Als Herr Direktor Pogge mittags heimkam, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte entgeistert ins Wohnzimmer. Dort stand nämlich Pünktchen, seine Tochter, mit dem Gesicht zur Wand, knickste andauernd und wimmerte dabei. Hat sie Bauchschmerzen? dachte er. Aber er hielt die Luft an und rührte sich nicht von der Stelle. Pünktchen streckte der silbern tapezierten Wand beide Arme entgegen, knickste und sagte mit zitternder Stimme: "Streichhölzer, kaufen Sie Streichhözer, meine Herrschaften!"
Neben dem Kind kauerte Piefke, Pünktchens kleiner brauner Dackel, hielt den Kopf ganz schief, wunderte sich und klopfte mit dem Schwanz den Takt dazu. Punktchen erklärte kläglich: "Haben Sie doch ein Herz mit uns armen Leuten. Die Schachtel nur zehn Pfennige." Piefke, der Hund, begann sich hinterm Ohr zu kratzen. Wahrscheinlich fand er den Preis zu hoch, oder er bedauerte, daß er kein Geld bei sich hatte.
Pünktchen streckte die Arme noch höher, knickste und stammelte: "Mutter ist völlig erblindet und noch so jung. Drei Schachteln fünfundzwanzig. Gott segne Sie, liebe Dame!" Anscheinend hatte ihr die Wand drei Schachteln Streichhölzer abgekauft.
Herr Pogge lachte laut. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Da stand seine Tochter in dem Wohnzimmer, das dreitausend Mark gekostet hatte, und bettelte die Tapete an. Pünktchen erschrak, als sie jemanden lachen hörte, drehte sich um, sah den Vater und riß aus. Piefke hoppelte teilnahmslos hinterher.
"Bei euch piept's wohl?" fragte der Vater, aber er bekam keine Antwort. Da machte er kehrt und ging in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen Briefe und Zeitungen. Er setzte sich tief in den Ledersessel, zündete sich eine Zigarre an und las.
Pünktchen hieß eigentlich Luise. Aber weil sie in den ersten Jahren gar nicht hatte wachsen wollen, war sie Pünktchen genannt worden. Und so hieß sie auch jetzt noch, obwohl sie längst zur Schule ging und gar nicht mehr klein war. Ihr Vater, der Herr Pogge, war Direktor einer Spazierstockfabrik. Er verdiente viel Geld, und viel zu tun hatte er auch. Seine Frau, Pünktchens Mutter, war allerdings anderer Meinung. Sie fand, er verdiene viel zuwenig Geld und arbeite viel zuviel. Er sagte dann immer: "Davon verstehen Frauen nichts." Aber das konnte sie nicht recht glauben.
Sie wohnten in einer großen Wohnung, nicht weit vom Reichstagsufer. Die Wohnung bestand aus zehn Zimmern and war so groß, daß Pünktchen, wenn sie nach dem Essen ins Kinderzimmer zurückkam, meist schon wieder Hunger hatte. So lang war der Weg!
Weil wir gerade vom Essen sprechen: Herr Pogge hatte Hunger. Er klingelte. Berta, das dicke Dienstmädchen, trat ein. "Soll ich verhungern?" fragte er argerlich.
"Bloß nicht!" sagte Berta. "Aber die gnädige Frau ist noch in der Stadt, und ich dachte ..."
Heir Pogge stand auf. "Wenn Sie noch einmal denken, kriegen Sie morgen keinen Ausgang", erklärte er. "Los! Essen! Rufen Sie das Fräulein und das Kind." Die dicke Berta setzte sich in Trab und kugelte durch die Tür.
Herr Pogge war der erste im Speisezimmer. Er nahm eine Tablette, verzog das Gesicht und trank Wasser hinterher. Er schluckte Tabletten, so oft sich dazu Gelegenheit bot. Vor dem Essen, nach dem Essen, vorm Schlafengehen, nach dem Aufstehen, manchmal waren es kreisrunde Tabletten, manchmal kugelrunde, manchmal viereckige. Man hätte vermuten können, es mache ihm Spaß. Er hatte es aber nur mit dem Magen.
