19

Es war Maxim; ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hörte seine Stimme. Er rief im Laufen nach Frith. Ich hörte Frith aus der Halle antworten und auf die Terrasse hinauskommen. Ihre Gestalten tauchten schattengleich aus dem Nebel auf.

«Es ist aufgelaufen», sagte Maxim. «Ich beobachtete es schon von der Landzunge aus und sah es geradewegs in die Bucht und auf das Riff zusteuern. Während der Flut werden sie niemals loskommen. Sie müssen die Bucht mit dem Hafen von Kerrith verwechselt haben. Der Nebel steht da draußen wie eine Wand. Sagen Sie Bescheid, daß etwas Warmes zu essen und zu trinken bereitgehalten wird, falls die Leute etwas haben wollen. Und rufen Sie Mr. Crawley an und sagen Sie ihm, was geschehen ist. Ich gehe zurück zur Bucht. Bringen Sie mir ein paar Zigaretten.»

Mrs. Danvers zog sich vom Fenster zurück. Ihr Gesicht war wieder die ausdruckslose weiße Maske, die ich so gut kannte.

«Wir gehen jetzt wohl besser hinunter», sagte sie. «Frith wird mich suchen. Vielleicht bringt Mr. de Winter die Leute von dem Schiff ins Haus, wie er andeutete. Vorsicht, Ihre Finger, ich will das Fenster schließen.» Noch immer etwas benommen und taumelig trat ich zurück; ich konnte weder aus ihr noch aus mir selbst klug werden. Ich sah ihr zu, wie sie die Läden festmachte, das Fenster schloß und die Vorhänge zuzog.

«Ein Glück, daß das Meer nicht stürmisch ist», meinte sie. «Sonst wären sie wohl kaum mit dem Leben davongekommen. Aber bei so ruhigem Wetter besteht keine Gefahr. Das Schiff wird allerdings verloren sein, wenn es auf das Riff aufgelaufen ist, wie Mr. de Winter sagte.»

Sie sah sich im Zimmer um, um sich zu vergewissern, daß alles ordentlich an seinem Platz stand. Sie strich die Decke auf dem breiten Bett glatt. Dann ging sie zur Tür und hielt sie für mich auf. «Ich werde heute lieber ein kaltes Essen anrichten lassen», sagte sie. «Dann spielt es keine Rolle, wann Sie zu Tisch gehen. Mr. de Winter wird nicht um eins schon wieder zum Essen zurückeilen wollen, wenn er dort unten in der Bucht beschäftigt ist.»

Ich versuchte ihre Worte zu erfassen und ging dann zur Tür. Ich fühlte mich so steif, als ob meine Glieder aus Holz wären.

«Wenn Sie Mr. de Winter sehen, Madam, sagen Sie ihm doch bitte, daß er die Leute von dem Schiff ruhig herschicken soll. Ich werde dafür sorgen, daß sie jederzeit etwas Warmes zu essen bekommen.»

«Ja», sagte ich. «Ja, Mrs. Danvers.»

Sie wandte mir den Rücken und ging durch den Korridor zur Treppe, die hinunter zu den Küchenräumen führte: eine merkwürdige hagere Gestalt in ihrem schwarzen Kleid, dessen Rock den Boden fegte wie die Röcke, die man vor dreißig Jahren trug. Dann bog sie um eine Ecke und war verschwunden.

Ich ging langsam zur Galerie, so verwirrt, als sei ich eben erst aus einem langen Schlaf erwacht. Ich ging die Treppen hinunter, ohne zu wissen, was ich unten tun sollte. Frith durchquerte gerade die Halle auf dem Weg zum Eßzimmer. Als er mich sah, blieb er stehen und wartete, bis ich unten war.

«Mr. de Winter war vor ein paar Augenblicken noch hier, Madam», sagte er. «Er holte nur ein paar Zigaretten und ging wieder zum Strand zurück. Ein Schiff soll dort aufgelaufen sein.»

«Ja», sagte ich.

«Haben Sie die Raketen gehört, Madam?»

«Ja», sagte ich.

«Das mit dem Schiff ist ja aber auch kein Wunder bei diesem Nebel, Madam. Das habe ich auch gerade zu Robert gesagt. Es ist schon schwer genug, sich auf dem festen Lande zurechtzufinden, wieviel schwieriger muß es dann erst auf dem Wasser sein.»

«Ja», sagte ich.

«Wenn Sie Mr. de Winter noch einholen wollen, er ist vielleicht vor fünf Minuten gegangen.»

«Ja, danke Frith», sagte ich.

Ich ging auf die Terrasse hinaus. Die Bäume jenseits der Rasenfläche begannen bereits wieder Gestalt anzunehmen. Der Nebel lichtete sich, er stieg in kleinen Wolken zum Himmel, und um meinen Kopf dampfte und wirbelte es. Ich blickte zu den Fenstern im Westflügel empor. Sie waren alle fest geschlossen und sahen so aus, als ob sie sich nie mehr öffnen würden.

An jenem großen Fenster in der Mitte hatte ich vor wenigen Minuten gestanden. Wie hoch es lag, von hier aus gesehen, wie tot und unpersönlich es jetzt wirkte. Die Steinplatten unter meinen Füßen fühlten sich hart und fest an. Ich blickte auf den Boden und dann wieder hinauf zum Fenster, und plötzlich begann sich alles vor meinen Augen zu drehen, und mir wurde ganz heiß. Der Schweiß lief mir von der Stirn. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flek-ken. Ich ging wieder in die Halle und ließ mich in einen Sessel fallen. Meine Hände waren feucht. Ich saß ganz still und hielt meine Knie umklammert.

«Frith», rief ich. «Frith, sind Sie noch im Eßzimmer?»

«Ja, Madam?» Er kam sogleich herbeigeeilt und lief auf mich zu.

«Frith, ich würde gern ein Glas Cognac haben.»

«Gewiß, Madam.»

Ich blieb regungslos sitzen, bis er mit dem Cognac auf einem Silbertablett zurückkehrte.

«Fühlen Sie sich nicht wohl, Madam?» fragte Frith. «Soll ich Clarice rufen?»

