6

Liss gewann als Erste die Kontrolle über ihr Reittier zurück, galoppierte zu den anderen und schwang sich atemlos, verwirrt und besorgt von ihrer Fuchsstute. Pejar stöhnte und setzte sich auf. Sprachlos starrte er zu dem enthaupteten Bären hinüber und hob verwundert die Brauen, als er Foix neben dem Kadaver liegen sah, aus dem immer noch warmes Blut den Boden tränkte. »Herr?«

Ista war übel nach ihrem Sturz vom Pferd, doch es war die Berührung des Dämons, die ihr Innerstes erschüttert hatte. Ihr Geist fühlte sich seltsam losgelöst vom Leib. Sie zog den Mantel aus, faltete ihn zusammen, kniete bei Foix nieder und versuchte, seinen schweren Körper herumzudrehen und ihm das Bündel als Kissen unter den Kopf zu schieben.

»Wartet, Majestät«, sagte Liss. »Hat er beim Sturz vom Pferd das Bewusstsein verloren? Er könnte gebrochene Knochen haben …«

»Er ist vom Pferd gefallen? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.« Das war gewiss eine Erklärung dafür, warum er zuerst bei dem Bären gewesen war. »Nun, jedenfalls hat er sich dabei nicht verletzt. Er hat das Tier erschlagen.« Umso schlimmer.

»Er ist seinem Pferd glatt über die Kruppe gerutscht und auf dem Hinterteil gelandet. Ich nehme an, an der Stelle gibt es keine Knochen, die er sich brechen könnte.« Liss wand sich einen Zügel um den Arm und sicherte ihr schnaubendes und scheuendes Pferd. Dann kniete sie neben Ista nieder. Sie wandte den Kopf hierhin und dorthin und musterte beeindruckt die Zeugnisse des Kampfes, den Kadaver, das Schwert und den weiter entfernt liegenden Kopf des Bären. »Bei den fünf Göttern, was für ein Schlag.« Sie blickte auf Foix. Sein Gesicht war so grau wie Hafergrütze. »Aber was ist los mit ihm?«

Ferda ritt als Nächster heran. Auch er warf einen Blick auf die Szenerie, sprang vom Pferd und dachte gar nicht mehr daran, es festzuhalten. »Foix! Majestät, was ist geschehen?« Er kniete ebenfalls nieder und tastete seinen Bruder ab und rechnete offenbar damit, gebrochene Knochen oder eine aufgerissene Wunde zu entdecken, die von einem Prankenhieb stammte. Als er keine Verletzungen fand, kniff er die Augen zusammen und versuchte, Foix herumzudrehen. Dy Cabon kämpfte sich schnaufend heran. Sein Maultier hatte er unterwegs verloren.

Ista hielt Ferda am Arm fest. »Euer Bruder hat keinen Schlag abbekommen.«

»Er hat dem Bär den Kopf abgeschlagen. Dann ist er einfach … umgefallen«, bestätigte Pejar.

»War das Tier tollwütig, uns so anzugreifen?«, stieß dy Cabon hervor, beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und blickte sich ebenfalls um.

»Der Bär war nicht tollwütig«, verkündete Ista tonlos, »sondern von einem Dämon befallen.«

Dy Cabon riss die Augen auf. Eindringlich musterte er ihr Gesicht. »Seid Ihr sicher, Majestät?«

»Ganz sicher. Ich habe es gespürt.« Und es hat mich gespürt.

Ferda wippte auf den Fersen. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.

»Wo ist …« Dy Cabons Stimme verlor sich, als er Foix betrachtete, der auf dem Boden lag, als hätte jemand ihn niedergeschlagen. »Der Dämon ist doch nicht etwa in ihn gefahren?«

»Doch.« Ista befeuchtete sich die Lippen. »Ich wollte Foix aufhalten, aber er sah wohl nichts anderes mehr als einen vermeintlich tollwütigen Bären, der mich allem Anschein nach bedrohte.«

Dem Anschein nach?, wiederholten dy Cabons Lippen lautlos. Er musterte sie eindringlicher.

Der sichtlich geschockte Ferda sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. »Was wird nun aus Foix, Hochwürden?«

»Das hängt davon ab.« Dy Cabon schluckte. »Es hängt ganz davon ab, mit was für einer Art von Dämon wir es zu tun haben.«

»Er war von bärenhafter Natur«, berichtete Ista, immer noch mit derselben tonlosen Stimme. »Er mag vielleicht schon andere Geschöpfe verzehrt haben, bevor er den Körper des Bären übernahm, doch ganz gewiss konnte er bisher noch nicht das Wesen oder den Verstand eines Menschen in sich aufnehmen. Er besaß nicht die Gabe der Sprache.« Nun aber stand er vor einem üppigen Festmahl an Worten und Wissen. Wie lange würde es dauern, bis er sich darüber hermachte?

»Das wird sich ändern«, murmelte dy Cabon und sprach damit Istas Gedanken aus. Er atmete tief durch. »Erst einmal wird gar nichts geschehen«, beteuerte er dann, doch Ista gefiel der übertrieben zuversichtliche Tonfall nicht, den er dabei anschlug. »Foix kann sich dagegen wehren. Wenn er es will. Ein unerfahrener Dämon braucht Zeit, um an Stärke zu gewinnen und zu lernen.«

Um sich tiefer einzugraben, ergänzte Ista in Gedanken. Um die Stärke einer Seele zu erproben und sich auf die Belagerung vorzubereiten. Und bedeutete das, dass ein erfahrener Dämon, gemästet durch die Erfahrungen vieler Seelen, einen Menschen binnen eines Atemzuges überwältigen konnte?

»Trotzdem sollten wir ihm so wenig Zeit wie möglich lassen, um … so wenig Zeit wie möglich eben. Ein Tempel bei einer herzoglichen Residenz dürfte die Mittel und die erforderlichen Geistlichen haben, um damit fertig zu werden. Wir müssen Foix sofort zum Erzprälaten von Taryoon bringen und …« Er stockte. »Aber das würde eine Woche dauern.« Er blickte über die Hügel hinweg in Richtung der fernen Ebene. »Der Tempel in Maradi ist näher. Ferda, wo sind Eure Karten? Wir müssen den schnellsten Weg suchen.«

Allmählich kehrten auch die anderen Wachen zurück. Sie hatten die entlaufenen Pferde und Maultiere wieder eingefangen, und einer von ihnen band nun auch Ferdas Reittier fest. Ferda erhob sich und durchsuchte die Satteltaschen. Doch als Foix sich regte und stöhnte, drehte er sich rasch wieder um.

