Vor dem Wagen blieben wir stehen. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas. Oberst Julyan reichte sein Zigarettenetui herum. Favell war grau im Gesicht, und ich bemerkte, daß die Hand, die das Streichholz hielt, zitterte. Der Leierkastenmann unterbrach sein Spielen und humpelte mit der Mütze in der Hand zu uns herüber. Maxim gab ihm zwei Shilling, dann humpelte der Mann wieder zurück und fing sein Gedudel von neuem an. Die Kirchturmuhr schlug sechs. Favell fing an zu sprechen. Er versuchte sich unbekümmert und gelassen zu geben, aber sein Gesicht verriet ihn. Er sah keinen von uns an, sondern blickte nur auf die Zigarette, die er zwischen seinen Fingern hin und her drehte. «Krebs», sagte er. «Weiß jemand von euch, ob es ansteckend ist?»
Niemand antwortete ihm. Oberst Julyan zuckte nur die Achseln.
«Das habe ich wirklich nicht ahnen können», sagte Favell, und sein Gesicht zuckte. «Daß sie es sogar vor Danny geheimgehalten hat! Was für eine gottverfluchte Geschichte, was? Kein Mensch wäre je darauf gekommen, so was bei Rebecca zu vermuten. Ist euch nicht auch nach einem Whisky? Ich fühle mich ganz geschlagen, das muß ich offen zugeben. Krebs! Mein Gott!»
Er lehnte sich gegen den Wagen und bedeckte seine Augen mit der Hand. «Sagt doch diesem verdammten Kerl da drüben, er soll sich mit seinem Dudelkasten weiterscheren», sagte er, «ich halte den Höllenkrach nicht aus.»
«Wäre es nicht viel einfacher, wenn wir uns selbst davonmachten?» sagte Maxim. «Glaubst du, daß du mit deinem Wagen fertig wirst, oder soll Oberst Julyan für dich fahren?»
«Eine Sekunde, ich bin gleich wieder in Ordnung», murmelte Favell. «Ihr könnt das nicht verstehen. Die ganze Geschichte ist ein furchtbarer Schlag für mich gewesen.»
«Reißen Sie sich um Himmels willen zusammen, Mensch», sagte Oberst Julyan. «Wenn Sie eine Stärkung brauchen, dann gehen Sie wieder zurück und bitten Sie Baker darum. Er dürfte für Sie genau das richtige Mittel finden. Aber lassen Sie sich nicht mitten auf der Straße so gehen.»
«Ja, ihr habt's gut, ihr seid fein raus», sagte Favell, während er sich aufrichtete und Maxim und den Oberst ansah. «Ihr braucht euch keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Max ist wieder ganz obenauf. Sie haben jetzt Ihren Beweggrund, und Baker wird ihn Ihnen gratis schwarz auf weiß bestätigen, wann Sie nur wünschen. In Zukunft können Sie sich daraufhin als Ehrengast von Manderley betrachten und sich noch was darauf einbilden. Und Max wird Sie zweifellos bitten, bei seinem ersten Kind Pate zu stehen.»
«Wollen wir langsam an Aufbruch denken?» sagte Oberst Julyan zu Maxim. «Wir können uns ja noch unterwegs überlegen, was jetzt zu tun ist.»
Maxim öffnete den Wagenschlag, und Oberst Julyan stieg ein. Ich setzte mich wieder vorn auf meinen Platz. Favell lehnte sich immer noch gegen den Wagen und rührte sich nicht vom Fleck. «Ich würde Ihnen raten, auf kür-zestem Weg nach Hause zu fahren und sich hinzulegen», sagte Oberst Julyan kühl. «Und fahren Sie langsam, oder Sie landen noch wegen fahrlässiger Tötung im Gefängnis. Und da ich Sie wohl so bald nicht wiedersehen werde, lassen Sie sich's jetzt gleich gesagt sein, daß ich in meiner Eigenschaft als Polizeirichter über gewisse Machtmittel verfüge, die ich mich nicht anzuwenden scheue, wenn Sie sich in Kerrith und meinem Bezirk sehen lassen. Erpressung ist auf die Dauer kein einträglicher Beruf, Mr. Favell, und Sie werden sich wundern, was für einen kurzen Prozeß wir hier mit Leuten Ihres Schlages machen.»