«Nein, danke, Frith, mir wird gleich besser sein», antwortete ich, «die Hitze ist mir vielleicht etwas zuviel geworden.»

«Ja, es ist sehr heiß, Madam, wirklich sehr heiß, fast schwül, möchte ich sagen.»

«Ja, Frith, richtig schwül.»

Ich trank den Cognac aus und stellte das Glas auf das Tablett zurück.

«Vielleicht hat Sie der Knall der Raketen erschreckt», meinte Frith. «Es kam so plötzlich.»

«Ja, das stimmt», sagte ich.

«Und vielleicht hat Sie auch der heiße Morgen nach dem langen Stehen gestern abend etwas angestrengt, Madam.»

«Ja, das ist möglich», sagte ich.

«Wollen Sie sich nicht eine halbe Stunde hinlegen? In der Bibliothek ist es ganz kühl.»

«Nein, nein, ich werde gleich wieder hinausgehen. Es ist schon gut, Frith.»

«Sehr wohl, Madam.»

Er ging und ließ mich allein in der Halle. Es war angenehm ruhig und kühl dort. Nichts erinnerte mehr an das Kostümfest; als ob der Ball gar nicht stattgefunden hätte. Die Halle sah genauso grau und streng aus wie immer, mit den Stichen und den Waffen an der Wand. Ich konnte es kaum glauben, daß ich gestern abend hier am Fuß der Treppe in meinem blauen Kleid gestanden und fast fünfhundert Menschen die Hand geschüttelt hatte; daß auf der Galerie eine Musikkapelle gesessen und gespielt hatte. Ich erhob mich und trat auf die Terrasse hinaus.

Der Nebel zerteilte sich und stieg nach oben bis zu den Baumwipfeln. Ich konnte den Waldrand wieder deutlich erkennen. Die blasse Sonne über mir versuchte die graue Wolkenschicht zu durchdringen. Es war noch heißer geworden. Schwül, wie Frith gesagt hatte. Eine Biene summte an mir vorbei einem Duft zu, laut surrend, und verstummte plötzlich, als sie ihre Blüte gefunden hatte. Auf dem Grashang jenseits des Rasens setzte einer der Gärtner die Mähmaschine in Gang. Ein von dem Klappern aufgescheuchter Hänfling flog zum Rosengarten hinüber. Der Gärtner schob vornübergebeugt seine Maschine langsam vor sich her, das abgeschnittene Gras und die Köpfe der Gänseblümchen stoben hinter den sich drehenden Messern hervor. Der süße warme Grasgeruch zog zu mir herüber, und die Sonne schien jetzt heiß auf mich hernieder. Ich pfiff Jasper, aber er kam nicht. Vielleicht war er Maxim zum Strand hinunter gefolgt. Und da begriff ich erst, daß Maxim nicht fortgegangen war, wie ich befürchtet hatte. Die Stimme, die ich auf der Terrasse gehört hatte, war ruhig und bestimmt gewesen, die Stimme, die ich kannte. Nicht die Stimme von gestern abend, als ich auf der Treppe stand. Maxim war nicht fortgegangen. Er befand sich jetzt da unten irgendwo in der Bucht. Er war wieder ganz der alte, gelassen und beherrscht. Er war nur spazierengegangen, wie Frank angenommen hatte. Er war auf der Landzunge gewesen und hatte von da aus das Schiff bemerkt. Meine Ängste waren grundlos. Ich brauchte mir um Maxim keine Sorgen zu machen. Was ich empfunden hatte, war unwürdig, scheußlich und wahnsinnig gewesen, etwas, was ich auch jetzt noch nicht richtig verstehen konnte, woran ich nicht mehr denken wollte; was ich auf immer tief in den schattigen Winkeln meines Unterbewußtseins vergraben wollte, wo auch die Schrecken meiner Kindheit ruhten. Dies alles war jetzt unwichtig geworden, weil ich Maxim in Sicherheit wußte.

Dann ging ich den steilen, gekrümmten Pfad durch den finsteren Wald zur Bucht hinunter.

Der Nebel hatte sich fast ganz aufgelöst, und als ich am Strand ankam, erblickte ich sogleich das Schiff, das etwa zwei Meilen entfernt mit dem Bug auf dem Riff aufsaß. Ich schritt über die Mole und lehnte mich am äußersten Ende gegen die steinerne Brüstung. Auf den Felsen wimmelte es bereits von Menschen, die längs der Küste von Kerrith herübergekommen sein mußten. Die Felsen und die Landzunge gehörten zu Manderley, aber der Weg am Meer entlang war seit jeher der öffentlichen Benutzung freigegeben. Einige kletterten die Felsen bis zum Wasserspiegel hinab, um das gestrandete Schiff besser sehen zu können. Es hatte schon schwere Schlagseite; das Heck lag tief im Wasser, und eine Anzahl Ruderboote umkreisten es. Das Rettungsboot war ebenfalls draußen. Ich konnte eine Gestalt darin stehen sehen, die etwas durch ein Megaphon rief. Dort draußen hielt sich der Nebel noch, und ich konnte den Horizont nicht erkennen. Ein Motorboot kam aus dem Nebel ins Licht. Einer von den Insassen trug eine Uniform. Das mußte der Hafenmeister von Kerrith sein, und der Mann neben ihm war wohl ein Vertreter von Lloyd. Ein zweites Motorboot folgte mit einem Schub Feriengästen aus Kerrith. Sie fuhren ganz nahe an das gestrandete Schiff heran, und ich hörte ihre aufgeregten Stimmen über das ruhige Wasser hallen.

Ich verließ die Mole und kletterte über die Klippen dorthin, wo die anderen Menschen standen. Maxim konnte ich nirgends sehen, aber Frank war da und sprach mit einem der Männer von der Küstenwache. Ich traute mich zuerst nicht, zu ihm hinzugehen. Ich fühlte mich plötzlich verlegen. Vor kaum einer Stunde hatte ich ihm am Telephon etwas vorgeweint und wußte jetzt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Er erblickte mich und winkte mir zu. Ich trat zu ihm.

