11

Die ganze nächste Woche war das Wetter kalt und regnerisch, wie es das im Frühsommer in den westlichen Landstrichen häufig zu sein pflegt, und wir gingen nicht mehr zum Strand hinunter. Ich konnte das Meer über den Rasen hinweg von der Terrasse aus sehen. Es sah grau, rauh und unfreundlich aus; riesige, hohe Wellen stürzten sich in die Bucht hinter dem Leuchtturm auf der Landzunge. Ich begann jetzt zu verstehen, warum manche Menschen das Lärmen des Meeres nicht ertragen können. Zuweilen klingt es wie der düstere Klageton einer Harfe, und vor allem diese Beharrlichkeit, dieses fortwährende Rollen, Donnern und Zischen zerrt an den Nerven und peitscht sie auf. Ich war froh, daß unsere Zimmer im Ostflügel lagen und daß ich, wenn ich mich aus dem Fenster lehnte, auf den Rosengarten sah. Denn manchmal fand ich keinen Schlaf und stahl mich dann leise aus dem Bett, ging in der nächtlichen Stille zum Fenster und beugte mich mit aufgestützten Armen hinaus und genoß die beruhigend sanfte Luft.

Dort war das rastlose Geräusch des Meeres nicht zu hören, und weil ich es nicht hören konnte, waren auch meine Gedanken friedlich und ruhig. Sie führten mich nicht mehr den steilen Pfad durch den Wald hinunter zu der grauen Bucht und dem verlassenen Bootshaus. Ich wollte nicht mehr an das Bootshaus denken. Tagsüber dachte ich nur allzu oft daran. Wann immer ich von der Terrasse aus das Meer erblickte, begann die Erinnerung an mir zu nagen. Denn ich sah dann wieder die bläulichen Stockflecke auf dem Porzellan, die Spinnweben an den kleinen Masten der Schiffsmodelle und die Löcher von den Ratten in dem Schlafsofa vor mir. Ich hörte wieder das Regengetrommel auf dem Dach, und auch an Ben dachte ich, an Ben mit seinen schmalen, wäßrigen blauen Augen und seinem scheuen, idiotischen Lächeln. Alle diese Dinge quälten mich, ich war verstört darüber. Ich wollte sie vergessen, aber gleichzeitig wollte ich auch wissen, warum sie mich quälten, warum sie mich so unruhig und unglücklich machten.

Ich konnte den verlorenen Blick in Maxims Augen und sein bleiches Gesicht, als wir durch den Wald zurückgegangen waren, nicht vergessen und auch nicht seine Worte: «O Gott, was für ein Narr war ich doch, wieder hierher zu kommen!» Es war alles meine Schuld, weil ich über die Felsen in die Bucht geklettert war. Ich hatte die Vergangenheit wieder in ihm aufleben lassen. Und obwohl Maxim sich davon erholt hatte und wieder ganz er selbst war und wir unser Leben zusammen lebten und mit Essen, Schlafen, Spazierengehen, Briefeschreiben und Fahrten ins Dorf Stunde um Stunde unseres Tages ausfüllten, wußte ich doch, daß dadurch eine Schranke zwischen uns aufgerichtet worden war.

Er ging allein auf der anderen Seite, und ich durfte nicht zu ihm. Und ich wurde ängstlich und nervös bei dem Gedanken, daß irgendein achtloses Wort, irgendeine unvorhergesehene Wendung in einem gleichgültigen Gespräch wieder diesen Ausdruck in seinen Augen heraufbeschwören konnte. Ich begann jede bloße Erwähnung des Meeres zu fürchten, denn vom Meer konnte man ja so leicht auf Boote, Unglücksfälle und Ertrinken zu sprechen kommen ... Selbst Frank Crawley, der eines Tages wieder zum Mittagessen kam, jagte mir einen Angstschauer über den Rücken, als er plötzlich etwas über die Segelregatta in der nur drei Meilen entfernten Bucht von Kerrith sagte. Es gab mir sofort einen schmerzhaften Stich, und ich sah krampfhaft auf meinen Teller nieder; aber Maxim sprach ganz ruhig weiter, während mir vor lauter Ratlosigkeit heiß wurde und ich mir überlegte, was nun geschehen und wohin die Unterhaltung uns führen würde. Es war natürlich unrecht von mir, krankhaft, ich benahm mich genau wie ein überempfindlicher, neurotischer Mensch, gar nicht wie die gesunde, glückliche junge Frau, die ich doch eigentlich war. Aber ich konnte es nicht ändern; ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte. Meine Schüchternheit und mein linkisches Wesen wurden nur noch auffälliger und machten mich hilflos und stumm, wenn Gäste ins Haus kamen. Wir erhielten nämlich in jenen ersten Wochen mehrfach Besuch von Leuten aus der Nachbarschaft, und ihre Begrüßung und die Unterhaltung mit ihnen und dieses Sichhinziehen der üblichen halben Stunde wurden für mich zu einer schlimmeren Prüfung, als ich es anfangs vorausgesehen hatte, weil ich jetzt ständig befürchtete, daß sie über irgend etwas sprechen könnten, was tabu war. Diese Todesangst, die mich bei dem Geräusch von Rädern auf der Anfahrt, beim Läuten der Hausglocke befiel und mich in wilder Flucht nach oben in mein Schlafzimmer trieb! Das hastige Betupfen meiner Nase mit der Puderquaste, das eilige Kämmen der Haare und dann das unvermeidliche Klopfen an der Tür und das Überreichen der Visitenkarten auf dem Silbertablett.

«Es ist gut, ich komme sofort hinunter.» Das Klappern meiner Absätze auf den Treppenstufen und den Fliesen der Halle, das Öffnen der Tür zur Bibliothek oder, schlimmer noch, zur kalten, leblosen Pracht des großen Salons, und die fremde Frau, die dort auf mich wartete, oder manchmal gar zwei Damen oder auch ein Ehepaar.

