. Es gefiel mir, wie er mit dem Pferd umging. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er etwas so Törichtes von Euch verlangt.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: »Ihr wart sehr freundlich, Euch nicht über ihn lustig zu machen oder ihm seine Bitte zu verweigern.«

Mit Freundlichkeit hatte das nichts zu tun.

»Er hat sicherlich einiges auf sich genommen, um sein Angebot so anziehend wie möglich erscheinen zu lassen.«

Beim trockenen Ton von Istas Stimme hin kehrte das fröhliche Glitzern in Liss’ Augen zurück. »Das ist wahr. Und trotzdem … irgendwie wirkte dadurch alles noch trauriger.«

Ista konnte nur zustimmend nicken.


Als Ista sich zum Schlafengehen fertig machen ließ, war ihr leichter zumute, da sie Liss’ praktische und liebevolle Fürsorge wiederhatte. Liss wünschte ihr fröhlich eine Gute Nacht und begab sich selbst zum Schlafen ins Vorzimmer, in Istas Rufweite. Auf Istas Bitte hin ließ sie wieder die Kerze brennen. Dann saß Ista im Bett, auf ihre Kissen gestützt, und dachte über die neuen Enthüllungen dieses Tages nach.

Ihre Finger zuckten ruhelos. Sie fühlte sich so unruhig wie damals, als sie auf den Zinnen der Burg von Valenda umhergeschritten war, bis ihre Füße Blasen bekamen, die Sohlen sich von den Schuhen lösten und ihre Damen um Gnade flehten. Das alles war aber nur ein Betäubungsmittel für die Gedanken gewesen, keine Hilfe.

Wenn es auch so schien, als hätten eine Reihe unglücklicher Zufälle sie nach Porifors geführt, so hatte der Bastard doch behauptet, dass sie nicht zufällig hier war. Die Götter seien knauserig, hatte Lord dy Cazaril einmal ihr gegenüber angemerkt, und würden die Gelegenheiten beim Schopf packen, wo sie sich boten. Ista lächelte in grimmiger Zustimmung.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Gebete erhört wurden? Gebete waren zahllos, Wunder jedoch selten. Die Götter ließen andere ihre Arbeit tun, so schien es. Denn wie gewaltig ein Gott auch sein mochte, ihm stand nur der Raum jeweils einer einzigen Seele zur Verfügung, um in die Welt des Stofflichen hineinzureichen, ob dies nun eine Tür, ein Fenster, ein Spalt, ein Riss oder nur ein Nadelstich sein mochte …

Dämonen, auch wenn es vermutlich Unzählige gab, waren nicht gewaltig. Sie besaßen nichts von der unendlichen Tiefe dieser Augen. Aber sie waren offenbar auf die gleiche Weise beschränkt … vielleicht davon abgesehen, dass sie an den Rändern ihrer Seelenöffnungen nagen konnten, um sie im Laufe der Zeit zu erweitern.

Wem also musste sie vorwerfen, dass er für ihre Ankunft gebetet hatte? Oder vielleicht nicht für ihre Ankunft, sondern um Hilfe — und sie auszuschicken war nichts weiter als ein zotiger Scherz des Bastards. Sie hatte Lord Illvin von Schuld freigesprochen, als sie gedacht hatte, er wäre ohne Besinnung. Aber wenn Goram die Wahrheit sagte, durchlebte er Zeiten der … nun, wenn nicht der Klarheit, dann zumindest der Wachheit. Und Goram hatte sie angefleht, wenn auch nicht mit Worten, so doch mit Gesten. Irgendjemand hatte die weiße Rose als stummes Gebet auf Illvins leeren Teller gelegt. Lady Cattilara sehnte sich sichtlich verzweifelt nach einem Kind, und ihr Ehemann … war ebenfalls nicht das, was er zu sein schien.

