Die Sonne war kaum über den Horizont gestiegen, als Lady Cattilara auch schon geschäftig ins Zimmer platzte, um Ista zum morgendlichen Gottesdienst abzuholen. Im Anschluss daran war ein Bogenschieß-Wettbewerb für Damen angesetzt, gefolgt von einem Mittagsmahl. Diesmal jedoch hatte Ista ihre Ausreden vorbereitet.
»Ich fürchte, ich habe mir gestern ein wenig zu viel zugemutet. Letzte Nacht fühlte ich mich ganz krank und fiebrig. Heute wollte ich in meinem Gemächern bleiben und mich ein wenig ausruhen. Bitte, Gräfin, fühlt Euch nicht verpflichtet, ständig für meine Unterhaltung zu sorgen.«
Lady Cattilara senkte die Stimme und sagte in vertraulichem Tonfall: »Tatsächlich hat die Stadt Porifors nur wenig Zerstreuung zu bieten. Wir sind hier an der Grenze, und die Menschen hier sind ebenso rau und geradlinig wie die Pflichten, denen sie nachkommen müssen. Ich habe allerdings meinem Vater geschrieben; Oby ist die zweitgrößte Stadt in Caribastos, nächst der Residenz des Herzogs selbst. Mein Vater würde sich gewiss sehr geehrt fühlen, wenn er Euch dort in einer Weise empfangen könnte, wie sie Eurem hohen Rang ansteht.«
»Ich fühle mich noch nicht gekräftigt genug für eine weitere Reise. Aber wenn es so weit ist, würde ich einen Halt in Oby sehr begrüßen.« Nicht ganz so sehr den Gefahren der Grenze ausgesetzt, dafür aber viel besser bemannt, überlegte Ista. »Doch diese Entscheidung muss nicht heute getroffen werden.«
Lady Cattilara nickte in mitfühlendem Verständnis, schien über die vage Zustimmung der Königin aber sehr erfreut zu sein.
Ja, ich kann mir vorstellen, dass du erleichtert wärest, wenn du mich anderswo loswerden könntest. Ista musterte sie genau.
Äußerlich sah sie aus wie immer. Zarte, grüne Seidenstoffe und Gewänder aus hauchdünnem Leinen über einem Leib voll biegsamer weiblicher Verheißung. Doch in ihrem Innern …
Ista schaute zu Liss hinüber, die dabeistand und darauf wartete, Istas Frisur fertig zu machen und ihrer Herrin in die Übergewänder zu helfen. Eine vollständige Persönlichkeit besaß eine Seele, die mit dem Körper harmonierte, einen Geist, umschlossen von der Materie, die ihn hervorbrachte und nährte. Daher war eine solche Seele für das zweite Gesicht fast ebenso unsichtbar wie für das normale Auge. Doch Ista vermeinte, dass sie in der derzeitigen, gottgewährten Erweiterung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zwar nicht die Gefühle und Gedanken eines Menschen erkennen konnte, aber den Zustand der Seele an sich. Liss schimmerte hell, wirkte aufgewühlt und farbenfroh und voller wirbelnden Energien. Ihre Seele war gänzlich in ihrer Mitte. Die Magd, die darauf wartete, das Waschwasser herauszutragen, besaß eine stillere Seele, die einen Schmierfleck von Unwillen aufwies, jedoch im Einklang mit dem Rest ihrer Erscheinung stand.
Cattilaras Geist war der dunkelste und der dichteste, aufgewühlt von Anspannung und verborgenem Leid. Unter der Oberfläche verbarg sich eine weitere Grenzlinie, noch düsterer und dichter, wie eine Perle aus rotem Glas, die man in rotem Wein versenkt hatte. Der Dämon hatte sich an diesem Morgen anscheinend noch fester in sich selbst eingerollt als in der Nacht zuvor. Versteckte er sich? Wovor?
Vor mir, erkannte Ista. Die Narben, die die Götter ihr geschlagen hatten, waren für sterbliche Augen nicht sichtbar, doch für die eigentümlichen Sinne des Dämons mussten sie so hell strahlen wie Leuchtfeuer in der Finsternis. Doch teilte der Dämon all seine Wahrnehmungen mit dem Wirt, der ihn aufgenommen hatte? Wie lange wurde Cattilara eigentlich schon von diesem Gast heimgesucht? Der sterbende Bär hatte verzehrt ausgesehen, verwüstet. Wie ein gefräßiger Tumor war der Dämon bereits in jeden Teil des Tieres ausgewuchert, hatte dabei die Seelensubstanz des Bären verzehrt und durch seine eigene ersetzt. Was mit Cattilaras Seele auch sein mochte — noch war es weitestgehend ihre eigene.