«Wie reizend von Ihnen, daß Sie gekommen sind! Maxim ist leider irgendwo im Park, aber Frith ist schon unterwegs, um ihn zu holen.»

«Wir dachten, daß wir doch der jungen Frau mal einen Besuch machen müßten.»

Ein kleines Gelächter, ein kurzes, nichtssagendes Geplauder und dann eine Pause, ein Blick durch das Zimmer.

«Manderley ist noch immer so bezaubernd wie zuvor; leben Sie nicht sehr gern hier?»

«Oh, ja, sehr ...» Und in meiner Schüchternheit und in dem Wunsch, zu gefallen, entschlüpften mir wieder jene Schulmädchenausdrücke, die ich sonst nie zu benutzen pflegte, außer in solchen Augenblicken, Worte wie: «Oh, fabelhaft» und «blendend» und «wirklich phantastisch» oder «unerhört schön»; und ich glaube, einmal begrüßte ich sogar eine würdige alte Herzogin, die mich durch ihr Lorgnon musterte, mit einem lauten «Hallo!» Meine Erleichterung bei Maxims Kommen wurde von der Angst gedämpft, daß unsere Gäste irgendeine indiskrete Äußerung tun könnten, und ich verstummte sogleich und lächelte nur gezwungen, die Hände im Schoß. Sie wandten sich dann an Maxim und unterhielten sich mit ihm über Menschen, die ich nicht kannte, und über Orte, die ich nie gesehen hatte. Und hin und wieder bemerkte ich, wie sie mich etwas unsicher ansahen, als ob sie nicht wüßten, was sie mit mir anfangen sollten.

Bisweilen fing ich diese oder jene Bemerkung auf, die mich über die Vergangenheit aufklärte und meine geheime Kenntnis davon ergänzte. Hier ein zufälliges Wort, dort eine Frage, ein flüchtiger Satz. Und wenn Maxim nicht bei mir war, verursachte mir ihr Anhören eine Art schmerzliches Vergnügen wie eine Erfahrung, die man mit einem Gefühl von Schuldbewußtsein auf verstohlene Weise erwirbt.

Es kam vor, daß ich einen solchen Besuch erwiderte, denn Maxim war in diesen Dingen peinlich genau und ersparte mir den Gegenbesuch nicht, und wenn er mich nicht begleiten konnte, mußte ich die Formalität allein über mich ergehen lassen; und dann pflegte in der Unterhaltung stets eine Pause einzutreten, in der ich verzweifelt nach einem Gesprächsstoff suchte. «Werden Sie auf Manderley ein sehr geselliges Leben führen, Mrs. de Winter?» wurde ich etwa gefragt, und meine Antwort lautete: «Ich weiß nicht, mein Mann hat bisher noch nichts davon gesagt.» -«Nein, natürlich nicht, es wäre ja wohl auch noch etwas verfrüht. In alten Zeiten war das Haus immer voll Menschen.» Und wieder eine Pause. «Gäste aus London, wissen Sie, damals wurden sehr große Gesellschaften auf Manderley gegeben.» - «Ja», sagte ich, «ja, das hörte ich.» Eine neuerliche Pause und darauf die gesenkte Stimme, mit der über Verstorbene und an Stätten der Andacht gesprochen zu werden pflegt: «Sie war ungeheuer beliebt, wissen Sie, und eine so faszinierende Persönlichkeit.» -«Ja», sagte ich wieder, «ja, natürlich.» Und nach ein paar Minuten sah ich auf meine Armbanduhr und sagte: «Es tut mir leid, daß ich jetzt gehen muß, aber es ist ja schon nach vier.»

Es war die Frau des Bischofs aus der nächsten größeren Stadt, die mich fragte: «Glauben Sie, daß Ihr Gatte den berühmten Kostümball von Manderley wieder aufleben lassen wird? Es war immer so ein bezauberndes Ereignis, ich werde es nie vergessen.»

Und ich mußte lächeln, als ob ich alles darüber wüßte, und ihr antworten: «Wir sind uns noch nicht schlüssig. Es gab so vieles zu besprechen und zu erledigen.»

«Ja, das kann ich mir denken. Aber ich hoffe, Sie werden diese hübsche Gewohnheit beibehalten. Sie müssen Ihren Einfluß auf ihn geltend machen. Letztes Jahr fand das Fest natürlich nicht statt, aber ich erinnere mich noch an das Jahr vorher; der Bischof und ich gingen zusammen hin, und es war ganz entzückend. Manderley eignet sich so besonders gut für derlei Festlichkeiten. Die Halle sah wunderschön aus. Dort wurde getanzt, und die Musiker saßen auf der Galerie, ganz wie in alten Zeiten. Es war alles so stilvoll. Die Vorbereitungen müssen eine Menge Arbeit gemacht haben, aber jeder war auch einfach hingerissen.»

«Ja», sagte ich, «ich werde Maxim danach fragen.»

Ich dachte an die Schreibtischfächer mit den Schildern im Morgenzimmer; ich stellte mir den hohen Stapel der Einladungskarten vor, die lange Liste der Namen und Adressen, und ich sah eine Frau dort am Schreibtisch sitzen, neben die Namen der Gäste, die sie auswählte, ein Häkchen machen und dann nach den Einladungen greifen, ihre Feder in die Tinte tauchen und schnell und mühelos mit ihrer weitzügigen, schrägen Handschrift zu schreiben beginnen.

«Wir sind in einem Sommer auch einmal zu einem Gartentee auf Manderley gewesen», sagte die Frau des Bischofs. «Es war immer alles so geschmackvoll. Die Blumen in den Vasen richtig künstlerisch angeordnet. Ein herrlicher Tag, ich erinnere mich noch. Der Tee wurde an kleinen Tischen im Rosengarten serviert, wirklich ein reizender, origineller Gedanke. Ja, sie hatte immer so entzückende Einfälle .»