«Wollen Sie sich auch das Theater ansehen, Mrs. de Winter?» fragte der Küstenwächter, der mich kannte, lächelnd. «Ich fürchte, das wird noch ein schweres Stück Arbeit geben. Möglich, daß die Schlepper es loskriegen, aber ich bezweifle es. Das Schiff ist mit voller Fahrt aufgelaufen und sitzt jetzt eisern fest.»

«Was wird man denn tun?»

«Es wird gleich ein Taucher hinuntersteigen, um nachzusehen, ob der Kiel durchgebrochen ist», antwortete er. «Da, der Mann mit der roten Mütze. Wollen Sie mal durchs Glas sehen?»

Ich nahm seinen Feldstecher und stellte ihn auf das Schiff ein. Eine kleine Gruppe Männer stand am Heck über die Reling gebeugt. Einer von ihnen zeigte auf etwas. Der Mann im Rettungsboot rief immer noch durch das Megaphon.

Der Hafenmeister von Kerrith gesellte sich zu den Männern am Heck. Der Taucher mit der roten Mütze saß in dem grauen Motorboot der Hafenmeisterei.

Das Ausflüglerboot lag jetzt mit abgestelltem Motor vor dem Schiff, und eine von den Frauen photographierte. Ein Möwenschwarm hatte sich auf dem Wasser niedergelassen und schrie hungrig in der Hoffnung auf Abfälle.

Ich reichte dem Küstenwächter das Glas zurück.

«Es scheint nichts zu passieren», sagte ich.

«Sie werden den Taucher gleich hinunterlassen», sagte der Küstenwächter. «Die reden wahrscheinlich nur ein bißchen hin und her wie alle Ausländer. Da kommen die Schlepper.»

«Die werden es nie schaffen», sagte Frank. «Sehen Sie doch nur, wie schief das Schiff liegt. Es ist da draußen doch viel flacher, als ich angenommen hätte.»

«Ja, das Riff zieht sich ziemlich weit hinaus», bemerkte der Küstenwächter, «normalerweise bemerkt man es nicht, wenn man mit einem Ruderboot dort draußen herumfährt. Aber ein Schiff mit dem Tiefgang kommt natürlich nicht darüber hinweg.»

«Ich war drüben in der anderen Bucht, als die Signalraketen abgeschossen wurden», sagte Frank. «Ich konnte kaum drei Schritt weit sehen. Da gingen die Dinger plötzlich mitten aus dem Nebel los.»

Ich dachte, wie ähnlich doch die Menschen auf ein ungewöhnliches Ereignis reagieren. Frank erzählte seine Fassung von der Geschichte mit derselben Wichtigkeit wie Frith. Ich wußte, daß er zum Strand hinuntergegangen war, um Maxim zu suchen, und ich wußte, daß er ebenso in Sorge gewesen war wie ich. Und nun war alles vergessen und abgetan: unser Telephongespräch, unsere Angst, die Dringlichkeit, mit der er mich sprechen wollte - und nur, weil ein Schiff im Nebel gestrandet war.

Ein kleiner Junge kam auf uns zugelaufen. «Werden die Matrosen alle ertrinken?» fragte er.

«Die nicht, mein Sohn, denen geht es wunderbar», sagte der Küstenwächter. «Die See ist so ruhig wie ein Spiegel. Diesmal ist nichts zu befürchten.»

«Wenn's gestern nacht passiert wäre, hätten wir sie sicher nicht gehört», sagte Frank. «Wir haben bei dem Feuerwerk ja wenigstens fünfzig große Raketen losgelassen, die kleinen gar nicht gerechnet.»

«Aber wir wären schon aufmerksam geworden», meinte der Küstenwächter. «Uns wäre ja die Richtung, aus der Knall und Blitz kamen, aufgefallen. Hier, sehen Sie mal, Mrs. de Winter, der Taucher setzt gerade seinen Helm auf.»

«Ich will den Taucher auch sehen», sagte der Junge.

«Dort ist er», sagte Frank, indem er sich zu ihm herabbeugte und mit dem Finger zeigte. «Der Mann da mit dem Helm. Er wird gleich ins Wasser gelassen.»

«Wird er denn nicht ertrinken?» fragte der Junge.

«Taucher ertrinken nicht», erklärte der Küstenwächter. «Vom Schiff aus bekommt er die ganze Zeit Luft zugepumpt. Paß mal auf, wie er untertaucht, da, schon ist er verschwunden.»

«Die bekommen heute nichts zu tun», sagte der Küstenwächter.

«Nein», sagte Frank, «aber ich glaube, die Schlepper auch nicht. Diesmal wird der Schiffausschlachter den Verdienst einstecken.»

Die Möwen flatterten über unseren Köpfen; einige ließen sich auf den Klippen nieder, andere, mutigere, umschwammen das Schiff.

Der Küstenwächter nahm seine Mütze ab und wischte sich die Stirn.

«Mächtig drückend heute», sagte er.

Das Ausflüglerboot nahm jetzt ebenfalls Kurs auf Ker-rith. «Denen ist es zu langweilig geworden», sagte der Küstenwächter.

«Ich kann es ihnen nicht verdenken», meinte Frank. «Es kann noch Stunden dauern, bis sich irgend etwas ereignet. Der Taucher muß ja erst Bericht erstatten, bevor sie entscheiden können, ob das Schiff wieder flott zu bekommen ist oder abgewrackt werden muß.»

«Ja, das stimmt», sagte der Küstenwächter.

«Es hat, glaube ich, nicht viel Sinn, hier herumzustehen», sagte Frank. «Wir können doch nichts ausrichten, und außerdem habe ich Hunger.»

Ich schwieg. Er zögerte und blickte mich fragend an. «Was werden Sie tun?» fragte er.

«Ich werde doch noch ein bißchen bleiben», sagte ich. «Das Mittagessen kann warten. Ich möchte gern sehen, was mit dem Taucher wird.» Ich wollte nicht mit Frank nach Hause gehen, ich wollte allein sein; der Küstenwächter störte mich nicht.

«Sie werden gar nichts zu sehen bekommen», sagte Frank. «Begleiten Sie mich lieber und essen Sie mit mir.»

