Direktor Pogge sprang vor der Lindenoper aus der Autodroschke, zahlte und rannte in das Theater. Seine Frau saß in einer Loge, hatte die Augen zusammengekniffen und lauschte der Musik. Man gab "Boheme", das ist eine sehr schöne Oper, und die Musik klingt, als ob es süße Bonbons regnet. Ein sehr berühmter Tenor sang die Partie des Rudolf, und die Logenplätze waren schrecklich teuer. Von dem, was die zwei Plätze gekostet hatten, hätten Anton und seine Mutter vierzehn Tage leben können.
Herr Pogge trat in die Loge. Seine Frau öffnete erstaunt die Augen und sah ihn erzürnt an. Er stellte sich hinter ihren Sessel, packte sie an den Schultern und sagte: "Komm hinaus!" Sie fand den Griff unausstehlich und wandte ihm ihr empörtes Gesicht zu. Er stand im Halbdunkel, vom Regen durchnäßt, mit hochgestelltem Mantelkragen, und blickte an ihr vorbei.
Sie hatte nie viel Respekt vor ihrem Mann gehabt, denn er war zu gut zu ihr Aber jetzt bekam sie es mit der Angst. "Was soll denn das heißen?" fragte sie.
"Komm auf der Stelle hinaus!" befahl er. Und als sie noch immer zögerte, riß er sie aus dem Sessel und zerrte sie hinter sich her aus der Loge. Sie fand es unglaublich, wagte aber nicht mehr zu widersprechen. Sie lief, von ihm gefolgt, die Treppe hinunter. Er verlangte ihre Garderobe, hängte ihr das Cape um, stampfte wütend mit dem Fuß auf, als sie sich vor den Spiegel stellte und ihr silbernes Hütchen hin und her rückte. Dann zog er sie aus dem Haus. Herr Hollack, der Chauffeur, war natürlich nicht da. Er sollte sie ja erst zum Schluß der Vorstellung mit dem Wagen abholen. Herr Pogge ließ die Hand seiner Frau nicht los. Er stolperte mit ihr durch die Pfützen über die Straße. Am liebsten hätte sie geheult. An der Ecke standen Autodroschken. Er stieß sie in die erste hinein, nannte dem Chauffeur eine Adresse und kletterte der Frau nach. Dann setzte er sich auf ihr seidenes Cape. Aber sie wagte nicht, es ihm zu sagen.
Das Auto fuhr sehr schnell. Er hockte neben ihr, machte ein abwesendes Gesicht und scharrte nervös mit den Füßen.
"Meine silbernen Schuhe sind hin", murmelte sie. "Ich habe die Überschuhe in der Garderobe vergessen."
Er antwortete nichts und stierte geradeaus. Wie kam die Person dazu, nachts, in Lumpen gehüllt und angeblich blind, mit seinem Kind betteln zu gehen? War dieses Fräulein Andacht denn vollständig übergeschnappt? "Dieses Aas?" sagte er.
"Wer?" fragte seine Frau.
Er schwieg.
"Was soll denn das alles bedeuten?" fragte die Frau. "Ich sitze im Theater, du schleppst mich in den Regen hinaus. Die Aufführuhg war erstklassig. Und die teuren Eintrittskartenl"
"Ruhe!" entgegnete er und blickte durch die Scheiben. An der Komischen Oper stand das Auto still. Sie stiegen aus. Frau Pogge musterte verzweifelt ihre durchweichten Schuhe. Nein, daß sie die Überschuhe in der Garderobe hatte stehenlassen! Fräulein Andacht mußte sie gleich morgen früh holen.
"Da!" flüsterte ihr Mann und zeigte nach der Weidendammer Brücke hinüber.
Sie sah Autos, Radfahrer, einen Schupo, eine Bettlerin mit einem Kind, einen Zeitungsverkäufer mit einen Schirm, der fünfer Autobus kam vorüber. Sie zuckte die Achseln.
Er faßte ihren Arm und führte sie vorsichtig der Brücke entgegen. "Gib auf die Bettlerin und das Kind acht", flüsterte er befehlend. Sie beobachtete, wie das kleine Mädchen Knickse michte, Streichhözer hochhielt und von Passanten Geld bekam. Plötzlich erschrak sie, sah ihren Mann an und sagte: "Pünktchen?"
Sie kamen noch näher. "Pünktchen!" flüsterte Frau Pogge und verstand nicht, was sie mit ihren eigenen Augen sah.
"Mutter ist total erblindet und noch so jung. Drei Schachteln fünfundzwanzig, Gott segne Sie, liebe Dame", sagte das Kind gerade.
Es war Pünktchen! Da lief Frau Pogge auf das im Regen frierende und knicksende Kind zu, kniete trotz der verregneten, schmutzigen Straße vor der Kleinen nieder und schloß sie in die Arme. "Mein Kind!" schrie sie außer sich.
Pünktchen war zu Tode erschrocken. So ein Pech zu haben. Das Kleid der Mutter sah skandalös aus. Die Passanten blieben stehen und dachten, es würde ein Film gedreht. Direktor Pogge riß der blinden Frau die Brille von den Augen.
"Fraulein Andacht!" rief Frau Pogge entsetzt.
Die Andacht war blaß wie der Tod, hielt schützend die Hände vors Gesicht und wußte sich keinen Rat. Ein Schutzmann tauchte auf.