Favell starrte Maxim an. Sein Gesicht hatte seine natürliche Farbe wiedergewonnen, und das alte unsympathische Lächeln spielte um seine Lippen. «Ja, Max, du hast ein verdammtes Glück entwickelt», sagte er langsam. «Und du glaubst wahrscheinlich, dir kann nichts mehr geschehen? Aber das Gesetz kann dich immer noch zu packen kriegen und ich auch, wenn auch auf eine andere Weise ...»
Maxim ließ den Motor an. «Hast du sonst noch was zu sagen?» fragte er. «Wenn ja, dann mach's bitte kurz.»
«Nein», sagte Favell. «Du bist entlassen.»
Er trat auf den Bürgersteig zurück, und der Wagen glitt vorwärts. Als wir um die Ecke bogen, blickte ich zurück und sah ihn dort stehen und lachend hinter uns her winken.
Wir fuhren eine Weile, ohne etwas zu sagen. «Er kann nichts mehr tun», brach der Oberst dann das Schweigen. «Er will sich selbst und uns mit seinem Lächeln und seinem Winken nur bluffen. Diese Burschen sind sich alle gleich. Er hat auch nicht die Spur einer Chance, von einem Gericht gehört zu werden. Bakers Aussage wird seine phantastischen Anschuldigungen immer widerlegen.»
Maxim antwortete nicht. Ich warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht, aber es sagte mir nichts. «Ich hatte immer das Gefühl, daß des Rätsels Lösung bei Baker liegen würde», sagte Oberst Julyan. «Diese Heimlichkeit ihrer Besuche bei ihm, und daß sie nicht einmal Mrs. Danvers davon erzählt hat! Sie hatte schon geahnt, wie es um sie stand, jedenfalls wußte sie, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Es muß schrecklich für sie gewesen sein. Kein Wunder, daß eine so junge und schöne Frau wie sie darüber den Kopf verlor.»
Wir fuhren jetzt auf der Hauptstraße. Telegraphenpfähle, Omnibusse, offene Sportwagen, kleine Zweifamilienhäuser flogen an meinen Augen vorüber und hinterließen in meinem Gedächtnis ein buntes Bild.
«Und Ihnen selbst ist der Gedanke auch nie gekommen, was, de Winter?» fragte Oberst Julyan nach einer Weile.
«Nein», sagte Maxim.
«Viele Leute haben eine geradezu krankhafte Angst davor», meinte Oberst Julyan, «vor allem Frauen. Das muß auch bei Ihrer Frau der Fall gewesen sein. Feige konnte man sie ja weiß Gott nicht nennen, aber vor diesen Schmerzen muß sie sich gefürchtet haben. Nun, wenigstens ist ihr das erspart geblieben.»
«Ja», sagte Maxim.
«Ich glaube, es wird vielleicht ganz gut sein, wenn ich bei uns in Kerrith und der Nachbarschaft unauffällig durchsickern lasse, daß ein Londoner Spezialist uns über den Beweggrund zur Tat aufgeklärt hat», fuhr Oberst Ju-lyan fort. «Nur, um jedem Klatsch von vornherein die Spitze abzubrechen. Man kann nie wissen, die Menschen sind manchmal sehr komisch. Wenn sie die Wahrheit erfahren, wird das vielleicht auch Ihnen und Ihrer Frau manches erleichtern.»
«Ja», sagte Maxim, «ja, Sie haben recht.»
«Es ist sehr merkwürdig und sehr ärgerlich», sagte Oberst Julyan nachdenklich, «wie lange ein Gerücht sich auf dem Land hält. Ich weiß zwar nicht, warum, aber leider ist es nun einmal so. Nicht daß ich irgendwelche Unannehmlichkeiten für Sie erwarte, aber sicher ist sicher. Schon bei dem geringsten Anlaß ergehen sich die Leute in den wildesten Vermutungen.»
«Ja», sagte Maxim.
«Mit Ihren eigenen Leuten auf Manderley werden Sie und Crawley natürlich fertig, und ich kann für Kerrith garantieren. Ich werde auch meine Tochter einweihen, sie kommt doch mit einer Menge junger Leute zusammen, und das sind oft die schlimmsten Klatschbasen. Die Zeitungen werden Sie, glaube ich, nicht mehr behelligen, das braucht Sie nicht mehr zu beunruhigen. Die werden die ganze Angelegenheit schon in zwei Tagen fallenlassen.»