«Nein, danke, Frank», sagte ich, «wirklich nicht.»

«Na schön, wie Sie wollen. Sie wissen ja, wo ich zu finden bin, falls Sie mich brauchen. Ich bin den ganzen Nachmittag im Büro.»

«Ja», sagte ich.

Er nickte dem Küstenwächter zu und ging zum Strand hinunter. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nicht vielleicht gekränkt hatte. Aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Eines Tages würde sich schon alles wieder einrenken. So viel hatte sich ereignet, seitdem wir miteinander gesprochen hatten, und ich wollte jetzt an nichts mehr denken müssen. Ich wollte nur still auf den Felsen sitzen und aufs Schiff hinaussehen.

«Ein feiner Kerl, Mr. Crawley», sagte der Küstenwächter.

«Ja», sagte ich.

«Er würde für Mr. de Winter durchs Feuer gehen.»

«Ja, ich glaube, das würde er tatsächlich fertigbringen.»

Der kleine Junge sprang immer noch aufgeregt um uns herum. «Wann kommt denn der Taucher wieder?» fragte er.

«Noch nicht so bald, mein Sohn», sagte der Küstenwächter.

Eine Frau in einem rosa-weiß gestreiften Kleid kam über die Klippen auf uns zu. «Charlie? Charlie? Wo steckst du denn?» rief sie.

«Da kommt deine Mutter, jetzt setzt's was!» sagte der Küstenwächter.

«Ich hab den Taucher gesehen, Mami», schrie der Junge.

Die Frau nickte uns lächelnd zu. Ich kannte sie nicht. Sie war wohl ein Feriengast aus Kerrith. «Es wird wohl jetzt nicht mehr viel zu sehen geben», sagte sie. «Da unten sagen sie, daß das Schiff noch tagelang draußen liegen wird.»

«Sie warten erst den Bericht des Tauchers ab», sagte der Küstenwächter.

«Ich verstehe nicht, wie ein Mensch dazu zu kriegen ist, so lange unter Wasser zu bleiben», sagte die Frau. «Hoffentlich bezahlt man sie wenigstens gut.»

«Das tut man auch», sagte der Küstenwächter.

«Ich will ein Taucher werden, Mami», rief der Junge.

«Da mußt du deinen Vater fragen, Charlie», sagte die Frau und lachte uns an. «Ein schönes Fleckchen Erde ist das hier, nicht wahr?» wandte sie sich dann an mich. «Wir wollten hier picknicken und ahnten ja nicht, daß wir in den Nebel geraten und sogar noch ein Schiffsunglück erleben würden. Ich persönlich kann ja nichts Aufregendes dabei finden.»

«Nein, viel zu sehen ist ja auch nicht», sagte der Küstenwächter.

«Das ist ein schöner Wald dort drüben», sagte die Frau. «Aber ich glaube, er gehört zu einem Privatbesitz.»

Der Küstenwächter räusperte sich verlegen und sah mich an. Ich kaute an einem Grashalm und blickte zur Seite.

«Ja, das ist privater Besitz», sagte er.

«Mein Mann hat gesagt, daß alle diese großen Grundstücke eines Tages aufgeteilt und Einfamilienhäuser darauf gebaut werden würden», sagte die Frau. «Ich hätte nichts dagegen, so ein kleines Haus hier an der See zu haben. Aber im Winter stelle ich's mir nicht schön vor.»

«Ja, im Winter ist es hier sehr einsam», sagte der Küstenwächter.

Ich kaute weiter an meinem Grashalm. Der kleine Junge spielte um uns herum. Der Küstenwächter sah auf seine Uhr. «Es wird Zeit für mich», sagte er, «auf Wiedersehen.» Er grüßte mich und schlug den Pfad nach Kerrith ein. «Komm, Charlie, wir wollen Vater suchen gehen», sagte die Frau. Sie nickte mir freundlich zu und wanderte über den Felsen landeinwärts. Der kleine Junge rannte ihr nach. Ein Mann in kurzen Sporthosen und buntgestreifter Tennisjacke winkte ihr. Sie setzten sich alle neben einen Wacholderbusch, und die Frau fing an, ihren Picknickkorb auszupacken.

Ich wünschte, ich hätte einmal vergessen dürfen, wer ich war, und mich zu ihnen setzen und mit ihnen hartgekochte Eier und belegte Brote essen, mich mit ihnen unterhalten und auch so vergnügt und laut lachen können. Und danach würden wir langsam nach Kerrith zurückgehen, unterwegs im Wasser plantschen, über den Sand um die Wette laufen und schließlich im Gasthaus einen ausgedehnten Tee mit Toast und Krabben zu uns nehmen. Statt dessen mußte ich allein durch den Wald nach Manderley gehen und auf Maxim warten. Und ich wußte nicht, was wir miteinander sprechen sollten, wie er mich ansehen, wie seine Stimme klingen würde. Aber ein Weilchen blieb ich noch sitzen. Ich war nicht hungrig, ich mochte nicht essen.

Immer mehr Menschen kamen, um sich das Schiff anzusehen. Es war ein Erlebnis, von dem man zu Hause erzählen konnte. Die Gesichter waren mir alle unbekannt. Das Meer lag bleiern schwer und unbeweglich da; die Möwen flogen nicht mehr über meinen Kopf, sie ruhten sich jetzt alle auf dem Wasser aus. Im Laufe des Nachmittags kamen immer neue Boote mit Ausflüglern an der Unglücksstelle an; heute war ein großer Tag für die Bootsvermieter von Kerrith. Der Taucher wurde wieder emporgezogen und stieg dann noch einmal hinunter. Der eine Schlepper dampfte fort, während der andere blieb. Der Taucher blieb das zweitemal nur kurze Zeit unten, und dann fuhren er und der Hafenmeister mit dem grauen Motorboot weg. Die Besatzung des Schiffes vertrieb sich die Zeit damit, die Möwen zu füttern. Nichts ereignete sich. Die Ebbe hatte ihren Tiefstand erreicht, und das Schiff lag gefährlich schief und zeigte fast den ganzen Kiel. Im Westen zogen feine Schäfchenwolken auf, und die Sonne stach nicht mehr so unbarmherzig. Aber es war noch immer sehr heiß. Die Frau im rosagestreiften Kleid nahm ihren kleinen Jungen an die Hand; der Mann ergriff den Picknickkorb, und sie brachen nach Kerrith auf.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war drei vorbei. Ich erhob mich und ging über die Klippen in die Bucht hinunter. Dort unten war es still und einsam wie immer.

