Herr Pogge stand an der Komischen Oper mitten auf der Straße und blickte angestrengt zur Weidendammer Brücke hinüber. Er sah, wie das Kind den Vorübergehenden die Hände entgegenstreckte und dazu knickste. Manchmal blieben Passanten stehen und gaben Geld. Dann knickste die Kleine wieder und schien sich zu bedanken. Er entsann sich der gestrigen Szene zu Hause. Pünktchen hatte im Wohnzimmer gestanden, die Wand angejammert und gesagt: "Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!" Sie hatte geprobt! Es war kein Zweifel möglich: Dort drüben stand sein Kind und bettelte! Ihn fror.
Er betrachtete die dürre, lange Person daneben. Natürlich war das Fräulein Andacht. Sie trug ein Kopftuch und hatte eine dunkle Brille vor den Augen. Er erkannte sie trotzdem.
Sein Kind stand in einem dünnen, alten Kleid auf der Brücke, ohne Hut, die Locken waren strähnig vom Regen. Er schlug den Mantelkragen hoch. Dabei bemerkte er, daß er noch immer die kalte Zigarre zwischen den Fingern hielt. Sie war völlig zerblättert, und er warf sie wütend, als sei sie an allem schuld, in eine Pfütze. Dann kam ein Schutzmann und wies ihn auf den Fußsteig.
"Herr Wachtmeister", sagte Herr Pogge, "ist es erlaubt, daß kleine Kinder abends hier herumstehen und betteln?"
Der Schutzmann zuckte die Achseln, "Sie meinen die beiden auf der Brücke? Was wollen Sie machen? Wer soll die blinde Frau denn sonst hierherführen?"
"Sie ist blind?"
"Ja freilich. Und dabei noch ziemlich jung. Fast jeden Abend stehen sie dort drüben. Solche Leute wollen auch leben." Der Schutzmann wunderte sich, daß ihn der Fremde ziemlich schmerzhaft am Arm packte. Dann sagte er: "Ja, es ist ein Elend."
"Wie lange stehen denn die zwei normalerweise dort?" "Zwei Stunden wenigstens, so bis gegen zehn." Herr Pogge trat wieder von dem Trottoir herunter. Er machte ein Gesicht, als wollte er hinüberstürzen, dann besann er sich und bedankte sich bei dem Beamten. Der Schutzmann grüßte und ging weiter.
Plötzlich stand Gottfried Klepperbein da, grinste übers ganze Gesicht und zupfte ihn am Mantel. "Na, was habe ich gesagt, Herr Direktor?" flüsterte er. "Habe ich Ihner zuviel versprochen?"
Herr Pogge schwieg und starrte über die Straße.
"Auf der anderen Seite der Brücke steht der Freund vom Fräulein Tochter", sagte Klepperbein gehässig. "Der bettelt auch. Aber richtig. Anton Gast heißt er. Der gehörte schon längst in Fürsorge."
Herr Pogge schwieg und betrachtete Anton. Mit einem Betteljungen war Pünktchen befreundet? Und warum verkauften seine Tochter und das Kinderfräulein eigentlich Streichhölzer? Was steckte dahinter? Wozu brauchten sie denn heimlich Geld? Er wußte nicht, was er denken sollte.
"So, hiermit ware das Honorar fällig", erklärte Gottfried Klepperbein und tippte Herrn Pogge auf den Mantel. Der Direkior zog die Brieftasche, nahm einen Zehnmarkschein heraus und gab ihn dem Jungen.
"Lassen Sie die Brieftasche gleich draußen", meinte Klepperbein. "Wenn Sie mir noch zehn Mark dazugeben, sag ich's nicht weiter, was Sie gesehen haben. Sonst rede ich's nämlich rum, und dann steht's morgen in der Zeitung. Das ware Ihnen sicher peinlich!"
Jetzt riß Herrn Pogge die Geduld. Er gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß es nur so knallte. Ein paar Passanten blieben stehen und wollten sich einmischen. Aber der Junge rannte so schnell davon, daß sie dachten, es würde wohl seine Richtigkeit gehabt haben. Gottfried Klepperbein lief, so schnell ihn die Füße trugen. Die Geschichte brachte ihm schrecklich viele Ohrfeigen ein. Das war nun schon die dritte, und er beschloß, sich mit den zehn Mark zufriedenzugeben. Zehn Mark und drei Ohrfeigen, er hatte vorläufig genug.