Foix schlug die Augen auf, schaute zum Himmel und auf den Ring an Gesichtern, die besorgt über ihm schwebten. Seine Augenbrauen zuckten. »Oh«, brummte er.

Ferda kniete neben seinem Kopf nieder. Foix’ Hände öffneten und schlossen sich hilflos. »Wie fühlst du dich?«, fragte Ferda schließlich vorsichtig.

Foix blinzelte. »Sehr seltsam.« Ungeschickt bewegte er eine Hand — es sah aus wie ein Schlag mit einer Pranke. Dann rollte er sich auf die Seite und versuchte aufzustehen. Stattdessen landete er auf allen vieren. Er brauchte zwei weitere Anläufe, ehe er endlich auf die Füße kam. Dy Cabon stützte ihn an einem Arm, Ferda am anderen. Wieder blinzelte Foix und bewegte ein paar Mal prüfend den Unterkiefer. Er führte die Hand zum Mund, verfehlte ihn und versuchte es noch einmal. Seine Finger fuhren die Linien nach, als müsse er sich davon überzeugen, dass er ein Kinn hatte und keine Schnauze. »Was ist geschehen?«

Niemand wagte zu antworten. Mit wachsendem Unbehagen schaute Foix sich um und musterte die von Grauen erfüllten Gesichter.

Endlich erklärte dy Cabon: »Wir nehmen an, dass Ihr von einem Dämon befallen wurdet. Er hatte den Körper des Bären beherrscht, der uns angriff.«

»Der Bär war bereits todgeweiht«, ergänzte Ista. »Ich habe noch versucht, Euch zu warnen.«

»Sagt mir, dass das nicht wahr ist!«, stieß Ferda hervor.

Foix’ Gesichtsausdruck wurde ruhig, nach innen gewandt; seine Augen blickten kurze Zeit ins Leere. »Oh«, sagte er schließlich. »Ja. Es ist … ist es das, was …«

»Was?« Dy Cabon versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, konnte seine Sorge aber nicht verhehlen.

»Da ist etwas … in meinem Kopf. Verängstigt. Zusammengekauert. Als wolle es sich in einer Höhle verstecken.«

»Hm.«

Offensichtlich würde Foix sich nicht gleich in einen Bären oder einen Dämon verwandeln, sondern erst einmal der verwirrte junge Mann bleiben, der er nun war. Deshalb entfernten die anderen sich ein paar Schritte von dem toten Bären und setzten sich auf den Boden, um die Karten zu studieren. Einige Wachen unterhielten sich mit gesenkter Stimme über den Kadaver. Sie kamen zu dem Schluss, dass das schäbige Fell die Mühe des Abziehens nicht wert war. Allerdings rissen sie dem Tier die Zähne und Krallen aus und behielten sie als Andenken, bevor sie den massigen Leib von der Straße schleiften.

Ferda suchte eine Karte des Umlands heraus und glättete sie über einem großen, flachen Felsbrocken. Mit dem Finger fuhr er eine Route entlang. »Ich glaube, der schnellste Weg nach Maradi führt uns erst noch einmal weitere dreißig Meilen diese Straße entlang, bis zu diesem Dorf. Dann biegen wir ab, fast geradenwegs nach Osten.«

Dy Cabon blickte zur Sonne empor, die im Westen beinahe schon hinter den Berggraten versunken war, obwohl der Himmel immer noch von einem tiefen, lichten Blau war. »Das schaffen wir nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit.«

Ista führte zaghaft einen bleichen Finger zur Karte. »Ganz in der Nähe liegt die Kreuzung, von der aus wir in den Geburtsort dieser Heiligen gelangen. Dort haben wir schon Essen, Unterkunft und Futter für die Tiere vorbereiten lassen. Wir könnten morgen früh aufbrechen.« Und dort standen kräftige Mauern zwischen ihnen und weiteren Bären. Wenn auch nicht zwischen ihnen und dem Dämon — eine Überlegung, die Ista wohlweislich für sich behielt.

Ferda runzelte die Stirn. »Das wären sechs weitere Meilen, jeweils hin und zurück. Und noch mehr, wenn wir uns mal wieder verirren.« Eine ähnlich trügerische Straßengabelung hatte sie früher am Tag bereits eine Stunde verlieren lassen. »Eine halbe Tagesreise umsonst. Wir haben genug Essen und Futter dabei, um eine Nacht durchzustehen. Wir können unsere Vorräte auffrischen, sobald wir nach Osten abbiegen …« Er zögerte und fügte ein wenig zurückhaltender hinzu: »Das heißt natürlich, falls Ihr willens seid, die Mühsal einer Nacht im Freien auf Euch zu nehmen, Majestät. Zumindest scheint das Wetter zu halten.«

Ista schwieg. Ihr missfiel dieser Plan, aber noch sehr viel mehr missfiel ihr die Andeutung, dass sie ihre eigene Bequemlichkeit über die offensichtliche Notlage eines ihrer treuesten Gefolgsleute stellen könnte. Die Schar aufteilen und die schnellsten Reiter mit Foix voraussenden? Dieser Einfall gefiel ihr ebenso wenig. »Ich überlasse die Entscheidung Euch.«

»Kannst du reiten?«, fragte Ferda seinen Bruder.

Foix saß mit gerunzelter Stirn und nach innen gerichtetem Blick da. »Ah … nicht schlechter als sonst. Mir tut der Hintern weh, aber das hat nichts mit dem … mit der anderen Sache zu tun.« Er verstummte kurz und fügte hinzu: »Außer vielleicht indirekt.«

In entschlossenem, militärischem Tonfall verkündete Ferda: »Dann lasst uns heute Abend so weit und so schnell voranziehen, wie wir nur können!«

Die kleine Versammlung neben dem Felsblock ließ zustimmendes Gemurmel hören. Ista presste die Lippen aufeinander.

Sie setzten Foix wieder auf sein unruhiges Pferd. Es brauchte zwei Männer, um das Tier zu halten, das aufgeregt tänzelte und schnaubte. Doch als sie aufbrachen, beruhigte es sich. Dy Cabon und Ferda ritten dicht neben Foix, der eine links, der andere rechts. Eine beschützende Geste. Zu spät.