Wie dumm und hoffnungslos war es, eine einstige Verrückte mittleren Alters sämtliche Straßen Chalions entlangzuhetzen, damit sie schließlich hier landete, und wofür? Eine gescheiterte Heilige, eine gescheiterte Zauberin, eine gescheiterte Königin, Frau, Mutter, Tochter, in allem gescheitert — nur als Liebhaberin nicht, denn in dieser Rolle hatte sie sich nie versucht, was noch schlimmer war als scheitern in ihrer Rangfolge des Leids. Als sie Lord Arhys’ Verwandtschaft zu dy Lutez entdeckt hatte, hatte sie zunächst vermutet, dass die Götter damit ein weiteres Mal über sie zu Gericht sitzen wollten, für ihren lange vergangenen kaltblütigen Mord und ihre Sünde, die sie dy Cabon damals in Casilchas gestanden hatte. Sie hatte befürchtet, dass sie ein weiteres Mal durch all diese alte Schuld geschleift werden sollte: Holt einen Eimer Wasser für die ertrinkende Frau.

Aber jetzt … Ihr kam es vor, als wären ihre Erwartungen spöttisch vereitelt worden. Nicht sie selbst, sondern ein anderer stand im Zentrum der göttlichen Aufmerksamkeit. Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Und sie war nur … was? In Versuchung geführt worden, sich einzumischen?

Versucht worden — ja, das war sie ganz bestimmt. Mit seinem lüsternen Kuss hatte der Bastard sie offensichtlich einstimmen wollen. Seine tastende Zunge hatte eine rätselhafte Botschaft gesandt, aber diesen Teil davon hatte sie deutlich verstanden, mit Körper und Geist.

Was machte es für einen Sinn, diesen schlummernden Hunger zu wecken, hier und jetzt? Was macht es überhaupt für einen Sinn? Im provinziellen Valenda waren niemals irgendwelche Köstlichkeiten aufgetischt worden, die der Begierde wert gewesen wären, selbst wenn der Fluch sie unterhalb der Taille nicht ebenso gelähmt hätte wie oberhalb. Man konnte ihr kaum einen Verrat an ihren weiblichen Pflichten vorwerfen, weil sie sich dort nicht verliebt hatte.

Sie versuchte, sich dy Ferrej als Objekt der Begierde vorzustellen, oder einen anderen Edelmann aus dem Gefolge der Herzogin. Sie schnaubte. Meinetwegen. Eine sittsame Dame hielt den Blick ohnehin stets gesenkt. Das hatte man ihr beigebracht, seit sie elf Jahre alt geworden war.

Arbeit hatte der Bastard gesagt.

Nicht Liebschaft.

Aber was für eine Arbeit? Heilung? Ein verlockender Gedanke. Aber wenn es das war, so war es scheinbar nicht durch einen Kuss zu erreichen. Vielleicht hatte sie bei ihrem ersten Versuch nur etwas übersehen, etwas Offensichtliches. Oder etwas Verborgenes? Etwas Grundlegendes. Etwas Obszönes? Sie hatte kaum den Mut für einen zweiten Versuch. Kurz wünschte sie sich, der Gott hätte sich ein wenig unverhüllter ausgedrückt.

Aber so katastrophal, wie die Lage bereits war — konnte selbst sie es noch schlimmer machen? Vielleicht hatte man sie nach demselben Grundsatz hergeschickt wie junge Heiler, die ihre ersten Behandlungsversuche und neue Medikamente an hoffnungslosen Fällen auszuprobieren pflegten, damit man ihnen für ihr — normalerweise unausweichliches — Scheitern keinen Vorwurf machen konnte. Die Sterbenden, die findet man in Porifors. War diese überschaubare häusliche Tragödie ein kleines Übungsstück? Zwei Brüder, eine unfruchtbare Ehefrau, eine Burg … Das war vielleicht eine lösbare Aufgabe für sie. Nicht wie die Zukunft eines Königreichs, oder das Schicksal der Welt. Nicht wie das erste Mal, als die Götter sie in ihre Dienste genommen hatten.

Aber warum schickst du mich aus, um ein Gebet zu beantworten, wenn du genau weißt, dass ich ohne dich überhaupt nichts erreichen kann?

Daraus den folgerichtigen Schluss zu ziehen, war nicht besonders schwierig.

Solange ich mich dir nicht öffne, kannst du nicht einmal ein Blatt anheben. Solange du nicht in mir bist, kann ich nicht … was?

Ob ein Tor ein Durchgang war oder ein Hindernis, hing nicht von dem Material ab, aus dem es gefertigt war, sondern von der Perspektive. Vom freien Willen des Tores, wenn man so wollte. Alle Tore ließen sich in beiden Richtungen durchschreiten. Sie konnte das Tor nicht einen Spalt weit öffnen und hinausblicken und immer noch darauf hoffen, die Festung zu halten.