«Ja», sagte Maxim.
Wir durchfuhren die nördlichen Vorstädte und gelangten wieder nach Hampstead.
«Halb sieben», sagte Oberst Julyan. «Was haben Sie jetzt vor? Ich würde gern meine Schwester überraschen, die in St. John's Wood wohnt, und mich bei ihr zum Essen einladen, und dann später den letzten Zug von Paddington nehmen. Ich weiß, daß sie erst nächste Woche verreisen wollte. Sie würde sich gewiß sehr freuen, Sie beide auch bei sich zu sehen.»
Maxim zögerte und blickte mich fragend an. «Das ist sehr freundlich von Ihnen», sagte er, «aber ich glaube, wir machen uns besser selbständig. Ich muß noch Frank anrufen und dies und jenes erledigen. Wir werden voraussichtlich irgendwo einen kleinen Imbiß zu uns nehmen und dann weiterfahren und unterwegs in einem kleinen Gasthaus übernachten. Ja, ich glaube, das wird das beste sein.»
«Natürlich», sagte Oberst Julyan, «das verstehe ich sehr gut. Könnten Sie mich wohl bei meiner Schwester absetzen? Es ist gleich an der Ecke von Avenue Road.»
Maxim hielt ein kleines Stück vor dem Haus, das der Oberst ihm bezeichnete. «Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für alles danken soll, was Sie heute für uns getan haben», sagte er. «Aber Sie wissen hoffentlich, wie hoch ich Ihnen das anrechne.»
«Lieber de Winter», erwiderte Oberst Julyan, «ich habe nie etwas mit größerer Freude getan. Wenn wir nur gleich gewußt hätten, was Baker wußte, dann wäre uns das alles erspart geblieben. Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Sie müssen diese unselige Geschichte einfach als einen unangenehmen Zwischenfall abtun. Von Favell haben Sie meiner Meinung nach bestimmt keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten. Und falls doch, dann bitte ich Sie, mich sofort zu unterrichten. Ich weiß jetzt, wie ich mit ihm umzuspringen habe.» Er stieg aus dem Wagen und nahm seinen Mantel und seinen Straßenplan auf. «An Ihrer Stelle», sagte er, ohne uns anzusehen, «würde ich mich jetzt ein wenig erholungsbedürftig fühlen. Machen Sie doch eine kleine Reise, vielleicht irgendwohin ins Ausland.»
Wir sagten nichts. Oberst Julyan sah angelegentlich auf seine Karte. «Die Schweiz soll in dieser Jahreszeit besonders schön sein», sagte er. «Wir verbrachten einmal unsere Ferien dort und haben es von Herzen genossen. Man kann da herrliche Spaziergänge machen.» Er zögerte und räusperte sich. «Es besteht eine ganz kleine Möglichkeit, daß sich noch ein paar kleine Schwierigkeiten ergeben», sagte er dann. «Nicht von Favell, sondern von dem einen oder anderen unserer Nachbarn. Man kann ja nie wissen, was dieser Tabb erzählt haben mag. Natürlich lächerlich, aber Sie kennen ja das Sprichwort:
Er zählte noch einmal seine Siebensachen. «Jetzt habe ich, glaube ich, alles: Plan, Brille, Stock und Mantel. Alles beisammen. Also gute Nacht Ihnen beiden! Muten Sie sich nicht mehr zu viel zu. Es ist ein anstrengender Tag gewesen.»
Er ging durch die Gartenpforte und die Stufen zum Haus hinauf. Ich sah eine Frau aus dem Fenster gucken und ihm zuwinken und lächeln. Wir fuhren die Straße hinunter und bogen um die Ecke. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloß die Augen. Jetzt, da wir wieder allein waren und die Spannung sich gelegt hatte, empfand ich ein fast unerträgliches Gefühl von Erleichterung. Es war, als ob ein schmerzhafter Abszeß geöffnet worden wäre. Maxim sprach nicht. Er legte nur seine freie Hand auf meine. Wir wanden uns durch den Verkehr hindurch, aber ich sah nichts davon. Ich hörte das Rattern der Omnibusse, das Hupen der Taxis, den ewigen, unermüdlichen Londoner Lärm, aber ich hatte keinen Teil daran. Ich ruhte an einem Ort aus, wo es kühl und still und ruhig war. Nichts konnte uns mehr berühren. Wir hatten unsere Krise überstanden.