Dann erschien Fräulein Andacht. Fräulein Andacht war das Kinderfräulein. Sie war sehr groß, sehr mager und sehr verrückt. "Die hat man als Kind zu heiß gebadet", erzählte die dicke Berta immer, und die beiden konnten einander auch sonst gut leiden. Früher, als es bei Pogges noch kein Kinderfräulein gab und als noch das Kindermädchen Käte da war, hatte Pünktchen immer bei Berta und Käte in der Küche gesessen. Da hatte sie Schoten ausgepult, und Berta war mit Pünktchen einkaufen gegangen und hatte ihr von ihrem Bruder in Amerika erzählt. Und Pünktchen war immer wohl und munter gewesen und hatte nicht so blaß ausgesehen wie jetzt, wo die verrückte Andacht im Hause war.
"Meine Tochter sieht blaß aus", sagte Herr Pogge besorgt. "Finden Sie nicht auch?"
"Nein", erwiderte Fräulein Andacht. Dann brachte Berta die Suppe und lachte. Fräulein Andacht schielte zu dem Dienstmädchen hinüber. "Was lachen Sie denn so dämlich?" fragte der Hausherr und löffelte, als kriege er es bezahlt. Aber plötzlich ließ er den Löffel mitten in die Suppe fallen, preßte die Serviette vor den Mund, verschluckte sich, hustete entsetzlich und zeigte zur Tür.
Dort stand Pünktchen. Aber, du grüne Neune, wie sah sie aus!
Sie hatte die rote Morgenjacke ihres Vaters angezogen und ein Kopfkissen darunter gewürgt, so daß sie einer runden verbeulten Teekanne glich. Die dünnen nackten Beine, die unter der Jacke vorguckten, wirkten wie Trommelstöcke. Auf dem Kopf schaukelte Bertas Sonntagshut. Das war ein tolles Ding aus buntem Stroh. In der einen Hand hielt Pünktchen das Nudelholz und einen aufgespannten Regenschirm, in der anderen einen Bindfaden. An dem Bindfaden war eine Bratpfanne festgebunden, und in der Bratpfanne, die klappernd hinter dem Kind hergondelte, saß Piefke, der Dackel, und runzelte die Stirn. Übrigens runzelte er die Stirn nicht etwa, weil er verstimmt war, sondern er hatte zuviel Haut am Kopf. Und weil die Haut nicht wußte wohin, schlug sie Dauerwellen.
Pünktchen spazierte einmal rund um den Tisch, blieb dann vor ihrem Vater stehen, betrachtete ihn prüfend und fragte ernsthaft: "Kann ich mal die Fahrscheine sehen?"
"Nein", sagte der Vater. "Erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin doch der Eisenbahnminister."
"Ach so", sagte sie.
Fräulein Andacht stand auf, packte Pünktchen am Kragen und rüstete sie ab, bis sie wieder wie ein normales Kind aussah. Die dicke Berta nahm das Kostüm und das Nudelholz und den Regenschirm und brachte die Sachen hinaus. Sie lachte noch in der Küche. Man konnte es ganz deutlich hören.
"Wie war's in der Schule?" fragte der Vater, und weil Pünktchen nicht antwortete, sondern in der Suppe herumplanschte, fragte er gleich weiter: "Wieviel ist drei mal acht?"
"Dre mal acht? Drei mal acht ist einhundertzwanzig durch fünf" sagte sie. Herr Direktor Pogge wunderte sich über gar nichts mehr. Er rechnete neimlich nach, und weil's stimmte, aß er weiter. Piefke war auf einen leeren Stuhl geklettert, stützte die Vorderpfoten auf den Tisch und gab stirnrunzelnd Obacht, daß alle ihre Suppe aßen. Es sah aus, als wolle er eine Rede halten. Berta brachte Huhn mit Reis und gab Piefke einen Klaps. Der Dackel verstand das falsch und kroch völlig auf den Tisch. Pünktchen setzte ihn auf die Erde hinunter und sagte: "Am liebsten möchte ich ein Zwilling sein."