Ista hielt sich hinter ihnen, als sie der Straße folgten — oder was hier als Straße durchging. Für kurze Zeit hatte sie die brennende Gegenwart des Dämons ganz deutlich gespürt, nun aber war die Empfindung wieder gedämpft. Gedämpft durch die Materie, die zwischen ihnen lag? Oder verbarg sich das Geschöpf mit voller Absicht in seinem neuen, fleischlichen Unterschlupf? Oder lag es an ihr selbst? Sie hatte ihre Empfindsamkeit lange unterdrückt; nun fühlte es sich an, als würde sie einen Muskel benutzen, der lange Zeit geruht hatte. Es schmerzte.

Lord dy Cazaril behauptete, dass die Welt des Geistes und die der Materie sich zueinander verhielten wie die beiden Seiten derselben Münze. Die Götter existierten nicht in weiter Ferne, an irgendeinem anderen Ort, sondern genau hier, allgegenwärtig, unmittelbar hinter einer Biegung der Wahrnehmung verborgen, die sich dem verstandesmäßigen Begreifen entzog. Eine Präsenz, die durchdringend und unsichtbar zugleich war, wie Sonnenlicht auf der Haut — als stünde man nackt und mit verbundenen Augen im Schein einer unvorstellbaren Mittagsstunde.

Mit den Dämonen verhielt es sich ebenso, obwohl sie eher so waren wie Diebe, die ihre Hand durch ein Fenster steckten. Was also befand sich dort, wo Foix war? Wenn beide Brüder hinter sie treten würden, wüsste sie dann, wer welcher von beiden war, ohne sich umzudrehen?

Sie schloss die Augen, um ihre Wahrnehmung zu prüfen. Sie hörte das Knarren des Sattels, das Stampfen der Reittiere, das feine Knirschen, als ein Huf auf einen Kiesel traf. Sie roch ihr Pferd, ihren Schweiß, den kühlen Duft der Kiefern … und sonst nichts mehr.

Und dann fragte sie sich, was der Dämon wohl sah, wenn er Ista anblickte.


Sie schlugen ihr Lager am Ufer eines Flusses auf. Es war gerade noch hell genug, um Feuerholz zu suchen, das die Männer herbeischafften, während die Wachen für Ista und Liss eine Art Laube errichteten, einen Unterschlupf aus Ästen und Zweigen, den sie notdürftig mit gelbem, trockenem Gras polsterten. Die Konstruktion wirkte nicht sonderlich bärensicher.

Foix wollte sich nicht wie ein Schwerverwundeter behandeln lassen und bestand darauf, ebenfalls auf die Suche nach Brennholz zu gehen. Ista behielt ihn insgeheim im Auge, und ihr fiel auf, dass dy Cabon dasselbe tat. Foix hob ein großes Holzscheit an, nur um festzustellen, dass es verrottet war und der Boden darunter von Maden wimmelte. Er starrte auf seinen Fund, wobei sich ein seltsamer Ausdruck auf sein Gesicht legte.

»Dy Cabon«, meinte er ruhig.

»Ja, Foix?«

»Verwandle ich mich in einen Bären? Oder in einen Verrückten, der sich für einen Bären hält?«

»Weder noch«, erwiderte dy Cabon. »Das wird sich geben.« Doch Ista hegte den Verdacht, dass er es nicht genau wusste.

»Dann ist es ja gut«, seufzte Foix und verzog das Gesicht. »Weil die Dinger da nämlich köstlich aussehen!« Er trat den Holzklotz um — mit größerer Wucht, als erforderlich gewesen wäre — und machte sich dann auf die Suche nach trockenerem Holz.

Dy Cabon drückte sich in Istas Nähe herum. »Majestät …«

Bei den fünf Göttern, er sprach mit demselben melancholischen Tonfall wie Foix einen Augenblick zuvor. Gerade noch vermied sie es, mit einem tröstenden Ja, dy Cabon? zu antworten. Stattdessen brachte sie ein schärferes »Was?« hervor, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle sich über ihn lustig machen.

»Es geht um Eure Träume. Die von den Göttern gesandten Träume, die Ihr vor langer Zeit hattet.«

Nicht lange genug. »Was ist damit?«

»Woher habt Ihr gewusst, dass es sich um Wahrträume handelte? Wie konntet Ihr eine gute Prophezeiung von … sagen wir, den Nachwirkungen schlechten Essens unterscheiden?«

»Da ist nichts Gutes an diesen prophetischen Träumen. Ich kann Euch nur sagen, dass man sie nicht fehldeuten kann. Es ist so, als wären sie wirklicher und deutlicher als die tatsächlichen Erinnerungen, und nicht anders herum.« Ein plötzlicher Verdacht ließ ihre Stimme hart werden. »Weshalb fragt Ihr?«

Unruhig klopfte er sich mit den Fingern gegen seine ausladende Hüfte. »Ich dachte, Ihr könntet mich vielleicht unterweisen.«

»Wie bitte? Mein geistlicher Beistand sucht meinen geistlichen Beistand?« Sie versuchte, die ganze Geschichte in spöttischem Tonfall abzutun, obwohl sich in ihrem Magen eine eisige Kugel ballte. »Was würde die Kirche wohl dazu sagen?«

»Gewiss nichts Schlechtes, Majestät. Welcher Lehrling würde nicht den Rat eines Meisters einholen, wenn er könnte? Wenn er sich selbst vor eine Aufgabe gestellt sähe, die seine Fähigkeiten bei weitem übersteigt?«

Ista kniff die Augen zusammen. Bei den fünf Göttern — und nie war dieser Ausspruch treffender gewesen —, was für Träume hatten ihn heimgesucht? Lag in diesen Träumen vielleicht ein hagerer Mann auf einem Bett in einer finsterer Kammer — in einen Schlaf versunken, der eher an den Tod erinnerte? Doch sie würde sich hüten, auch nur anzudeuten, dass sie selbst solche Visionen hatte. »Was habt Ihr für Träume?«

»Ich habe von Euch geträumt.«

»Warum nicht? Menschen träumen von denen, die sie kennen.«

»Ja, aber dieser Traum kam eher … schon bevor ich Euch an jenem ersten Tag auf der Straße bei Valenda gesehen habe.«

»Vielleicht wart Ihr als Kind einmal in Cardegoss, oder anderswo, wenn Ias und ich auf einem Umritt waren? Vielleicht hat Euer Vater oder sonst jemand Euch auf seine Schultern gesetzt, damit Ihr den königlichen Zug beobachten konntet.«

Er schüttelte den Kopf. »Wart Ihr damals schon in Ser dy Ferrejs Begleitung? Habt Ihr damals schon Gewänder in Schwarz und Lavendel getragen, und seid Ihr von einem Reitknecht geführt eine Landstraße entlanggeritten? Wart Ihr vierzig, und traurig und blass? Ich glaube nicht, Majestät.« Kurz schaute er zur Seite. »Auch der Dämon in dem Frettchen hat Euch erkannt. Was hat er gesehen, das ich nicht sehen kann?«

»Ich habe keine Ahnung. Habt Ihr ihn nicht danach gefragt, ehe Ihr ihn fortgeschickt habt?«

Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Zu der Zeit wusste ich nicht, was ich hätte fragen sollen. Erst später hatte ich weitere Träume … eindringlichere Träume.«

»Was für Träume, dy Cabon?« Ista flüsterte beinahe.