Als der Wagen hielt, öffnete ich die Augen wieder und setzte mich auf. Wir befanden uns vor einem der unzähligen kleinen Restaurants in den schmalen Straßen von Soho. Verwirrt und benommen sah ich mich um.
«Du bist müde», sagte Maxim kurz, «hungrig und müde, völlig erledigt. Du wirst dich gleich besser fühlen, wenn du etwas gegessen hast. Ich auch. Komm, wir wollen hier hineingehen und etwas zu Essen bestellen. Ich kann dann auch gleich Frank anrufen.»
Wir stiegen aus dem Wagen. Im Restaurant befanden sich nur der Geschäftsführer, ein Kellner und die Kassiere-rin. Es war kühl und dunkel dort. Wir wählten den Tisch rechts in der Ecke, und Maxim bestellte das Essen. «Favell hat recht gehabt. Ich könnte auch etwas zu trinken vertragen, und du nicht weniger. Du wirst einen Cognac bekommen.»
Der Geschäftsführer war dick und lächelte übers ganze Gesicht. Er stellte uns Salzstengel auf den Tisch. Sie waren frisch und knusprig, und ich machte mich gleich mit einem wahren Wolfshunger darüber her. Mein Cognac schmeckte sanft und wärmte und beruhigte mich.
«Nach dem Essen wollen wir ganz langsam fahren», sagte Maxim. «Abends wird es dann auch kühler sein. Wir werden schon irgendein Gasthaus finden, in dem wir übernachten können. Dann fahren wir früh morgens weiter nach Manderley.»
«Ja», sagte ich.
«Du wolltest doch nicht etwa bei Julyans Schwester essen und dann den letzten Zug von Paddington nehmen?»
«Nein.»
Maxim trank sein Glas aus. Seine Augen waren unnatürlich groß, und tiefe Schatten lagen darunter.
«Wie weit, glaubst du, hat Oberst Julyan die Wahrheit erraten?» fragte er.
Ich beobachtete ihn, ohne zu antworten, über den Rand meines erhobenen Glases hinweg.
«Er wußte alles», sagte Maxim langsam. «Natürlich wußte er alles.»
«Wenn er es wirklich weiß», sagte ich, «dann wird er sich nie etwas anmerken lassen, niemals.»
«Nein», sagte Maxim, «das wird er nicht.»
Er bestellte sich noch einen Whisky, und wir saßen schweigend und zufrieden in unserer dunklen Ecke.
«Ich glaube», sagte Maxim, «daß Rebecca mich mit voller Absicht angelogen hat. Ihr letzter, großartiger Bluff. Sie wollte, daß ich sie tötete. Sie hat alles vorausgesehen. Deshalb lachte sie auch, als ich auf sie schoß.»
Ich sagte nichts. Ich nippte ruhig an meinem Cognac. Das war alles vorbei und erledigt. Das interessierte mich nicht mehr. Maxim hatte gar keinen Grund, so bleich und besorgt auszusehen.
«Es war ihr letzter Streich», fuhr Maxim fort, «und ihr bester. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob sie nicht am Ende doch noch triumphiert.»
«Wie meinst du das? Inwiefern könnte sie noch triumphieren?»
«Ich weiß nicht», sagte er, «ich weiß es noch nicht.» Er stürzte auch seinen zweiten Whisky hinunter. Dann stand er auf. «Ich werde jetzt Frank anrufen», sagte er.
Ich saß dort in meiner Ecke, und bald brachte der Kellner mir das Fischgericht. Hummer. Sehr heiß und gut. Ich bestellte mir ebenfalls einen zweiten Drink. Es war angenehm und gemütlich, dort zu sitzen und zu wissen, daß man keine Sorgen mehr zu haben brauchte. Ich lächelte dem Kellner freundlich zu und bat aus Übermut auf französisch noch um etwas Brot. Wie friedlich und behaglich es doch im Restaurant war. Maxim und ich waren zusammen. Alles war überstanden und geklärt. Rebecca war tot und konnte uns nichts mehr antun. Sie hatte ihren letzten Streich gespielt, wie Maxim gesagt hatte. Jetzt konnte sie keinen Schaden mehr anrichten. Nach etwa zehn Minuten kam Maxim wieder zurück.