Der Vater hob bedauernd die Schultern.
"Das wäre großartig", sagte das Kind. "Wir gingen dann beide gleich angezogen und hätten die gleiche Haarfarbe and die gleiche Schuhnummer und gleiche Kleider und ganz, ganz gleiche Gesichter."
"Na und?" fragte Fräulein Andacht.
Pünktchen stöhnte vor Vergnügen, während sie sich die Sache mit den Zwillingen ausmalte. "Keiner wüßte, wer ich bin und wer sie ist. Und wenn man dächte, ich bin es, ist sie es. Und wenn man dächte, sie ist es, dann bin ich's. Hach, das wäre blendend."
"Nicht zum Aushalten", meinte der Vater.
"Und wenn die Lehrerin "Luise!" riefe, dann würde ich aufstehen und sagen: "Nein, ich bin die andere." Und dann würde die Lehrerin "Setzen!" sagen und die andere aufrufen und schreien: "Warum stehst du nicht auf, Luise?", und die würde sagen: "Ich bin doch Karlinchen." Und nach drei Tagen bekäme die Lehrerin Krämpfe und Erholungsurlaub fürs Sanatorium, und wir häatten Ferien."
"Zwillinge sehen meist sehr verschieden aus", behauptete Fräulein Andacht.
"Karlinchen und ich jedenfalls nicht", widersprach Pünktchen. "So was von Ähnlichkeit habt ihr noch nicht gesehen. Nicht mal der Direktor könnte uns unterscheiden." Der Direktor, das war ihr Vater.
"Ich habe schon an dir genug", sagte der Direktor und nahm sich die zweite Portion Huhn.
"Was hast du gegen Karlinchen?" fragte Pünktchen.
"Luise" rief er laut. Wenn er "Luise" sagte, dann hieß das, jetzt wird pariert, oder es setzt was. Pünktchen schwieg also, aß Huhn mit Reis und schnitt Piefke, der neben ihr kauerte, heimlich Grimassen, bis der sich vor Entsetzen schüttelte und in die Küche sauste.
Als sie beim Nachtisch saßen, es gab Reineclauden, erschien endlich Frau Pogge. Sie war zwar sehr hübsch, aber, ganz unter uns, sie war auch ziemlich unausstehlich. Berta, das Dienstmädchen, hatte mal zu einer Kollegin gesagt: "Meine Gnädige, die sollte man mit 'nem nassen Lappen erschlagen. Hat so ein nettes, ulkiges Kind und so einen reizenden Mann, aber denkst du vielleicht, sie kümmert sich um die zwei? Nicht in die Tüte. Den lieben langen Tag kutschiert sie in der Stadt rum, kauft ein, tauscht um, geht zu Fünf-Uhr-Tees und zu Modevorführungen, und abends muß dann der arme Mann auch noch mitstolpern. Sechstagerennen, Theater, Kino, Bälle, dauernd ist der Teufel los. Nach Hause kommt sie überhaupt nicht mehr. Na, das hat ja nun wieder sein Gutes."
Frau Pogge erschien also, setzte sich nieder und war gekrankt Eigentlich hätte sie sich entschuldigen sollen, daß sie so spät kam. Statt dessen tat sie beleidigt, weil man mit dem Essen nicht gewartet hatte. Hen Pogge nahm wieder Tabletten, diesmal viereckige, verzog das Gesicht und trank Wasser hinterher.
"Vergiß nicht, daß wir heute abend bei Generalkonsul Ohlerich eingeladen sind", sagte seine Frau.
"Nein", sagte Herr Pogge.
"Das Huhn ist ganz kalt", sagte sie.
"Jawohl", sagte die dicke Berta.
"Hat Pünktchen Schularbeiten auf ?" fragte sie.
"Nein", sagte Fräulein Andacht.