Errötend hielt sie inne, weil sie wohl fürchtete, eine taktlose Bemerkung gemacht zu haben, aber ich stimmte ihr sofort zu, um sie aus ihrer Verlegenheit zu befreien, und kühn, tollkühn hörte ich mich sagen: «Rebecca muß ein wundervoller Mensch gewesen sein.»

Ich konnte es selbst kaum glauben, daß ich den Namen über meine Lippen gebracht hatte. Ich wartete, was nun wohl geschehen würde. Ich hatte ihn tatsächlich ausgesprochen, ich hatte laut den Namen Rebecca genannt. Es war eine ungeheure Erleichterung. Es war so, als ob ich eine Medizin geschluckt hätte, die mich von einem unerträglichen Schmerz befreite. Rebecca. Ganz laut hatte ich es gesagt.

Ich fragte mich nur besorgt, ob die Frau des Bischofs bemerkte, wie rot ich geworden war, aber sie führte die Unterhaltung unbeirrt weiter, und ich lauschte ihr gierig.

«Sie haben sie also gar nicht gekannt?» fragte sie, und als ich den Kopf schüttelte, zögerte sie einen Augenblick, weil sie sich offenbar auf etwas unsicherem Boden fühlte. «Wissen Sie, wir haben sie eigentlich nie näher kennengelernt; der Bischof hat sein Amt hier erst vor vier Jahren übernommen; aber natürlich wurden wir bei dem Ball und dem Gartentee sehr herzlich von ihr empfangen. In dem einen Winter wurden wir auch zum Abendessen eingeladen. Ja, sie war ein sehr liebenswertes Geschöpf. Strahlend vor Lebensfreude.»

«Sie scheint sehr vielseitig begabt gewesen zu sein», sagte ich mit einer Stimme, die genügend Gleichmut verriet, um ihr zu zeigen, daß es mir nichts ausmachte, und spielte dabei mit meinen Handschuhen. «Einen Menschen, der zugleich klug und schön und sportlich interessiert ist, findet man nicht oft.»

«Nein, gewiß nicht», bestätigte die Frau des Bischofs. «Sie war zweifellos sehr begabt. Ich sehe sie noch bei dem Ball am Fuß der Treppe stehen und jedem Menschen die Hand geben - dieser eigenartige Kontrast zwischen dem lockigen, dunklen Haar und der schneeweißen Haut - und ihr Kostüm stand ihr so gut! Ja, sie war sehr schön.»

«Sie hat sogar den Haushalt selbst geführt», berichtete ich lächelnd, als ob ich damit sagen wollte: «Ich fühle mich durchaus wohl bei dieser Unterhaltung, ich spreche oft von ihr.» - «Es muß sie viel Zeit und Mühe gekostet haben. Ich muß gestehen, daß ich alles der Haushälterin überlasse.»

«Aber natürlich, wir können ja nicht so vielseitig sein. Und Sie sind noch sehr jung, nicht wahr? Das kommt schon alles mit der Zeit, wenn Sie sich erst eingewöhnt haben werden. Haben Sie nicht übrigens ein besonderes Steckenpferd? Ich glaube, irgend jemand erzählte mir, daß Sie eine Neigung fürs Zeichnen hätten.»

«Ach, das», sagte ich. «Ich glaube nicht, daß ich mir darauf etwas einbilden kann.»

«Es ist aber doch ein hübsches kleines Talent», meinte die Frau des Bischofs. «Zeichnen kann durchaus nicht jeder. Sie dürfen es nicht vernachlässigen. Manderley muß doch sehr reich an reizvollen Motiven sein.»

«Ja, ja, das ist es wohl», sagte ich etwas niedergeschlagen, denn ich hatte plötzlich eine Vision von mir selbst, wie ich über den Rasen von Manderley ging, einen Feldstuhl und eine Schachtel mit Bleistiften unter dem einen und mein «kleines Talent», wie sie es genannt hatte, unter dem anderen Arm. Sie hatte es so ausgesprochen, als ob es sich um eine Lieblingskrankheit handelte.

«Spielen Sie vielleicht Tennis oder Hockey oder reiten und schießen Sie?» erkundigte sie sich.

«Nein», sagte ich, «ich treibe so gut wie gar keinen Sport. Aber ich gehe sehr gern spazieren», versuchte ich kläglich einen Ersatz ins Feld zu führen.

«Die gesündeste Bewegung, die es gibt», sagte sie lebhaft, «der Bischof und ich gehen sehr viel zu Fuß.» Dann erzählte sie mir von einer Fußwanderung, die sie einmal vor vielen Jahren in Yorkshire unternommen hatten, und daß sie täglich durchschnittlich zwanzig Meilen gelaufen waren; und ich nickte und lächelte höflich. Und dann die unvermeidliche Pause, der überflüssige Blick auf meine Armbanduhr, als die Standuhr in ihrem Wohnzimmer mit schrillem Klang vier schlug und ich mich erhob, um mich zu verabschieden: «Es hat mich so gefreut, daß ich Sie zu Hause traf; ich hoffe, Sie kommen bald einmal zu uns.»

«Ja, wir kommen sehr gern einmal; der Bischof ist nur leider immer so beschäftigt. Bitte, empfehlen Sie mich Ihrem Gatten und vergessen Sie nicht, ihn an den Kostümball zu erinnern!»