«Nun», fragte ich, und meine Stimme klang mir selbst ganz fern, «wie sieht's bei Frank aus?»
«Bei Frank ist soweit alles in Ordnung», antwortete Maxim. «Er war noch im Büro, wo er seit vier Uhr auf unse-ren Anruf gewartet hat. Ich erzählte ihm, wie unser Besuch verlaufen ist, und er schien sich darüber zu freuen.»
«Ja, das glaube ich wohl.»
«Aber etwas Merkwürdiges ist passiert», sagte Maxim nachdenklich mit gerunzelter Stirn. «Er sagte, er glaube, Mrs. Danvers habe sich aus dem Staub gemacht. Auf jeden Fall ist sie verschwunden. Sie hat niemandem etwas gesagt, aber sie muß schon den ganzen Tag über ihre Sachen gepackt haben, und die Bahnhofsdroschke holte ihr Gepäck um vier Uhr ab. Frith rief Frank deswegen an, und Frank sagte Frith, er solle ihm Mrs. Danvers ins Büro schicken. Er wartete, aber sie kam einfach nicht. Jetzt eben, kurz bevor ich anrief, telephonierte Frith wieder zu Frank hinüber, um ihm zu sagen, er habe eben ein Ferngespräch für Mrs. Danvers in ihr Zimmer umgelegt, und sie habe geantwortet. Es muß so gegen zehn nach sechs gewesen sein. Um Viertel vor sieben klopfte Frank bei ihr an, aber ihre beiden Zimmer waren leer. Sie suchten nach ihr, konnten sie aber nirgends finden. Sie muß also einfach aus dem Haus und durch den Wald gegangen sein. Am Pförtnerhäuschen ist sie nicht vorbeigekommen.»
«Aber das ist doch eigentlich großartig», sagte ich. «Das erspart uns eine Menge Ärger. Wir hätten sie ja doch entlassen müssen. Ich glaube, sie hat auch etwas vermutet. Es lag so etwas in ihrem Gesicht gestern abend. Ich mußte auf der Fahrt nach London immer wieder daran denken.»
«Das gefällt mir nicht», sagte Maxim, «das gefällt mir nicht.»
«Sie kann ja doch nichts mehr tun», versuchte ich ihn zu beruhigen. «Wenn sie wirklich gegangen ist, um so besser. Der Anruf war natürlich von Favell. Er hat ihr sicher über Baker Bericht erstattet und ihr gesagt, was Oberst Julyan zu ihm gesagt hat. Oberst Julyan sagte doch, wir sollten es ihn gleich wissen lassen, wenn wir noch einmal einem Erpressungsversuch ausgesetzt würden. Sie werden es nicht wagen. Es ist zu gefährlich für sie.»
«An Erpressung denke ich jetzt gar nicht», sagte Maxim.
«Was könnten sie denn sonst tun? Wir müssen tun, wie Oberst Julyan uns riet. Wir müssen das alles vergessen. Wir dürfen wirklich nicht mehr daran denken. Das ist jetzt alles vorbei, Liebster. Wir müssen Gott auf den Knien dafür danken.»
Maxim antwortete nicht. Er starrte vor sich hin ins Leere.
«Dein Hummer wird kalt, Liebster», sagte ich. «Iß doch etwas. Es wird dir guttun, du hattest doch Hunger. Du bist müde.» Ich benutzte dieselben Worte, die er zu mir gesagt hatte. Ich fühlte mich bereits kräftiger und wohler. Jetzt war ich es, die für ihn sorgen mußte. Er sah so schrecklich müde und blaß aus. Ich hatte meine Schwäche und Erschöpfung überwunden, aber jetzt setzte die Reaktion bei ihm ein. Das kam nur daher, weil er so hungrig und müde war. Sonst lag doch gar kein Grund vor, sich zu beunruhigen. Mrs. Danvers war also weg. Auch dafür mußten wir Gott danken. Alles war plötzlich so sehr einfach geworden. «Iß doch deinen Hummer», sagte ich.
