In dem Lokal standen und saßen manchmal seltsame Leute, und Pünktchen kam sehr gern her, sie fand es hochinteressant. Manchmal waren sogar Betrunkene da!
Anton gähnte und machte vor Müdigkeit ganz kleine Augen. "Schrecklich", sagte er, "heute bin ich in der Rechenstunde richtiggehend eingeschlafen. Herr Bremser hat mich angeniest, daß ich fast aus der Bank gefallen wäre. Ich sollte mich schämen, hat er gerufen, und meine Schularbeiten ließen in der letzten Zeit sehr zu wünschen übrig. Und wenn das so weiterginge, würde er meiner Mutter einen Brief schreiben."
"Ach, du gerechter Strohsack", meinte Pünktchen. "Das fehlte gerade noch. Weiß er denn nicht, daß deine Mutter krank ist und daß du kochen und Geld verdienen mußt?"
"Woher soll er denn das wissen?" fragte Anton neugierig.
"Von dir natürlich", erklärte Pünktchen.
"Lieber beiß ich mir die Zunge ab", sagte Anton.
Pünktchen verstand das nicht. Sie zuckte die Achseln.
Dann wandte sie sich zu Fräulein Andacht. Die saß in ihrer Ecke und stierte vor sich hin. "Ich denke, Sie haben uns eingeladen?"
Fräulein Andacht zuckte zusammen und kam langsam zu sich. "Was wollt ihr haben?"
"Apfelsinen mit Schlagsahne", schlug Pünktchen vor, und Anton nickte. Das Fräulein stand auf und ging zum Büfett.
"Wo hast du denn das Geld her, das du mir vorhin zugesteckt hast?" fragte der Junge.
"Die Andacht gibt das Geld doch nur ihrem Bräutigam. Da habe ich 'n bißchen was unterschlagen. Pscht, keine Widerrede!" rief sie streng. "Paß auf, sie trinkt bestimmt wieder Schnaps. Sie säuft, die Gute. Du, heute saß sie in ihrem Zimmer und zeichnete mit dem Bleistift Vierecke, und in dem einen stand 'Wohnzimmer' und im anderen 'Arbeitszimmer', mehr konnte ich nicht sehen."
"Das war ein Wohnungsplan", stellte Anton fest.
Pünktchen schlug sich mit der Hand vor die Stirn. "Ich Affe", sagte sie, "und darauf bin ich nicht gekommen! Aber wozu zeichnet sie Wohnungspläne?" Das wußte Anton auch nicht. Dann kam Fräulein Andacht zurück und brachte den Kindern zerteilte Apfelsinen. Sie selber trank Kognak. "Wir müssen doch mindestens drei Mark verdient haben", erklärte sie, "Und dabei liegen nur eine Mark achtzig in der Tasche. Verstehst du das?"
"Vielleicht hat die Tasche ein Loch?" fragte Pünktchen.
Fräulein Andacht sah gleich nach. "Nein", sagte sie, "die Tasche hat kein Loch."
"Komisch", meinte Pünktchen. "Man könnte fast denken, da hat jemand geklaut." Dann seufzte sie und murmelte: "Das sind Zeiten."
Fräulein Andacht schwieg, trank ihr Glas leer, stand auf und holte sich noch einen Schnaps. "Erst stehen wir stundenlang auf der Brücke, und dann versäuft sie das ganze Einkommen", schimpfte Pünktchen hinter ihr her.
"Du solltest überhaupt lieber zu Hause bleiben", erklärte Anton. "Wenn deine Eltern mal dahinterkommen, gibt's großen Krach."
"Von mir aus", sagte Pünktchen. "Habe ich mir vielleicht das Kinderfräulein ausgesucht?"
Anton nahm eine Papierserviette, die auf dem Nebentisch lag, drehte eine kleine Tüte und legte sechs Apfelsinenschnitten hinein. Dann schloß er die Tüte in sein Handköfferchen. Und wie ihn Pünktchen fragend anschaute, sagte er verlegen: "Bloß für meine Mutter."
"Da fällt mir noch etwas ein", rief sie und kramte in ihrer kleinen Tasche. "Hier!" Sie hielt etwas in der Hand.
Er beugte sich darüber. "Ein Zahn", bemerkte er. "Ist er denn raus?"
"So eine dämliche Frage", sagte sie beleidigt. "Willst du ihn haben?"
Der Junge hatte kein rechtes Verständnis für Zähne, und so steckte sie ihn wieder ein. Dann kam Fräulein Andacht, hatte einen mittelgroßen Schwips und trieb zum Aufbruch. Sie gingen gemeinsam bis zur Weidendammer Brücke und verabschiedeten sich dort.
"Bremser heißt dein Klassenlehrer?" fragte Pünktchen.
Anton nickte.
"Morgen nachmittag besuch ich dich wieder", versprach sie. Er schüttelte ihr erfreut die Hand, machte vor Fräulein Andacht eine Verbeugung und rannte auf und davon.
