Achtes Kapitel Herrn Bremser geht ein Licht auf


Freitag kann Pünktchen eine Stunde früher als sonst aus der Schule. Direktor Pogge wußte das und schickte den Chauffeur mit dem Auto bin, daß er das Mädchen mit dem Wagen heimführe. Um diese Zeit brauchte er das Auto noch nicht, und Pünktchen fuhr so gern im Auto.

Der Chauffeur legte die Hand an die Mütze, als sie aus dem Portal der Schule trat, und öffnete den Schlag. Sie lief auf ihn zu und gab ihm begeistert die Hand. "Tag, Herr Hollack", sagte sie. Die andern kleinen Mädchen freuten sich schon. Denn wenn Pünktchen Pogge mit dem Wagen abgeholt wurde, durften stets so viele mitfahren, wie hineingingen. Heute aber drehte sich Pünktchen auf dem Trittbrett herum, blickte alle betrübt an und sagte: "Kinders, nehmt mir's nicht übel, ich fahre allein." Da standen nun die andern vorm Auto wie die begossenen Pudel. "Ich habe etwas Wichtiges vor", erklärte Pünktchen. "Und da wärt ihr mir nur im Wege." Dann setzte sie sich ganz allein in das große Auto, nannte dem Chauffeur eine Adresse, er stieg auch ein, fort ging's, und zwanzig kleine Mädchen blickten traurig hinter dem schönen Auto her.

Nach ein paar Minuten hielt der Wagen vor einem großen Gebäude, und das war schon wieder eine Schule!

"Lieber Kerr Hollack", sagte Pünktchen, "einen kleinen Moment, wenn ich bitten dürfte." Herr Hollack nickte, und Pünktchen lief rasch die Stufen hinan. Es war noch Pause. Sie kletterte in die erste Etage und fragte einen Jungen, wo das Lehrerzimmer sei. Er führte sie hin. Sie klopfte. Weil niemand öffnete, klopfte sie noch einmal, und zwar ziemlich heftig.

Da ging die Tür auf. Ein großer junger Herr stand vor ihr und kaute eine Stulle.

"Schmeckt's?" fragte Pünktchen.

Er lachte, "Und was willst du noch wissen?"

"Ich beabsichtige, Herrn Bremser zu sprechen", erklärte sie. "Mein Name ist Pogge."

Der Lehrer schluckte einmal und sagte dann: "Na, da komm mal rein." Sie folgte ihm, und sie kamen in ein großes Zimmer mit vielen Stühlen. Auf jedem der vielen Stühle saß ein Lehrer, und Pünktchen kriegte bei diesem schauerlich schönen Anblick Herzklopfen. Ihr Begleiter führte sie ans Fenster, dort lehnte ein alter, dicker Lehrer mit einer uferlosen Glatze. "Bremser", sagte Pünkichens Begleiter, "darf ich dir Fräulein Pogge vorstellen? Sie will dich sprechen."

Dann ließ er die beiden allein.

"Du willst mich sprechen?" fragte Heir Bremser.

"Jawohl", sagte sie. "Sie kennen doch den Anton Cast?"

"Er geht in meine Klasse", erklärte Herr Bremser und guckte aus dem Fenster.

"Eben, eben", meinte Pünktchen befriedigt. "Ich sehe schon, wir verstehen uns."

Herr Bremser wurde langsam neugierig. "Also, was ist mit dem Anton?"

"In der Rechenstunde eingeschlafen ist er", erzählte Pünktchen. "Und seine Schularbeiten gefallen Ihnen leider auch nicht mehr."

Herr Bremser nickte und meinte: "Stimmt." Inzwischen waren noch ein paar andere Lehrer hinzugetreten, sie wollten hören, was es gebe.

"Entschuldigen Sie, meine Herren", sagte Pünktchen, "wollen Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze begeben? Ich muß mit Herrn Bremser unter vier Augen sprechen." Die Lehrer lachten und setzten sich wieder auf ihre Stühle. Aber sie sprachen fast gar nicht mehr und spitzten die Ohren.

"Ich bin Antons Freundin", sagte Pünktchen. "Er hat mir erzählt, Sie wollten, wenn das so weiterginge, seiner Mutter einen Brief schreiben."

"Stimmt. Heute hat er sogar während der Geographiestunde ein Oktavheft aus der Tasche gezogen und darin gerechnet. Der Brief an seine Mutter geht heute noch ab."

Pünktchen hätte gern einmal probiert, ob man sich in der Glatze von Herrn Bremser spiegeln konnte, aber sie hatte jetzt keine Zeit. "Nun hören Sie mal gut zu", sagte sie. "Antons Mutter ist sehr krank. Sie war im Krankenhaus, dort hat man ihr eine Pflanze herausgeschnitten, nein, ein Gewächs, und nun liegt sie seit Wochen zu Haus im Bett und kann nicht arbeiten."