Das Wasser in dem kleinen Hafen glitzerte wie Glas. Meine Füße machten ein knirschendes Geräusch auf dem Kies, als ich über den Strand ging. Die weißen Wölkchen bedeckten jetzt den ganzen Himmel, und die Sonne war hinter ihnen verschwunden. Als ich ein paar Schritte gegangen war, sah ich Ben an einer kleinen Pfütze zwischen den Felsen hocken, wo er Muscheln vom Gestein kratzte. Mein Schatten fiel auf das Wasser, als ich vorüberging, und er blickte auf. «'n Tag!» sagte er.

«Guten Tag!»

Er stand schwerfällig auf und öffnete das schmutzige Taschentuch, in das er die Muscheln gesammelt hatte.

«Mögen Sie Muscheln?» fragte er.

Ich wollte ihn nicht verletzen. «Ja, danke», sagte ich.

Er schüttete etwa ein Dutzend in meine Hand, und ich steckte sie in meine beiden Rocktaschen. «Die schmecken gut mit Brot und Butter», sagte er. «Man muß sie aber zuerst kochen.»

«Gut, das werde ich tun», sagte ich.

Er sah mich mit seinem freundlichen blöden Grinsen an. «Haben Sie schon den Dampfer gesehen?» fragte er.

«Ja», sagte ich. «Er ist aufgelaufen.»

«He?» machte er.

«Er ist gestrandet», wiederholte ich. «Es ist eine deutsche Jacht; sie hat sich wahrscheinlich ein Leck gerissen.»

Er sah mich verständnislos an. «Ah ja», sagte er, «die liegt da unten, die kommt nicht wieder rauf.»

«Vielleicht werden die Schlepper sie losbekommen, wenn die Flut steigt.»

Er antwortete nicht. Er starrte zur gestrandeten Jacht hinüber. Von hier aus konnte ich ihre Breitseite sehen mit der rot gemalten Wasserlinie, die sich von ihrer schwarzen Flanke abhob, und den einen Schornstein, der in seiner schiefen Lage fast kokett wirkte. Die Besatzung lehnte immer noch an der Reling und warf den Möwen Futterbrocken zu. Die Ruderboote hatten sich bereits alle entfernt.

«Sie ist ein Holländer, nicht wahr?» fragte Ben.

«Ich weiß nicht, ich glaube, es ist ein deutsches Schiff.»

«Sie wird zerbrechen, wo sie aufsitzt», sagte er.

«Ja, ich fürchte, ja», sagte ich.

Er grinste wieder und fuhr sich mit der Hand über den Nasenrücken.

«Stück für Stück wird sie zerbrechen», sagte er. «Sie wird nicht wie ein Stein untergehen wie das kleine Boot.» Er kicherte geheimnisvoll und bohrte mit dem Finger in der Nase. Ich sagte nichts. «Die Fische werden sie schon aufgefressen haben, nicht wahr?» fragte er.

«Wen?» fragte ich.

Er deutete mit dem Daumen aufs Wasser hinaus. «Na, die da», sagte er, «die, die da unten liegen.»

«Fische essen doch kein Holz, Ben», sagte ich.

«He?» fragte er wieder, und wieder zog das blöde Lächeln über sein Gesicht.

«Ich muß jetzt gehen», sagte ich. «Auf Wiedersehen.» Ich ließ ihn stehen und ging zum Wald hinauf. Ich blickte nicht zum Bootshaus hin; ich wußte nur, daß es dort an meiner Seite lag, grau und verlassen. Ich ging mit raschen Schritten den Pfad zwischen den Bäumen entlang. Auf halbem Wege sah ich noch einmal zurück und konnte das gestrandete Schiff gerade noch erkennen. Jetzt war auch die Besatzung von Deck gegangen. Eine kleine Brise erhob sich plötzlich und blies mir ins Gesicht. Ein Blatt löste sich von einem Zweig und fiel mir auf die Hand. Ein Schauder lief mir über den Rücken, ich wußte nicht, warum. Die Brise legte sich wieder, und es war heiß und drückend wie zuvor. Das Schiff dort draußen bot einen trostlosen Anblick mit seinem menschenleeren Deck und dem hilflos gen Himmel ragenden Schornstein. Das Meer war so ruhig, daß der Wellenschlag in der Bucht nur wie gedämpftes Flüstern heraufklang. Ich setzte meinen Weg fort. Ich fühlte mich am ganzen Körper zerschlagen, und eine eigentümliche Vorahnung machte mir das Herz schwer.

Manderley sah sehr friedlich aus, als ich aus dem Wald herauskam und über den Rasen auf das Haus zuging. Von seinen festen Mauern ging ein starkes Gefühl von Geborgenheit aus; und als ich es dort in seiner einzigartigen Schönheit liegen sah, empfand ich zum erstenmal mit einem seltsamen, verwirrten Stolz, daß dies mein Heim war, daß ich zu Manderley und Manderley zu mir gehörte. Die Bäume und das Gras, die Blumenkübel auf der Terrasse spiegelten sich in den hohen Fenstern wider. Aus einem der Schornsteine stieg eine dünne Rauchfahne auf. Das frisch gemähte Gras duftete süß. Eine Amsel sang in dem Kastanienbaum. Ein Zitronenfalter flatterte wie trunken vor mir her.

Ich ging in die Halle und von da ins Eßzimmer. Für mich war noch gedeckt, aber Maxims Platz war schon abgeräumt. Der kalte Braten und die Salatschüssel standen auf dem Büfett. Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich läutete. Robert kam aus der Anrichte.

«War Mr. de Winter hier?» fragte ich ihn.

