17

Clarice erwartete mich in meinem Schlafzimmer. Sie sah blaß und erschreckt aus, und als sie mich erblickte, brach sie in Tränen aus. Ich sagte nichts, sondern begann an den Haken des Kleides zu zerren, daß der Stoff einriß. Ich kam allein nicht damit zurecht, und die laut weinende Clarice half mir.

«Schon gut, Clarice, Sie können ja nichts dafür», sagte ich, und sie schüttelte den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

«Ihr schönes Kleid, Madam», schluchzte sie, «Ihr schönes weißes Kleid!»

«Das macht nichts», sagte ich. «Können Sie den Haken nicht finden? Hier am Rücken ist er, und gleich darunter muß noch einer sein.»

Mit zitternden Händen versuchte sie den Haken zu finden und stellte sich noch ungeschickter dabei an als ich selbst und hörte nicht auf zu schlucken und zu schluchzen.

«Was wollen Sie denn statt dessen anziehen, Madam?» fragte sie.

«Ich weiß nicht», antwortete ich. «Ich weiß nicht.» Endlich war es ihr gelungen, das Kleid aufzumachen, und ich schlüpfte heraus. «Ich würde gern allein sein, Clarice», sagte ich. «Seien Sie so lieb und gehen Sie jetzt hinunter. Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen, ich werde schon allein fertig werden. Und vergessen Sie, was ge-schehen ist; ich möchte, daß Sie sich auf dem Ball amüsieren.»

«Soll ich Ihnen nicht schnell etwas aufbügeln, Madam?» fragte sie und sah mich mit ihren immer noch überquellenden, verweinten Augen an, «das würde nicht lange dauern.»

«Nein, danke», sagte ich, «lassen Sie nur; Sie würden mir einen größeren Gefallen tun, wenn Sie jetzt gingen, und, Clarice ...»

«Ja, Madam?»

«Sagen Sie unten nichts von dem Vorgefallenen.»

«Nein, Madam.» Sie brach in einen neuen Tränenstrom aus.

«Lassen Sie sich vor den anderen nicht so sehen!» sagte ich. «Gehen Sie erst in Ihr Zimmer und waschen Sie sich das Gesicht. Sie brauchen wirklich nicht zu weinen, es liegt gar kein Grund dafür vor.» Es klopfte an der Tür; Clarice warf mir einen ängstlichen Blick zu.

«Wer ist da?» fragte ich. Die Tür öffnete sich, und Beatrice trat ein. Sie kam sofort auf mich zu; sogar jetzt fand ich sie komisch in dieser angeblich orientalischen Aufmachung und den klirrenden, billigen Messingarmbändern.

«Meine Liebste», sagte sie, «meine Liebste!» und streckte mir beide Hände entgegen.

Clarice schlich sich aus dem Zimmer. Ich fühlte mich plötzlich müde und unfähig, mich weiter aufrecht zu halten. Ich ging durchs Zimmer, setzte mich aufs Bett und nahm die Perücke ab. Beatrice sah mir dabei zu.

«Fühlst du dich ganz wohl?» fragte sie. «Du siehst so elend aus.»

«Das macht das Licht - in dem Licht hat man niemals viel Farbe.» «Bleib nur ein Weilchen sitzen, dann wirst du dich gleich besser fühlen», sagte sie. «Warte, ich werde dir ein Glas Wasser holen.»

Sie ging ins Badezimmer - bei jeder Bewegung klapperten und klirrten ihre Armbänder -, und dann kam sie mit dem vollen Glas in der Hand zurück. Ich trank ein wenig, um ihr einen Gefallen zu tun, obwohl ich gar nichts haben wollte. Es schmeckte schal und warm; sie hatte vergessen, das Wasser ablaufen zu lassen.

«Natürlich wußte ich sofort, daß es sich nur um einen unglücklichen Zufall handeln konnte», sagte sie. «Du konntest ja unmöglich eine Ahnung davon haben - woher solltest du auch.»

«Ahnung wovon?» fragte ich sie.

«Von dem Kostüm, du Ärmste, nach dem Porträt von Caroline de Winter; Rebecca trug nämlich auf dem letzten Ball genau dasselbe, haargenau. Dasselbe Bild, dasselbe Kleid. Und wie du da auf der Treppe standest, dachte ich einen schrecklichen Augenblick lang .»

Sie beendete den Satz nicht, sondern klopfte mir auf die Schulter.

«Du armer Pechvogel, woher hättest du das wissen sollen?»

«Ich hätte es wissen müssen», sagte ich blöde, indem ich sie verständnislos anstarrte, «ich hätte es wissen sollen.»