Aber ich kann nichts sehen …

Sie verfluchte die Götter. In fünf Verspaaren, in wütender Parodie eines alten Gute-Nacht-Gebets ihrer Kindheit. Sie drehte sich zur Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Das ist keine Auflehnung. Das ist nur Zappelei.

Wenn irgendein Gott durch ihre Träume gestreunt war, erinnerte Ista sich nicht mehr daran, als sie in dieser Nacht wach wurde. Trotz der Wahngebilde, die den Geist beunruhigten, musste der Körper immer noch der Notdurft nachkommen. Ista seufzte, streckte die Füße aus dem Bett und öffnete den schweren hölzernen Fensterladen, um ein wenig Licht einzulassen. Es ging auf Mitternacht, schloss sie aus dem silbernen Schimmer des unförmigen Mondes. Der Vollmond war nun deutlich vorüber; die Nacht aber war klar und frostig. Ista wühlte unter dem Bett nach dem Nachttopf.

Als sie fertig war, ließ sie den Deckel mit einem Scheppern zuklappen. Sie war erschrocken, wie laut dieses Geräusch in der Stille war, und schob den Nachttopf rasch wieder unters Bett. Dann kehrte sie zum Fenster zurück und wollte die Fensterläden wieder verschließen.

Das Schlurfen beschuhter Füße erklang aus dem Innenhof; dann kam das Geräusch rasch die Treppen hinauf. Ista hielt den Atem an und spähte durch das Spiralmuster des Eisengitters. Es war wieder Catti, ganz in weiche, schimmernde Seide gehüllt, die wie Wasser ihren Körper umfloss, während sie sich im Mondlicht bewegte. Ista schüttelte den Kopf. Man hätte doch meinen sollen, dass diesem Mädchen kalt würde!

Gewiss trug sie diesmal keinen Krug mit Ziegenmilch. Sie hatte nicht einmal eine Kerze dabei. Ob sie irgendeine kleinere und gefährlichere Phiole an ihre Brust gedrückt hielt oder einfach nur ihr leichtes Gewand raffte, konnte Ista nicht sagen.

Behutsam und leise öffnete Cattilara die Tür zu Lord Illvins Gemach und schlüpfte hinein.

Ista stand reglos am Fenster, starrte hinaus ins Dunkel und umklammerte mit den Händen das kalte eiserne Blättermuster.

Du hast gewonnen. Ich ertrage es nicht mehr.

Mit zusammengebissenen Zähnen ging Ista die Kleidungsstücke durch, die an den Wandhaken in ihrem Gemach hingen. Sie nahm den schwarzseidenen Überwurf herunter und zog ihn über ihr helles Nachthemd. Sie wollte nicht riskieren, Liss zu wecken, indem sie im Dunkel durch das Vorzimmer zur Tür stolperte. Ließ sich das Fenster überhaupt öffnen? Ein Eisenstift hielt das Gitter geschlossen, und anfangs hatte Ista Zweifel, ob der Stift sich aus seiner steinernen Furche lösen ließ. Schließlich aber kam er mit einem Ruck frei. Das Gitter ließ sich nach außen aufdrücken. Ista setzte sich auf die Fensterbank und schwang die Beine nach draußen.

Ihre bloßen Füße verursachten auf den Dielen der Galerie weniger Geräusche als Cattis Hausschuhe. Kein orangefarbenes Glühen drang aus der dunklen Kammer gegenüber. Daher war Ista nicht überrascht, dass die inneren Läden von Illvins Fenster geöffnet waren und das Mondlicht einließen. Ista spähte behutsam über die Kante der verschlungenen eisernen Reben, die das Fenster sicherten. Von hier aus war Catti kaum mehr als ein dunkler Umriss, der sich unter anderen dunklen Umrissen bewegte, ein Schlurfen, ein Atemzug, ein Knarren der Dielen, leiser als das Quieken einer Maus.

Der Fleck auf Istas Stirn brannte wie eine Verbrühung.

Ich kann nichts sehen! Ich möchte sehen.

Stoff raschelte in dem Gemach.

Ista schluckte, versuchte es zumindest. Und sie betete, so wie sie es sich angewöhnt hatte: Sie machte ein Gebet aus ihrem Zorn, so wie mancher behauptete, mit seinen Liedern oder dem Werk seiner Hände zu beten. Solange es von Herzen kam, versprachen die Geistlichen, würden die Götter es hören. Istas Herz kochte über.