»Ist Lord Arhys letzte Nacht sicher zurückgekehrt, zu Eurer Erleichterung?«, fragte Ista.
»O ja.« Cattilara lächelte warm und versonnen.
»Bald werdet Ihr nicht mehr zur Mutter flehen müssen, sondern ihr danken können.«
»Ach, wenn es nur so wäre.« Cattilara schlug die heiligen Gesten. »Mein Herr Gemahl hat bisher nur eine Tochter, auch wenn Liviana ein hübsches Kind ist. Sie wird bald neun und lebt bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Aber ich weiß, dass er sich nach einem Sohn sehnt. Wenn ich ihm einen Sohn schenken kann, wird er mich mehr schätzen als jede andere Frau!«
Mehr vielleicht als das Gedächtnis seiner ersten Frau? Misst du dich mit einer Toten, Mädchen? Der Blick zurück verschleierte manches und ließ einen Verstorbenen mitunter so vollkommen wirken, dass ein Lebender kaum heranreichen konnte. Gegen ihren Willen empfand Ista Mitleid. »Ich erinnere mich selbst noch an diese unangenehme Wartezeit, an die monatlichen Enttäuschungen. Meine Mutter pflegte mir belehrende Briefe zu schreiben, voller Ermahnungen und Ratschläge, was meine Ernährung betraf, als wäre ich Schuld daran, dass mein Leib leer blieb.«
Aufmerksam hob Cattilaras den Blick. »Wie ungerecht! König Ias war wirklich ein alter Mann — viel älter als Arhys!« Sie zögerte; dann fragte sie schüchtern: »Habt Ihr irgendetwas Bestimmtes getan? Um Iselle zu bekommen, meine ich?«
Ista verzog das Gesicht, als wieder Zorn in ihr aufstieg. »Jedes Kammerfräulein im Zangre kannte ein Dutzend Hausmittel und wollte sie mir aufdrängen. Egal, ob sie selbst schon ein Kind ausgetragen hatte oder nicht.«
Mit unerwartetem Sarkasmus hakte Cattilara nach: »Hatten sie auch Ratschläge für Ias?«
»Eine schöne junge Braut sollte Stärkungsmittel genug für ihn sein.« Am Anfang zumindest war es so gewesen. Doch Ias’ seltsam scheue anfängliche Wollust verblasste im Laufe der Zeit, insbesondere nach seiner Enttäuschung über die Geburt eines Mädchens, so gut er diese sonst auch verborgen hielt. Das Alter und der Fluch waren Erklärung genug für seine übrigen Schwierigkeiten. Statt schädliche Tränke zu schlucken, hatte er zur Anregung vermutlich lieber heimlich Abstecher zu seinem Liebhaber unternommen, ehe er ihre Gemächer aufsuchte. Hätte ihre Unfruchtbarkeit fortgedauert, hätte Lord dy Lutez dann Ias womöglich überredet, den Zwischenschritt auszulassen und ihn unmittelbar in ihr Bett zu lassen? Wie lange hätte es gedauert, bis der unbarmherzige Erwartungsdruck Istas Einwilligung erzwungen hätte? Die Entrüstung über derartige Angebote brannte umso heißer, wenn sie eine tatsächliche Versuchung überdecken musste, denn Arvol dy Lutez war ein eindrucksvoller Mann gewesen. Zumindest diesen Teil von Cattilaras unangemessenem Zorn auf ihren Schwager Illvin verstand Ista nur zu gut.
Ista blinzelte. Plötzlich kam ihr eine Lösung für das verzwickte Problem in den Sinn, wie sie Cattilara — und ihren Dämon — während Illvins mittäglichem Erwachen unter Kontrolle halten konnte. Eine hässliche Täuschung, aber wirksam. Glattzüngig fügte sie hinzu: »Was ich vor meiner Schwangerschaft mit Teidez als Letztes ausprobierte, war ein Breiumschlag aus Fingerlilien. Dieses Mittel stammte von Lady dy Varas alter Amme, soweit ich mich erinnere. Lady dy Vara schwor darauf. Sie hatte damals bereits sechs Kinder.«
Plötzliches Interesse lag in Cattilaras Blick. »Fingerlilien? Von solchen Blumen habe ich noch nie gehört. Wachsen sie hier im Norden?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich hätte ein paar davon gesehen, in der Nähe der Wiese, wo Lord Arhys sein Lager aufgeschlagen hatte. Liss würde die Blumen erkennen, da bin ich mir sicher.« Hinter Cattilaras Schulter zuckten Liss’ Augenbrauen protestierend nach oben. Ista hob zwei Finger und ermahnte sie zu schweigen. Dann fuhr sie fort: »Die alte Amme hatte erzählt, dass die Pflanzen von der Bittstellerin selbst geschnitten werden müssen, barfuß und zur Mittagsstunde, wenn die Sonne am fruchtbarsten ist. Geschnitten mit einem silbernen Messer und einem Gebet an die Mutter. Anschließend müssen die Blütenblätter in ein Seihtuch — oder in Seide, wenn es eine Dame ist — geschlagen und um die Taille getragen werden, bis man das nächste Mal bei seinem Ehemann liegt.«
»Wie war der Wortlaut des Gebets?«, wollte Lady Cattilara wissen.