«Unsinn, woher denn? Und wir hätten ja auch nicht im Traum darauf kommen können, daß du denselben Einfall haben würdest. Deshalb war es ja ein solcher Schock für uns alle, und Maxim ...»

«Ja, und Maxim?»

«Er glaubt, daß du es absichtlich getan hast. Ihr hattet doch gewettet, daß du ihn überraschen würdest. Natürlich war das von dir nur Spaß, und er hat es mißverstanden. Es traf ihn völlig unvorbereitet. Ich sagte ihm gleich, daß es nie in deiner Absicht gelegen haben konnte und daß nur ein geradezu unwahrscheinlich unglücklicher Zufall es so gefügt hat, daß du auch auf dieses Bild verfallen bist.»

«Es ist meine Schuld, ich hätte es mir denken können.»

«Nein, nein, mach dir keine Sorge, du wirst ihm die Sache schon in aller Ruhe erklären können, und dann ist alles wieder in Ordnung. Die ersten Gäste trafen gerade ein, als ich nach oben ging. Jetzt werden sie beim Cocktail sein. Es wird schon alles gutgehen; ich sagte Frank und Giles, sie sollten irgendeine Geschichte erzählen, daß dein Kostüm nicht gepaßt hätte und wie enttäuscht du wärst.»

Ich schwieg und blieb, die Hände im Schoß, sitzen.

«Was kannst du statt dessen anziehen?» fragte Beatrice und ging an meinen Kleiderschrank. «Hier, wie ist es mit diesem blauen? Das sieht doch ganz reizend aus. Zieh das an. Kein Mensch wird sich daran stoßen. Komm, schnell, ich werde dir helfen.»

«Nein», sagte ich, «nein, ich bleibe hier oben.»

Beatrice sah bestürzt mich und dann das blaue Kleid auf ihrem Arm an. «Aber du mußt doch, meine Liebe», sagte sie ganz ratlos, «du kannst doch nicht einfach wegbleiben.»

«Nein, Beatrice, ich gehe nicht hinunter. Ich könnte es nicht ertragen nach dem, was vorgefallen ist.»

«Aber niemand wird etwas von dem Kleid erfahren», sagte sie. «Frank und Giles halten bestimmt dicht. Wir haben die Geschichte genau zurechtgelegt; der Schneider hat ein falsches Kostüm geschickt, das du nicht verwenden konntest, und deshalb wirst du ein gewöhnliches Abendkleid tragen. Niemand wird etwas dabei finden, und es wird der Stimmung gar keinen Abbruch tun.» «Du verstehst mich nicht», erwiderte ich. «Das Kleid ist mir ganz egal, darum geht's nicht. Sondern um das, was geschehen ist, was ich angerichtet habe. Jetzt kann ich einfach nicht wieder hinunterkommen, Beatrice!»

«Aber hör doch, Giles und Frank sind voller Verständnis und Mitgefühl und Maxim auch. Es war ja nur der erste Schock. Ich will versuchen, ihn eine Minute allein zu sprechen, dann kann ich ihm alles erklären.»

«Nein», sagte ich, «nein!»

Sie legte das blaue Kleid neben mich auf das Bett. «Inzwischen werden fast alle da sein», sagte sie besorgt und aufgeregt. «Es wird einen komischen Eindruck machen, wenn du dich nicht zeigst. Ich kann doch unmöglich sagen, daß du plötzlich Kopfschmerzen bekommen hast.»

«Warum nicht?» sagte ich erschöpft. «Was macht das schon? Erzähl irgend etwas. Es ist ihnen bestimmt gleichgültig; die meisten kennen mich ja noch gar nicht.»

«Ach, komm schon», drängte sie und streichelte meine Hand. «Auch wenn's dir schwerfällt. Zieh dieses entzük-kende blaue Kleid an. Denk an Maxim. Schon um seinetwillen mußt du einfach mit mir kommen.»

«Eben, an Maxim denke ich ja die ganze Zeit», sagte ich.

«Aber dann mußt du doch einsehen .»

«Nein», sagte ich und biß auf meine Nägel und wiegte mich vor und zurück auf dem Bett, «ich kann nicht, ich kann nicht.»

Es klopfte wieder. «Ach, mein Gott, wer ist denn das?» sagte Beatrice und ging zur Tür. «Was ist denn los?»

Sie öffnete die Tür. Draußen stand Giles.

«Die Gäste sind schon alle da, und Maxim hat mich geschickt, um nachzusehen, wo ihr bleibt», sagte er.

«Sie weigert sich, mit hinunterzukommen», erklärte Beatrice.

