Direktor Pogge war noch in seiner Spazierstockfabrik. Die gnädige Frau lag noch im Schlafzimmer und vertrieb sich die Zeit mit Migräne. Fräulein Andacht saß in ihrer Stube.
Pünktchen und Piefke waren bis zum Abendessen allein. Pünktchen holte bei der dicken Berta weiβen Zwirn und sagte zu dem Dackel, der etwas müde in seinem Körbchen hockte: "Nun paß mal auf, mein Kleiner!" Piefke paßte auf. Er war, solange er müde war, ein folgsamer Hund.
Das Kind riß etwas Zwirn von der Rolle, schlang das eine Ende in einern Knoten um den wackligen Zahn und befestigte das andere Ende an der Türklinke. "Jetzt wird's Ernst", sagte Pünktchen und machte "Brrrr!" Dann ging sie allmählich von der Tür weg, bis der Zwirnsfaden straff gespannt war. Sie ruckte ein wenig an, stöhnte erbärmlich und schnitt ein verzweifeltes Gesicht. Sie ging wieder zur Tür, der Zwirn wurde wieder locker. "Piefke, Piefke" erklärte sie, "das ist kein Beruf für mich." Dann lief sie noch einmal von der Tür fort, aber sie jammerte schon bevor der Faden straff war.
"Ausgeschlossen", sagte sie, "wenn der Junge hier wäre, würde ich's vielleicht riskieren." Sie lehnte sich an die Tür und dachte angestrengt nach. Dann knotete sie den Zwirn von der Klinke los.
"Gib mal Pfötchen", befahl sie. Aber das konnte Piefke noch nicht. Pünktchen bückte sich, hob den Dackel hoch und setzte ihn auf ihr kleines Schreibpult. Sie band das freie Fadenende um Piefkes linkes Hinterbein. "Und nun spring runter!" bat sie. Piefke rollte sich statt dessen zusammen und gedachte auf dem Pult einen langen Schlaf zu tun.
"Spring runter!" murmelte Pünktchen drohend und schloß, dem Schicksal ergeben, die Augen.
Der kleine Dackel spitzte, so gut das bei seinen Löffeln möglich war, die Ohren. Aber vom Springen war nach wie vor keine Rede. Pünktchen öffnete die Augen wieder. Die auf Vorrat ausgestandene Angst war umsonst gewesen. Da gab sie Piefke einen Stoß, und nun blieb ihm nichts weiter übrig: er sprang auf den Boden. "Ist der Zahn raus?" fragte sie ihn. Der Hund wußte es auch nicht. Pünktchen griff sich in den Mund. "Nein", sagte sie. "Der Faden ist zu lang, mein Sohn."
Da kletterte sie mit Piefke unterm Arm auf den Schemel, der vor dem Pult stand; dann bückte sie sich und setzte den Hund wieder aufs Pult. "Wenn das nicht hilft", murmelte sie, "laß ich mich chloroformieren." Sie gab Piefke einen kleinen Stoß, er rutschte das Pult hinab, Pünktchen stellte sich kerzengerade. Der Hund segelte über die Pultkante ins Parterre.
"Au!" schrie das Kind. Es schmeckte Blut. Piefke hoppelte in den Korb. Er war froh, daß er nicht mehr angebunden war. Pünktchen wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. "Junge, Junge", sagte sie und suchte ein Taschentuch. Schließlich fand sie eines, schob es in ihren Mund und biß darauf. Der Zwirnsfaden hing über den Korbrand. Ein kleiner weißer Zahn lag mitten im Zimmer. Pünktchen befreite den Hund von seinem Zwirn, hob den Zahn auf und tanzte durch das Zimmer. Dann sauste sie zu Fräulein Andacht.
"Der Zahn ist raus, der Zahn ist raus"
Fräulein Andacht bedeckte rasch ein Stück Papier, in der rechten Hand hielt sie einen Bleistift. "So?" sagte sie. Das war alles.
"Was ist mit Ihnen los?" fragte Pünktchen. "Sie sind seit ein paar Tagen sehr komisch, merken Sie das nicht selbst? Wo brennt's denn?" Sie stellte sich neben das Kinderfräulein, schielte heimlich nach dem Papier und sagte, als sei sie ihr eigner Großvater: "Na, nun schütten Sie mal Ihr Herz aus."
Fräulein Andacht hatte keine Lust zu beichten. "Wann hat Berta eigentlich Ausgang?" fragte sie.
"Morgen", erklärte Pünktchen. "Und wozu wollen Sie das wissen?"
"Nur so", sagte das Fräulein.
"Nur so!" rief Pünktchen aufgebracht. "Solche Antworten hab ich gern." Aber aus dem Fräulein war heute nichts herauszubringen. Jedes Wort kostete einen Taler. Da ließ sich Pünktchen, als ob sie gestolpert sei, gegen den Arm des Fräuleins fallen. Das Papier wurde sichtbar. Es enthielt lauter mit Bleistift gezogene Vierecke. 'Wohnzimmer' stand in dem einen Viereck, 'Arbeitszimmer' in dem andern. Aber dann lagen schon wieder die großen dürren Hände des Fräuleins darüber.