«Ja, das werde ich bestimmt tun», log ich, indem ich vortäuschte, alles darüber zu wissen; und auf der Heimfahrt im Auto saß ich in meiner Ecke und biß mir auf den Daumen, während ich in Gedanken die große Halle von Manderley vor mir sah, die von einer schwatzenden, summenden und lachenden Menschenmenge in bunten Maskenkostümen erfüllt war; die Musiker auf der Galerie und das kalte Büffet, das bei solchen Gelegenheiten wahrscheinlich im Salon auf langen, an die Wand gerückten Tischen aufgebaut wurde. Und am Fuß der Treppe sah ich Maxim, wie er die Gäste begrüßte und sich lachend zu der Frau neben sich umwandte, einer hohen, schlanken Gestalt mit dunklem, lockigem Haar - hatte die Frau des Bischofs gesagt - mit dunklem Haar, das einen so eigenartigen Kontrast zu dem blassen Gesicht bildete, eine Frau, die sich mit einem schnellen Blick vergewisserte, ob ihre Gäste sich auch wohl fühlten, die über ihre Schulter hinweg einem Diener einen Auftrag erteilte, eine Frau, die niemals linkisch, sondern stets anmutig war und die beim Tanzen denselben zarten Duft verbreitete wie eine weiße Azalee.

«Werden Sie auf Manderley ein sehr geselliges Leben führen, Mrs. de Winter?» vernahm ich die Frage wieder, in diesem bedeutungsvollen, neugierigen Tonfall.

Nein, ich wollte diese Fragestellerinnen nicht wiedersehen, ich wollte überhaupt keinen von all den Menschen wiedersehen. Sie kamen nur nach Manderley, weil sie neugierig waren und bei uns herumschnüffeln wollten. Es machte ihnen Spaß, mein Aussehen, meine Manieren, meine Haltung zu kritisieren, und sie machten sich ein Vergnügen daraus, zu beobachten, wie Maxim und ich uns einander gegenüber benahmen, um herauszufinden, ob wir uns auch wirklich liebten. Nein, ich wollte diese Besuche nicht mehr erwidern, beschloß ich bei mir, und ich würde es Maxim sagen. Es war mir einerlei, wenn sie mich daraufhin für unhöflich und unliebenswürdig erklärten. Es würde ihnen gewiß ein willkommener Anlaß sein, mich noch schärfer unter die Lupe zu nehmen und noch mehr über mich zu klatschen. Mochten sie nur ruhig feststellen, daß ich schlecht erzogen sei. «Das überrascht mich gar nicht», würden sie wahrscheinlich sagen, «schließlich, wer war sie denn schon?» und dann ein Lachen und Achselzucken. «Ja, weißt du denn nicht, meine Liebe? Er hat sie in Monte Carlo oder irgendwo da unten an der Riviera aufgegabelt, keinen Penny besaß sie! Sie soll die Gesellschafterin von irgendeiner alten Dame gewesen sein.» Erneutes Gelächter, erstauntes Hochziehen der Augenbrauen. «Unbegreiflich, nicht wahr? Wie sonderbar Männer doch sind! Ausgerechnet Maxim, der immer so wählerisch war! Wie konnte er nur - nach Rebecca!»

Es machte mir nichts aus, es war mir völlig gleichgültig. Mochten sie sagen, was sie wollten. Als der Wagen durch das Tor fuhr, beugte ich mich vor, um der Pförtnersfrau freundlich zuzulächeln. Sie stand gebückt da und pflückte Blumen in dem kleinen Vorgarten. Als sie den Wagen kommen hörte, richtete sie sich auf, aber mein Lächeln mußte ihr entgangen sein. Ich winkte ihr zu, doch sie starrte mich nur ausdruckslos an. Ich glaube, sie wußte gar nicht, wer ich war. Der Wagen fuhr weiter, und ich lehnte mich wieder in meinem Sitz zurück.

Als wir dann um eine der engen Kurven bogen, sah ich einen Mann, der etwas weiter vorn neben der Anfahrt spazierenging. Es war der Verwalter, Frank Crawley. Er blieb stehen, als er den Wagen kommen hörte, und der Chauffeur bremste etwas. Als er mich erblickte, nahm Crawley den Hut ab und begrüßte mich mit einem Lächeln. Er schien sich zu freuen, mich zu sehen. Ich lächelte zurück. Es war so nett von ihm, sich über diese Begegnung zu freuen. Ich mochte Frank Crawley gern, ich fand ihn durchaus nicht so langweilig und uninteressant, wie Beatrice ihn beurteilt hatte. Vielleicht kam das daher, weil ich selbst eine so langweilige Person war. Wir waren beide langweilig, wir hatten beide nichts zu sagen: gleich und gleich ...

Ich klopfte gegen die Scheibe und bat den Chauffeur zu halten.

«Ich möchte gern aussteigen und mit Mr. Crawley ein Stück zu Fuß gehen», sagte ich.

Crawley öffnete mir die Wagentür. «Haben Sie Besuche gemacht, Mrs. de Winter?» fragte er.

«Ja, Frank», antwortete ich. Ich nannte ihn Frank, weil Maxim ihn so nannte, aber er redete mich stets mit Mrs. de Winter an. So war er nun einmal. Ich glaube, selbst wenn wir zusammen auf eine einsame Insel verschlagen worden wären und dort ganz allein aufeinander angewiesen den Rest unseres Lebens miteinander verbracht hätten, würde ich für ihn immer Mrs. de Winter sein.

«Ich habe dem Bischof einen Besuch gemacht», sagte ich. «Er selbst war zwar nicht da, aber ich traf seine Frau an. Sie möchte gern wissen, wann wir den nächsten Kostümball auf Manderley geben», teilte ich ihm mit und lugte dabei verstohlen aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber. «Sie erzählte mir, daß sie den letzten mitgemacht habe und ihn sehr gelungen fand. Ich wußte gar nicht, daß ihr hier Kostümfeste veranstaltet, Frank.»

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort; er sah plötzlich etwas verlegen aus. «Oh, ja», sagte er nach einer kleinen Pause, «der Ball auf Manderley war alljährlich das große Ereignis der Saison. Jeder Mensch in der ganzen Grafschaft war stolz, eingeladen zu werden. Und auch aus London kamen eine Menge Gäste. Es war ein glänzendes Bild.»