Ich bemerkte, wie Giles einen hastigen Blick auf mich warf. «Mein Gott, was für ein Durcheinander!» flüsterte er und wandte sich verlegen ab, als er meinem Blick begegnete. «Was soll ich Maxim denn ausrichten?» fragte er Beatrice. «Es ist schon fünf nach acht.»

«Bestell ihm, sie fühlt sich nicht sehr gut, aber sie will versuchen, später herunterzukommen. Und sie sollen nicht mit dem Essen warten. Ich komme gleich nach und werde die Sache schon in Ordnung bringen.»

«Ja, schön, das werde ich tun.» Er warf wieder einen teils neugierigen, teils mitleidigen Blick auf mich. Er schien sich zu wundern, daß ich auf dem Bett saß, und seine Stimme klang so gedämpft, wie Leute sprechen, die nach einem Unfall auf den Arzt warten.

«Kann ich sonst noch irgend etwas tun?» fragte er.

«Nein, geh nur wieder», sagte Beatrice. «Ich komme in einer Minute nach.»

Er verschwand und stapfte in seinem Burnus davon. Dies ist so ein Augenblick, dachte ich, über den ich noch Jahre später lachen und sagen werde: «Erinnerst du dich an Giles als Scheich, und Beatrice trug einen Schleier und klirrende Armbänder?» Die Zeit wird dem Augenblick seine Härte nehmen und ihn zu einer lustigen Erinnerung machen; aber jetzt war mir nicht komisch zumute, jetzt konnte ich nicht lachen. Jetzt war Gegenwart und nicht Zukunft. Das Erlebnis war noch zu frisch, zu wirklich. Ich saß auf dem Bett und zupfte am Kopfkissen und zog eine kleine Feder aus einer Ecke heraus.

«Möchtest du vielleicht etwas Cognac?» versuchte Beatrice es noch einmal. «Es ist zwar nur synthetischer Mut, aber manchmal wirkt's doch Wunder.»

«Nein, danke», sagte ich. «Ich möchte gar nichts.»

«Ich muß jetzt hinuntergehen; Giles sagte ja, sie warten schon mit dem Essen. Bist du sicher, daß ich nichts für dich tun kann?»

«Ja, du brauchst keine Sorge zu haben, Beatrice, und ich dank dir auch schön.»

«Meine Liebe, du brauchst mir nicht zu danken. Ich wünschte, ich könnte irgend etwas für dich tun.» Sie trat vor meinen Spiegel und puderte sich rasch das Gesicht. «Himmel, wie ich aussehe!» sagte sie, «dieser verfluchte Schleier sitzt schon ganz schief, aber das läßt sich jetzt nicht mehr ändern.» Sie ging klirrend aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ich fühlte, daß ich mir durch meine Weigerung, hinunterzugehen, ihre Sympathie verscherzt hatte. Ich hatte die weiße Fahne aufgezogen, das konnte sie nicht verstehen. Sie gehörte einem anderen Menschenschlag, einer anderen Rasse an. Die Frauen ihrer Rasse hielten jeder Prüfung auf Herz und Nieren stand; ich glich ihnen nicht. Wenn Beatrice an meiner Stelle gewesen wäre, hätte sie sich umgezogen und wäre hinuntergegangen, um ihre Gäste zu begrüßen. Sie hätte lächelnd neben Giles gestanden und ein paar freundliche Worte mit den Ankommenden gewechselt. Das brachte ich nicht fertig. Ich besaß nicht den Stolz dazu; ich hatte keine Haltung, ich war aus einem anderen Holz geschnitzt.

Ich sah immer noch Maxims glühende Augen in seinem weißen Gesicht und hinter ihm Giles und Beatrice und Frank, wie sie mich entgeistert anstarrten.

Ich erhob mich von meinem Bett und trat ans Fenster. Die Gärtner prüften gerade die Lampen im Rosengarten, um sich zu vergewissern, daß alle brannten. Ein paar lachsfarbene Wölkchen segelten im Westen über den fahlen Himmel. Sobald es dunkel wurde, sollten die Lampen angezündet werden. Im Garten waren Tische und Stühle aufgestellt, falls jemand draußen sitzen wollte. Ich konnte den Duft der Rosen vom Fenster aus riechen. Die Männer lachten und schwatzten miteinander. «Die hier ist durchgebrannt», hörte ich eine Stimme rufen, «kannst du mir eine Ersatzbirne bringen? Eine von den kleinen blauen, Bill.» Er schraubte die Birne ein und befestigte die Lampe an ihrem Platz. Zufrieden pfiff er eine Schlagermelodie vor sich hin, und ich dachte, daß die Kapelle auf der Galerie heute nacht dieselbe Melodie spielen würde. «So, das hätten wir», sagte der Mann und ließ das Licht an- und ausgehen. «Hier ist jetzt alles in Ordnung. Wir wollen uns jetzt mal auf der Terrasse umsehen.» Sie verschwanden pfeifend um die Hausecke.