»Ich träumte von dem Abendessen in der Burg zu Valenda. Von uns allen hier, die wir auf Reisen sind … beinahe dieselben Leute, die tatsächlich hier versammelt sind. Manchmal waren Liss und Ferda und Foix dabei, manchmal andere.« Er blickte zu Boden, schaute dann wieder auf und gestand: »Der Tempel in Valenda hat mich niemals als Euren geistlichen Beistand ausgewählt. Sie haben mich nur hinaufgeschickt, um die Entschuldigungen von Hochwürden Tovia zu überbringen. Ich sollte Euch mitteilen, dass sie Euch Bescheid gibt, sobald sie zurück ist. Ich habe die Leitung Eurer Pilgerfahrt gestohlen, Majestät, weil ich dachte, mein Gott hätte es mir so befohlen.«

Ista öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, atmete dann aber nur aus. Sie umklammerte den jungen Baum, an dem sie lehnte, um das Zittern ihrer Hände zu beruhigen, und mit betont unbeteiligter Stimme sagte sie: »Erzählt weiter.«

»Ich habe gebetet. Ich habe uns nach Casilchas gelenkt, damit ich Rücksprache mit meinen Oberen halten kann. Dann … habt Ihr mit mir gesprochen. Und die Träume hörten auf. Meine Oberen rieten, ich solle mich zusammennehmen und tatsächlich zu Eurem geistlichen Beistand werden, nachdem ich nun schon so weit gegangen war. Und, Majestät, ich habe es wirklich versucht.«

Ista machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand, war aber nicht sicher, ob er es in der zunehmenden Dunkelheit erkennen konnte. Seine seltsamen Überzeugungen, was ihre spirituellen Gaben betraf, damals in Casilchas, rührten also nicht nur von alten Gerüchten her, sondern von viel unmittelbareren Quellen.

Zwischen den Bäumen flammte Feuerschein aus zwei Gruben auf, die Istas Männer im sandigen Flussufer ausgehoben hatten. Fröhlich kämpfte der Schein gegen die dichter werdende Finsternis an. Die Feuer wirkten so … unbedeutend vor den aufragenden Felsgraten. »Die Zähne des Bastards« hieß diese Bergkette, denn in den höher gelegenen Pässen bekamen die Reisenden ihren Biss zu spüren.

»Aber dann haben die Träume wieder angefangen, vor ein paar Nächten. Neue Träume. Besser gesagt, ein neuer Traum, der sich dreimal wiederholte. Es war auf einer Straße, die ganz so aussah wie diese hier. In genau so einer Gegend.« Seine weißen Ärmel bewegten sich in der Dunkelheit. »Ich werde von Männern überholt, von roknarischen Kriegern, vierfältigen Ketzern. Sie zerren mich von meinem Maultier. Sie …« Abrupt brach er ab.

»Nicht alle prophetischen Träume erfüllen sich. Zumindest nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen«, wandte Ista vorsichtig ein, denn seine Sorge war echt, das spürte sie.

»Das ist auch gar nicht möglich«, fuhr er fort. »Denn in jeder Nacht haben sie mich auf eine andere Weise grausam umgebracht.« Er sprach langsamer, zweifelnd. »Aber sie haben immer mit den Daumen angefangen.«

Und sie und Liss hatten sich über seinen Kater lustig gemacht! Dabei hatte er wahrscheinlich nur versucht, seine Träume zu ertränken. Aber das war nicht möglich. Ista hatte es selbst versucht, vor langer Zeit an Ias’ Hof.

»Ihr hättet mir davon erzählen sollen«, sagte sie. »Viel eher schon.«

»Es kann hier keine Roknari geben! Jedenfalls nicht jetzt. Sie müssten zwei Herzogtümer durchqueren, um hierher zu gelangen. Das ganze Land wäre in Aufruhr.« Er hörte sich an, als wolle er seine düstere Befürchtungen mittels reiner Vernunft vertreiben. »Dieser Traum muss sich auf irgendeine andere, fernere Zukunft beziehen.«

Man kann die Dunkelheit nicht mit dem Verstand zurückdrängen. Man benötigt ein Feuer, um sie zu erhellen! Woher kam dieser Gedanke? »Vielleicht hat der Traum gar nichts mit der Zukunft zu tun. Manchmal sind es nur Warnungen. Wenn man sie ernst nimmt, erfüllt die Drohung sich nicht.«

Seine Stimme erklang ganz leise aus der Dunkelheit. »Ich fürchte, ich habe die Götter enttäuscht. Und das soll meine Strafe sein.«

»Nein«, widersprach Ista. »Die Götter sind viel rücksichtsloser. Wenn Ihr ihnen nicht mehr von Nutzen sein könnt, haben sie keinerlei Interesse mehr an Euch. Sie legen Euch beiseite und suchen sich einen Ersatz, so wie ein Maler einen verkrusteten, unbrauchbaren Pinsel fortwirft.« Sie zögerte. »Wenn Ihr immer noch ihre Peitsche zu spüren bekommt, und wenn sie Euch antreiben, dann wollen sie etwas von Euch, das sie bisher nicht bekommen haben.«

»Oh«, sagte er kraftlos.

Ista wünschte sich fort von hier. Gab es eine Möglichkeit, diese Straße zu verlassen? Der Weg zurück nach Vinyasca war inzwischen länger als der bis zum nächsten Ort. Konnten sie dem Flusslauf bis hinunter in die Ebenen folgen? Sie dachte an Wasserfälle, Dornengestrüpp, schroffe Felsen, über die sie und die anderen weder reiten noch ihre Pferde führen konnten. Man würde sie für närrisch halten, wenn sie einen solch unsicheren Weg vorschlug. Ista erschauerte.