»Es gab keine besonderen Worte. Es musste nur aus tiefstem Herzen vorgebracht sein.«
»Und das hat bei Euch geholfen?«
»Wie kann man sicher sein?« Tatsächlich hatte sie niemals eine der Kurpfuschereien ausprobiert, zu denen all die Wohlmeinenden ihr geraten hatten. Ausgenommen die Gebete. Und wir alle wissen, wie gut das am Ende geholfen hat. Ista dachte gerade über ihren nächsten Köder nach, als ihr der Fisch ins Netz sprang.
»Majestät, da es heute Mittag ja keine Festlichkeit für die Damen geben wird … könnte ich mir Eure Zofe Liss ausborgen, damit sie mir hilft, einige dieser Blumen aufzuspüren?«
»Aber gewiss, Gräfin.« Ista lächelte. »Ich werde mich derweil ausruhen und Briefe schreiben.«
»Ich sorge dafür, dass Euch ein Mittagessen gebracht wird«, versprach Cattilara, knickste und ging hinaus. Um nach einem silbernem Messer und einem Seidentuch zu suchen, vermutete Ista.
»Majestät«, zischte Liss, nachdem die Schritte der Gräfin auf die Treppe an der Außenseite verklungen waren. »Ich weiß gar nichts von dieser Blume, von der Ihr gesprochen habt.«
»Nun, sie hat einen kurzen grünen Stiel mit einer Reihe kleiner Blüten, die daran herabhängen. Man nennt sie auch Mutterglöckchen, doch das spielt eigentlich gar keine Rolle. Ich will nur, dass du die Gräfin so weit von Porifors wegführst, wie du sie bei einem Ausritt zur Mittagsstunde überreden kannst. Lass sie irgendeine Blume pflücken, die nicht giftig ist.« Ista erinnerte sich an ihr Zusammentreffen mit Feuerefeu und Brennnesseln während der Kindheit und lächelte böse. Doch was immer mit Cattilara vorging, es war tödlicher Ernst und kein Anlass für Scherze. »Achte darauf, ob sie plötzlich unruhig wird und umkehren will, oder ob sie sich sonst irgendwie merkwürdig verhält oder redet. Halte sie auf, solange du eine vernünftige Möglichkeit dazu hast, und wie immer du es schaffst.«
Liss blickte missbilligend drein und kniff die Augenbrauen zusammen. »Warum?«
Ista zögerte. »Wenn der Stationsmeister dir eine versiegelte Tasche aushändigt, schaust du dann hinein?«
»Natürlich nicht, Majestät«, verwahrte Liss sich empört.
»Du musst in dieser Angelegenheit meine Kurierin sein.«
Liss blinzelte. »Oh.«
»Die Gräfin wird dadurch keinen Schaden erleiden. Obwohl … Es wäre gut, wenn du bei deiner Täuschung unauffällig vorgehen könntest und darauf achtest, sie nicht zu verärgern.«
Der Dämon wagte es nicht, sich in Istas Gegenwart zu zeigen. Doch das musste nichts heißen. Ista wusste bisher noch nicht, wo seine Kräfte und Grenzen lagen.
Verwirrt, aber gehorsam nahm Liss den Auftrag entgegen. Ista nahm in ihrem Gemach ein leichtes Frühstück zu sich, öffnete die Fensterläden, um die Morgensonne einzulassen, und setzte sich mit geborgten Schreibfedern und Papier an einen Tisch.