Pünktchen wußte nicht, was sie davon halten sollte, und dachte: Das muß ich heut abend Anton erzählen, vielleicht versteht der's.
Anderthalb Stunden später lag das Kind im Bett. Die Andacht saß daneben und las das Märchen vom Swinegel und seiner Frau vor. "Da haben Sie's", meinte Pünktchen "die beiden Schweinigel sehen aus wie Zwillinge. Ich hatte schon ganz recht, heute mittag. Wenn ich ein Zwilling wäre und der andere Zwilling hieße Karlinchen, dann könnten wir in der Turnstunde auch jedes Wettrennen gewinnen.
Dann kamen die Eltern ins Kinderzimmer. Die Mutter trug ein schönes seidenes Abendkleid und goldene Schuhe, und der Vater war im Smoking. Sie gaben der Tochter je einen Gutenachtkuß, und Frau Pogge sagte: "Schlaf gut, meine Süße.
"Wird gemacht", erklärte Pünktchen.
Der Vater setzte sich auf den Bettrand, aber seine Frau drängte: "Komm, der Generalkonsul liebt die Pünktlichkeit."
Das kleine Mädchen nickte dem Vater zu und sagte: "Direktor, macht keine Dummheiten!"
Kaum waren die Eltern fort, sprang Pünktchen aus dem Bett und rief: "Los geht's!" Fräulein Andacht rannte in ihr Zimmer und holte aus der Kommode ein altes zerrissenes Kleidchen. Das brachte sie dem Kind. Sie selber zog einen mit Flicken besetzten Rock an und einen schrecklich verschossenen grünen Jumper. "Bist du fertig?" fragte sie.
"Jawohl!" rief Pünktchen vergnügt, und dabei sah sie in ihrem zerrissenen Kleid zum Erbarmen aus. "Sie haben Ihr Kopftuch noch nicht um", sagte sie.
"Wo habe ich das denn vorgestern hingelegt?" fragte Fräulein Andacht; doch dann fand sie es, band es sich um, setzte eine blaue Brille auf, holte eine Markttasche unterm Sofa vor, und so verkleidet schlichen die beiden auf den Zehenspitzen aus dem Haus.
Zehn Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatten, kam Berta die Treppe, die zu ihrem höher gelegenen Mädchenzimmer führte, leise herabgeschlichen, so leise die dicke Berta eben schleichen konnte. Sie klopfte sacht an Pünktchens Tür, aber niemand antwortete.
"Ob sie denn schon schläft, die kleine Krabbe?" fragte sie sich. "Vielleicht verstellt sie sich bloß. Da will ich ihr nun ein Stück von dem frisch gebackenen Kuchen zustekken; aber seit die Andacht, dieses dumme Luder, da ist, traut man sich rein gar nichts mehr. Neulich, wie ich die Tür aufgeklinkt habe, hat sie mich gleich bei der Gnädigen verklatscht. Der Schlaf vor Mitternacht sei der beste und dürfe nicht gestört werden. So 'n Quatsch, Schlaf vor Mitternacht! Pünktchen sieht jetzt manchmal aus, als ob sie nachts überhaupt nicht mehr schläft. Und dauernd das Getue und Getuschle. Ich weiß nicht, mir kommt hier neuerdings alles ganz komisch vor. Wenn der Direktor und Pünktchen nicht wären, wär ich längst getürmt."
"Wirst du wohl", drohte sie Piefke, der sich in seinem Körbchen vor Pünktchens Tür aufgerichtet hatte und nach dem Kuchen sprang. "Leg dich hin, du Töle, keinen Mucks! Hier hast du ein Stück, aber nun ruhig. Du bist noch der einzige im Haus, der keine Heimlichkeiten vor einem hat.
Die fünfte Nachdenkerei handelt:
Von der Neugierde
Wenn meine Mutter einen Roman liest, macht sie das so: Erst liest sie die ersten zwanzig Seiten, dann den Schluß, dann blättert sie in der Mitte, und nun nimmt sie erst das Buch richtig vor und liest es von Anfang bis Ende durch. Warum macht sie das? Sie muß, ehe sie den Roman in Ruhe lesen kann, wissen, wie er endet. Es läßt ihr sonst keine Ruhe. Gewöhnt euch das nicht an! Und falls ihr es schon so macht, gewöhnt es euch wieder ab, ja?
Das ist nämlich so, als wenn ihr vierzehn Tage vor Weihnachten in Mutters Schrank stöbert, um vorher zu erfahren, was ihr geschenkt kriegt. Und wenn ihr dann zur Bescherung gerufen werdet, wißt ihr schon alles. Ist das nicht schrecklich? Da müßt ihr dann überrascht tun, aber ihr wißt ja längst, was ihr bekommt, und eure Eltern wundern sich, warum ihr euch gar nicht richtig freut. Euch ist das Weihnachtsfest verdorben und ihnen auch.
Und als ihr heimlich im Schrank herumsuchtet und die Geschenke vierzehn Tage früher fandet, hattet ihr, vor lauter Angst, überrascht zu werden, auch keine rechte Freude. Man muß abwarten können. Die Neugierde ist der Tod der Freude.