Herr Pogge konnte es gar nicht mehr mit ansehen, wie sein Kind auf der Brücke im Regen stand. Sollte er hinüberlaufen und Pünktchen nach Hause bringen? Doch da hatte er einen Einfall, der ihm noch besser schien. Er winkte einem Taxi.
"Fahren Sie so rasch wie möglich in die Oper Unter den Linden!" rief er, setzte sich in den Wagen und fuhr fort.
Was hatte er vor?
Anton machte schlechte Geschäfte. Erstens stand er wieder auf der faulen Seite, und zweitens regnete es. Wenn es regnete, hatten es die Menschen auf der Straße noch eiliger als sonst. Sie hatten dann gar keine Lust, sich hinzustellen und das Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen. Er machte schlechte Geschäfte, aber er war guter Laune. Die Versöhnung mit seiner Mutter freute ihn so.
Plötzlich zuckte er leicht zusammen. Das war doch der Bräutigam von Fräulein Andacht, das war doch Robert der Teufel? Der Mann spazierte in einem Regenmantel und mit einer schief ins Gesicht gezogenen Mütze an dem Jungen vorbei, ohne ihn zu sehen. Anton klappte sein Köfferchen zu und folgte in gemessenem Abstand.
Der Mann ging bis ans Ende der ßrücke, dort überquerte er sie und ging langsam auf der anderen Brückenseite wieder zurück. Anton sperrte die Augen auf. Gleich mußte der Mann bei Fräulein Andacht angelangt sein. Er schob sich ganz allmählich am Geländer hin. Jetzt gab der Kerl dem Kinderfräulein ein Zeichen, und sie erschrak. Pünktchen merkte nichts. Sie knickste und klagte und wollte den Vorübergehenden partout Streichhölzer verkaufen.
Anton preßte sich, ein paar Meter von den dreien entfernt, dicht ans Geländer und beobachtete, was jetzt geschah. Der Mann gab Fräulein Andacht einen Rippenstoß, sie schüttelte den Kopf, da packte er ihren Arm, griff in die Tasche, die an dem Arm hing, wühlte darin und zog etwas Glänzendes heraus. Anton blickte ganz scharf hin: Es waren Schlüssel.
Schlüssel? Wozu holte sich der Kerl von Fräulein Andacht Schlüssel?
Er drehte sich um, Anton beugte sich über das Brückengeländer, um nicht aufzufallen, und spuckte in die Spree. Der Mann ging vorüber, und jetzt hatte er es auf einmal sehr eilig. Er lief den Schiffbauerdamm hinunter.
Anton überlegte nicht lange. Er rannte ins erste beste Restaurant, ließ sich das Telefonbuch geben und suchte unter P.
Dann holte er einen Groschen aus der Tasche und stürzte in die Telefonzelle.
Die zwölfte Nachdenkerei handelt:
Von den Schweinehunden
Gottfried Klepperbein ist ein Schweinehund. Vertreter dieser menschlichen Tiergattung kommen auch schon unter Kindern vor. Das ist besonders schmerzlich. Anzeichen dafür, daß jemand ein Schweinehund ist, gibt es eine ganze Reihe. Wenn jemand faul und zugleich schadenfroh, heimtückisch und gefräßig, geldgierig und verlogen ist, dann kann man zehn gegen eins wetten, daß es sich um einen Schweinehund handelt. Aus einem solchen Schweinehund einen anständigen Menschen zu machen, ist wohl die schwerste Aufgabe, die sich ausdenken läßt. Wasser in ein Sieb schütten, ist eine Kinderei dagegen. Woran mag das liegen? Wenn man jemandem beschreibt, wie schön und wie wohltuend es ist, anständig zu sein, müßte er sich doch darum reißen, anständig zu werden, nein?
Es gibt Fernrohre, die man auseinanderziehen kann. Kennt ihr die? Sie sehen hübsch klein aus; und man kann sie bequem in die Tasche stecken. Dann kann man sie aber auch auseinanderziehen, und dann sind sie länger als einen halben Meter. So ähnlich, scheint mir, ist es mil den Schweinehunden. Und vielleicht mit den Menschen überhaupt. Sie sind als Kinder schon genau dasselbe, was sie später werden. Wie die auseinanderziehbaren Fernrohre. Sie wachsen nur, sie ändern sich nicht. Was nicht im Menschen von Anfang an drinliegt, das kann man nicht aus ihm herausholen, und wenn man sich auf den Kopf stellt...