»Jedenfalls habt Ihr Recht, was die Roknari betrifft«, sagte sie. »Vereinzelte Spitzel oder kleine, gut getarnte Gruppen können vielleicht so weit in den Süden vordringen, aber kein Trupp, der stark genug wäre, unsere gut bewaffnete Wachtruppe zu überwältigen. Selbst mit Foix muss man noch rechnen.«

»Das stimmt«, räumte er ein.

Ista biss sich auf die Lippe, sah sich um und vergewisserte sich, dass der junge Mann zurück zu den anderen gegangen und außer Hörweite war. »Was wird mit Foix geschehen, dy Cabon? Einen Augenblick habe ich … Es war so, als hätte ich die Seele des Bären gesehen. Sie war noch stärker zerfressen und schlimmer verfallen als der Leib, und sie wand sich in den Todesqualen einer fortschreitenden Fäulnis. Wird auch Foix …?«

»Die Gefahr besteht, ja. Aber nicht sofort.« Dy Cabons Stimme wurde fester, als er sicheren Boden unter den Füßen fühlte. Seine weiß gekleidete Gestalt straffte sich. »Er hat durch Zufall etwas eingefangen, was manch verworfener oder kurzsichtiger Mann absichtlich zu erlangen sucht. Einen Dämon einzufangen und ihn nach und nach mit Happen des eigenen Selbst zu füttern, im Austausch für seine Hilfe, machte einen Menschen zu einem Zauberer, jedenfalls eine Zeit lang — in manchen Fällen für sehr lange Zeit, wenn der Betreffende besonders geschickt oder vorsichtig ist.«

»Und wer behält am Ende die Oberhand?«

Dy Cabon räusperte sich. »Mit der Zeit fast immer der Dämon. Doch bei diesem ungeformten Elementargeist wird Foix zu Beginn der Meister sein, falls er sich darauf einlässt. Doch ich habe nicht vor, diese Sache mit ihm zu bereden, oder ihn auf die Idee zu bringen. Und ich möchte Euch ebenfalls bitten, Vorsicht walten zu lassen, Majestät. Je mehr sie sich miteinander verflechten, umso schwieriger ist es, sie wieder zu trennen.«

Er senkte die Stimme und fuhr fort: »Doch woher kommen diese Dämonen? Durch welchen Riss in den Mauern der Hölle strömen sie plötzlich in so großer Zahl in diese Welt? Meine Kirche ist dazu berufen, in dieser Sache als Aufpasser zu wirken, so wie die Ritter aus den Orden von Sohn und Tochter im hellen Sonnenlicht ausreiten, bewaffnet mit Schwert und Schild gegen die körperlichen Übel dieser Welt. Die Diener des fünften Gottes wandern allein in der Dunkelheit, gerüstet mit den Waffen des Geistes.« Er seufzte tief. »Gerade jetzt hätte ich lieber eine wirksamere Waffe.«

»Der Schlaf wird unseren Geist schärfen«, sagte Ista. »Vielleicht wissen wir morgen früh einen besseren Rat.«

»Ich werde darum beten, Majestät.«

Er führte sie durch das Gestrüpp zurück zu ihrem Unterschlupf. Ista verzichtete darauf, ihm angenehme Träume zu wünschen. Oder überhaupt irgendwelche Träume.


Der besorgte Ferda weckte die Gefährten bei Morgengrauen, nur seinen Bruder nicht. Erst als das Frühstück bereitet war, kauerte er sich neben dessen Lager nieder und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Liss kam gerade an Ista vorbei, einen Sattel über der Schulter. Sie hielt kurz inne, beobachtete Ferdas besorgte Zärtlichkeit, und kniff angespannt die Lippen zusammen.

Sie aßen in aller Eile, brachen das Lager ab und folgten bald darauf wieder der steinigen, gewundenen Straße. Das schroffe Hügelland erlaubte kein schnelles Vorankommen, doch Ferda führte sie mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Der Morgen verstrich, und die zurückgelegte Wegstrecke wuchs stetig.

Die Schar bewegte sich meist schweigend voran, versunken in schwermütigen Gedanken. Ista konnte nicht entscheiden, was ihr am meisten missfiel: Foix’ Übernahme durch einen Dämon oder die Träume dy Cabons. Foix’ Bärendämon mochte ein unglücklicher Zufall sein — wenn es ein Zufall war. Dy Cabons Träume jedoch waren eine deutliche Warnung, trügerisch vielleicht, wenn man ihnen folgte, aber gefährlich zu ignorieren.

Diese Verkettung unheimlicher Vorgänge in Istas Umfeld ließ ihr die Haare zu Berge stehen und machte sie zugleich wütend. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie sich in etwas hatte verwickeln lassen, das sie noch nicht erkannt hatte.

Sobald wir Maradi erreichen, machen wir kehrt und reisen nach Hause.

Doch selbst dieser Gedanke brachte ihr keine Erleichterung. Die Anspannung blieb wie eine bis zum Zerreißen gespannte Schnur. Wie der erstickende Druck, der sie an jenem Morgen in Valenda durch die Seitenpforte und in höfischen Trauergewändern und Seidenschuhen die Straße entlang getrieben hatte.

Ich muss mich bewegen. Ich kann nicht einfach still abwarten.

Das Hügelland hier war sogar noch trockener als weiter im Süden, obwohl die Flüsse immer noch angeschwollen waren vom Schmelzwasser aus den Höhen. Die knorrigen Pinien waren hier kleiner und wuchsen weiter verstreut. Immer häufiger kam die Reisegruppe an ausgedehnten, kahlen Geröllfeldern vorüber. Als sie wieder einmal die Kuppe einer Anhöhe überquerten, warf dy Cabon einen Blick über die Schulter zurück auf den Weg, den sie gekommen waren. Abrupt brachte er sein Maultier zum Stehen. »Was ist das?«

Ista drehte sich halb im Sattel. Mehrere Reiter kamen soeben über den Kamm des hinter ihnen liegenden Berggrats.