Ich habe verleugnet, was meine Augen mir gezeigt haben, sowohl die inneren, wie auch die äußeren. Ich bin kein Kind mehr, keine Jungfrau oder eine sittsame Ehefrau, die befürchtet, jemandem zu nahe zu treten. Meine Augen gehören niemand anderem als mir. Wenn ich jetzt nicht stark genug bin, alles zu sehen, was die Welt zu bieten hat — gut oder schlecht, schön oder abstoßend —, wann soll ich dann jemals stark genug werden? Es ist bei weitem zu spät für Unschuld. Meine einzige Hoffnung ist der viel schmerzhaftere Trost, den die Weisheit bringt. Und die kann nur durch Wissen erlangt werden.

Gib mir meine wahren Augen. Ich möchte sehen. Ich muss wissen.

Lord Bastard. Verflucht sei dein Name.

Offne mir die Augen.

Der Schmerz auf ihrer Stirn wurde heftiger und ließ dann nach.

Zuerst sah sie eine Anzahl alter Geister, die in der Luft schwebten, jedoch nicht aus Neugier oder einer ähnlichen Empfindung, denn kein Geist, der so kalt und dahingeschwunden war, konnte ein solches Gefühl entwickeln. Nein, diese Geister wurden eher angezogen wie die Motten vom Licht.

Als Nächstes erkannte Ista Cattis Hand, die ungeduldig durch die Luft wischte und die Geister davonjagte, als wollte sie störende Insekten beiseite wedeln.

Sie sieht die Geister auch.

Ista beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen, als ihre Vision von dem milchweißen Feuer erfüllt wurde, das sie bereits in ihrem Traum gesehen hatte. Es ging von Illvin aus — ein zuckendes Glühen, das über die gesamte Länge seines Körpers loderte wie verschüttetes Öl.

Er war wieder in das schlichte ungefärbte Leinengewand gehüllt, obwohl sein Haar noch immer ordentlich geflochten war. Catti griff nach unten, rupfte den Knoten an seinem Gürtel auseinander, und schlug jede Seite seines Gewandes halb zurück, von der Schulter bis zum Knöchel. Darunter war er nackt, abgesehen von dem blassen weißen Streifen eines Verbandes, der seinen Brustkorb unmittelbar auf Höhe des Herzens umgab. Darunter lag jener verborgene Quell, aus dem das bleiche Feuer hervorströmte und abfloss.

Cattis Gesicht war kühl, unbewegt, beinahe ausdruckslos. Sie griff nach unten und berührte die Bandage. Das weiße Licht schien sich wie Wolle um ihre dunklen Finger zu winden.

Einer Sache war Ista sich sicher: Es war keine gute Kraft, die durch Cattilara strömte. Das Licht der Götter in all seinen Farbtönen war für das innere Auge unverkennbar. Und ansonsten kannte Ista nur eine weitere Quelle für derartige Zauberei.

Wo also ist der Dämon? Ista hatte seine unheilvolle Präsenz bisher nicht gespürt. Was sie hauptsächlich in Cattilaras Gegenwart gespürt hatte, war ein gewisser Zorn. Genug, um ihr tieferes Unbehagen zu überdecken? Nicht ganz, so schien es im Rückblick, selbst wenn Ista ihre Anspannung in Gegenwart der Gräfin als gemeine Eifersucht fehlgedeutet hatte. Teilweise fehlgedeutet, berichtigte sie sich. Ista konzentrierte sich und machte die Vision so klar wie möglich. Sie öffnete ihr inneres Auge weiter, um all das Lebenslicht aufzunehmen, das in ungeordneten Wellen durch den Raum schwappte.

Kein Licht: Dunkelheit, Schatten. Unter Cattilaras Brustbein schwebte ein düsterer lila Knoten, fest um sich selbst geschlungen. Versteckte er sich? Falls ja, war er nicht ganz erfolgreich — wie eine Katze in einem Sack, die vergessen hatte, ihren Schwanz mit hineinzuziehen.

Aber wer hatte wen in Besitz genommen? Verwirrenderweise wurde der Ausdruck Zauberer für beide spirituelle Zustände verwendet. Die Geistlichen bestanden zwar darauf, dass sie in theologischer Hinsicht zu unterscheiden waren, doch von außen konnte man sie kaum auseinander halten.