In Zukunft würde alles ganz anders werden. Ich würde mich nicht mehr von den Dienstboten einschüchtern und irritieren lassen. Nachdem Mrs. Danvers jetzt nicht mehr da war, würde ich die Führung des Haushalts selbst übernehmen. Ich würde selbst mit der Köchin in der Küche sprechen. Das Personal würde Respekt vor mir haben und mich auch lieben. Bald würde Mrs. Danvers ganz vergessen sein. Wir würden viel Hausbesuch haben, und mir würde es Spaß machen, die Gästezimmer herzurichten, Blumen und Bücher hinzustellen und für das Essen zu sorgen. Und Kinder würden wir haben, natürlich würden wir Kinder haben ...
«Bist du fertig?» unterbrach Maxim plötzlich meinen Gedankengang. «Ich glaube, ich habe genug. Nur noch Kaffee, schwarz bitte und sehr stark. Und dann die Rechnung», fügte er zum Kellner gewandt hinzu.
Ich verstand nicht, warum er so schnell aufbrechen wollte. Es saß sich doch hier so gemütlich, und es lag doch gar kein Grund zur Eile vor. Ich fühlte mich auf meinem Sofa sehr wohl, wo ich mich, den Kopf an das Polster gelehnt, ungestört meiner Zukunftsträumerei hingeben konnte. Ich wäre gern noch eine ganze Zeit sitzen geblieben.
Gähnend und etwas unsicher auf den Beinen, folgte ich Maxim hinaus. «Hör mal», sagte er auf der Straße, «glaubst du, daß du im Wagen schlafen könntest, wenn ich dich ordentlich in die Decke einwickle und dich auf den hinteren Sitz bette? Ein Kissen haben wir ja auch, und meinen Mantel kannst du ebenfalls haben.»
«Ich dachte, wir wollten irgendwo unterwegs übernachten?» erwiderte ich erstaunt. «In einem von diesen netten kleinen Dorfgasthäusern?»
«Ja», sagte er, «aber ich habe plötzlich das Gefühl, ich müßte heute nacht noch zurückfahren. Könntest du nicht versuchen, es dir im Wagen bequem zu machen?»
«Doch», sagte ich mit zweifelnder Miene, «doch natürlich.»
«Jetzt ist es Viertel vor acht. Wenn wir gleich losfahren, müßten wir gegen halb drei ankommen. Zu dieser Zeit ist ja nicht viel Verkehr auf den Straßen.»
«Aber du bist doch auch müde», warf ich ein. «Es wird dir bestimmt zuviel werden.»
«Nein.» Er schüttelte den Kopf. «Ich bin ganz frisch. Ich will nach Manderley. Ich weiß, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist. Ich will schleunigst zurück.»
Sein Gesicht sah merkwürdig besorgt aus. Er öffnete die Wagentür und machte mir auf dem hinteren Sitz ein Lager zurecht.
«Aber was soll denn schon sein?» fragte ich, «ich verstehe dich gar nicht, warum machst du dir jetzt noch Sorgen, nachdem alles vorüber ist?»
Er antwortete nicht. Ich stieg ein und legte mich auf den Sitz. Er deckte mich mit dem Plaid zu. Es war sehr bequem, viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte, und ich schob mir das Kissen unter den Kopf.
«Wie geht es?» fragte er. «Macht es dir bestimmt nichts aus?»
«Nein, nein», sagte ich lächelnd. «Ich liege hier fein, ich werde gleich einschlafen. Jetzt möchte ich gar nicht mehr irgendwo übernachten. Ich will auch viel lieber nach Hause. Wir werden noch vor Sonnenaufgang in Manderley sein.»
Er setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Ich schloß die Augen. Der Wagen fuhr an, und ich spürte das leichte Wiegen der Federn unter mir. Ich drückte mein Gesicht auf das Kissen. Der Wagen bewegte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus vorwärts, und meine Gedanken stimmten allmählich in diesen Rhythmus ein. Hunderte von Bildern zogen an meinen geschlossenen Augen vorüber; alles mögliche, was ich gesehen, erlebt und auch, was ich bereits vergessen hatte, formte sich zu einem wirren bunten Muster. Die Feder an Mrs. Van Hoppers Hut, die harten steiflehnigen Stühle in Franks Eßzimmer, das offene Fenster im Flur des Westflügels, die erdbeerfarbene Dame auf dem Kostümball, das Bauernmädchen auf der Landstraße bei Monte Carlo.
