Guten Tag, Frau Cast", sagte jemand, als sie aus dem Haus trat. "Sie sehen ja glänzend aus." Es war Pünktchen mit Piefke, und eigentlich fand das Kind Antons Mutter schrecklich blaß und aufgeregt. Aber der Junge hatte sie ja gebeten, das Aussehen seiner Mutter vortrefflich zu finden. Und sie war ein Mädchen, das Wort hielt, oho! Fräulein Andacht war mit ihrem Herrn Bräutigam bei Sommerlatte und hatte sie Punkt sechs Uhr zum Abholen bestellt.
Frau Cast blickte verstört um sich und gab Pünktchen die Hand, ohne ein Wort zu sprechen.
"Wo ist denn Anton?" fragte das Kind.
"Fort!" flüsterte Frau Cast. "Denk dir, er ist davongelaufen. Ich war böse, weil er meinen Geburtstag vergessen hatte."
"Da gratuliere ich von Herzen", sagte Pünktchen. "Ich meine, weil Sie Geburtstag haben."
"Ich danke dir", erwiderte Frau Gast. "Wo kann er nur sein?"
"Nun verlieren Sie mal nicht den Kopf", tröstete Pünktchen. "Den Jungen kriegen wir wieder. Unkraut verdirbt nicht. Was halten Sie davon, wenn wir in die Geschäfte gehen und uns überall erkundigen?" Weil die Frau nichts zu hören schien und nur immer den Kopf nach allen Seiten drehte, nahm Pünktchen Antons Mutter bei der Hand und zog sie zu dem Milchgeschäft im Nebenhaus. Ihren Dackel setzte sie auf die Straße und sagte: "Guter Hund, such den Anton!" Aber Piefke verstand wieder mal kein Deutsch.
Inzwischen kaufte Anton Schokolade.
Die Verkäuferin war eine alte Dame mit einem riesigen Kropf. Sie sah ihn mißtrauisch an, als er mit todtrauriger Miene eine Tafel von der besten Milchschokolade verlangte.
"Es ist für einen Geburtstag", sagte er niedergeschlagen.
Da wurde sie etwas freundlicher, wickelte die Schokolade schön geschenkmäßig in Seidenpapier und band ein blaßblaues Seidenband drum. "Danke verbindlichst", sagte er ernst, steckte die Tafel vorsichtig in die Tasche und zahlte. Sie gab ihm Geld heraus, und nun ging er in ein Schreibwarengeschäft.
In dem Schreibwarengeschäft suchte er sich aus dem Geburtstagsalbum eine Gratulationskarte aus. Die Karte, die er wählte, war wundervoll. Einen dicken, fidel schmunzelnden Dienstmann sah man darauf, und der Dienstmann hielt in jedem Arm einen großen Blumentopf. Zu seine Füßen stand in goldenen Buchstaben: "Die herzlichsten Glück- und Segenswünsche zum Wiegenfeste."
Anton betrachtete das schöne Bild wehmütig. Dann stellte er sich hinter das Schreibpult und malte mit mühevoller Schönschrift auf die Rückseite: "Von Deinem tiefunglücklichen Sohne Anton. Und nimm es mir nicht übel, liebe Mama, es war nicht böse gemeint." Dann klemmte er die Karte untet die blaue Schleife, die das Schokoladenpäckchen zierte, und lief schnell auf die Straße. Jetzt überkam ihn große Rührung, seines traurigen Schicksals wegen. Er fürchtete sich vor Tränen, schluckte tapfer und ging mit gesenktem Kopf weiter.
Im Haus überfiel ihn heftige Angst. Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad schlich er sich zum vierten Stock hinauf. Er stieg auf den Zehenspitzen bis zur Tür. Er öffnete die Klappe des Briefkastens und warf sein Geschenk hindurch. Das machte Lärm, und er bekam Herzkopfen.
Doch in der Wohnung rührte sich nichts.
Eigentlich hatte er ja nun fortlaufen und irgendwo ganz rasch sterben müssen. Aber er brachte das nicht ohne weiteres fertig, sondern drückte zaghaft auf die Klingel. Dann rannte er bis zum nächsten Treppenabsatz hinunter. Dort wartete er atemlos. In der Wohnung rührte sich nichts.
Da wagte er sich noch einmal bis vor die Tür. Und wieder klingelte er. Und wieder rannte er die Stufen hinunter.
Und wieder war nichts zu hören! Was war denn mit seiner Mutter los? War ihr etwas zugestoßen? War sie wieder krank geworden, weil sie sich so sehr über ihn hatte ärgern müssen? Lag sie im Bett und konnte sich nicht rühren? Er hatte die Schlüssel nicht eingesteckt. Vielleicht hatte sie den Gashahn aufgedreht, um sich vor Kummer zu vergiften? Er stürzte zür Tur hinauf und schlug an den Briefkasten, daß es laut klapperte. Er hieb mit beiden Fäusten gegen die Türfüllung. Er rief durchs Schlüsselloch: "Mama! Mama! Ich bin's! Mach mir doch auf!"
In der Wohnung regte sich nichts.
Da sank er schluchzend auf der Strohdecke in die Knie. Nun war alles aus.