»Ferda?«, rief Foix. »Du hast die besseren Augen.«

Ferda wendete sein Pferd und blinzelte im hellen Licht. Die Sonne brannte immer intensiver, als sie sich dem Zenit näherte. »Männer auf Pferden.« Ferdas Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Bewaffnet. Ich sehe Kettenhemden Speere. Sie tragen Rüstungen im roknarischen Stil … Bei der Hölle des Bastards, bei den fünf Göttern! Das sind Wappenröcke des Fürstentums von Jokona. Ich kann die weißen Vögel auf grünem Grund von hier aus sehen.«

Ista sah noch immer nicht mehr als undeutliche grüne Flecken. Besorgt fragte sie: »Was machen sie hier, in diesem friedlichen Landstrich? Die Wachen eines Kaufmanns, die dem Handelszug voranreiten? Gesandte?«

Ferda stand in den Steigbügeln und reckte den Hals. »Es sind Krieger. Ausschließlich Krieger.« Er blickte über seine kleine Schar hinweg und legte die Hand auf den Griff seines Schwertes. »Nun, das sind wir auch.«

»Ah … Ferda?«, sagte Foix. »Da kommen immer mehr über den Grat.«

Ista konnte sehen, wie seine Lippen sich bewegten, während er zählte. Reihe um Reihe strömten die Eindringlinge den Hügel hinunter, stets zwei oder drei nebeneinander. Ista hatte schon mehr als dreißig Mann gezählt, als dy Cabon das heilige Zeichen schlug und zu ihr hinüberschaute. Sein Gesicht war kreidebleich geworden. Er musste husten, bevor er wieder ein paar Worte hervorbrachte. »Majestät? Ich glaube nicht, dass wir diesen Männern begegnen sollten …«

»Ganz sicher nicht«, sagte Ista, der das Herz bis zum Hals klopfte.

Inzwischen waren die Anführer der fremden Kolonne auf sie aufmerksam geworden. Männer zeigten in ihre Richtung und riefen etwas.

Ferda machte eine rasche Bewegung mit einem Arm und rief seinen Begleitern zu: »Reitet weiter!«

In schnellem Kanter führte er sie die Straße hinunter. Die Maultiere mit dem Gepäck sträubten sich, als die Reiter sie hastig hinter sich her zogen, und die Männer bei den Packtieren verloren den Anschluss. Dy Cabons Tier war bereitwilliger und kam anfangs besser voran, doch bei jedem Schritt stöhnte es fast wie ein Mensch unter der schweren, hüpfenden Last auf seinem Rücken. An der nächsten Hügelkuppe, eine halbe Meile weiter, konnten sie erkennen, dass der Trupp aus Jokona einen Trupp von zwei Dutzend Reitern ausgeschickt hatte. Sie ritten im Galopp und versuchten offensichtlich, Istas Schar einzuholen.

Es würde also auf ein Rennen hinauslaufen, und darauf waren sie nicht vorbereitet. Die Packtiere konnten sie zurücklassen, doch was war mit dem Maultier des Geistlichen? Jetzt schon waren dessen Nüstern weit offen und gerötet, und Schaum stand auf seinem weißen Fell, auf dem Nacken, der Schulter und zwischen den Hinterbeinen. Und trotz der Tritte dy Cabons fiel das Tier immer wieder vom Galopp in einen scharfen Trab, der jeden Knochen im Leib des Geistlichen stauchte. Dy Cabon wurde durchgeschüttelt; seine Gesichtsfarbe wechselte von blutrot zu leichenblass, dann zu grün und wieder zu blutrot. Es schien, als müsste er sich jeden Augenblick vor Angst und Anstrengung übergeben.

Die gegnerische Truppe wirkte wie eine feindliche Heerschar auf Beutezug — doch wie, in der fünf Götter Namen, hatte sie aus dem Süden herankommen können, ganz ohne Vorwarnung? Wenn dem so war, mochte Ista für sich und die Ritter der Tochter ein Lösegeld in Aussicht stellen. Doch ein Geistlicher des fünften Gottes würde als Irrgläubiger behandelt und geschändet werden; sie würden dy Cabon zuerst die Daumen abschneiden, dann die Zunge, dann die Genitalien. Was anschließend geschah, hing von der zur Verfügung stehenden Zeit und dem Einfallsreichtum ab. Irgendeine Todesart — so schrecklich, wie die Anhänger des vierfältigen Glaubens sie sich ausdenken konnten: Erhängen oder Pfählen oder noch Schlimmeres. Drei Nächte lang hatte dy Cabon davon geträumt, wie er berichtet hatte, und jedes Mal war es anders gewesen. Ista fragte sich, welche Todesart schlimmer sein könnte als Pfählung.

Die Landschaft bot nur wenig Deckung. Die Bäume waren klein; selbst wenn die Gefährten einen fanden, der groß genug war, Schatten auf die Straße zu werfen, so zweifelte Ista doch daran, dass sie den Geweihten hinaufheben konnten. Und seine weißen Roben, so schmutzig sie auch waren, würden wie ein Leuchtfeuer zwischen den Blättern schimmern. Auch zwischen den Büschen wären sie eine halbe Meile weit zu sehen, genau wie sein Maultier.

Doch als sie eine weitere Anhöhe überquerten, waren sie eine Zeit lang wieder außer Sicht für ihre Verfolger. Und auf dem Grund der Senke …

Ista trieb ihr Pferd voran, ritt an Ferdas Seite und rief: »Der Geistliche! Sie dürfen ihn nicht bekommen!«

Er blickte nach hinten über seine Truppe hinweg und nickte zustimmend. »Ein anderes Pferd?«, stieß er skeptisch hervor.

»Das reicht nicht«, rief Ista und zeigte nach vorn: »Verstecken wir ihn in dem Durchlass dort!«

Sie zügelte ihr Tier und ließ die anderen vorüberreiten, bis dy Cabons erschöpftes Maultier auf gleicher Höhe mit ihr war. Foix und Liss blieben an ihrer Seite.

»Dy Cabon!«, rief sie. »Habt Ihr jemals geträumt, dass man Euch aus einer Durchflussröhre zerrt?«

»Nein, Majestät«, gab er zwischen den Stößen, die jeder Schritt des Maultieres ihm versetzte, mit zitternder Stimme zurück.