Pünktchen und Fräulein Andacht gelangten ohne Zwischenfälle in die Wohnung. Die Eltern waren noch immer beim Generalkonsul Ohlerich. Das Kind legte sich ins Bett und schlief auf der Stelle ein. Piefke knurrte leise, weil er geweckt worden war. Das Kinderfräulein ging in ihr Zimmer, schloß die Bettelkleider in die Kommode, und dann begab auch sie sich zur Ruhe.
Anton konnte noch nicht ins Bett. Er schlich, am Zimmer seiner Mutter vorbei, durch den Korridor, machte in der Küche Licht, versteckte sein Handköfferchen, setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und gähnte, daß er sich fast die Kiefer ausgerenkt hätte. Dann zog er ein blaues Oktavheft und einen Bleistift aus der Tasche und schlug das Heft auf. 'Ausgaben' stand auf der einen Seite, 'Einnahmen' stand auf der anderen. Er griff in die Hosentasche, legte ein Häufchen Münzen auf den Tisch und zählte eifrig. Zwei Mark fünfzehn waren es. Wenn Pünktchen und der nette Herr nicht gewesen wären, hätte ich jetzt fünfundvierzig Pfennige, dachte er und trug die Abendeinnahme ins Heft ein.
Mit dem Überschuß, den er heimlich im Tuschkasten aufbewahrte, hatte er fünf Mark und sechzig Pfennige, und fünf Mark wollte der Wirt allein für Miete haben! Demnach blieben sechzig Pfennig fürs Essen. Er blickte in die kleine Speisekammer. Kartoffeln waren noch da. Auf dem Schneidebrett lag eine Speckschwarte. Wenn er morgen den Tieget mit der Schwarte einrieb, kamen vielleicht Bratkarloffein zustande. Aber aus dem Viertelpfund Leberwurst wurde wieder nichts. Und er hatte so riesigen Appetit auf Leberwurst! Er zog die Schuhe aus, legte die Apfelsinenscheiben auf einen Teller, machte dunkel und schlich aus der Küche. An der Tür zum Schlafzimmer blieb er stehen und preßte das Ohr ans Holz. Die Mutter schlief. Er hörte ihre ruhigen Atemzüge, manchmal schnarchte sie sogar ein bißchen. Anton streichelte die Tür und lächelte, weil die Mutter gerade wieder aufschnarchte. Dann schlich er in die Wohnstube. Er zog sich im Finstern aus, hängte den Anzug über den Stuhl, legte das Geld in den Tuschkasten, kroch aufs Sofa und deckte sich zu.
Hatte er die Korridortür abgeschlossen? War der Gashahn zugedreht? Anton warf sich unruhig hin und her, dann stand er noch einmal auf und sah nach, ob alles in Ordnung war.
Es war alles in Ordnung. Er legte sich wieder hin. Die Rechenaufgaben hatte er gemacht. Aufs Diktat vorbereitet hatte er sich auch. Hoffentlich schrieb Herr Bremser der Mutter keinen Brief. Denn dann kam es heraus, daß er abends auf der Weidendammer Brücke stand und Schnürsenkel verkaufte. Hatte er noch genug Schnürsenkel? Die braunen würden nicht mehr lange reichen. Man trug anscheinend mehr braune Schuhe als schwarze. Oder gingen braune Schnürsenkel schneller entzwei?
Anton legte sich auf seine Schlafseite. Hoffentlich wurde die Mutter wieder ganz gesund. Dann schlief er endlich ein.
Die siebente Nachdenkerei handelt
Vom Ernst des Lebens
Neulich war ich in Rostock auf dem Jahrmarkt. Die Straßen, die sich schräg zur Warnow hinabsenken, standen voller Buden, und unten am Ufer drehten sich Karussells. Ich wurde, weil alles so schön laut war, sehr fidel, stellte mich an eine Zuckerwarenbude und verlangte für zehn Pfennige türkischen Honig. Er schmeckte großartig.
Da kam ein Junge mit seiner Mutter vorüber, zog die Frau am Ärmel und sagte: "Noch einen Pfefferkuchen!" Dabei trug er schon fünf Pfefferkuchenpakete unterm Arm. Die Mutter stellte sich taub. Da blieb er stehen, stampfte mit dem Fuß auf und krähte. "Noch einen Pfefferkuchen!"
"Du hast doch schon fünf Pakete", erklärte die Mutter. "Denk nur, die armen Kinder kriegen überhaupt keinen Pfefferkuchen!"
Wißt ihr, was der Junge antwortete?
Er schrie ärgerlich: "Was gehen mich denn die armen Kinder an?" Ich erschrak so, daß ich fast meinen türkischen Honig samt dem Papier auf einmal verschluckt hätte. Kinder, Kinder! Hält man das für möglich?
Da hat so ein Junge das unverdiente Clück, wohlhabende Eltern zu bekommen, und dann stellt er sich hin und schreit: "Was gehen mich die armen Kinder an!" Anstatt von seinen fünf Paketen Pfefferkuchen armen Kindern zwei zu schenken und sich zu freuen, daß er denen eine kleine Freude machen kann!
Das Leben ist ernst und schwer. Und wenn die Menschen, denen es gutgeht, den anderen, denen es schlechtgeht, nicht aus freien Stücken helfen wollen, wird es noch mal ein schlimmes Ende nehmen.