Antons Mutter und Pünktchen hatten in allen Geschäften, wo man Anton kannte, gefragt. Der Milchmann, der Bäcker, der Fleischer, der Grünwarenhändler, der Schuster, der Installateur, keiner wußte etwas.
Pünktchen lief zu dem Schutzmann, der an der Verkehrskreuzung stand, und fragte den. Aber der Schutzmann schüttelte bloß den Kopf und fuhr fort, mit beiden Armen den Fahrzeugen zu winken. Piefke ärgerte sich über das Winken und quiekte. Frau Cast wartete inzwischen auf dem Fußsteig und blickte mit ängstlichen, eilig irrenden Augen um sich.
"Nichts", sagte Pünktchen. "Wissen Sie was? Das beste wird sein, wir gehen nach Hause."
Aber Frau Gast rührte sich nicht.
"Vielleicht ist er im Keller", sagte das Kind.
"Im Keller?" fragte Antons Mutter.
"Ja, oder auf dem Boden", schlug Pünktchen vor.
Und sie liefen, so rasch sie konnten, über die Straße und ins Haus. Gerade, als Frau Gast die Kellertür aufschließen wollte, hörten sie, daß oben jemand weinte.
"Das ist er!" rief Pünktchen. Antons Mutter lachte und weinte in einem Atem und lief die Treppen so schnell hinauf, daß Pünktchen kaum mitkommen konnte "Anton!" rief die Mutter.
Und von oben klang es: "Mama! Mama!" Und dann begann von oben und unten her ein großes Wettrennen. Pünktchen blieb in der ersten Etage stehen. Sie wollte nicht stören und hielt Piefke die Schnauze zu.
Auf halbem Wege trafen sich Mutter und Sohn und fielen einander in die Arme. Sie streichelten sich unermüdlich, als ob sie nicht glauben wollten, daß sie sich wiederhatten. Sie saßen auf den Stufen, hielten sich bei den Händen und lächelten. Sie waren sehr müde und wußten nichts weiter, als daß sie froh waren. Endlich sagte die Mutter: "Komm, mein Junge. Wir können doch nicht immer hier sitzen bleiben. Wenn uns jemand sähe."
"Ja, das geht nicht. Die wurden uns nicht verstehen", erklärte er. Nun kletterten sie gemeinsam, Hand in Hand, treppauf. Als die Mutter die Tür aufgeschlossen hatte und mit ihm in der Wohnstube war, flüsterte er ihr ins Ohr: "Guck mal in den Briefkasten."
Sie tat es, klatschte in die Hände und rief: "Ei, es war schon ein Gratulant da!"
"So?" fragte er, sprang ihr an den Hals und wünschte ihr furchtbar viel Glück und alles, alles Gute. Die Rückseite der schönen Gratulationskarte las sie dann heimlich beim Kaffeekochen. Sie weinte ein bißchen. Aber das Weinen machte ihr jetzt geradezu Vergnügen.
Dann klingelte es. Frau Gast öffnete. "Ach, dich habe ich ja ganz vergessen!"
"Nochmals meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag", sagte Pünktchen. "Darf man näher treten?" Dann kam Anton und begrüßte sie und den Dackel. "Weiße Haare kann man deinetwegen kriegen!" sagte sie vorwurfsvoll. "Wir haben dich gesucht wie eine Stecknadel." Sie versetzte ihm einen Nasenstüber. Dann kam seine Mutter mit der Kaffeekanne, und sie tranken zu dritt Geburtstagskaffee. Kuchen gab es zwar nicht, aber sie waren trotzdem alle drei sehr zufrieden. Und Piefke bellte dem Geburtstagskind ein Ständchen.
Nach dem Kaffeeklatsch sagte die Mutter: "So, nun geht nur wieder ein bißchen spazieren. Ich leg mich ins Bett. Das war heute ein bißchen viel für den ersten Tag. Ich werde sehr schön schlafen,"
Auf der Treppe sagte Anton zu Pünktchen: "An den Tag werde ich denken."
Die zehnte Nachdenkerei handelt:
Vom Familienglück
Erwachsene haben ihre Sorgen. Kinder haben ihre Sorgen. Und manchmal sind die Sorgen größer als die Kinder und die Erwachsenen, und dann werfen die Sorgen, well sie so groß und breit sind, sehr viel Schatten. Und da sitzen dann die Eltern und die Kinder in diesem Schatten und frieren. Und wenn das Kind zum Vater kommt und etwas fragt, knurrt der: "Laß mich in Ruhe! Ich habe den Kopf voll!" Puh, und dann verkriecht sich das Kind, und der Vater versteckt sich hinter der Zeitung. Und wenn die Mutter ins Zimmer tritt und fragt: "Was hat's denn gegeben?" sagen beide: "Och, nichts weiter", und dann ist es mit dem Familienglück Essig. Und manchmal zanken sich die Eltern oder sie sind, wie Pünktchens Eltern, nie zu Hause, und die Kinder sind fremden Leuten ausgeliefert, zum Beispiel irgendeinem Fräulein Andacht. Oder sonstwern, und dann...
Beim Schreiben fällt mir plötzlich auf, daß diese Nachdenkerei eigentlich von den Erwachsenen gelesen werden müßte. Also, wenn's mal wieder zu Hause qualmt, dann schlagt die Seite hier auf und gebt sie euren Eltern zum Lesen. Ja? Schaden wird es nichts.