«Die Vorbereitungen müssen viel Mühe gekostet haben», bemerkte ich.

«Ja», bestätigte er.

«Und Rebecca», sagte ich leichthin, «hat wahrscheinlich die meiste Arbeit dabei gehabt, nicht wahr?»

Ich sah geradeaus auf den Weg vor mir, aber es entging mir nicht, daß er mir sein Gesicht zuwandte, als ob er sich vergewissern wollte, was ich wohl dachte.

«Wir hatten alle ganz hübsch zu tun», entgegnete er ruhig.

Es lag eine merkwürdige Zurückhaltung in seinen Worten, eine gewisse Scheu, die mich an meine eigene erinnerte. Es kam mir plötzlich in den Sinn, ob er vielleicht in Rebecca verliebt gewesen war. Seine Stimme klang genauso, wie meine Stimme geklungen hätte, wäre ich in derselben Lage gewesen. Dieser Gedanke eröffnete ein neues Feld von Möglichkeiten. Frank Crawley, der so schüchtern und langweilig war! Natürlich hatte er nie daran gedacht, sich irgendeinem Menschen anzuvertrauen, am allerwenigsten Rebecca.

«Ich fürchte, ich würde mich kaum nützlich machen können, wenn wir jetzt wieder einen Ball veranstalten sollten», sagte ich. «Ich besitze überhaupt kein Organisationstalent.»

«Es wäre auch gar nicht notwendig, daß Sie irgend etwas tun», sagte er. «Sie brauchen sich nur ganz natürlich zu geben und hübsch auszusehen.»

«Das ist sehr höflich von Ihnen gesagt, Frank», sagte ich, «aber ich fürchte, daß ich auch das nicht sehr gut machen würde.»

«Ich bin überzeugt, daß Sie das ausgezeichnet fertigbringen», erklärte er. Der gute Frank Crawley - wie taktvoll und aufmerksam er war! Fast hätte ich es ihm geglaubt, aber es gelang ihm doch nicht, mich zu täuschen.

«Wollen Sie Maxim wegen des Balles fragen?» bat ich ihn.

«Warum fragen Sie ihn denn nicht selbst?» antwortete er.

«Nein», sagte ich, «nein, das möchte ich nicht.»

Daraufhin verstummten wir. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Nachdem ich meine Hemmung, Rebec-cas Namen auszusprechen, überwunden hatte, war es wie ein Zwang, es wieder zu tun. Es gab mir eine eigenartige Befriedigung; wie ein Reizmittel wirkte es auf mich. Ich wußte, daß er mir in ein, zwei Augenblicken von neuem über die Lippen kommen würde. «Neulich war ich unten in der Bucht», begann ich, «dort, wo die Brandung so stark ist. Jasper war ganz außer sich und bellte dauernd diesen armen Kerl mit dem idiotischen Lächeln an.»

«Sie meinen sicher Ben», sagte Frank mit einer Stimme, die jetzt wieder ganz ungezwungen klang. «Der strolcht immer da unten am Strand herum. Das ist ein völlig harmloser Bursche; Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Er würde nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun.»

«Oh, ich hatte gar keine Angst vor ihm», sagte ich. Ich zögerte etwas, bevor ich fortfuhr, und summte vor mich hin, um mir Mut zu machen. «Ich glaube nur, daß das Haus da auf dem Felsen allmählich ganz verfallen wird», bemerkte ich leichthin. «Ich ging nämlich hinein, um ein Stück Schnur zu suchen als Leine für Jasper. Das Porzellan hat lauter Stockflecken, und die Bücher verschimmeln bereits. Warum geschieht denn nichts, um das zu verhindern? Es ist doch schade darum.»

Ich wußte, daß er mir nicht sofort antworten würde. Er bückte sich, um seine Schnürsenkel festzubinden.

Ich tat so, als untersuche ich ein Blatt an einem der Sträucher. «Wenn Maxim etwas geändert haben wollte, würde er mich wohl verständigen», sagte er schließlich, während er sich noch immer an seinem Schuh zu schaffen machte.

«Waren das alles Rebeccas Sachen?» fragte ich.

«Ja», sagte er.

Ich riß das Blatt ab, warf es fort und pflückte mir ein anderes, das ich von beiden Seiten eingehend betrachtete.

«Wofür hat sie denn das Haus benutzt?» erkundigte ich mich. «Das Zimmer ist ja vollständig eingerichtet. Von außen dachte ich, es wäre ein gewöhnliches Bootshaus.»

«Ursprünglich war es das auch», sagte er wieder mit einer gezwungenen Stimme, der man deutlich anmerkte, wie unangenehm ihm dieses Thema war. «Dann - dann ließ sie das Zimmer herrichten, die Möbel hineinstellen und die übrigen Sachen dorthin bringen.»

Ich fand es komisch, wie er von ihr nur als «sie» sprach und daß er sie weder Rebecca noch Mrs. de Winter nannte, wie ich es von ihm erwartet hätte. «Hielt sie sich denn oft dort auf?» fragte ich.

«Ja», sagte er, «ja, das tat sie. Sie veranstaltete dort Mondscheinpicknicks und - und dergleichen mehr.»

Wir gingen nebeneinander her, und ich summte noch immer meine kleine Melodie vor mich hin. «Wie reizend», sagte ich heiter, «so ein Mondscheinpicknick denke ich mir wunderschön. Haben Sie auch eins mitgemacht?»

«Ja, ein- oder zweimal», sagte er. Ich gab vor, nicht zu bemerken, wie still er auf einmal geworden war und wie widerstrebend er von diesen Dingen sprach.

«Warum ist die Boje eigentlich in dem kleinen Hafen verankert?» fragte ich.