Ich kann es offenbar. Andererseits sehe ich es auch sozusagen von innen. Cattilara beherrschte diesen Dämon, nicht umgekehrt. Es war ihr Wille, der hier die Oberhand hatte, ihre Seele beherrschte diesen lieblichen Körper. Im Augenblick zumindest.

Cattilara ließ einen Fingernagel über Lord Illvins Oberkörper gleiten, von der Einbuchtung an seiner Kehle bis zum Nabel und tiefer. Entlang ihrer Bewegung schien das Feuer heller aufzulodern, wurde nach unten umgelenkt, als würde es durch einen neuen Kanal fließen.

Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, lehnte sich über den liegenden Körper und begann ihn methodisch zu liebkosen, von den Schultern nach unten, von den Knöcheln nach oben. Sie richtete das Zentrum des Springquells aus Licht über seiner Leiste neu aus. Ihre Zärtlichkeiten wurden eindeutiger. Nicht einmal ein Zucken war an seinen gräulichen Augenlidern zu erkennen, doch andere Teile von Illvins Körper reagierten allmählich auf diese intensiven Aufmerksamkeiten. In gewisser Weise wurde er lebendig, sein Fleisch, wenn auch nicht sein Geist. Sichtlich.

Sind sie etwa Liebhaber? Ista kniff die Augenbrauen zusammen. Trotz aller zweckdienlichen Sachkunde war es die liebloseste Liebkosung, die Ista je gesehen hatte. Es sollte anregen, nicht befriedigen, und es wurde auch keine Befriedigung gesucht. Wenn ihre Hände je den Vorzug erhalten würden, über diese elfenbeinerne Haut zu streichen, über diese Muskeln, diese dunklere samtweiche Empfänglichkeit, würde sie nicht grob sein und so abgehackt, die Hände vor Anspannung zur Klaue verkrümmt. Ihre Handflächen würden geöffnet sein, im Entzücken schwelgen. Das hieß … wenn sie je den Mut fand, jemanden so zu berühren. Die Leidenschaft hierüber war Zorn, keine Lust.

Lord Bastard, deine Segnungen werden in diesem Bett verschwendet.

Catti flüsterte: »Ja, so ist es richtig. Komm schon.« Ihre fleißigen Finger arbeiteten. »Es ist ungerecht. Ungerecht. Dein Samen ist dick, und der meines Herrn ist zu Wasser geworden. Wofür brauchst du ihn? Wofür brauchst du irgendetwas?« Ihre Hände wurden langsamer. Ihre Augen funkelten, und ihre Stimme wurde noch leiser. »Wir könnten auf ihm reiten, das weißt du. Niemand würde es jemals erfahren. Du würdest trotzdem ein Kind kriegen. Es wäre zumindest zur Hälfte wie von Arhys. Mach es jetzt, solange du noch kannst.« Hatte sich der dunkle Knoten unter ihrem Brustbein bewegt?

Es folgte kurze Stille; dann zischte sie: »Ich will nicht das Zweitbeste. Er konnte mich ohnehin nie leiden. All seine dummen Scherze, die ich nie verstanden habe. Es gibt keinen anderen Mann für mich als Arhys. Es wird niemals einen anderen Mann für mich geben als ihn. Für immer und ewig.«

Der Knoten schrumpfte scheinbar in sich selbst zusammen. Ja, dachte Ista. Du bist gewiss nicht die Art von Schwangerschaft, die sie sucht.

Cattilara öffnete die Hände. Von den Spitzen ihrer gebogenen, straff und schmerzhaft angespannten Finger spann sich ein Faden weißen Feuers. »So. Das sollte lang genug halten.« Sie erhob sich von dem quietschenden Bett und schlug das Gewand wieder zusammen. Zog die Decke empor, ganz behutsam, und senkte sie auf Illvins Brust hinunter. Ihre Hand blieb dicht über der weißen Linie und berührte sie nicht, während sie um den Fuß des Bettes herumschlüpfte. Ista tauchte rasch in eine kauernde Stellung unter, und versteckte ihr Gesicht und ihr Haar unter dem weiten schwarzen Ärmel. Sie hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, wie ein Riegel zuschnappte. Schritte, die auf Zehenspitzen davoneilten.