Als Erstes verfasste sie ein kurzes Schreiben an den Herzog von Tolnoxo, in dem sie ziemlich ihr Missfallen darüber zum Ausdruck brachte, wie beiläufig er ihre Botin behandelt hatte, und in dem sie sich über sein Unvermögen beklagte, den verschwundenen Foix und den Geistlichen dy Cabon rasch ausfindig zu machen. Außerdem forderte sie bessere Unterstützung für Ferda ein. Ein sehr viel verbindlicherer Brief ging an den Erzprälaten von Maradi, den sie um die Unterstützung der Kirche bei der Suche nach Foix und seinem Begleiter bat. Liss war sehr schnell nach Porifors gekommen. Was also hielt die beiden anderen so lange auf …?
Ista verdrängte ihre aufgestaute Besorgnis und schrieb einen Brief an Kanzler dy Cazaril in Cardegoss, in dem sie Liss, Ferda, Foix und ihre anderen Begleiter für ihren Mut und ihre Treue lobte. Es folgte ein Sendschreiben nach Valenda, in dem sie alle ihres Wohlergehens versicherte und darauf verzichtete, irgendwelche der unangenehmen Einzelheiten ihrer zurückliegenden Abenteuer zu erwähnen. Ein weniger zurückhaltender, aber ebenfalls beruhigender Brief ging an Iselle und Bergon. Ista schrieb, dass sie in Sicherheit sei, aber gern Weiterreisen würde …
Schließlich blickte sie durch das eiserne Fenstergitter auf die andere Seite der Galerie und legte das letzte Schreiben unbeendet beiseite. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich jetzt schon Weiterreisen wollte.
Einige Zeit verbrachte sie damit, gedankenverloren mit der Schreibfeder gegen ihre Wange zu tippen. Dann öffnete sie den Brief an Lord dy Cazaril noch einmal und fügte ein Postskriptum hinzu:
Mein zweites Gesicht ist zurückgekehrt. Ich stehe hier vor einer schwierigen Angelegenheit.
Schließlich erschien ein Page und holte Liss zu ihrer mittäglichen Expedition mit der Gräfin ab. Einige Zeit später kam ein Mädchen und brachte Ista auf einem Tablett das Mittagessen. Begleitet wurde sie von einer Edeldame aus dem Gefolge der Gräfin, die offensichtlich abkommandiert worden war, um Ista Gesellschaft zu leisten.
Ista befahl dem Mädchen, das Tablett auf dem Tisch abzustellen und sie allein zu lassen, und unbarmherzig entließ sie auch das enttäuschte Kammerfräulein. Sobald deren Schritte draußen verklungen waren, trat Ista durch das Vorzimmer und die Tür nach draußen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und brannte heiß in den steinernen Innenhof hinab, zeichnete harte Schlagschatten auf das Pflaster. Am gegenüberliegenden Ende der Galerie klopfte Ista an Lord Illvins beschnitzte Tür.
Diese schwang auf. Gorams raue Stimme sagte: »So, hast du dich diesmal drum gekümmert, dass dieser Dummkopf von Koch das Fleisch heut weicher kocht …« Die Worte erstarben ihm auf der Zunge. »Majestät.« Er schluckte und senkte den Kopf, forderte Ista aber nicht auf, einzutreten.
»Guten Tag, Goram.« Ista hob die Hand und drückte die Tür weiter auf. Hilflos trat er aus dem Weg. Er wirkte eingeschüchtert.
Im Gemach war es kühl und dämmrig; nur durch die geschlossenen Fensterläden fiel ein Lichtmuster auf die Webteppiche und ließ die gedämpften Farben hier und da aufglühen. Ista erkannte die Übereinstimmungen mit der Vision aus ihrem ersten Traum, verlor aber das Interesse daran, als ihr inneres Auge Goram erfasste.
Seine Seele war von bizarrer Gestalt und glich keiner anderen, die sie jemals gesehen hatte. Am ehesten war sie mit einem zerfetzten Tuch zu vergleichen, das man mit Säure bespritzt hatte, oder das so sehr von Motten zerfressen war, dass es nur noch an einigen straff gespannten Fasern zusammenhing. Ista erinnerte sich an den ausgezehrten Bären. Doch Goram war offensichtlich nicht von einem Dämon befallen, und er war auch nicht dem Tod nahe. Aber es geht ihm auch nicht gut. Irgendwas an diesem Mann stimmt nicht. Sie musste sich zwingen, ihre Aufmerksamkeit wieder seinem knorrigen äußeren Erscheinungsbild zuzuwenden.
»Ich möchte mit deinem Herrn sprechen, sobald er erwacht ist«, ließ sie ihn wissen.
»Er … äh, spricht nicht immer so verständlich.«
»Das ist in Ordnung.«
Der Knecht zog wieder auf schildkrötenartige Weise den Kopf zwischen die Schultern. »Lady Catti wird was dagegen haben.«
»Hat sie dich gestern gescholten, nachdem ich fort war?« Und wie heftig?