«Das Boot wurde daran festgemacht», sagte er.

«Welches Boot?»

«Ihr Boot», erwiderte er.

Eine seltsame Erregung bemächtigte sich meiner; ich mußte einfach mit meinen Fragen fortfahren. Er wollte nicht darüber sprechen, das wußte ich jetzt, aber obwohl er mir leid tat und ich entsetzt über mich selbst war, konnte ich nicht damit aufhören; es wäre mir unmöglich gewesen, zu schweigen.

«Wo ist es denn?» fragte ich. «War es das Boot, mit dem sie beim Segeln ertrank?»

«Ja», sagte er ruhig. «Es kenterte und sank. Sie wurde über Bord gespült.»

«War es ein größeres Boot?» fragte ich.

«Dreißig Quadratmeter; es hatte auch eine kleine Kajüte.»

«Und wie kam es, daß es kenterte?»

«Es kann sehr böig in der Bucht sein», sagte er.

Ich stellte mir dieses grüne Meer vor und die weißen Schaumkronen darauf, die der Sturm jenseits der Landzunge kanalabwärts trieb. Ob der Wind wohl sehr plötzlich aufgekommen war, fragte ich mich, aus den Hügeln hinter dem Leuchtturm hervorwirbelnd, so daß das kleine Boot sich zitternd auf die Seite gelegt hatte, das weiße Segel flach über den brechenden Wogen?

«Konnte ihr denn nicht jemand zu Hilfe kommen?» fragte ich.

«Niemand hat sie kentern sehen; es wußte überhaupt niemand, daß sie mit dem Boot draußen war.»

Ich vermied es sorglich, ihm einen Blick zuzuwerfen. Er hätte mir die Verwunderung zu deutlich vom Gesicht ablesen können. Ich hatte angenommen, das Unglück sei bei einer Segelregatta geschehen und es wären noch andere Boote auf dem Wasser gewesen und die Zuschauer am Ufer hätten alles mit angesehen. Daß sie allein gewesen war, ganz allein mit ihrem Boot draußen in der Bucht, das hatte ich nicht gewußt.

«Aber im Haus muß man doch davon gewußt haben?» sagte ich.

«Nein», sagte er. «Sie ging oft allein fort und segelte häufig nachts; und wenn sie dann zurückkam, übernachtete sie in dem Bootshaus.»

«War sie denn gar nicht ängstlich?»

«Ängstlich?» wiederholte er. «Nein, sie kannte überhaupt keine Furcht.»

«Und war - war Maxim damit einverstanden, daß sie so allein fortging?»

Er zögerte mit der Antwort, und dann sagte er kurz: «Ich weiß nicht.» Ich hatte den Eindruck, als wolle er um keinen Preis jemanden bloßstellen, ob nun Maxim oder Rebecca oder auch sich selbst, das war mir nicht klar. Er war schon ein sonderbarer Kauz. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

«Sie muß also ertrunken sein, als sie ans Land zu schwimmen versuchte, nachdem das Boot gesunken war?» fragte ich weiter.

«Ja», sagte er.

Ich fühlte es beinahe, wie das kleine Boot schwankend auf den Wellen tanzte und das Wasser über die Ruderpinne stürzte und wie es sich unter der Last der nassen Segel und unter den unaufhörlichen Windstößen immer tiefer zur Seite neigte.

«Wieviel später hat man ihre Leiche gefunden?» fragte ich.

«Nach etwa zwei Monaten», sagte er.

Zwei Monate! Und ich hatte gedacht, daß Ertrunkene spätestens innerhalb von zwei Tagen aufgefunden würden. Ich hatte immer geglaubt, sie würden mit der Flut an die Küste geschwemmt.

«Wo fand man sie denn?» fragte ich.

«In der Nähe von Edgecoombe, etwa vierzig Meilen ka-nalaufwärts», sagte er.

«Woher wußte man denn, daß sie es war? Wie konnte man das nach zwei Monaten noch feststellen?» fragte ich. Ich überlegte mir, warum Frank vor jedem Satz eine kleine Pause machte, als ob er seine Worte sorgfältig abwägen müsse. Hatte er sie wirklich so gern gehabt, war ihm ihr Tod so nahegegangen?

«Maxim fuhr nach Edgecoombe, um die Leiche zu identifizieren», antwortete er.

Plötzlich wollte ich nichts mehr wissen. Ich fühlte mich von mir selbst abgestoßen und angewidert. Ich kam mir wie ein neugieriger Zuschauer vor, der sich bei einem Straßenunfall vordrängt.

«Es war gewiß eine schreckliche Zeit für Sie alle», sagte ich hastig, «und Sie werden natürlich ungern daran erinnert. Es kam mir nur in den Sinn, ob man nicht irgend etwas tun könnte, um das Bootshaus vor dem Verfall zu retten, das war alles. Es ist doch wirklich schade, daß die Möbel durch die Feuchtigkeit verderben sollen.»

Er erwiderte nichts, und ich fühlte mich heiß und unbehaglich. Er mußte es gespürt haben, daß es nicht die Sorge um das unbewohnte Bootshaus war, die mich zu all den Fragen veranlaßt hatte, und nun schwieg er, weil er so entsetzt über mich war. Unsere Freundschaft hatte für mich so etwas Tröstliches und Verläßliches gehabt. Ich hatte ihn immer als einen Verbündeten empfunden. Vielleicht hatte ich das alles nun zerstört.

«Wie lange diese Anfahrt doch ist», sagte ich. «Sie erinnert mich immer an den Pfad in dem dunklen Wald in einem Märchen von Grimm, wo der Prinz sich verirrt -können Sie das verstehen? Die Anfahrt hier kommt mir jedesmal wieder länger vor, als ich es erwartet hatte, und die Bäume stehen so dicht und sehen so finster aus.»

«Ja, sie ist ungewöhnlich lang», entgegnete er nur.