«Ja, Madam», sagte Robert. «Er kam kurz nach zwei, aß eine Kleinigkeit und ging dann wieder hinaus. Er fragte nach Ihnen, und Frith sagte, er glaubte, Sie seien zum Strand hinuntergegangen, um das Schiff zu sehen.»

«Hat er hinterlassen, wann er zurückkommen wird?»

«Nein, Madam.»

«Er muß den anderen Weg gegangen sein», sagte ich. «Deshalb haben wir uns wohl verfehlt.»

«Ja, Madam», sagte Robert.

Ich sah auf die Platte mit dem Fleisch. Ich war zwar hungrig, aber ich hatte keinen Appetit auf kalten Braten.

«Wollen Sie nicht etwas essen, Madam?» fragte Robert.

«Nein, danke», sagte ich. «Aber bringen Sie mir etwas Tee in die Bibliothek. Keinen Kuchen, nur Tee und etwas Toast.»

«Sehr wohl, Madam.»

Ich ging in die Bibliothek und setzte mich auf die Bank am Fenster. Jasper fehlte mir. Maxim mußte ihn mitgenommen haben. Ich wartete darauf, daß sich irgend etwas ereignen sollte, irgend etwas Unvorhergesehenes. Mein grauenhaftes Erlebnis am Morgen, das gestrandete Schiff und mein Hunger hatten mich in einen Zustand erregter Spannung versetzt, die ich mir selbst nicht deuten konnte. Mir war, als hätte ich einen neuen Abschnitt meines Lebens begonnen, in dem nichts wie früher sein würde. Das Mädchen, das sich gestern abend zum Kostümball angezogen hatte, hatte ich hinter mir gelassen. Das alles war vor langer Zeit geschehen. Jetzt saß ein neues, ganz anderes Ich hier am Fenster.

Robert brachte mir den Tee, und ich verschlang heißhungrig den gebutterten Toast. Er hatte außerdem doch noch Sandwiches, Kuchen und kleines Gebäck mitgebracht; er hielt es wohl nicht für schicklich, den Tee allein mit Toast zu servieren, und ich war froh, daß er nicht auf mich gehört hatte. Ich hatte ja nicht einmal richtig gefrühstückt, nur etwas kalten Tee getrunken. Als ich bei meiner dritten Tasse war, trat Robert wieder ein.

«Ist Mr. de Winter schon zurückgekommen, Madam?» erkundigte er sich.

«Nein», sagte ich, «warum? Möchte ihn jemand sprechen?»

«Jawohl, Madam. Captain Searle, der Hafenmeister von Kerrith, ist am Telephon. Er fragt, wann er Mr. de Winter hier antreffen kann.»

«Ich weiß nicht, was wir ihm sagen sollen», erwiderte ich. «Es ist ja schließlich möglich, daß er noch Stunden fortbleibt.»

«Jawohl, Madam.»

«Bestellen Sie ihm, er möchte doch um fünf Uhr noch einmal anrufen», sagte ich. Robert ging aus dem Zimmer, kam aber gleich darauf wieder zurück.

«Captain Searle würde Sie auch gern sprechen, wenn es Ihnen recht ist, Madam», sagte er. «Er sagt, es handle sich um eine sehr dringliche Angelegenheit. Er hat schon im Büro angerufen, aber Mr. Crawley war auch nicht da.»

«Wenn es so dringend ist, dann soll er nur gleich heraufkommen. Hat er einen Wagen?»

«Ja, ich glaube wohl, Madam.»

Robert ging aus dem Zimmer. Ich wunderte mich, daß Captain Searle mich sprechen wollte. Wahrscheinlich hatte es irgend etwas mit dem gestrandeten Schiff zu tun, aber ich begriff nicht, was das Maxim anging. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn das Schiff unmittelbar in der Bucht aufgelaufen wäre. Denn die Bucht war Manderley-scher Besitz. In diesem Fall hätten sie Maxims Erlaubnis einholen müssen, um Felsensprengungen vorzunehmen oder was man sonst tat, um ein Schiff wieder flott zu bekommen. Aber das Riff lag doch schon im offenen Meer; Captain Searle würde nur seine Zeit verschwenden.

Er mußte gleich losgefahren sein, denn eine Viertelstunde nachdem Robert seinen Anruf gemeldet hatte, trat er schon ins Zimmer.

Er trug noch die Uniform, in der ich ihn mittags durch den Feldstecher gesehen hatte. Ich ging ihm entgegen und gab ihm die Hand. «Es tut mir leid, daß mein Mann noch nicht zurück ist, Captain Searle», sagte ich; «er muß wieder zu den Felsen hinuntergegangen sein, und vorher war er in Kerrith. Ich habe ihn selbst den ganzen Tag noch gar nicht zu Gesicht bekommen.»

«Ja, ich hörte, daß er nach Kerrith gefahren war, aber leider habe ich ihn dort verfehlt», erwiderte der Hafenmeister. «Er muß zu Fuß zurückgegangen sein, während ich im Boot hinfuhr. Und Mr. Crawley kann ich auch nicht erreichen.»

«Ja, das gestrandete Schiff hat uns hier alle ein bißchen durcheinander gebracht», sagte ich. «Ich war auch unten auf den Felsen und habe mein Mittagessen versäumt, und ich weiß, daß Mr. Crawley auch da war. Was wird nun mit dem Schiff geschehen? Werden die Schlepper es wieder losbekommen?»

Captain Searle beschrieb mit der Hand einen großen Kreis in der Luft. «Es hat ein so großes Leck unter Wasser», sagte er. «Hamburg wird es nie wieder zu sehen bekommen. Aber das braucht uns ja nicht zu kümmern. Der Besitzer und der Vertreter von Lloyd können das untereinander abmachen. Nein, Mrs. de Winter, ich bin nicht des Schiffes wegen hierhergekommen. Indirekt ist es allerdings die Ursache meines Besuches. Ich habe nämlich Mr. de Winter eine Mitteilung zu machen, die mir verdammt unangenehm ist.» Er sah mich mit seinen hellen blauen Augen offen an.

«Worum handelt es sich denn, Captain Searle?»