Er nickte und starrte auf seine Füße.
»Nun, heute ist sie beschäftigt. Sie ist ausgeritten und hat die Burg verlassen. Du musst ihr nicht von meinem Besuch erzählen. Wenn der Diener Lord Illvins Tablett bringt, dann nimm es und schick ihn weg, und niemand wird etwas erfahren.«
Er schien einen Augenblick über ihre Worte nachzudenken; dann nickte er und schlurfte rückwärts in den Raum, damit Ista eintreten konnte.
Lord Illvin lag auf dem Bett. Er trug das Leinengewand, und seine Haare waren nicht mehr geflochten, sondern zurückgekämmt, wie sie es zuerst in ihrem Traum gesehen hatte. Er lag so reglos da wie ein Toter, doch er war nicht ohne Seelensubstanz. Allerdings ruhte seine Seele nicht im Zentrum seines Körpers und besaß auch nicht dieselbe Gestalt, wie es bei Liss der Fall war oder selbst bei Gorams zerfetzter Seele. Vielmehr sah es so aus, als würde ihm die Seele gewaltsam aus dem Herzen gerissen, um entlang des inzwischen vertrauten weißlichen Loderns davonzutreiben. Nur ein schwacher Hauch davon blieb in den Umrissen seines stofflichen Leibes zurück.
Ista ließ sich auf einer Truhe an der Wand zu Illvins Rechten nieder und musterte ihn. »Wird er bald erwachen?«
»Wird er wohl.«
»Dann mach einfach so weiter wie sonst.«
Goram nickte und zog einen Hocker sowie ein kleines Tischchen zur anderen Seite des Bettes. Auf ein Pochen an der Tür hin sprang er auf. Ista lehnte sich zurück und außer Sicht. Goram nahm ein schweres Tablett entgegen, abgedeckt mit einem Leintuch, und schickte den Mann fort, der es gebracht hatte. Der Kammerdiener klang erleichtert, als er entlassen wurde. Goram setzte sich auf den Hocker, verschränkte die Hände und schaute Lord Illvin an. Schwer lastete das Schweigen im Gemach.
Illvins Lippen öffneten sich. Abrupt sog er die Luft ein, stieß sie dann wieder aus. Seine Augen sprangen auf und starrten wirr zur Decke. Ruckartig richtete er sich auf und schlug die Hände vors Gesicht.
»Goram? Goram!« Seine Stimme klang schrill vor panischem Schrecken.
»Ich bin hier, Herr!«, erwiderte Goram besorgt.
»Ah. Da bist du …« Illvin sprach undeutlich. Seine Schultern sanken herab. Er rieb sich das Gesicht, ließ die Hände auf die Bettdecke fallen und starrte auf seine Füße. Die Furchen auf seiner hohen Stirn wurden tiefer. »Ich hatte letzte Nacht wieder diesen quälenden Traum. Die schimmernde Frau. Bei den fünf Göttern, diesmal war er unglaublich intensiv! Ich habe ihre Haare berührt …«
Goram schaute zu Ista hinüber. Illvin wandte den Kopf und folgte seinem Blick.
Seine dunklen Augen wurden groß. »Ihr! Wer seid Ihr? Träume ich noch immer?«
»Nein. Diesmal nicht.« Sie zögerte. »Mein Name ist … Ista. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, aber ich kenne ihn nicht.«
Er stieß ein gequältes Lachen hervor. »So geht es mir auch.«
Goram richtete ihm eiligst die Kissen. Illvin ließ sich zurücksinken, als hätte diese kleine Anstrengung ihn bereits völlig erschöpft. Sofort schob Goram einen Löffel gekochtes Fleisch hinterher. Es duftete stark nach Kräutern und Knoblauch. »Hier, esst einen Bissen Fleisch, Herr. Esst, esst, rasch.«
Illvin hatte den Bissen im Mund, ehe er auch nur an Widerspruch denken konnte. Er schluckte ihn herunter und wehrte den nächsten Bissen ab, wandte den Kopf stattdessen wieder Ista zu. »Ihr … leuchtet gar nicht mehr im Dunkeln. Habe ich von Euch geträumt?«
»Ja.«
»Oh.« Verwirrt runzelt er die Stirn. »Woher wisst Ihr das?« Diesmal schaffte er es nicht, dem beharrlichen Löffel auszuweichen, und notgedrungen verstummte er wieder.