»Dann werden wir Euch in der da verstecken, bis sie alle über Euch hinweggeritten sind.« Auch Foix war im Fall einer Gefangennahme in größter Gefahr, sollten die Anhänger des vierfältigen Glaubens herausfinden, dass er von einem Dämon befallen war. Sie mochten ihn leicht für einen Zauberer halten und bei lebendigem Leibe verbrennen. »Habt Ihr geträumt, dass Foix bei Euch ist?«

»Nein!«

»Foix! Könnt Ihr bei ihm bleiben — ihm helfen? Und haltet die Köpfe unten. Kommt nicht heraus, was auch geschieht!«

Foix blickte die Straße entlang zu dem Versteck, auf das Ista deutete. Er verstand den Plan anscheinend sofort: »Selbstverständlich, Majestät!«

Über dem Durchlass hielten sie rasch an. Der kleine Bach füllte das Rohr nicht gänzlich aus, obwohl es eine sehr beengte, nasse und unbequeme Deckung abgeben würde, insbesondere für dy Cabons massigen, zitternden Leib. Foix sprang vom Pferd, warf Pejar die Zügel zu und fing den keuchenden Geistlichen auf, als dieser beinahe von seinem Reittier kippte. »Wickelt das um Eure weißen Roben!« Foix warf seinen grauen Mantel über dy Cabon und drängte ihn von der Straße. Eine andere Wache zerrte grimmig dy Cabons Maultier hinter sich her; von seiner schweren Last befreit, fiel es wieder in leichten Galopp. Doch ein leichter Galopp würde nicht ausreichen, befand Ista.

»Passt aufeinander auf!«, rief sie verzweifelt. Doch schon zwängten die beiden sich in den niedrigen Einlass der Röhre, und Ista wusste nicht, ob sie ihre Worte überhaupt hörten.

Dann ging es weiter. Noch jemand durfte den rauen Kriegern nicht in die Hände fallen. »Liss!«, rief Ista. Das Mädchen ritt an ihre Seite. Istas Pferd war nass vor Schweiß und keuchte, doch Liss’ langbeiniger Fuchs lief leichtfüßig dahin.

»Reite voraus …«

»Majestät, ich werde Euch nicht im Stich lassen …«

»Hör zu, dummes Ding! Reite voraus und warne jeden, den du triffst: Plünderer aus Jokona sind unterwegs! Du musst das Umland vorwarnen. Suche nach Hilfe, und schicke sie uns!«

»Wie Ihr befehlt, Majestät!«

»Reite schnell wie der Wind, und sieh nicht zurück!«

Liss salutierte, beugte sich tief über den Hals ihres Pferdes und preschte davon. Die drei, vier Meilen Galopp, die schon hinter ihnen lagen, hatten das Tier offensichtlich erst warm werden lassen. Wenige Augenblicke später hatte die Fuchsstute den ganzen Trupp hinter sich gelassen.

Gut, Mädchen, gut! Du musst nicht einmal schneller sein als die Jokoner, solange du nur schneller bist als wir …

Sie gelangten auf den nächsten Hügelkamm, wo die Straße eine Biegung machte. Ista blickte zurück. Weder von dem Geistlichen noch von Foix war etwas zu sehen. Die ersten jokonischen Reiter setzen im Galopp über den Durchlass hinweg, ohne innezuhalten oder auch nur einen Blick nach unten zu werfen. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die Beute vor ihnen konzentriert. Die Spannung in Istas Brust löste sich ein wenig, auch wenn ihr Atem weiterhin keuchend ging.

Schließlich wandten ihre rasenden Gedanken sich dem eigenen Schicksal zu. Sollte sie ihre Tarnung aufrechterhalten, wenn man sie gefangen nahm? Welchen Wert würden die Jokoner einer entfernten weiblichen Verwandten des wohlhabenden Herzogs von Baocia beimessen? Würde der Rang einer Sera dy Ajelo ausreichen, um nicht nur ihre Sicherheit zu erkaufen, sondern auch die ihrer Männer? Doch die Königinwitwe von Chalion, die leibliche Mutter der Königin Iselle, war ein viel zu kostbarer Preis, als dass er in die schmutzigen Hände irgendwelcher räuberischer Jokoner fallen durfte.

Sie schaute sich um und blickte in die grimmigen, angespannten Gesichter ihrer Begleiter. Ich will nicht, dass diese treuen jungen Männer für mich sterben. Ich will nicht, dass irgendjemand für mich stirbt, nie wieder.

Ferda lenkte sein Pferd an ihre Seite und wies nach hinten. »Majestät, wir müssen die Maultiere zurücklassen!«

Sie nickte und rang nach Luft. Ihre Beine schmerzten, so krampfhaft hatte sie sich an die bebenden Flanken ihres Reittiers geklammert. »Dy Cabons Satteltaschen … müssen sie loswerden … verstecken. Seine Bücher und Aufzeichnungen … würden ihn verraten. Sie könnten umkehren und nach ihm suchen! Und meine Papiere auch … Ich habe Briefe unter meinem wirklichen Namen …«

Ferdas Miene zeigte, dass er alles mitbekommen hatte. Er richtete sich in den Steigbügeln auf und ließ sich zurückfallen. Ista drehte sich halb im Sattel und nestelte an den Schnüren aus ungegerbtem Leder, mit denen die Taschen über dem Pferderücken befestigt waren. Zum Glück hatte Liss kunstvolle Knoten geknüpft: Sie hielten zwar fest, ließen sich aber leicht lösen, als Ista daran zog.

Ferda erschien wieder neben ihr. Nun lagen die beiden schweren Gepäckstücke des Geistlichen über seinem Sattelknopf. Ista blickte zurück: Die losgebundenen Packtiere und dy Cabons weißes Maultier fielen hinter ihnen zurück, kamen stolpernd zum Stehen und trotteten erleichtert von der Straße.

Sie hielten auf eine Brücke zu, die einen rasch fließenden Gebirgsbach überspannte. Ferda streckte auffordernd einen Arm aus, und Ista schwang ihre Taschen zu ihm hinüber. Auf der Brücke ließ er sein Pferd auf der Hinterhand steigen und schleuderte das Gepäck in weitem Bogen über die bröckelnde Steinbalustrade auf der flussabwärts gelegenen Seite — erst das eine Paar, dann das andere. Die Taschen trieben davon, prallten gegen Felsen und versanken. Ista dachte mit Bedauern an die Bücher des Geistlichen und an ihre Geldbörsen, aber nicht an ihre belastenden Briefe oder an weitere Belege für ihre wahre Identität.

Diese Vorsichtsmaßnahme kostete sie noch mehr vom unablässig schrumpfenden Abstand zu den vordersten Jokonern. Ista konzentrierte sich nun darauf, ihr zunehmend müdes Pferd über den nächsten Hügelkamm zu treiben. Vielleicht ließen sich ihre Verfolger ja von den Packtieren ablenken und kamen langsamer voran, wenn sie versuchten, die streunenden Tiere einzufangen. Zumindest einige der Verfolger, denn wie es aussah, hatte der Feind viele Reiter.