Ich starrte eine leere Bank an. Die rosa Wölkchen waren grau geworden. Über mir funkelte der Abendstern. Im Wald jenseits des Rosengartens ertönte das letzte schläfrige Zwitschern der Vögel. Eine einsame Möwe flog über den Horizont. Ich wandte mich um und ging wieder zum Bett zurück. Ich hob das weiße Kostüm vom Boden auf und legte es in den Karton mit dem Seidenpapier. Auch die Perücke tat ich wieder in ihre Schachtel. Dann suchte ich in meinem Schrank nach dem kleinen Reisebügeleisen, mit dem ich in Monte Carlo immer die Kleider von Mrs. Van Hopper gebügelt hatte. Es lag hinten in einer Schublade zwischen ein paar Pullovern, die ich lange Zeit nicht getragen hatte. Das Eisen war ein Allstrominstrument, und ich steckte den Stecker in die Steckdose und fing an, das blaue Kleid aufzubügeln, langsam und mit pedantischer Sorgfalt, so wie ich Mrs. Van Hoppers Sachen in Monte Carlo zu bügeln pflegte.

Als ich fertig war, legte ich das Kleid aufs Bett. Dann wischte ich die Schminke ab, die ich für das Kostüm hatte auflegen müssen. Ich kämmte mir das Haar, wusch mir die Hände und zog das blaue Kleid und die dazugehörigen Schuhe an. Ich kam mir wieder so wie damals vor, wenn ich mit Mrs. Van Hopper in das Gesellschaftszimmer des Hotels hinunterging. Ich öffnete die Tür und ging den Korridor entlang. Kein Laut war zu hören. Man hätte glauben können, daß kein Mensch im Haus war. Ich ging auf Zehenspitzen bis zum Ende des Korridors. Die Tür zum Westflügel war geschlossen. Als ich durch die Galerie zur Treppe schritt, vernahm ich ein leises Stimmengewirr aus dem Eßzimmer. Man saß also noch bei Tisch. Die große Halle lag verlassen da. Auch die Galerie war leer; die Musiker aßen wohl auch gerade. Ich hatte keine Ahnung, wie für sie gesorgt wurde. Frank hatte das angeordnet - Frank oder Mrs. Danvers.

Von dem Treppenabsatz aus konnte ich das Bild der Caroline de Winter in der Galerie sehen, die Locken, die ihr Gesicht umrahmten, und das Lächeln auf ihren Lippen. Mir fiel wieder ein, was die Frau des Bischofs damals gesagt hatte, als ich sie besuchte: «Dieser einzigartige Kontrast zwischen dem lockigen dunklen Haar und dem schneeweißen Kleid.» Daran hätte ich denken müssen, dann hätte ich Bescheid gewußt. Wie merkwürdig sich die Instrumente auf der Galerie ausnahmen, die Pulte und die große Trommel. Einer von den Musikern hatte sein Taschentuch auf seinem Stuhl liegenlassen. Ich beugte mich über das Geländer und blickte in die Halle hinab. Bald würde die Schar der Gäste sie füllen. Ihre froh erregten Stimmen würden von der hohen Decke widerhallen, und die Musik würde von hier oben zum Tanz aufspielen.

Dann wäre es um die Stille hier geschehen. Hinter mir knackte es. Ich wandte mich hastig um, aber niemand war da. Die Galerie war menschenleer wie zuvor. Ein Luftzug traf mein Gesicht; jemand mußte ein Fenster im Gang geöffnet haben. Das Stimmengewirr aus dem Eßzimmer schwoll an und ebbte wieder ab. Wie es wohl kam, daß die Dielen geknackt hatten, obwohl ich mich nicht gerührt hatte? Vielleicht arbeitete das alte Holz in der abendlichen Sommerwärme. Ich spürte den Zug immer noch. Ein Notenblatt flatterte von dem einen Pult zu Boden. Ich ging wieder durch die Galerie zurück, und als ich zum Korridor kam, sah ich, daß die Tür zum Westflügel weit offen stand. Es war dunkel in dem angrenzenden Flur, und ich fühlte den Wind durch ein offenes Fenster mir ins Gesicht wehen. Ich tastete nach einem Lichtschalter, konnte aber keinen finden. Jetzt sah ich, welches Fenster es war: das vor dem Knick im Gang; die Vorhänge bauschten sich im Luftzug. Das graue Dämmerlicht zeichnete seltsame Schatten auf den Fußboden. Durch das Fenster hörte ich das Meer, das leise Rauschen, wenn die Wellen bei Ebbe vom Strand zurückfluten.