Ista spähte über das Geländer herab. Catti floss förmlich übers Pflaster unten; Seide flatterte hinter ihr her, während sie rannte und der ununterbrochenen Linie aus Licht folgte. Licht, das keinen Schatten warf und sich nirgendwo spiegelte. Sie und die Linie aus Feuer verschwanden unter dem Säulengang.

Was ist das für eine Zauberei, Cattilara? Ista schüttelte verblüfft den Kopf.

Ich sollte meinen schmachtenden Augen Nahrung geben. Vielleicht, wenn sie genug bekommen, werden sie mir … irgendetwas verraten.

Und wenn nicht, habe ich immerhin noch einen Krümel erhascht.

Die Angeln der Tür zu Illvins Schlafgemach waren gut geölt, wie Ista feststellte. Die reich geschnitzte Tür ließ sich leicht bewegen. Von hier aus konnte sie ein leises Schnarchen aus dem Nebenraum vernehmen, jenseits einer Innentür. Goram oder irgendein anderer Pfleger, der in Rufweite schlief, für den Fall, dass ein Wunder geschah und Illvin aufwachte und rufen konnte. Ista achtete sorgsam darauf, die dahintreibende Lichtlinie nicht zu berühren. Vorsichtig schlich sie um eine Truhe herum und huschte über die Teppiche an Illvins Bettkante. Nicht an dieselbe Seite wie Cattilara, sondern an die gegenüberliegende. Sie schob sanft die Decke nach unten, öffnete sein Gewand, wie Catti es getan hatte, und musterte ihn von oben nach unten.

Sie ignorierte erst einmal das Offensichtliche und betrachtete stattdessen das wirbelnde Licht, versuchte, irgendein Muster oder eine Botschaft darin zu erkennen. Am hellsten loderte es an seinen Lenden, im Augenblick zumindest, doch weitere Ansatzpunkte schimmerten über seinem Nabel, den Lippen, der Stirn und über dem Herzen, wobei Lippen und Stirn nur sehr schwach schimmerten.

Er war dünner als in ihrem ersten Traum, hohlwangiger, und die Rippen … sie hatte seine Rippen damals nicht gesehen, aber inzwischen traten sie deutlich hervor. Sie konnte die Linien seines Beckenknochens unter der Haut ausmachen. Sie fuhr mit dem Finger daran entlang, hielt inne.

Er bewegte sich, andeutungsweise: schwache, aber deutlich erkennbare lustvolle Zuckungen … oder womöglich nur der Widerhall einer solchen Bewegung, der durch die zitternde Linie aus weißem Feuer zurückfloss, wie eine Welle von einem entfernten Strand? Die Minuten vergingen. Sie konnte ihre Herzschläge zählen. Und die seinen, die schneller gingen. Zum ersten Mal bewegte er auch die Lippen und ließ ein leises Stöhnen hören.

Anspannung, ein Erzittern, ein helleres Auflodern von Licht, dann war es vorbei. Das kalte Feuer züngelte ungezügelt über seinen Leib, entströmte dann am stärksten dem Verband über seinem Herzen und pulsierte. Pumpte … was heraus?

Sein Fleisch wirkte wieder beunruhigend tot.

»Ist das nicht … merkwürdig?«, hauchte Ista.

Wissen oder gar Weisheit hatte sie noch immer nicht gewonnen. Doch in mancher Hinsicht war das, was sie soeben erlebt hatte, leicht zu verstehen. In anderer Hinsicht aber nicht.

Sanft schloss sie sein Gewand wieder und zog den Gürtel fest. Sie richtete seine Decke so, wie sie gewesen war. Musterte die dahintreibende Linie aus Licht. Erinnerte sich an ihren Traum.

Soll ich es wagen?

Ganz sicher erreichte sie nichts, wenn sie die Linie einfach nur anstarrte. Sie hob einen Arm, wölbte ihre Hand um die Lichtlinie. Hielt inne.

Goram, das widme ich dir!

Sie stützte eine Hüfte aufs Bett und beugte sich vor. Berührte mit ihren Lippen die Illvins, küsste ihn leidenschaftlicher. Schloss ihre Hand.

Funken sprühend erlosch das Licht.