»Lord Illvin, woran erinnert Ihr Euch noch von der Nacht, als Ihr niedergestochen wurdet? In den Gemächern der Prinzessin Umerue?«
»Niedergestochen? Ich? Niemand hat mich …« Er tastete mit der Hand unter sein Gewand nach dem Verband um seinen Oberkörper. »Goram! Warum wickelst du immer diese elenden Fetzen um mich? Ich habe dir doch gesagt …« Er zerrte die Bandagen herunter, wickelte sie ab und warf sie zum Fuß des Bettes. Die Haut auf seiner Brust war unberührt.
Ista stand auf, trat an die Bettkante und drehte die weißen Leinenbinden herum. Das Wundpolster war von einem matten, rotbraunen Blutfleck durchtränkt. Sie hielt es so, dass Illvin es sehen konnte, und hob die Brauen. Zornig starrte er auf den Verband und schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Verletzung! Ich habe kein Fieber. Ich übergebe mich nicht. Warum schlafe ich so viel? Ich werde immer schwächer … schwanke wie ein neu geborenes Kalb … kann nicht mehr klar denken … Bei den fünf Göttern, nur kein Schlaganfall, nur nicht sabbernd und gelähmt!« Seine Stimme drohte sich zu überschlagen. »Arhys, ich habe gesehen, wie Arhys zu meinen Füßen zusammenbrach. Blut … Wo ist mein Bruder?«
Gorams Stimme klang übertrieben beschwichtigend: »Beruhigt Euch, Herr. Dem Grafen geht es gut. Ich hab es Euch wohl schon hundertmal gesagt. Ich sehe ihn jeden Tag.«
»Warum kommt er dann nicht und schaut nach mir?« Seine unsichere Stimme nahm nun einen quengeligen Tonfall an, weinerlich wie ein übermüdetes Kind.
»Das tut er doch. Aber Ihr schlaft immer. Regt Euch nicht so auf!« Goram warf Ista einen finsteren Blick zu. »Hier. Esst Fleisch.«
Arhys war in dieser Nacht ebenfalls in Umerues Gemächern gewesen? Schon zeigten sich Abweichungen von Cattilaras glatter Version der Geschichte. »Hat Lord Pechma Euch niedergestochen?«, fragte Ista.
Illvin blinzelte verwirrt, schluckte den letzten Bissen hinunter, den Goram ihm in den Mund geschoben hatte, und meinte: »Pechma? Der wertlose Schwachkopf? Ist er immer noch auf Porifors? Was hat Pechma mit der Sache zu tun?«
Geduldig fragte Ista: »War Lord Pechma überhaupt da?«
»Wo?«
»In Prinzessin Umerues Gemächern.«
»Nein! Warum sollte er? Das goldfarbene Flittchen hat ihn behandelt wie einen Sklaven, genau wie alle anderen. Falsches Spiel … falsch …«
Ista ließ ihre Stimme schärfer klingen: »Goldfarbenes Flittchen? Umerue?«
»Mutter und Tochter. Grausam schön war sie! Aber wenn sie vergaß, auf mich zu achten, wirkte sie wieder unscheinbar. So, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, in Jokona. Aber wenn sie ihre Bernsteinaugen auf mich richtete, hätte ich für sie den Sklaven gespielt. Nein — ich wäre ihr Sklave gewesen! Aber sie hat sich dem armen Arhys zugewandt. Alle Frauen tun das …«
Nun ja …
»Sie hat ihn gesehen. Sie wollte ihn. Und sie nahm ihn, so einfach, wie man einen … irgendetwas aufhebt. Ich habe es herausgefunden. Ich kam hinterher. Sie hatte ihn im Bett, drückte ihren Mund auf den seinen …«
»Fleisch«, sagte Goram und schob ihm einen weiteren Bissen in den Mund.
Eine exotische Frau, ein kräftiger Mann, ein mitternächtliches Stelldichein, ein verschmähter Verehrer … dieselben Rollen, doch die Darsteller waren andere als in Cattilaras Geschichte? Es passte alles zusammen. Man konnte sich leicht vorstellen, wie Umerue ausgeschickt worden war, um Illvin zu umwerben, um einer Allianz mit Jokona willen, und wie sie sich dann aus persönlichen oder politischen Gründen seinem älteren und mächtigeren Bruder zuwandte. Cattilara wäre dann ein Hindernis gewesen, sicher, aber genau die Art von Hindernis, für die es raffinierte Gifte gab.