"Kind, bei dir ist ja ein Zahn locker!" rief sie.
"Jawohl", sagte Pünktchen.
Herr Pogge stand vom Tisch auf. "Wie es abends bei uns zu Hause ist, weiß ich schon gar nicht mehr."
"Dabei sind wir gestern abend nicht bis vor die Tür gekommen", entgegnete seine Frau.
"Aber Brückmanns waren da", sagte er, "und Schramms und Dietrichs, die ganze Bude war voll."
"Waren wir gestern zu Hause oder waren wir gestern nicht zu Hause?" fragte sie energisch und sah ihn gespannt an. Herr Direktor Pogge antwortete vorsichtshalber nichts und ging ins Arbeitszimmer. Pünktchen folgte ihm und setzte sich zu ihm in den großen Ledersessel, denn da war Platz für beide. "Der Zahn ist locker?" fragte er. "Tut es weh?"
"Ach wo", sagte sie. "Den reiß ich mir gelegentlich raus. Vielleicht heute noch."
"Dann hupte es vor dem Haus. Pünktchen brachte ihren Vater bis vor die Haustür. Herr Hollack, der Chauffeur grüßte sie, und sie grüßte ihn wieder. Sie machte das genau wie er, sie legte die Hand an die Mütze, obwohl sie gar keine Mütze auf hatte. Der Vater stieg ein, das Auto fuhr ab, der Vater winkle. Pünktchen winkle wieder.
Als sie ins Haus zurückgehen wollte, stand Gottfried Klepperbein vor der Tür, das war der Sohn von den Portiersleuten, ein ausgemachter Lümmel.
"Du", sagte er, "wenn du mir zehn Mark gibst, verrat ich's nicht. Sonst sag ich's deinem Vater."
"Was denn?" fragte Pünktchen harmlos.
Gottfried Klepperbein vertraf ihr drohend den Weg. "Das weißt du schon ganz gut, stell dich nicht so dumm, mein Herzblatt!"
Pünktchen wollte gern ins Haus, aber er ließ sie nicht hinein. Da stellte sie sich neben ihn, legte die Hände auf den Rücken und blickte erstaunt nach dem Himmel, als ob der Zeppelin käme oder ein Maikäfer auf Schlittschuhen oder so etwas. Der Junge guckte natürlich auch hinauf, und da rannte sie wie der Blitz an ihm vorbei, und Gottfried Klepperbein sah, wie es so schön heißt, in den Mond.
Die erste Nachdeakerei handelt:
Van der Pflicht
Im ersten Kapitel sind eigentlich schon ziemlich viel Menschen aufmarschiert, nicht? Mal sehen, ob wir sie im Kopf behalten haben: Da ist also Herr Direktor Pogge, seine werte Frau Gemahlin, Pünktchen, das dürre Fräulein Andacht, die dicke Berta, Gottfried Klepperbein und Piefke, der kleine Dackel. Das heißt, Piefke müssen wir weglassen, Dackel sind keine richtigen Menschen, schade.
Und nun will ich folgendes fragen: Wer von den Personen hat euch gefallen und wer nicht? Wenn ich mal meine Meinung äußern darf: Pünktchen gefällt mir ganz gut und die dicke Berta auch. Über Herrn Pogge kann ich mir noch kein Urteil bilden. Aber Pünktchens Mutter, die kann ich auf den Tod nicht leiden. An der Frau stört mich was. Sie kümmert sich nicht um ihren Mann, warum hat sie ihn dann geheiratet? Sie kümmert sich nicht um ihr Kind, warum hat sie es dann zur Welt gebracht? Die Frau vernachlässigt ihre Pflicht, habe ich recht? Niemand wird etwas dabei finden, daß sie gern ins Theater geht oder ins Kino oder meinetwegen auch zum Sechstagerennen. Aber zunächst einmal ist sie Pünktchens Mutter und Herrn Pogges Frau. Und wenn sie das vergißt, kann sie uns gern haben.
Stimmt’s?