Ich schloß das Fenster nicht. Einen Augenblick lang blieb ich noch fröstelnd in meinem dünnen Kleid stehen und lauschte dem seufzenden Atem der See. Dann drehte ich mich um, schloß hastig die Tür hinter mir zu und ging zur Treppe zurück.

Unten klangen die Stimmen jetzt lauter herauf. Die großen Flügeltüren des Eßzimmers waren aufgeschlagen; man hatte die Tafel aufgehoben. Robert stand an der offenen Tür; ich hörte Stühlerücken und lebhaftes Reden und Lachen.

Langsam schritt ich die Treppe hinunter, um unsere Gäste zu begrüßen.

Wenn ich an jenen Ball von Manderley zurückdenke -meinen ersten und auch meinen letzten -, dann stehen nur unzusammenhängende Momentbilder vor meinem Auge, aber als Ganzes ist er mir keine Erinnerung mehr. Den Hintergrund bildete ein dunstiges Meer von unbekannten Gesichtern, und von der Galerie kam endlos eintönig ein Wimmern und Dudeln im Dreivierteltakt. Dieselben Paare drehten sich im Kreise mit demselben gefrorenen Lächeln, und mir, die ich neben Maxim unten am Fuß der Treppe die Nachzügler unter unseren Gästen begrüßte, kamen die Tanzenden wie Marionetten vor, die eine unsichtbare Hand an unsichtbaren Fäden sich drehen und wenden ließ.

Da war eine Frau - ihren Namen habe ich nie erfahren, noch habe ich sie je wiedergesehen: sie trug ein erdbeerfarbenes Krinolinenkleid; welches Jahrhundert es repräsentieren sollte, konnte ich nicht feststellen; und jedesmal, wenn sie an mir vorüberkam, spielte die Kapelle einen besonders schwungvollen Walzertakt, zu dem sie sich wiegend in den Armen ihres Partners zurücklehnte und mich gleichzeitig anlächelte. Das geschah jedesmal, bis es zu einer automatischen Geste wurde, einer regelmäßigen Wiederholung wie jene Begegnungen bei einem Spaziergang an Deck eines Schiffes, bei dem man genau weiß, daß sie immer an der gleichen Stelle stattfinden werden.

Ich erinnere mich noch, wie Robert eine Schüssel Halbgefrorenes fallen ließ und was für ein Gesicht Frith machte, als er feststellte, daß Robert der Schuldige war und nicht einer von den Lohndienern. Ich fühlte eine Regung, auf Robert zuzugehen und mich neben ihn zu stellen und zu sagen:

Frank brachte mir einen Teller mit Huhn und Schinken, von dem ich nichts essen konnte, und Frank stand neben mir mit einem Glas Champagner, den ich nicht trinken mochte.

«Bitte, tun Sie es doch», sagte er leise, «ich glaube, es würde Ihnen guttun», und ich trank drei kleine Schlucke, um ihm einen Gefallen zu tun. Der schwarze Flecken über seinem Auge verlieh ihm ein merkwürdiges, blasses Aussehen und ließ ihn älter, fremd erscheinen. Ich entdeckte Linien in seinem Gesicht, die ich früher nicht bemerkt hatte.

Er bewegte sich zwischen den Gästen wie ein zweiter Gastgeber; er sorgte für ihr Wohlbefinden, achtete darauf, daß sie zu trinken, zu essen und zu rauchen hatten, und er tanzte auch in einer feierlichen, pedantischen Art, indem er seine Partnerinnen mit verbissenem Gesicht über die Tanzfläche spazierenführte. Seine Scheu hinderte ihn daran, seine Piratenrolle mit Leib und Seele zu spielen, und der angeklebte Backenbart, der sich flauschig von der roten Kopfbedeckung über seine Wangen herabzog, hatte in meinen Augen etwas Tragisches. Ich stellte mir vor, wie er in seinem Junggesellenzimmer vor dem Spiegel stand und ihn sich zurechtzupfte. Armer, lieber Frank! Ich fragte ihn nicht, und deshalb erfuhr ich auch nie, wie sehr er diesen letzten Kostümball auf Manderley verwünscht hatte.

Die Kapelle spielte unermüdlich, und die Paare bewegten sich im Tanz wie schwankende Marionetten hin und her, auf und ab, von einem Ende der großen Halle zum anderen, und es war nicht ich, die ihnen zusah, nicht ein fühlendes Wesen aus Fleisch und Blut, sondern eine leblose Puppe mit einem angemalten Lächeln. Die Gestalt daneben schien ebenfalls aus Holz. Ihr Gesicht glich einer lächelnden Maske, und die Augen waren die Augen des Mannes, den ich liebte. Sie sahen durch mich hindurch oder über mich hinweg mit einem kalten ausdruckslosen Blick, der in eine Folterkammer starrte, wohin ich ihm nicht folgen konnte, in eine innere Hölle, zu der ich keinen Zugang hatte.