Manchmal sah ich Jasper auf dem Rasen hinter Schmetterlingen herjagen, manchmal Doktor Bakers Scotchterrier sich neben dem Liegestuhl das Fell kratzen. Der Postbote, der uns heute den Weg gezeigt hatte, tauchte wieder auf, und Clarices Mutter, die in ihrer guten Stube mit ihrer Schürze einen Stuhl für mich abwischte. Ben reichte mir lächelnd eine Handvoll Muscheln, und die Frau des Bischofs bat mich, doch zum Tee dazubleiben. Ich fühlte die saubere Kühle meines frisch bezogenen Bettes und den knirschenden Kies des Strandes unter meinen Füßen. Ich roch das Farnkraut im Wald, das feuchte Moos und die welken Azaleenblüten. Ich fiel in einen Halbschlaf, aus dem ich dann und wann erwachte, um mich in meiner verkrampften Stellung hinter Maxims Rücken wiederzufinden. Die Dämmerung war der Nacht gewichen. Lichter entgegenkommender Wagen leuchteten auf und verschwanden. Dörfer sausten an uns vorbei, und ich sah das Licht hinter den Vorhängen hervorschimmern. Und dann streckte ich mich und drehte mich auf den Rücken und schlief wieder ein.
Ich sah die Treppe von Manderley und Mrs. Danvers in ihrem schwarzen Kleid oben stehen und auf mich warten. Wie ich die Stufen emporstieg, wich sie in die Galerie zurück und verschwand. Und ich suchte sie und konnte sie nicht finden. Plötzlich blickte ihr Gesicht mich aus einer dunklen Türöffnung an, und ich schrie laut auf, und da verschwand sie wieder.
«Wie spät ist es?» rief ich Maxim zu.
Er drehte mir sein in der Dunkelheit gespenstisch blaß wirkendes Gesicht zu. «Halb zwölf», sagte er. «Wir haben schon über die Hälfte hinter uns. Versuch noch einmal einzuschlafen.»
«Ich habe Durst», sagte ich.
Im nächsten Dorf hielt er an. Der Garagenbesitzer sagte, seine Frau sei noch nicht zu Bett gegangen und würde uns gern etwas Tee machen. Wir stiegen aus und gingen in die Garage hinein. Ich ging stampfend auf und ab, um mein erstarrtes Blut wieder in Bewegung zu bringen. Maxim rauchte. Es war sehr kalt. Ein eisiger Wind pfiff durch die Tür und zerrte an dem Wellblechdach. Mich fröstelte, und ich knöpfte mir den Mantel zu.
«Ja, es ist frisch heute abend», sagte der Mann, während er die Benzinpumpe betätigte. «Das Wetter ist heute nachmittag umgeschlagen. Dieses Jahr werden wir wohl kaum noch eine Hitzewelle erleben. Wir werden bald daran denken müssen zu heizen.»
«In London war es noch sehr heiß», sagte ich.
«So?» sagte er. «Dort haben sie ja immer die größten Gegensätze. Und das schlechte Wetter kommt immer von unserer Seite. An der Küste wird es schon stürmen.»
Seine Frau brachte uns den Tee. Er schmeckte wie bitteres Holz, aber er war heiß. Ich trank ihn in gierigen Schlucken. Maxim sah bereits wieder auf die Uhr.
«Wir müssen weiter», sagte er. «Es ist zehn vor zwölf.» Ich verließ die schützende Garage nur sehr ungern. Der kalte Wind blies mir ins Gesicht. Die Wolken jagten einander über den Himmel.
Wir stiegen ein, und ich kuschelte mich wieder unter meine Decke. Wir fuhren weiter. Ich schloß die Augen. Da war der Leierkastenmann mit seinem Holzbein, und ich summte «Die letzte Rose» im Takt des federnden Wagens. Frith und Robert deckten den Teetisch in der Bibliothek. Die Pförtnersfrau nickte mir kurz zu und rief ihren Jungen. Ich sah die Schiffsmodelle im Bootshaus und den hauchdünnen Staub. Ich sah die Spinnweben in den kleinen Masten. Ich hörte den Regen auf das Dach trommeln und das Meer rauschen. Ich wollte ins Glückliche Tal gehen, aber es war nicht mehr da. Der Wald stand finster um mich herum, aber das Tal war nicht mehr da. Nur dunkle Bäume und hellgrüner Farn. Die Eulen schrien. Der Mond spiegelte sich in den Fenstern von Manderley, im Garten wucherten die Nesseln, zehn, zwanzig Fuß hoch.