Was für Krieger es waren, schien allerdings deutlich. Die üblen Spielchen mit Plünderzügen und Vergeltungsschlägen spielten beide Seiten nun schon seit Generationen entlang jener Grenzen, die von den Quintariern aus Chalion nun langsam zurück nach Norden verschoben wurden. In den umkämpften Regionen war es für die Männer mittlerweile ein Beruf, ihren Lebensunterhalt mit Plünderungen zu verdienen, als wäre es ein Gewerbe wie jedes andere. Mitunter wurde das Spiel nach sorgsam ausgearbeiteten Regeln der Höflichkeit geführt, mit geschäftlichen Absprachen bezüglich der Lösegelder und bizarren Wettkämpfen um Ruhm und Ehre. Dann wieder gab es überhaupt keine Regeln, und die Ehre verlor sich in Schweiß und Schreien und blutigem Grauen.

Wie entschlossen waren ihre Verfolger? Sie waren scheinbar vom Himmel gefallen. Nun, da die Gefährten sich über diese entlegene Gebirgsstraße plagten, lagen anderthalb Provinzen zwischen ihnen und den Grenzen Jokonas. Waren es frische Truppen, die versuchten, sich in eine günstige Angriffsposition zu bringen — mit welchem Ziel auch immer? Oder waren es erschöpfte Krieger auf hastigem Rückzug? Wenn sie die Farben des Fürsten trugen, war es zumindest kein bunt zusammengewürfelter Haufe aus jüngeren Söhnen und Halunken, die mitgehen ließen, was ihnen in die Hände fiel, und die kaum besser waren als eine Räuberbande. Dies hier aber, so schien es, waren Männer, die mehr Disziplin besaßen und ein bestimmtes Ziel verfolgten.

Als Ista auf ihrem taumelnden Pferd die nächste Anhöhe erreichte, hatte sie wieder einen guten Ausblick auf die Straße vor sich. Liss’ hoch gewachsener Fuchs war ihnen schon weit voraus und galoppierte immer noch unermüdlich.

Plötzlich stockte Ista das Herz. Ein weiteres Dutzend jokonischer Reiter stürmte den strauchbewachsenen Abhang hinunter auf Liss zu — offensichtlich ein Trupp Kundschafter, der dem Hauptheer vorausritt. Ista versuchte, Winkel, Entfernungen und Geschwindigkeiten abzuschätzen. Die Jokoner preschten heran, als wollten sie Liss gleichsam von der Straße fegen, so wie ein Falke ein Eichhörnchen aus dem Geäst fischt. Liss hatte die Reiter noch nicht gesehen, und für einen Warnruf war sie schon zu weit weg. Ferda richtete sich in den Steigbügeln auf. Hilfloses Entsetzen spiegelte sich auf seiner Miene. Er trieb sein Pferd mit der Gerte an, doch das erschöpfte Tier konnte nicht schneller.

Näher und näher kamen die Reiter — und endlich schaute Liss zur Seite und bemerkte sie. Selbst ihre ausdauernde Stute musste an den Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangt sein. Liss preschte an den vorderen Reitern vorüber. Eine Armbrust schimmerte, ein Bolzen sirrte durch die Luft. Ferda schrie gequält auf, doch die Entfernung war zu groß gewesen, und der Schütze saß auf einem unruhig schwankenden Pferderücken, sodass der Schuss sein Ziel weit verfehlte.

Die Patrouille erreichte die Straße. Ihre Anführer gestikulierten heftig. Zwei Reiter trennten sich vom Trupp und folgten Liss; der Rest machte kehrt, formierte sich auf der Straße und wartete ab.

Ferda fluchte, blickte zurück, dann wieder nach vorn, und biss die Zähne zusammen. Er schlug den Mantel zurück und berührte den Schwertgriff, wobei er Ista mit einem besorgten Blick musterte und offenbar darüber nachdachte, wie er sie beschützen konnte, falls seine schwindende Schar durch dieses neue Hindernis brach. Immer mehr Reiter strömten über die letzte Anhöhe; die Reihe nahm scheinbar kein Ende.

War erst Blut vergossen, würden die Ereignisse rasch außer Kontrolle geraten. Tote würden nach Vergeltung schreien.

»Ferda!«, stieß Ista hervor. Es war kaum mehr als ein Krächzen. »Es gibt kein Entkommen. Wir müssen Halt machen und die Bedingungen unserer Kapitulation aushandeln.«

»Auf keinen Fall, Majestät!« Gequält verzog er das Gesicht. »Bei meinem Eid und meiner Ehre, nein! Wir werden sterben, um Euch zu beschützen!«

»Ihr könntet mich besser beschützen, wenn Ihr am Leben bleibt und mir mit Verstand und Selbstbeherrschung zur Seite steht, Ferda!« Zumal der bessere Teil des Verstandes und der Selbstbeherrschung ihrer Schar am Durchflussrohr zurückgeblieben war. Ista atmete tief durch, kämpfte moralische Bedenken nieder, die größer waren als die körperliche Angst, und sagte schließlich: »Wir halten an. Das ist ein Befehl!«

Ferda biss die Zähne zusammen, doch ihm blieb keine Wahl. Die Masse der Jokoner war an sie herangekommen und trieb sie in die Reihe der Feinde, die auf der Straße Aufstellung genommen hatte. Ista konnte bei den wartenden Reitern ein halbes Dutzend schussbereiter Armbrüste erkennen, die diesmal gezielter schießen würden.

Ferda hob die Hand. »Anhalten!« Die erschöpften Pferde seiner Schar kamen ungeordnet zum Stehen. Die Männer schlugen ihre Mäntel zurück und griffen nach den Waffen. »Stecken lassen!«, kommandierte Ferda.

Einige Wachen schrien bestürzt auf, anderen liefen Tränen der Hilflosigkeit und Scham über die geröteten Gesichter. Doch sie gehorchten. Sie kannten die Regeln des Spiels so gut wie Ista. Und genauso gut wussten sie, wie oft diese Regeln gebrochen wurden.

Die Jokoner kamen heran — die Schwerter gezogen, die Armbrüste und Speere bereit —, formierten zu beiden Seiten von Istas Trupp und näherten sich langsam.

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