Er zog ein großes weißes Taschentuch hervor und schneuzte sich. «Wissen Sie, Mrs. de Winter, Ihnen gegenüber fällt es mir auch nicht eben leichter, davon zu sprechen. Ich möchte Ihnen und Ihrem Mann um nichts in der Welt Ungelegenheiten bereiten. Wir in Kerrith schätzen Mr. de Winter alle sehr hoch, und Kerrith hat der Familie schon seit jeher viel zu verdanken. Es ist hart für Sie beide, daß wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, aber wie die Umstände nun einmal sind, sehe ich da keinen Ausweg.» Er hielt inne und steckte das Taschentuch wieder ein. Dann sprach er mit gesenkter Stimme weiter, obwohl wir doch allein im Zimmer waren. «Wir schickten einen Taucher hinunter, um den Schaden zu untersuchen, und dort unten machte er eine Entdeckung. Als er das Leck gefunden hatte, wollte er noch auf die andere Seite hinübergehen, um festzustellen, ob dort auch etwas beschädigt worden sei, und dabei stieß er auf den Rumpf eines kleinen Segelbootes, der noch völlig intakt war. Der Taucher stammt hier aus der Gegend und erkannte das Boot sofort; es war das kleine Segelboot, mit dem Mrs. de Winter verunglückte.»

Mein erstes Gefühl war das der Dankbarkeit, weil Maxim nicht da war, um diese Nachricht zu hören. Dieser neue Schlag, so unmittelbar nach meiner Maskerade gestern abend, war wirklich eine grausame Ironie des Schicksals.

«Das ist ja ein merkwürdiger Zufall», sagte ich langsam. «Aber ist es denn unbedingt notwendig, Mr. de Winter etwas davon zu sagen? Kann das Boot nicht da liegen bleiben? Es kann doch keinen Schaden anrichten.»

«Ja, normalerweise hätte auch kein Hahn danach gekräht, Mrs. de Winter, und ich wäre der letzte gewesen, alte Geschichten aufzurühren; und, wie gesagt, ich würde viel darum geben, Ihrem Mann das zu ersparen. Aber um die Auffindung des Bootes geht es gar nicht. Als nämlich der Taucher den Bootsrumpf etwas näher untersuchte, machte er eine bedeutend schwerwiegendere Entdeckung. Die Kajütentür war fest verschlossen, die Bullaugen ebenfalls, und an dem ganzen Rumpf war kein Kratzer zu sehen. Er brach eins der Bullaugen auf und sah in die Kajüte hinein. Sie war voll Wasser, das wohl durch irgendein unsichtbares Leck am Boden eingedrungen war, und dann fiel sein Blick auf etwas Grauenhaftes.»

Captain Searle machte wieder eine Pause und blickte über seine Schulter, um sich zu vergewissern, daß niemand außer uns im Zimmer war. «Auf dem Kajütenboden lag ein Leichnam», sagte er ruhig. «Natürlich war er fast ganz aufgelöst, aber Kopf und Arme waren deutlich zu erkennen. Der Taucher ließ sich gleich wieder hochziehen und berichtete mir, was er entdeckt hatte. Jetzt verstehen Sie wohl, Mrs. de Winter, weshalb ich Ihren Mann sprechen muß.»

Ich starrte ihn verständnislos an; ich war nicht sonderlich erschrocken, ich verspürte nur eine leichte Übelkeit.

«Sie war nicht allein gesegelt», flüsterte ich. «Sie hatte also jemanden bei sich, und niemand hat davon gewußt?»

«Es sieht so aus», sagte der Hafenmeister.

«Wer kann das nur gewesen sein?» sagte ich. «Der Betreffende muß doch irgendwelche Verwandte gehabt haben, die ihn vermißten. Damals waren doch die ganzen Zeitungen voll von dem Unglück, und wie kommt es, daß er in der Kajüte eingeschlossen war und Mrs. de Winter Wochen später viele Meilen von dem Unglücksort aufgefunden wurde?»

Captain Searle schüttelte den Kopf. «Ich weiß darüber auch nicht mehr als Sie», sagte er. «Fest steht nur, daß dort unten ein Leichnam gefunden wurde und daß ich dies melden muß. Ich fürchte, wir werden es nicht aus den Zeitungen heraushalten können, Mrs. de Winter. Es tut mir leid für Sie beide. Sie haben eben erst geheiratet und wollen hier in Ruhe leben, und dann muß so etwas geschehen.»

Jetzt wußte ich auf einmal, was meine Vorahnung zu bedeuten hatte. Nicht das gestrandete Schiff war mir unheilvoll erschienen, noch die kreischenden Möwen und auch nicht der schwarze Schornstein, der wie ein drohender Finger gen Land wies. Das stille schwarze Wasser, das tausend Geheimnisse in seinen Tiefen bergen mochte, hatte dieses Gefühl in mir geweckt, und der Taucher, der hinabstieg und auf Rebeccas Boot stieß. Er hatte das Boot angefaßt und in die Kajüte gesehen, während ich noch unwissend auf den Felsen saß.

«Wenn wir ihm doch nur nichts sagen müßten», sagte ich. «Wenn wir es doch verschweigen könnten.»

«Sie wissen, ich würde es tun, wenn es mir möglich wäre, Mrs. de Winter», sagte Captain Searle. «Aber in einer solchen Angelegenheit müssen persönliche Rücksichten zurücktreten. Ich muß meine Pflicht tun und die Entdek-kung melden.» Er brach plötzlich ab, denn Maxim war ins Zimmer getreten.

«Hallo», sagte er, «was geht denn hier vor? Ich wußte gar nicht, daß Sie hier sind, Captain. Ist irgend etwas los?»

Ich hielt es nicht länger aus und verließ das Zimmer, feige, wie ich nun einmal war. Ich hatte nicht einmal gewagt, Maxim anzusehen. Ich hatte nur den undeutlichen Eindruck bekommen, daß er müde und erhitzt aussah.