«Maxim!» rief ich, «Maxim!»
«Ja», sagte er, «schlaf nur, ich bin hier.»
«Ich habe geträumt», sagte ich.
«Was denn?» fragte er.
«Ich weiß nicht mehr.»
Und wieder versank ich in die unruhige Tiefe meines Bewußtseins. Ich schrieb im Morgenzimmer, ich schickte Einladungen aus. Ich schrieb sie alle selbst mit einem großen schwarzen Federhalter. Aber als ich das betrachtete, was ich geschrieben hatte, da war es nicht meine kleine eckige Handschrift, es waren lange schräge, merkwürdig geschwungene Schriftzüge. Ich schob die Karten fort und versteckte sie. Ich erhob mich und trat vor den Spiegel, aber das Gesicht, das mir entgegenblickte, war nicht das meine. Es war sehr blaß und sehr schön, und eine Wolke dunklen Haares umgab es. Die Augen zogen sich zu einem Lächeln zusammen, die Lippen öffneten sich. Das Gesicht im Spiegel starrte mich spöttisch an und lachte. Und dann sah ich, daß sie auf dem Stuhl vor ihrem Frisiertisch saß, und Maxim bürstete ihr das Haar. Er hielt die Haare in der Hand, und während er sie bürstete, flocht er sie zu einem langen dicken Seil. Es wand sich wie eine Schlange, und er ergriff es mit beiden Händen, lächelte auf Rebecca hinab und legte es sich um den Hals.
«Nein», schrie ich. «Nein! Wir müssen in die Schweiz fahren. Oberst Julyan hat gesagt, wir müssen in die Schweiz fahren.»
Ich fühlte Maxims Hand auf meinem Gesicht. «Was ist denn?» sagte er. «Was hast du denn?»
Ich setzte mich auf und strich mir das Haar aus der Stirn. «Ich kann nicht schlafen», sagte ich.
«Du hast geschlafen», sagte er. «Zwei gute Stunden. Es ist Viertel nach zwei. Wir haben noch vier Meilen bis Lanyon.»
Es war noch kälter als vorher. Mich fröstelte. «Ich werde mich wieder nach vorn neben dich setzen», sagte ich. «Um drei sind wir ja schon zu Hause.»
Ich kletterte hinüber und setzte mich neben ihn und starrte vor mich durch die Windschutzscheibe. Ich legte meine Hand wieder auf sein Knie. Meine Zähne klapperten vor Kälte.
«Du frierst», sagte er.
«Ja», sagte ich.
Die Hügel ragten vor uns auf, versanken wieder und erhoben sich aufs neue. Es war eine pechschwarze Nacht, die Sterne waren verschwunden.
«Wie spät ist es, sagtest du?»
«Zwanzig nach zwei», sagte Maxim.
«Merkwürdig», sagte ich. «Fast könnte man glauben, daß es dort hinten, jenseits der Hügelkette, schon dämmert. Aber das ist doch nicht möglich, es ist doch noch viel zu früh!»
«Du siehst in die falsche Richtung», sagte er, «dort ist Westen.»
«Ja, ich weiß», sagte ich. «Komisch, nicht wahr?»
Er antwortete nicht, und ich starrte zum Horizont hinüber. Vor meinen Augen schien es dort drüben immer heller zu werden. Wie die ersten rötlichen Strahlen des Sonnenaufgangs breitete sich der Lichtschein allmählich über den Himmel aus.
«Nordlicht sieht man doch nur im Winter, nicht wahr?» fragte ich. «Oder im Sommer auch?»
«Das ist kein Nordlicht», sagte er. «Das ist Manderley.»
Ich sah ihn entsetzt an, sein Gesicht, seine Augen.
«Maxim!» rief ich, «Maxim, was ist das?»
Er fuhr immer schneller. Wir waren jetzt oben auf dem Hügel und sahen Lanyon unter uns liegen. Dort zur Linken zog sich das Silberband des Flusses hin, das sich nach Kerrith zu verbreiterte. Der Weg nach Manderley lag vor uns. Der Himmel über uns war tiefschwarz wie Tinte. Aber am Horizont war der Himmel gar nicht dunkel. Rote Strahlen zuckten an ihm empor wie Blutspritzer, und der salzige Seewind trieb uns die Asche entgegen.