Neuntes Kapitel Frau Gast erlebt eine Enttäuschung


Als Anton im Schulranzen den Wohnungsschlüssel suchte, um aufzuschließen, öffnete sich die Tür ganz von selber, und seine Mutter stand vor ihm. "Mahlzeit, mein Junge", sagte sie und lächelte. "Mahlzeit", antwortete er perplex. Dann riskierte er einen Freudensprung, umarmte sie und sagte: "Ich bin so froh, daß du wieder gesund bist." Sie gingen ins Wohnzimmer, Anton setzte sich aufs Sofa und bestaunte jeden Schritts den die Mutter machte. "Es strengt noch ein bißchen an", erklärte sie und setzte sich müde neben ihn. "Wie war’s in der Schule?"

"Naumanns Richard hat in Erdkunde gesagt, in Indien wohnten die Indianer. Herrschaften, ist das ein blödes Kind. Und der Schmitz hat den Pramann gezwickt, und da ist der Pramann raus aus der Bank, und Herr Bremser hat gefragt, was es gibt. Und der Pramann hat gemeint, er müsse einen Floh haben, vielleicht sogar zwei. Und da ist der Schmitz aufgesprungen und hat gerufen, neben Jungens, die Flöhe hätten, dürfe er nicht sitzen. Seine Eltern erlaubten das nicht. Wir haben uns schiefgelacht." Anton lachte, wie ein Wiederkäuer, gleich noch mal. Dann fragte er: "Magst du heute keinen Spaß?"

"Erzähl nur ruhig weiter", sagte sie.

Er legte den Kopf auf die Sofalehne und streckte die Beine aus. "Herr Bremser war in der letzten Stunde sehr freundlich zu mir, und ich soll ihn mal besuchen, wenn ich Zeit habe." Plötzlich zuckte er zusammen: "Ich Dussel!" rief er. "Ich muß doch kochen!" Die Mutter hielt ihn zurück und zeigte auf den Tisch. Da standen schon Teller und eine große dampfende Schüssel. "Linsen mit Würstchen?" fragte er. Sie nickte, dann setzten sie sich und aßen. Anton langte tüchtig zu. Als er den Teller kahlgegessen hatte, gab ihm die Mutter mehr. Er nickte ihr begeistert zu. Dabei sah er, daß ihre Portion noch unberührt war. Nun schmeckte es ihm auch nicht mehr. Er stocherte traurig in der Linsensuppe und fischte Wurststückchen. Die Schweigsamkeit senkte sich wie ein drohender Nebel aufs Zimmer. Schließlich hielt er das nicht mehr aus. "Muttchen, habe ich nicht gefolgt? Manchmal weiß man das selber nicht... Oder ist es wegen des Geldes? Die Würstchen waren eigentlich gar nicht nötig." Er legte seine Hand zärtlich auf ihre.

Doch die Mutter trug rasch das Geschirr in die Küche. Dann kam sie zurück und sagte: "Fang immer mit Schularbeiten an. Ich komme gleich wieder." Er saß auf seinem Stuhl und schüttelte den Kopf. Was hatte er denn angestellt. Draußen schlug die Korridortür. Er öffnete das Fenster, setzte sich aufs Fensterbrett und beugte sich weit hinaus. Es dauerte ziemlich lange, bis die Mutter unten aus dem Haus trat. Sie machte kleine Schritte. Das Laufen strengte sie an. Sie ging die Artilleriestraße hinunter, dann bog sie um die Ecke.

Er setzte sich trübselig an den Tisch, holte den Ranzen und die Tinte und begann am Federhalter zu kauen.




Endlich kam die Mutter wieder. Sie hatte ehien kleinen Blumenstrauß besorgt, holte Wasser, stellte die Blumen in die blaugetupfte Vase, zupfte an den Blättern, schloß das Fenster, blieb davor siehen, wandte Anton den Rücken und schwieg,

"Schöne Blumen", sagte er, hielt die Hände gefaltet und konnte kaum atmen. "Himmelsschlüssel, wie?"

Die Mutter stand im Zimmer, als sei sie fremd. Sie sah zum Fenster hinaus und zuckte mit den Schultern. Am liebsten wäre er zu ihr hingelaufen. Aber er stand nur halb vom Stuhl auf und bat: "Sag doch ein Wort!" Seine Stimme klang heiser, und wahrscheinlich hatte sie ihn gar nicht gehört.

Und dann fragte sie, ohne sich umzuwenden: "Den wievielten haben wir heute?"

Er wunderte sich zwar, lief aber, um sie nicht noch mehr zu ärgern, zum Wandkalender hinüber und las laut: "Den 9. April."

"Den 9. April", wiederholte sie und preßte ihr Taschentuch vor den Mund.

Und plötzlich wußte er, was geschehen war! Die Mutter hatte heute Geburtstag. Und er hatte ihn vergessen!