Es war ihm deutlich anzumerken, daß er noch immer auf der Hut war, als müsse er sich auf weitere Fragen von mir gefaßt machen. Es herrschte eine peinliche Stimmung zwischen uns. Ich mußte irgend etwas tun, um dem ein Ende zu machen, selbst wenn ich mir dadurch eine Blöße gab.

«Frank», sagte ich mit dem Mut der Verzweiflung, «ich weiß, was Sie denken. Sie können wahrscheinlich nicht begreifen, warum ich Ihnen all diese Fragen gestellt habe. Sie denken sicher, ich sei krankhaft und auf eine - auf eine ekelhafte Weise neugierig. Aber das ist es nicht, glauben Sie mir. Es ist nur - ich habe einfach manchmal das Gefühl, daß ich hier in einem besonders ungünstigen Licht erscheinen muß. Das Leben auf Manderley ist mir etwas so völlig Ungewohntes. Gar nicht das Leben, für das ich erzogen worden bin. Wenn ich so wie heute nachmittag von diesen Besuchen zurückkomme, dann weiß ich, daß die Leute hinterher über mich reden und sich fragen, ob ich wohl meiner Stellung als Herrin von Manderley ge-wachsen bin. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie sagen: Und dann, Frank, fange ich selbst an, darüber nachzugrübeln und daran zu zweifeln, und ich habe das schreckliche, quälende Gefühl, daß ich Maxim niemals hätte heiraten dürfen und daß wir nicht glücklich miteinander werden. Verstehen Sie? Jedesmal, wenn ich neue Menschen kennenlerne, spüre ich förmlich, wie sie die ganze Zeit immer nur daran denken, daß ich so ganz anders bin als Rebecca.»

Atemlos hielt ich inne und schämte mich bereits wieder, daß ich so herausgeplatzt war, und dabei wußte ich genau, daß ich auf jeden Fall meine Schiffe hinter mir verbrannt hatte. Er wandte sich mit einem besorgten und bekümmerten Gesicht mir zu.

«Bitte, Mrs. de Winter, das dürfen Sie nicht denken», sagte er. «Was mich anbetrifft, so kann ich Ihnen nur offen sagen, wie sehr ich mich darüber freue, daß Sie Maxim geheiratet haben. Das hat seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich bin fest davon überzeugt, daß Ihre Ehe ein Erfolg wird. Meiner Ansicht nach ist es - ist es sehr wohltuend und beglückend, einem Menschen zu begegnen, der wie Sie nicht ganz -» er errötete, während er nach einem passenden Ausdruck suchte - «sagen wir, nicht ganz mit den Lebensgewohnheiten von Manderley vertraut ist. Und wenn die anderen Leute Sie kritisieren sollten, dann ist das - nun - dann ist das eine verdammte Unverschämtheit, mehr ist darüber nicht zu sagen. Mir ist noch nie eine solche Kritik zu Ohren gekommen, aber ich würde schon dafür sorgen, daß den Leuten ein für allemal der Mund gestopft wird.»

«Das ist riesig nett von Ihnen, Frank», sagte ich, «und Sie haben mir mit Ihren Worten sehr geholfen. Ich bin wahrscheinlich sehr dumm. Ich tauge eben nicht dazu, sol-che Besuche zu machen und zu empfangen, ich habe das noch nie tun müssen, und ich muß dauernd daran denken, wie es früher hier auf Manderley gewesen ist, als es noch jemanden gab, der dafür geboren und erzogen war und der all diesen gesellschaftlichen Verpflichtungen ganz selbstverständlich und mühelos nachkam. Und täglich mache ich mir von neuem klar, was mir alles fehlt: Selbstvertrauen, Anmut, Schönheit, Intelligenz, Witz - all diese Eigenschaften, die bei einer Frau das Wesentlichste sind - und die sie besessen hat. Es hilft doch nichts, Frank, ich muß immer wieder daran denken.»

Er schwieg und sah noch immer besorgt und richtig niedergeschlagen aus. Er zog sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. «Das dürfen Sie wirklich nicht sagen», entgegnete er dann.

«Aber warum denn nicht? Es ist doch wahr», sagte ich.

«Sie besitzen Eigenschaften, die mindestens so wesentlich sind, ja, im Grunde sogar viel wesentlicher. Es ist vielleicht vorwitzig von mir, das zu sagen, ich kenne Sie ja erst so kurze Zeit. Und außerdem bin ich Junggeselle - ich verstehe sehr wenig von Frauen. Ich führe hier auf Man-derley ein sehr ruhiges, zurückgezogenes Leben, wie Sie ja wissen, aber ich möchte doch behaupten, daß ein liebenswürdig bescheidenes Wesen, Aufrichtigkeit und -wenn ich mich so ausdrücken darf - auch eine gewisse Zurückhaltung einem Mann, und gerade einem verheirateten Mann viel, viel mehr bedeuten als alle Schönheit und geistreiche Klugheit zusammen.»

Er sah auf einmal merkwürdig erregt aus und putzte sich wieder die Nase. Ich merkte, daß ich ihn viel mehr aus seinem Gleichgewicht gebracht hatte als mich selbst, und dieses Bewußtsein machte mich ruhiger und gab mir ein Gefühl der Überlegenheit. Ich begriff nicht, warum er sich so aufregte. Schließlich hatte ich doch gar nicht so viel gesagt.

Ich hatte ihm nur meine Unsicherheit gestanden, die ich als Nachfolgerin Rebeccas, die ich ja nun einmal war, empfand. Sie mußte diese Eigenschaften, die er mir zuschrieb, ja gerade besessen haben. Sie war bestimmt liebenswürdig und aufrichtig gewesen bei dem großen Freundeskreis und ihrer allgemeinen Beliebtheit. Ich war mir nur nicht sicher, was er mit der Zurückhaltung gemeint hatte.