"Herr Wachtmeister!" rief Herr Pogge. "Verhaften Sie diese Person hier! Es ist unser Kinderfräulein, sie geht, wenn wir nicht zu Hause sind, mit unserm Kind betteln!" Der Schutzmann zog das Notizbuch. Der Zeitungsverkäufer mit dem Regenschirm lachte.
"Nicht einsperren!" rief Fräulein Andacht. "Nicht einsperren!" Mit einem Sprung durchbrach sie den Kreis der Menschen und rannte gehetzt davon.
Herr Pogge wollte ihr nach. Aber die Leute hielten ihn fest.
"Lassen Sie das Mädchen laufen!" sagte ein alter Mann. Frau Pogge war aufgestanden und putzte mit einem Spitzentuch ihr seidenes Kleid ab, es war furchtbar dreckig.
Da tauchte Anton von der anderen Straßenseite her auf und legte Pünktchen die Hand auf die Schulter. "Was ist denn hier los?" fragte er.
"Meine Eltern haben mich erwischt", sagte Pünktchen leise, "und die Andacht ist eben durchgebrannt. Das kann gut werden."
"Wollen sie dir was tun?" fragte er besorgt.
"Das ist noch nicht raus", meinte Pünktchen achselzukkend.
"Soll ich dir helfen?" fragte er.
"Ach ja", sagte sie. "Bleibe hier, das beruhigt mich."
Herr Pogge sprach mit dem Schutzmann. Seine Frau putzte noch immer an dem teuren Kleid herum. Die Leute, die dabeigestanden hatten, gingen wieder ihrer Wege. Da blickte Frau Pogge auf, sah, daß sich ihre Tochter mit einem fremden Jungen unterhielt, und riß das Kind an ihre Seite. "Gleich kommst du zu mir!" rief sie. "Was stehst du mit dem Betteljungen zusammen?"
"Nun schlägt's dreizehn", sagte Anton. "So fein wie Sie bin ich schon lange. Daß Sie es nur wissen. Und wenn Sie nicht zufällig die Mutter meiner Freundin wären, würde ich mit Ihnen überhaupt nicht sprechen, verstanden?"
Herr Direktor Pogge wurde aufmerksam und trat hinzu.
"Das ist mein bester Freund", sagte Pünktchen und faßte ihn an der Hand. "Er heißt Anton und ist ein Prachtkerl.
"So?" fragte der Vater belustigt.
"Prachtkerl ist übertrieben", sagte Anton bescheiden. "Aber beschimpfeh laß ich mich nicht."
"Meine Frau hat es nicht so schlimm gemeint", erklärte Herr Pogge.
"Das wollen wir auch stark hoffen", sagte Pünktchen stolz und lächelte ihrem Freund zu. "So, und nun gehen wir nach Hause. Was haltet ihr davon? Anton, kommst du mit?"
Anton lehnte ab. Er mußte ja zu seiner Mutter.
"Dann kommst du morgen nach der Schule mal vorbei."
"Gut", sagte Anton und schüttelte ihr die Hand. "Wenn es deinen Eltern recht ist."
"Einverstanden", meinte Pünktchens Vater und nickte. Anton machte eine kleine Verbeugung und rannte fort.
"Der ist goldrichtig", erklärte Pünktchen und blickte ihm nach. Dann nahmen sie ein Taxi und fuhren heim. Das Kind saß zwischen den Eltern und spielte mit Groschen und Streichholzschachteln.
"Wie ist das nur alles gekommen?" fragte der Vater streng.
"Fräulein Andacht hat einen Bräutigam", berichtete Pünktchen. "Und weil der immer Geld brauchte, ging sie mit mir immer hierher. Und wir haben ja auch ganz hübsch verdient. Das kann man ohne Übertreibung sagen."
"Entsetzlich, meine Süße", rief die Mutter.
"Wieso entsetzlich?" fragte Pünktchen. "Es war kolossal spannend."
Frau Pogge sah ihren Mann an, schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, diese Dienstboten!"
Die vierzehnte Nachdenkerei handelt:
Vom Respekt
Im vorhergegangenen Kapitel steht ein Satz, der es verdient, daß wir ihn noch einmal anschauen. Es hieß dort von Frau Pogge: "Sie halte nie viel Respekt vor ihrem Mann gehabt, denn er war zu gut zu ihr."
Kann man denn überhaupt zu gut zu jemandem sein? Ich glaube schon. In der Gegend, wo ich geboren bin, gibt es ein Wort, das heißt: dummgut. Man kann vor lauter Freundlichkeit und Güte dumm sein, und das ist falsch. Die Kinder spüren es am allerersten, wenn jemand zu gut zu ihnen ist. Wenn sie etwas angesteilt haben, wofür sie sogar ihrer Meinung nach Strafe verdienten, und die Strafe bleibt aus, dann wundern sie sich. Und wenn sich der Fall wiederholt, verlieren sie Schritt für Schritt den Respekt vor dem Betreffenden.
Respekt ist etwas sehr Wichtiges. Manche Kinder tun von selber fast immer das Richtige, aber die meisten müssen es erst lernen. Und sie bedürfen dazu eines Barometers. Sie müssen fühlen: O weh, was ich da eben getan habe, war falsch, dafür verdiene ich Strafe.
Wenn dann aber die Strafe oder der Verweis ausbleibt, wenn die Kinder noch dafür, daß sie frech waren, Schokolade kriegen, sagen sie sich vielleicht: Ich will mal immer hübsch frech sein, dann kriegt man Schokolade.
Respekt ist nötig, und Respektspersonen sind nötig, solange die Kinder, und wir Menschen überhaupt, unvollkommen sind.