Er sprach nicht mit mir, er rührte mich nicht an. Wir standen nebeneinander, der Hausherr und die Dame des Hauses, und waren einander doch so fern. Ich beobachtete die Höflichkeiten, die er seinen Gästen erwies. Dem einen warf er ein Wort zu, einem anderen einen Scherz, grüßte mit einem Nicken einen dritten, bedachte einen vierten mit einem Lächeln, und niemand außer mir ahnte, daß jede Bewegung, die er machte, jede Äußerung, die er tat, der automatischen Reaktion einer Maschine glich. Wir waren wie zwei Schauspieler, die im gleichen Stück auftreten, aber nicht aufeinander eingespielt sind. Wir allein litten darunter; wir mußten diese klägliche, verlogene Komödie zu Ende führen, weil alle diese Menschen es von uns verlangten, diese Menschen, die ich nicht kannte und die ich nie wiedersehen wollte.

Der Schicksalswalzer, die Blaue Donau, die Lustige Witwe - eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, und rechts herum und links herum und eins-zwei-drei und rechts herum und links herum und eins-zwei-drei. Die Erdbeerdame, eine grüne Dame, dann wieder Beatrice mit zurückgeschlagenem Schleier, Giles mit schweißströmendem Gesicht, dann der Chinese mit einer neuen Partnerin; sie blieben bei uns stehen; ich kannte die Frau nicht, sie war im Tudor-stil gekleidet, trug eine weiße Halskrause und ein schwarzes Samtkleid.

«Wann besuchen Sie uns mal?» fragte sie mich, als ob wir alte Bekannte wären, und ich antwortete: «In den nächsten Tagen; wir sprachen neulich erst davon», und wunderte mich, daß mir das Lügen plötzlich so leicht fiel. «Ein entzückendes Fest, mein Kompliment!» sagte sie, und ich antwortete: «Sehr freundlich, daß Sie das sagen, ja, es ist eine lustige Stimmung, nicht wahr?»

«Ich höre, man hat Ihnen ein falsches Kostüm geschickt?»

«Ja, zu dumm.»

«Auf diese Schneider ist nie Verlaß. Es ist immer dasselbe. Aber Sie sehen wirklich ganz reizend aus in diesem hübschen Blau. Ich beneide Sie direkt darum, wenn ich sehe, wie kühl Sie aussehen; dieser Samt ist furchtbar heiß. Also vergessen Sie nicht, Sie müssen bald zu uns zum Essen kommen.»

«Das werden wir sehr gern tun.»

Wie spät mochte es sein? Ich wußte es nicht. Die Nacht schleppte sich Stunde um Stunde dahin, und immer dieselben Gesichter, dieselben Melodien. Hin und wieder tauchten die Bridgespieler aus der Bibliothek auf wie Eremiten aus ihrer Höhle, um dem Tanz zuzusehen, und zogen sich dann wieder zurück. Beatrice kam mit flatterndem Gewand auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: «Warum setzt du dich nicht? Du siehst aus wie der leibhaftige Tod.»

«Ich fühle mich aber ganz wohl.»

Dann erschien Giles, dem die Schminke vom Gesicht lief und der in seinem dicken Burnus fast kochte, an mei-ner Seite. «Komm mit auf die Terrasse und sieh dir das Feuerwerk an.»

Und ich ging mit ihm hinaus und starrte zum Himmel empor, während die kindischen Raketen hinaufzischten und herabfielen. Dort in einer Ecke stand die kleine Clarice mit einem von den Knechten. Sie lächelte beseligt und quietschte vor Vergnügen, als ein Frosch zu ihren Füßen knallte und spuckte. Sie hatte ihren Kummer vergessen.

«Hallo, das wird ein Riesending!» Giles sah mit offenem Mund nach oben. «Da, siehst du, bravo, großartig gemacht!»

Das scharfe Zischen der Rakete, wie sie hochstieg, der Knall, als sie zerplatzte, der Sprühregen smaragdgrüner Sterne, ein beifälliges Murmeln der Menge, bewundernde Ausrufe, dann Händeklatschen.

Eine nach der anderen schossen die Raketen pfeilgleich in die Luft, und der Himmel färbte sich grün und blutrot und gold. Manderley hob sich wie ein verzaubertes Schloß von der Dunkelheit ab; die Fenster schienen zu brennen; die grauen Mauern liehen sich gespenstisches Licht von den sprühenden Raketen.