Schwerer vorstellbar war da schon, wie eine solche Verführerin überhaupt erst an Cattilara vorbei zu Lord Arhys hatte vorstoßen können. Cattilara betrachtete Ista offensichtlich eher als ältere Tante — eine Tante mit einer wundervoll tragischen und romantischen Vorgeschichte. Trotzdem hatte die Gräfin keine Gelegenheit verstreichen lassen, ihren Anspruch auf Arhys vor Istas Augen deutlich zu bekunden. War ihre besitzergreifende Art nur Gewohnheit oder die Folge einer nicht lange zurückliegenden Furcht?
Für die veränderte Version der Geschichte sprach der Anschein von Wahrscheinlichkeit. Der verachtete Bastard, der bislang beinahe leer ausgegangen war, bekam eine wunderschöne Prinzessin in greifbare Nähe gerückt, nur damit sie ihm plötzlich vom älteren Bruder weggeschnappt wurde — einem Bruder, der bereits alles besaß, einschließlich einer wunderschönen Frau, und der nichts mehr benötigte. Der Reiche, der den Armen beraubte … Grund genug also, um in rasender Eifersucht einen Brudermord zu versuchen. Solche Taten kamen überall vor, unter weniger bedeutsamen Männern, unter Quintariern sowie unter den Angehörigen des vierfältigen Glaubens, bei jedem Volk und in jedem Landstrich.
Also: Illvin, der sich in einem Anfall von Eifersucht gegen den Bruder und die Geliebte wandte, der die herumhurende Prinzessin erstach, dem dann die Waffe entrissen wurde und der seinerseits vom entsetzten Arhys niedergestochen wurde. Und den man für tot zwischen den Decken zurückließ?
Einen Augenblick. Ista ergänzte dieses Bild: Illvin, der sorgfältig entkleidet wurde, dessen Kleidung sorgsam auf einem Stuhl abgelegt war, seltsamerweise ohne den kleinsten Blutfleck. Dann wurde das Messer zurück in Umerues Körper gesteckt, und erst dann wurde Illvin für tot zurückgelassen. Zweifelnd rümpfte sie die Nase.
Und irgendwie war man auch Lord Pechma und sein Pferd losgeworden. Heimlichtuerei schien nicht eben Arhys Stil zu sein. Doch wenn er tatsächlich einen Rachefeldzug des Fürsten von Jokona befürchtete, für den Tod seiner schönen — oder unauffälligen — Schwester? Grund genug, die Schuld auf den geflohenen jokonischen Höfling zu lenken, der vielleicht schon ermordet und verscharrt war. Arhys verfügte ganz gewiss über die Stärke und Kaltblütigkeit, die es für eine solche Tat brauchte.
Eine solche Täuschung hätte außerdem dazu beigetragen, Arhys’ Untreue vor seiner schlafenden Frau verborgen zu halten. Seine öffentlichen Gebete und seine Sorge um den niedergestreckten Bruder — auch nur eine Täuschung? Oder der Ausdruck von Schuldgefühl?
Wieder eine glatte Geschichte. Nur dass sie nicht das Auftauchen von Cattilaras Dämon erklärte, und nicht die tödliche Wunde, die scheinbar von beiden Brüdern geteilt wurde. Und nicht die Tatsache, dass Cattilara anscheinend mehr über die Vorkommnisse wusste als Arhys. Hinzu kamen noch Istas Träume. Die Schnur aus weißem Feuer. Und das Erscheinen eines Gottes. Und …
»Ich fürchte«, sagte Lord Illvin mit schwacher Stimme, »ich werde verrückt.«
»Nun«, erwiderte Ista trocken. »Braucht Ihr dabei noch einen erfahrenen Führer? Dann bin ich die Frau, die Ihr sucht.«
Er blickte sie verwirrt an.
Sie erinnerte sich an Arhys’ kummervolles Klagen in einem von Kerzen erhellten Gemach, von ihrem Traum im Zelt. Doch war das ein Bild aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft?
Sie zweifelte nicht daran, dass dieser Mann hier zu raffinierten Lügen fähig war, wenn er seinen Verstand beisammen hatte. Ebenso deutlich war allerdings, dass dieser Verstand im Augenblick wie ein Bettler über die Straßen irrte. Er mochte Unsinn stammeln, mochte toben, mochte im Fieberwahn reden, aber er log nicht. Also … auf wie viele verschiedene Weisen konnten drei Leute zwei von sich mit einem Messer töten? Ista rieb sich die Stirn.
Goram machte eine unbeholfene Verbeugung in ihre Richtung. »Herrin. Bitte. Er braucht Zeit zum Essen. Und zum Pinkeln.«
»Nein, lass sie nicht fortgehen!« Illvins Arm schoss nach vorn, fiel dann kraftlos auf die Decke.