Er riss die Augen auf, sog den Atem aus ihrem Mund. Ista stützte sich auf eine Hand und blickte in seine Augen, die so dunkel waren, wie sie es aus ihrer ersten Vision in Erinnerung hatte. Seine Hand griff um ihren Kopf, seine Finger fassten nach ihrem Haar.

»Oh. Dieser Traum ist schon besser.« Seine Stimme war so rauchig wie alter Honig, mit einem leichten Nordprovinz-Akzent, angereichert um eine Spur Roknari — bei weitem klangvoller, als Ista es in ihren Traumvisionen von ihm erlebt hatte. Er erwiderte ihren Kuss, zuerst vorsichtig, dann mit größerer Kühnheit — nicht so, als würde er seinen Sinnen trauen, sondern eher in träumerischen Verzicht auf die Wirklichkeit.

Ista öffnete die Hand. Die feurige Linie entstand wieder, wirbelte von ihm auf, zog davon. Mit einem gequälten Seufzer verlor er wieder die Besinnung, doch seine Augenlider fielen nicht ganz zu. Der Glanz in dem schmalen Spalt zwischen den Lidern war umso beunruhigender, da er keinerlei Regung aufwies.

Sanft drückte Ista ihm die Augen zu. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, was sie gerade getan hatte, aber das Licht war verschwunden gewesen, soweit sie seinem Verlauf hatte folgen können. Auch am anderen Ende der Linie? Und wenn es so war … war dann ein anderer an der Reihe gewesen, in Ohnmacht zu fallen? Arhys? In Cattis Armen?

Einst hatte sie in Unwissenheit, Ungeduld und panischer Furcht eine Katastrophe herbeigeführt. Die Nacht, da Arvol dy Lutez in den Kerkern des Zangres gestorben war, war mit Zauberwerk wie diesem übersättigt gewesen. Durchzogen von feurigen Visionen, so wie hier.

Doch die Ista, die das alles in Bewegung gesetzt hatte, war eine andere gewesen.

An dem Schrecken, der nun dumpf in ihrem Kopf pochte, konnte sie wenig ändern, konnte ihn nur erdulden. Zumindest im Erdulden habe ich es inzwischen zur Meisterschaft gebracht. Und die Ungeduld konnte sie mittlerweile herunterschlucken wie das bittere Gebräu eines Heilkundigen. Und der Unwissenheit … der konnte sie entgegentreten. Ob wie ein Heer mit fliegenden Bannern oder auf verlorenem Posten, vermochte sie jedoch nicht zu sagen. Und Ista war nicht bereit, sich auf eine weitere nächtliche Unternehmung wie damals einzulassen, ohne vorher genau zu wissen, ob sie ein Wunder oder einen Mord bewirkte.

Rasch und bedauernd erhob sie sich von Lord Illvins Bettkante. Sie strich die Decke glatt, straffte ihr schwarzes Überkleid und schlüpfte zur Tür hinaus. Auf Zehenspitzen lief sie die Galerie entlang, hob das Gitter vor ihrem Fenster an, schob sich nach drinnen, ließ den Riegel einschnappen und schloss die inneren Fensterläden. Setzte sich auf ihr Bett und beobachtete den Spalt.

Einen Augenblick später sah sie das ferne rötliche Glühen einer Kerze vorbeihuschen und hörte beschuhte Füße, die rasch die Galerie entlang eilten. Nach einigen Minuten kehrten die Schritte auf demselben Weg zurück — langsamer diesmal, nachdenklich. Verwirrt? Leise huschten die Schritte wieder die Treppe hinunter.

Für diese undurchschaubare Aufgabe bin ich schlecht gerüstet. Der Bastard war nicht einmal der richtige Gott für sie. Ista hatte keine Zweifel, wer ihre Eltern waren, und sie wusste auch genau, in welche Richtung ihre unbeholfenen, verkümmerten und aussichtslosen Begierden gingen. Obwohl ich gewiss ein Unglück bin. Aber welche besser gerüsteten Boten der Gott auch ausgesandt hatte, anscheinend war sie diejenige, die tatsächlich hier eingetroffen war.

Also.

Sie war entschlossen, am nächsten Morgen Lord Illvin aufzusuchen, wenn er wach war, auf die eine oder andere Weise. Was anderen wie Unvernunft erscheinen mochte, konnte für die Ohren einer Verrückten so klar wie das Licht der Götter sein.

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