Ein Märchenhaus mitten im dunklen Wald. Und als die letzte Rakete verlöscht war und die Beifallsrufe verstummten, schien die Nacht, die eben noch so festlich gewesen war, plötzlich düster und melancholisch zu werden, und der Himmel wurde zum Leichentuch. Die kleinen Gruppen auf dem Rasen und auf den Wegen lösten sich auf und zerstreuten sich. Die Gäste drängten sich durch die Glastüren in den Salon. Alles, was jetzt kam, war eine Antiklimax; das kümmerliche Nachspiel begann. Wir standen mit blassen, leeren Gesichtern herum. Jemand brachte mir ein Glas Champagner. Ich hörte die ersten Wagen draußen vorfahren.

Man bricht auf, dachte ich. Gott sei Dank, man bricht auf. Die Erdbeerdame fing wieder an zu essen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis die Halle sich geleert hatte. Ich sah Frank der Kapelle ein Zeichen geben. Ich stand in der Tür zwischen dem Salon und der Halle neben einem Mann, den ich nicht kannte.

«Das war mal ein gelungener Abend», sagte er begeistert.

«Ja», sagte ich.

«Ich habe mich nicht eine einzige Minute gelangweilt», sagte er.

«Das freut mich.»

«Molly war außer sich, daß sie nicht mitkommen konnte.»

«So?» sagte ich.

Die Kapelle stimmte «Freut euch des Lebens» an. Mein Nachbar ergriff meine Hand und begann sie auf und ab zu schwingen. «Los!» rief er, «alle mitmachen!» Irgend jemand schwang jetzt auch meine andere Hand, und nach und nach taten immer mehr Gäste mit. Wir standen in einem großen Kreis und sangen aus voller Kehle. Der Mann, der sich nicht eine einzige Minute gelangweilt hatte und mir erzählte, daß Molly außer sich gewesen sei, trug ein chinesisches Mandarinkostüm, und seine falschen Nägel verfingen sich in seinen weiten Ärmeln, wie wir so unsere Hände schwangen. Er brüllte vor Lachen. Wir lachten alle. «Freut euch des Lebens!» sangen wir.

Die ausgelassene Fröhlichkeit verebbte mit dem letzten Takt, und der Trommelwirbel kündete das unvermeidliche «God Save the King» an. Das Lächeln wich aus unseren Gesichtern wie fortgewischt. Der Mandarin riß die Absätze zusammen und stand militärisch stramm. Ich weiß noch, daß mir der flüchtige Gedanke kam, ob er wohl Offizier sei. Wie komisch er aussah mit seinem langen, un-beweglichen Gesicht und seinem dünnen chinesischen Schnurrbart. Mein Blick fiel auf die Erdbeerdame. Die Nationalhymne hatte sie mitten im Essen überrascht; in ihrer Hand hielt sie noch den Teller mit Huhn in Aspik. Sie hielt ihn steif vor sich, als ob sie eine Kollekte einsammeln wollte. Alle Munterkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Als der letzte Ton verklungen war, atmete sie auf und machte sich mit wahrem Feuereifer wieder über ihr Huhn her und redete mit vollem Mund auf einen Bekannten ein. Jemand hatte meine Hand gepackt und schüttelte sie.

«Vergessen Sie nicht, am vierzehnten kommen Sie zu uns zum Essen.»

«Ja.» Ich sah verständnislos hoch.

«Ja, Ihre Schwägerin hat auch versprochen zu kommen.»

«Ach, wie nett!»

«Pünktlich halb neun, kleines Abendkleid. Wir freuen uns schon, Sie bei uns begrüßen zu dürfen.»

«Ja, ich freue mich auch.»

Die Gäste standen schon an, um sich zu verabschieden. Maxim befand sich am anderen Ende des Zimmers. Ich legte mein Lächeln wieder an, das nach dem «Freut euch des Lebens» etwas fadenscheinig geworden war.

«Der netteste Abend seit langem!»

«Wie mich das freut!»

«Vielen Dank für den reizenden Abend.»

«Wie mich das freut!»

«Sehen Sie, wir haben bis zum bitteren Ende durchgehalten.»

«Wie mich das freut!»

Gab es denn keinen anderen Satz in unserer Sprache? Ich lächelte und nickte wie ein Automat, und meine Augen suchten Maxim. Er stand vor der Bibliothekstür, und um ihn herum drängten sich Gäste. Beatrice war ebenfalls von einem Menschenhaufen umgeben, und Giles hatte eine kleine Gruppe Unermüdlicher zum Büffet in den Salon geführt. Frank sah wohl draußen auf der Anfahrt bei den Wagen nach dem rechten. Ich konnte mich kaum noch rühren.