Ista nickte dem besorgten Knecht zu. »Ich gehe ein wenig nach draußen. Nicht weit weg. Ich bin bald zurück«, fügte sie in Richtung auf den aufgeregten Illvin hinzu. »Das verspreche ich Euch.«
Ista trat hinaus auf die Galerie und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. Sie musterte die dahintreibende Leine aus Licht, die zu einem feinen Faden geschrumpft, aber nicht unterbrochen war.
Also. Illvin begegnete niemals seinem Bruder und konnte nie mit ihm reden. Und Arhys traf Illvin niemals wach an. Seit jener Nacht hatten die beiden nie die Gelegenheit gehabt, ihre Erfahrungen zu vergleichen, oder zumindest Einzelheiten ihrer Erfahrungen, an die sie sich erinnerten.
Lady Cattilara allerdings sah sie beide. Redete mit beiden. Konnte beiden jede Geschichte erzählen, die ihr gerade in den Sinn kam.
Schauen wir mal, ob wir daran etwas ändern können.
Ista wartete eine Weile, während Goram den persönlicheren Bedürfnissen seines Herrn nachkam, ihn wieder zurechtlegte und ihm hastig so viel von der für einen Kranken weich gekochten Nahrung den Schlund hinunterschob, wie die Zeit es zuließ. Die Leine wurde zuerst ein wenig, dann merklich dicker. Ista streckte die Hand aus und umfasste die leuchtende Linie behutsam mit Daumen und Zeigefinger.
Lord Bastard, geleite mich, wie es deinem Willen entspricht. Oder deinen Launen, wie man in deinem Fall wohl eher sagen sollte.
Allein durch ihren Willen zwang sie die Leine, sich zusammenzuziehen, ließ das Licht durch ihre Handfläche zurückgleiten wie Wolle beim Spinnen. Wie es schien, gehörte mehr zur Gabe des Bastards als nur das Sehen. Mühelos konnte sie auch etwas verändern. Zuerst ahmte sie eine Bewegung nach, als würde sie die Leine aus weißem Feuer Hand über Hand einholen. Bald schon aber bemerkte sie, dass sie den Fluss des Lichts einfach durch ihren Willen kontrollieren konnte. Sie hielt den Blick auf den gegenüberliegenden Säulengang gerichtet, wo die Passage aus dem benachbarten Hof mündete.
Lord Arhys schritt hindurch und trat auf die in Sonne getauchten Pflastersteine.
Er trug leichte Kleidung, wie sie zu diesem heißen Nachmittag passte, und sein graues Leinengewand mit dem Goldbesatz schwang um seine Waden. Er war sauber, sein Bart frisch gestutzt. Er gähnte herzhaft und blickte dann besorgt zum Gemach an der Ecke der Galerie hinauf. Als er Ista auf dem Geländer lehnen sah, verbeugte er sich höfisch in ihre Richtung.
Gerade eben von einem Nickerchen erwacht, nicht wahr? Und ich weiß genau, wie spät Ihr gestern noch wach wart.
Mit einiger Schwierigkeit löste Ista den Blick von seinem eleganten äußeren Erscheinungsbild.
Seine Seele war grau und merkwürdig blass und verschoben, als würde sie ihm ein wenig hinterher hinken und dabei eine feine Rauchspur hinterlassen.
Ah. Nun verstehe ich. Ista richtete sich auf und bewegte sich zur Treppe, ging ihm entgegen, als er hinaufstieg.
Auge in Auge verharrten sie. Ista stand zwei Stufen über seinen bestiefelten Füßen. Arhys wartete höflich ab und lächelte sie verwirrt an. »Majestät?«
Sie umfasste sein kräftiges Kinn mit den Fingern, erschauerte unter dem fühlbaren Strich seines Bartes an ihrer Handfläche, lehnte sich dann nach vorn und küsste ihn auf den Mund.
Er riss die Augen auf und gab einen überraschten, unterdrückten Laut von sich, wich aber nicht zurück. Sie schmeckte seinen Mund: kühl wie Wasser, und ebenso ohne Aroma. Traurig löste sie sich von ihm. Ich fürchte, das führt auch zu nichts.
Er blickte verwirrt; ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, und er kniff die Brauen zusammen, als wolle er sagen: Was soll das bedeuten, meine Dame? Als würde er jeden Tag unvermittelt von irgendwelchen Frauen auf Treppenaufgängen geküsst und als empfände er es als unhöflich, dem auszuweichen.
»Lord Arhys«, sagte Ista. »Wie lange seit Ihr schon tot?«