«Also», sagte ich, ziemlich verlegen, «ich kann das alles nicht beurteilen. Ich glaube nicht, daß ich sehr liebenswürdig oder besonders aufrichtig bin, und was meine sogenannte Zurückhaltung anbelangt, so habe ich wohl bisher kaum eine Gelegenheit gehabt, anders zu sein. Aber es war natürlich nicht sehr zurückhaltend von mir, so in aller Eile zu heiraten und da unten in Monte Carlo vor der Trauung mit Maxim im selben Hotel zu wohnen; oder rechnen Sie mir das vielleicht nicht an?»

«Meine liebe, verehrte Mrs. de Winter, Sie glauben doch nicht etwa, daß ich auch nur einen Augenblick angenommen habe, Ihr Verhalten bei Ihrer Bekanntschaft mit Maxim sei nicht über jeden Vorwurf erhaben gewesen?» sagte er leise.

«Nein, natürlich nicht», erwiderte ich ernst. Der gute Frank! «Über jeden Vorwurf erhaben» - typisch Frank, sich so auszudrücken. Man dachte dabei unwillkürlich sofort an all die Dinge, die keineswegs über jeden Vorwurf erhaben waren.

«Ich bin sicher», begann er, zögerte jedoch wieder und sah mich von neuem bekümmert an, «ich bin sicher, daß Maxim sehr beunruhigt und sehr traurig wäre, wenn er wüßte, wie Ihnen zumute ist. Ich glaube nicht, daß er etwas davon ahnt.»

«Sie werden es ihm doch nicht erzählen?» fragte ich rasch.

«Nein, selbstverständlich nicht, wofür halten Sie mich? Aber sehen Sie, Mrs. de Winter, ich kenne Maxim schließlich recht gut, und ich habe ihn in den verschiedensten Stimmungen erlebt. Wenn er erführe, daß Sie sich über -sagen wir - über die Vergangenheit Gedanken machen, dann würde ihn das mehr bedrücken als irgend etwas sonst. Dafür kann ich mich verbürgen. Er sieht jetzt sehr gut und sehr erholt aus; aber Mrs. Lacy hatte ganz recht, als sie neulich sagte, daß er im vorigen Jahr einem Nervenzusammenbruch sehr nahe gewesen ist - wenn es auch nicht sehr taktvoll von ihr war, ihm das so ins Gesicht zu sagen. Deshalb üben Sie ja gerade einen so wohltuenden Einfluß auf ihn aus. Sie sind jung und gesund und - vernünftig; Sie haben nichts mit dieser Vergangenheit zu tun. Vergessen Sie sie, Mrs. de Winter, vergessen Sie sie, wie Maxim - Gott sei Dank - und wir alle es getan haben. Niemand von uns möchte diese Vergangenheit wieder zum Leben erwecken. Er am allerwenigsten. Und Sie müssen wissen, daß es Ihre Aufgabe ist, uns von ihr fortzuführen, und nicht, sie Wiederaufleben zu lassen.»

Er hatte natürlich recht, tausendmal recht, der liebe, gute Frank. Mein Freund, mein Verbündeter. Ich war selbstsüchtig und überempfindlich gewesen, ein Opfer meines eigenen Minderwertigkeitskomplexes. «Ich hätte Ihnen das alles schon eher sagen sollen», sagte ich.

«Ich wünschte, Sie hätten es getan», erwiderte er. «Es hätte vielleicht manchen Kummer erspart.»

«Ich fühle mich schon viel glücklicher, sehr viel glücklicher», sagte ich. «Und ich werde immer einen Freund an Ihnen haben, was auch geschehen mag, ja Frank?»

«Ja, natürlich», sagte er.

Wir hatten den dunklen Wald hinter uns gelassen und sahen jetzt wieder das Tageslicht. Die Rhododendronbü-sche boten sich unserem Blick ungehindert dar. Ihre Glanzzeit würde bald vorüber sein; sie sahen bereits ein wenig verblüht und welk aus. Ihre Schönheit war nur von kurzer Dauer.

«Frank», sagte ich, «bevor wir diesem Gespräch ein Ende machen und es für immer begraben sein lassen: wollen Sie mir noch eine einzige Frage ganz offen beantworten?»

Er blieb stehen und sah mich etwas mißtrauisch an. «Das ist etwas viel verlangt», entgegnete er. «Sie könnten mich ja etwas fragen wollen, was ich unmöglich beantworten kann, weil es einfach nicht in meiner Macht steht.»

«Nein», beruhigte ich ihn. «Um eine derartige Frage handelt es sich gar nicht. Es betrifft nichts Persönliches oder Vertrauliches oder irgend etwas, was Sie in Verlegenheit bringen könnte.»

«Also schön, ich werde es versuchen», sagte er.

Wir waren an der Stelle angelangt, wo der Weg eine letzte Biegung machte, und vor uns lag das Haus, harmonisch in die Rasenflächen eingebettet. Und wie stets ergriff mich der Anblick seiner einfachen, klaren Linien, sein vollkommenes Ebenmaß.

Das Sonnenlicht flimmerte auf den hohen Fenstern, und ein warmer, rotgoldener Schein lag auf der Steinmauer, an der sich die Schlingpflanzen emporrankten. Aus dem Kamin der Bibliothek stieg eine dünne Rauchsäule empor. Ich biß mir auf den Daumen und sah Frank verstohlen von der Seite an.

«Sagen Sie mir», fragte ich gleichgültig, ganz ungezwungen, «sagen Sie mir - war Rebecca sehr schön?»

Frank zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Er hatte sich von mir abgewandt und betrachtete das Haus. «Ja», sagte er langsam, «ja ich glaube, sie war das schönste Geschöpf, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.»

Wir stiegen die Stufen zur Halle hinauf, und ich läutete nach dem Tee.

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