«Auf Wiedersehen und vielen, vielen Dank! Es war zu nett!»

«Wie mich das freut!»

Endlich fing die große Halle an, leerer zu werden. Die fade Atmosphäre nach einem vergangenen Fest schlich sich bereits ein, und ein müder Tag dämmerte herauf. Die Terrasse lag schon im grauen Morgenlicht. Ich konnte allmählich das rauchige Gerüst für das Feuerwerk draußen auf dem Rasen erkennen.

«Auf Wiedersehen, es war ein himmlisches Fest!»

«Wie mich das freut!»

Maxim war zu Frank hinausgegangen; Beatrice gesellte sich zu mir und streifte sich die Armringe ab. «Ich kann die Dinger nicht mehr ausstehen. Himmel, bin ich müde, ich glaube, ich hab nicht einen einzigen Tanz ausgelassen. Es war jedenfalls ein riesiger Erfolg.»

«Meinst du?» fragte ich.

«Meine Liebe, willst du nicht gleich zu Bett gehen? Du siehst ganz abgekämpft aus. Du hast ja fast den ganzen Abend gestanden. Wo sind unsere Männer?»

«Maxim und Frank sind draußen, und Giles ist im Salon.»

«Ich werde mir jetzt etwas Kaffee und Schinken und Eier zu Gemüte führen. Du auch?»

«Nein, danke, Beatrice, lieber nicht.»

«Du hast wirklich entzückend in deinem blauen Kleid ausgesehen. Jeder hat das gesagt. Und kein Mensch hat auch nur etwas geahnt von - von dem Vorfall, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.»

«Nein.»

«An deiner Stelle würde ich erst mal gründlich ausschlafen. Bleib ruhig liegen und laß dir das Frühstück ans Bett bringen.»

«Ja, vielleicht.»

«Soll ich Maxim sagen, daß du schon raufgegangen bist?»

«Ja bitte, Beatrice.»

«Also schön, meine Liebe, schlaf gut.» Sie küßte mich hastig und klopfte mir gleichzeitig auf die Schulter und ging dann in den Salon, um Giles zu suchen. Ich stieg langsam Stufe um Stufe die Treppe hinauf. Die Musiker hatten das Licht in der Galerie gelöscht und waren hinuntergegangen, um sich ebenfalls mit Spiegeleiern und Schinken zu stärken. Einzelne Notenblätter lagen auf dem Boden verstreut. Ein Stuhl war umgefallen. Auf dem Klavier stand ein Aschenbecher, der bis an den Rand mit Asche und Stummeln gefüllt war. Das Nachspiel eines gelungenen Abends. Ich ging den Korridor entlang zu meinem Zimmer. Es wurde mit jeder Minute heller; die Vögel begannen schon zu singen. Ich brauchte kein elektrisches Licht mehr, um mich auszuziehen. Vom Fenster her wehte ein kühler Wind herein. Ich sah hinaus. Die Gäste mußten den Rosengarten während des Abends bevorzugt haben, denn die Stühle waren beiseite gerückt worden. Auf dem einen Tisch stand ein Tablett mit leeren Gläsern. Jemand hatte eine Handtasche liegenlassen. Ich zog die Vorhänge zu, um das Zimmer zu verdunkeln, aber das graue Morgenlicht drang an den Seiten herein.

Ich legte mich ins Bett; meine Beine zitterten vor Müdigkeit, im Rücken verspürte ich Stiche. Ich schloß meine Augen und genoß die angenehme Kühle der sauberen Laken. Ich wünschte, meine Gedanken hätten sich wie mein Körper entspannen und in Schlaf sinken können. Ich preßte meine Hände auf die Augen, aber die Bilder ließen sich nicht verscheuchen.

Wann Maxim wohl kommen würde? Das Bett neben mir sah so kalt und unfreundlich aus. Bald würden alle Schatten aus dem Zimmer gewichen sein und die Wände und die Decke und der Fußboden würden in weißes Morgenlicht getaucht werden. Das Lied der Vögel würde lauter, fröhlicher und nicht mehr so gedämpft erklingen. Die Sonne würde ihre goldenen Kringel auf die Vorhänge malen. Meine kleine Nachttischuhr tickte die Minuten Sekunde um Sekunde aus. Der Zeiger bewegte sich an den Ziffern vorbei. Ich lag auf der Seite und sah ihm zu. Er erreichte die volle Stunde und ließ sie wieder hinter sich zurück und begann den Rundgang aufs neue. Aber Maxim kam nicht.

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