Er fiel auf seinen Stuhl zurück und zitterte. Er schloß die Augen und wünschte nichts sehnlicher, als auf der Stelle tot zu sein... Deswegen war sie also heute aufgestanden. Und deswegen hatte sie Linsen mit Würstchen gekocht. Selber hatte sie sich einen Blumenstrauß kaufen müssen! Nun stand sie am Fenster und war von aller Welt verlassen. Und er durfte nicht einmal hingehen und sie streicheln. Denn das konnte sie ihm nicht verzeihen. Wenn er wenigstens gewußt hätte, wie man ganz schnell krank wird. Dann wäre sie natürlich an sein Bett gekommen und wieder gut gewesen. Er stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und fragte bittend: "Hast du gerufen, Mama?"

Aber sie lehnte still und unbeweglich am Fenster. Da ging er hinaus, hinüber in die Küche, setzte sich neben den Herd und wartete, daß er weinte. Aber es kamen keine Tränen. Nur manchmal schüttelte es ihn, als hielte ihn wer am Kragen.

Dann suchte er den Tuschkasten hervor und nahm eine Mark heraus. Das hatte ja nun alles keinen Sinn mehr. Er steckte die Mark in die Tasche. Ob er vielleicht doch noch hinunterlief und etwas holte? Er konnte es ja nachher durch den Briefkasten werfen und fortlaufen. Und nie mehr wiederkommen! Schokolade ließ sich leicht durch den Briefkastenspalt schieben und eine Gratulationskarte dazu. "Von Deinem tiefunglücklichen Sohn Anton", würde er darunter schreiben. So würde ihm die Mutter wenigstens ein gutes Andenken bewahren können.

Auf den Zehenspitzen schlich er aus der Küche, durch den Korridor, klinkte die Korridortür behutsam auf, trat hinaus und schloß die Tür wie ein Dieb.




Die Mutter stand noch lange am Fenster und sah durch die Scheiben, als liege dort draußen ihr armseliges, trübes Leben ausgebreitet. Nichts als Kummer hatte sie gehabt, nichts als Krankheit und Sorgen. Daß ihr Junge den Geburtstag vergessen hatte, schien ihr von heimlicher Bedeutung. Auch er ging ihr allmählich verloren wie alles vorher, und so verier ihr Leben den letzten Sinn. Als sie operiert worden war, hatte sie gedacht: Ich muß leben bleiben, was soll aus Anton werden, wenn ich jetzt sterbe? Und nun vergaß er ihren Geburtstag!

Endlich regte sich Mitleid mil dem kleinen Kerl. Wo mochte er slecken? Er hatte seine Vergeßlichkeit längst bereut. "Hast du gerufen, Mama?" hatte er noch gefragt, bevor er mutlos das Zimmer verließ. Sie durfte nicht hart sein. Er war so erschrocken gewesen. Sie durfte nicht streng sein, er hatte in den letzten Wochen ihretwegen viel ausgestanden. Erst hatte er sie jeden Tag im Krankenhaus besucht. In der Volksküche hatte er essen müssen, und Tag und Nacht war er mutterseelenallein in der Wohnung gewesen. Dann war sie nach Haus gebracht worden. Seit vierzehn Tagen lag sie im Bet, und er kochte und holte ein, und ein paarmal hatte er sogar die Zimmer mit einem nassen Lappen aufgewischt.

Sie begann ihn zu suchen. Sie trat ins Schlafzimmer. Sie ging in die Küche. Sie sah sogar in der Toilette nach. Sie machte im Korridor Licht und schaute hinter die Schränke.

"Anton!" rief sie. "Komm, mein Junge, ich bin wiedet gut! Anton!"

Sie rief bald laut und bald leise und zärtlich. Er war nicht in der Wohnung. Er war fortgelaufen! Sie wurde sehr unruhig. Sie rief bittend seinen Namen. Er war fort.

Er war fort! Da riß sie die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter, ihren Jungen zu suchen.




Die neunte Nachdenkerei handelt:

Von der Selbstbeherrschung


Mögt ihr den Anton gut leiden? Ich hab ihn sehr gern. Aber einfach davonlaufen und die Mutter sitzenlassen, das gefällt mir, offen gestanden, nicht besonders. Wo kämen wir hin, wenn jeder, der etwas falsch gemacht hat, davonrennen wollte? Das ist gar nicht auszudenken. Man darf nicht den Kopf verlieren, man muß ihn hinhalten!

Mit anderen Sachen ist es auch so. Da hat ein Junge schlechte Zensuren gekriegt oder der Lehrer hat den Eltern einen Brief geschrieben, oder ein Kind hat zu Hause aus Versehen eine teure Vase entzweigeschlagen, und wie oft liest man dann: 'Aus Angst vor Strafe geflohen. Nirgends auffindbar. Die Eltern befürchten das Schlimmste.'

Nein, Herrschaften, so geht das nicht! Wenn man etwas angestellt hat, muß man sich zusammennehmen und Rede stehen. Wenn man so große Angst vor Strafe hat, sollte man sich das gefälligst vorher überlegen.

Selbstbeherrschung ist eine wichtige, wertvolle Eigenschaft. Und was an ihr besonders bemerkenswert ist: Selbstbeherrschung ist erlernbar. Alexander der Croße zählte, um sich nicht zu unüberlegten Taten hinreißen zu lassen, jedes mal erst bis dreißig. Also, das ist ein wunderbares Rezept. Befolgt es, wenn es nötig sein sollte!

Noch besser ist es, ihr zählt bis sechzig.


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