"Das wußte ich nicht", sagte Herr Bremser.

"Nun liegt sie also im Bett und kann nicht kochen. Aber jemand muß doch kochen! Und wissen Sie, wer kocht? Anton kocht. Ich kann Ihnen sagen, Salzkartoffeln, Rührei und solche Sachen, einfach großartig!"

"Das wußte ich nicht", antwortete Herr Bremser.

"Sie kann auch seit Wochen kein Geld verdienen. Aber jemand muß doch Geld verdienen. Und wissen Sie, wer das Geld verdient? Anton verdient das Geld. Das wußten Sie nicht, natürlich." Pünktchen wurde ärgerlich. "Was wissen Sie denn eigentlich?"

Die anderen Lehrer lachten. Herr Bremser wurde rot, über die ganze Glatze weg.

"Und wie verdient er denn das Geld?" fragte er.

"Das verrate ich nicht" meinte Pünktchen. "Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß sich der arme Junge Tag und Nacht abrackert. Er hat seine Mutter gern, und da schuftet er und kocht und verdient Geld und bezahlt das Essen und bezahlt die Miete, und wenn er sich die Haare schneiden läßt, bezahlt er's ratenweise. Und es wundert mich überhaupt, daß er nicht während Ihres ganzen Unterrichts schläft." Herr Bremser stand still. Die anderen Lehrer lauschten. Pünktchen war in voller Fahrt. "Und da setzen Sie sich hin und schreiben seiner Mutter einen Brief, daß er faul wäre, der Junge! Da hört sich doch verschiedenes auf. Die arme Frau wird gleich wieder krank vor Schreck, wenn Sie den Brief schicken. Vielleicht kriegt sie Ihretwegen noch ein paar Gewächse und muß wieder ins Krankenhaus! Dana wird der Junge aber auch krank, das versprech ich Ihnen! Lange hält er dieses Leben cicht mehr aus."

Herr Bremser sagte: "Schimpf nur nicht so sehr. Warum hat er mir denn das nicht erzählt?"

"Da haben Sie recht", meinte Pünktchen. "Ich habe ihn ja auch gefragt, und wissen Sie, was er gesagt hat?"

"Na?" fragte der Lehrer. Und seine Kollegen waren wieder von den Stühlen aufgestanden und bildeten um das kleine Mädchen einen Halbkreis.

"Lieber beiß ich mir die Zunge ab, hat er gesagt", berichtete Pünktchen. "Wahrscheinlich ist er sehr stolz."

Herr Bremser stieg von seinem Fensterbrett herunter. "Also gut", sagte er, "ich werde den Brief nicht schreiben."

"Das ist recht", sagte Pünktchen. "Sie sind ein netter Mensch. Ich dachte mir's gleich und vielen Dank."

Der Lehrer brachte sie zur Tür. "Ich danke dir auch, mein Kind."

"Und noch eins", sagte Pünktchen. "Ehe ich's vergesse. Erzählen Sie dem Anton ja nicht, daß ich Sie besucht habe."

"Keine Silbe", meinte Herr Bremser und streichelte ihr die Hand. Da klingelte es. Der Unterricht begann wieder. Pünktchen sauste die Treppe hinunter, stieg zu Herrn Hollack ins Auto und fuhr nach Hause. Während der ganzen Fahrt wippte sie auf dem Sitzpolster und sang vor sich hin.




Die achte Nachdenkerei handelt:

Von der Freundschaft


Ob ihr mir's nun glaubt oder nicht: ich beneide Pünktchen. Nicht oft hat man eine solche Celegenheit wie sie hier, dem Freund nützlich zu sein. Und wie selten kann man seinen Freundschaftsdienst so heimlich tun! Herr Bremser wird keinen Brief an Antons Mutter schreiben. Er wird den Jungen nicht mehr herunterputzen. Anton wird erst staunen, dann wird er sich freuen, und Pünktchen wird sich heimlich die Hände reiben. Sie weiß ja, wie es dazu kam. Ohne sie wäre es schiefgegangen.

Aber Anton erfährt es nicht. Pünktchen braucht keinen Dank. Die Tat selber ist der Lohn. Alles andere würde die Freude eher verkleinern als vergrößern.

Ich wünsche jedem von euch einen guten Freund. Und ich wünsche jedem von euch die Gelegenheit zu Freundschaftsdiensten, die er jenem ohne sein Wissen erweist. Haltet euch dazu, zu erfahren, wie glücklich es macht, glücklich zu machen!


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