Ich ging in die Halle und stellte mich in die Haustür. Jasper trank geräuschvoll aus seinem Napf. Er wedelte mit dem Schwanz, als er mich sah, ohne im Trinken innezuhalten. Dann kam er in großen Sätzen auf mich zuge-sprungen und richtete sich an mir auf; ich küßte ihn auf den Kopf, und dann ging ich hinaus und setzte mich auf die Terrasse. Der Augenblick, der über meine Zukunft entscheiden mußte, war gekommen. Ich konnte ihm nicht länger ausweichen. Meine alten Ängste, meine Scheu, mein unverbesserlicher Minderwertigkeitskomplex mußten jetzt unterdrückt und besiegt werden. Versagte ich jetzt, dann versagte ich für alle Zeiten. Es war meine letzte Gelegenheit. Ich betete verzweifelt um Mut, und meine Nägel gruben sich in meine Handflächen. Ich saß wohl fünf Minuten dort und starrte auf den grünen Rasen und die Blumenkübel auf der Steintreppe. Ich hörte, wie ein Auto auf der Anfahrt gestartet wurde und abfuhr. Das mußte Captain Searle sein. Er hatte Maxim pflichtgemäß seine Mitteilung gemacht und sich dann verabschiedet. Ich erhob mich und ging langsam durch die Halle in die Bibliothek zurück. Meine Hände spielten mit den Muscheln in meinen Taschen.

Maxim stand am Fenster, den Rücken dem Zimmer zugekehrt. Ich wartete an der Tür. Er rührte sich nicht. Ich nahm meine Hände aus den Taschen und trat neben ihn. Ich ergriff seine Hand und legte sie an meine Wange. Er sagte noch immer kein Wort.

«Es tut mir so leid», flüsterte ich. «Von ganzem Herzen leid.» Er schwieg. Seine Hand war eiskalt. Ich küßte sie, jeden Finger einzeln. «Ich will nicht, daß du dies Schwere allein trägst», fuhr ich fort. «Ich will es dir tragen helfen. Ich bin in diesen letzten vierundzwanzig Stunden ein anderer Mensch geworden. Du wirst mich nie wieder wie ein Kind behandeln müssen.»

Er legte seinen Arm um mich und zog mich dicht an sich. Meine Scheu und meine Unsicherheit waren verflogen. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. «Du hast mir vergeben, nicht wahr?» fragte ich.

Endlich sprach er. «Dir vergeben? Was hätte ich dir zu verzeihen?»

«Wegen gestern abend», sagte ich. «Du dachtest, ich hätte es absichtlich getan.»

«Ach das», antwortete er. «Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. War ich sehr unfreundlich zu dir?»

«Ja», sagte ich. Er schwieg wieder, aber er hielt mich noch fest an sich gepreßt. «Maxim», sagte ich, «können wir nicht wieder von vorn beginnen? Einen neuen Anfang machen und Hand in Hand allen Schwierigkeiten begegnen? Ich erwarte nicht, daß du mich liebst. Ich verlange nichts Unmögliches von dir. Ich will dein Freund und dein Kamerad sein. Ich will nur das sein.»

Er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mich an. Es fiel mir auf, wie mager sein Gesicht war, wie müde und vergrämt. Und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.

«Wie sehr liebst du mich?» fragte er.

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich konnte ihn nur sprachlos anstarren, seine dunklen gequälten Augen, seinen blassen Mund.

«Es ist zu spät, Liebste, zu spät», sagte er. «Ich habe meine Chance, glücklich zu sein, verpaßt.»

«Nein, Maxim, nein», bat ich.

«Doch», sagte er. «Jetzt ist es damit vorbei. Jetzt ist das eingetreten, was ich befürchtete.»

«Was denn nur?»

«Es mußte so kommen, es hat Tag und Nacht auf mir gelastet. Du und ich, wir sollten eben nicht glücklich werden.» Er setzte sich auf die Bank am Fenster, und ich kniete vor ihm, meine Hände auf seinen Schultern.

«Wovon redest du?»

Er legte seine Hände auf meine und blickte mir ins Gesicht. «Rebecca hat gewonnen», sagte er.

Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an; das Herz klopfte mir zum Zerspringen; meine Hände waren plötzlich eisig kalt geworden.

«Ihr Schatten hat die ganze Zeit zwischen uns gestanden», sagte er. «Ihr verfluchter Schatten hat uns getrennt. Wie durfte ich dich denn so halten, mein Liebling, meine kleine Liebste, während ich ständig diese Furcht mit mir herumtrug? Ich erinnere mich an ihre Augen, wie sie mich ansah, als sie starb. Ich sehe noch ihr heimtückisches Lächeln. Sie wußte genau, wie alles kommen würde, sie wußte, daß sie mich zuletzt doch besiegen würde.»

«Maxim», flüsterte ich. «Wovon sprichst du? Was willst du mir sagen?»

«Man hat ihr Boot gefunden», sagte er. «Der Taucher hat es heute nachmittag entdeckt.»

«Ich weiß, Captain Searle hat mir davon erzählt. Du denkst an die Leiche, die in der Kajüte gesehen wurde?»

«Ja», erwiderte er.

«Sie war also damals nicht allein», sagte ich. «Irgend jemand ist mit ihr gesegelt, und du mußt jetzt versuchen, herauszubekommen, wer es war - das ist es doch, nicht wahr, Maxim?»

«Nein», entgegnete er, «nein, du verstehst nicht.»

«Ich möchte dir so gern helfen, Maxim.»

«Rebecca war damals allein im Boot, es war niemand bei ihr», sagte er.

Ich beobachtete stumm sein Gesicht.

«Es ist Rebeccas Leiche, die dort in der Kajüte liegt.»

«Nein», stammelte ich, «nein.»

«Die Frau, die in unserer Familiengruft beigesetzt wurde, war nicht Rebecca», fuhr er fort. «Es war der Leichnam einer Unbekannten, die kein Mensch vermißte, nach der niemand fragte. Es hat gar kein Bootsunglück gegeben; Rebecca ist nicht ertrunken. Ich habe sie getötet. Ich erschoß Rebecca da drüben im Bootshaus. Ich trug ihre Leiche in die Kajüte und versenkte das Boot. Es ist Rebecca, die man heute gefunden hat. Und jetzt schau mir in die Augen und sag mir, daß du mich noch liebst!»

Загрузка...