Packen. Die aufreibende Plackerei, die einer Abreise vorausgeht. Verlegte Schlüssel, noch unbeschriebene Anhängeadressen, Seidenpapier, das auf dem Boden herumliegt. Ich hasse das alles. Auch jetzt noch, obwohl ich es doch so häufig erlebt habe und obwohl ich aus den Koffern lebe, wie man zu sagen pflegt. Selbst heute, wo das Schließen von Schubladen und das Aufreißen einer Hotelschranktür oder der unpersönlichen Schreibtischfächer einer möbliert gemieteten Villa zu einer stets gleichbleibenden Gewohnheit geworden ist, empfinde ich Trauer und ein Gefühl von Verlust. Hier, sage ich mir, haben wir gelebt, sind wir glücklich gewesen. Es war unser, egal, für welch kurze Zeit. Wenn wir auch nur zwei Nächte unter einem Dach zugebracht haben, lassen wir doch etwas von uns selbst zurück. Nichts Gegenständliches, keine Haarnadel auf einem Frisiertisch oder ein Taschentuch unter dem Kopfkissen; aber etwas Unbestimmbares, einen Augenblick unseres Lebens, einen Gedanken, eine Stimmung.
Kürzlich las ich in einer Zeitung, daß das Hotel Cöte d'Azur in Monte Carlo von einer anderen Direktion übernommen wurde und einen neuen Namen erhalten hat. Die Zimmer sind neu tapeziert worden, und sämtliche Räumlichkeiten wurden umgebaut. Mrs. Van Hoppers Appartement im ersten Stock existiert vielleicht gar nicht mehr. Vielleicht ist von dem kleinen Schlafzimmer, das ich bewohnte, keine Spur mehr übriggeblieben. Ich wußte, daß ich niemals dorthin zurückkehren würde, als ich an jenem Tag am Boden kniete und mich mit dem umständlichen Verschluß ihres Koffers abmühte.
Mit dem Einschnappen des Schlosses war die Episode von Monte Carlo beendet. Ich warf einen Blick durch das Fenster, und es war so wie das Umblättern einer Seite in einem Photoalbum. Diese Dachgiebel und dieses Meer hatten nichts mehr mit mir zu tun. Sie gehörten dem Gestern, der Vergangenheit an. Die Zimmer machten bereits einen kahlen Eindruck, die großen Koffer standen zugeschnallt und verschlossen zum Abholen bereit draußen auf dem Korridor. Das Handgepäck würde später fertig gepackt werden. Die Papierkörbe quollen über, offene Schubladen starrten in die Gegend, der Schreibtisch war völlig ausgeräumt.
Am Morgen vorher, als ich ihr beim Frühstück den Kaffee einschenkte, hatte sie mir einen Brief zugeworfen. «Helen schifft sich Sonnabend nach New York ein. Die kleine Nancy hat eine Blinddarmreizung, und sie erhielt ein Telegramm, sie solle doch nach Hause kommen. Das war für mich entscheidend. Wir werden auch fahren. Europa langweilt mich langsam zu Tode, außerdem können wir ja im Frühherbst zurückkehren. Was sagen Sie dazu, New York kennenzulernen?»
Der bloße Gedanke daran war schlimmer als Gefängnis. Mein Gesicht mußte etwas von meiner Niedergeschlagenheit verraten haben, denn zuerst sah sie erstaunt und dann verärgert aus.
«Was für ein merkwürdiges, unzufriedenes Kind sind Sie doch! Ich werde wirklich nicht klug aus Ihnen. Sind Sie sich nicht darüber klar, daß Mädchen in Ihrer Lage, ohne irgendwelches Vermögen, bei uns das herrlichste Leben führen können? So viel Abwechslung und eine Menge junger Leute. In derselben gesellschaftlichen Stellung wie Sie. Sie können Ihren eigenen kleinen Freundes-kreis haben und brauchen mir nicht, wie hier, ständig auf jeden Wink zur Verfügung zu stehen. Ich dachte, Sie machten sich nichts aus Monte?»
«Ich habe mich daran gewöhnt», sagte ich matt und kläglich, mein Herz ein Widerstreit von Gefühlen.
«Sie werden sich jetzt eben an New York gewöhnen müssen, das ist alles. Jedenfalls werden wir auf Helens Dampfer buchen, und das heißt, daß wir uns sofort um unsere Karten kümmern müssen. Gehen Sie gleich zum Portier und sorgen Sie dafür, daß der junge Mann sich etwas tummelt. Sie werden heute noch so viel zu tun haben, daß Ihnen gar keine Zeit übrigbleibt, irgendwelchen Abschiedsschmerz zu empfinden.» Sie lachte unsympathisch, drückte ihre Zigarette in der Butter aus und ging zum Telephon, um all ihre Bekannten anzurufen.
Ich konnte nicht sofort in die Halle hinuntergehen. Ich ging ins Badezimmer, riegelte die Tür ab, setzte mich auf die Korkmatte am Boden und stützte den Kopf in die Hände. Nun war es also Ernst geworden mit dem Abreisen und dem ganzen Drum und Dran. Es war alles vorbei. Morgen abend würde ich im Zug sitzen, ihren Schmuckkasten und ihre Reisedecke tragen wie ein Dienstmädchen, und sie, ganz vermummt in ihren Pelzmantel, würde mir im Schlafwagen gegenüber sitzen. In diesem stickigen, kleinen Abteil mit den ratternden Türen, dem bespritzten Waschbecken, den feuchten Handtüchern, der Seife mit dem einen Haar darauf, der halbgefüllten Wasserkaraffe und dem unvermeidlichen Schild an der Wand «Sous le lavabo se trouve un vase», würden wir uns waschen und die Zähne putzen, während jedes Geratter, jeder Ruck und jeder Stoß des kriechenden Zuges mich nur mit jeder Meile noch mehr von ihm entfernte, der zu dieser Stunde allein im Speisesaal des Hotels saß und vielleicht in einem Buch las - ohne Bedauern, ohne Gedanken.
Vielleicht würde ich mich im Gesellschaftszimmer von ihm verabschieden, bevor wir das Hotel verließen; ihm verstohlen und hastig - ihretwegen - Lebewohl sagen, und es würde eine kleine Pause entstehen, und wir würden lächeln und Worte wechseln wie: «Ja, gewiß, natürlich müssen Sie mir schreiben» und «Ich habe Ihnen noch gar nicht richtig gedankt, daß Sie so nett gewesen sind» und «Vergessen Sie nicht, mir die Abzüge nachzuschicken.» -«Aber an welche Adresse?» - «Ach, die werde ich Ihnen noch mitteilen.» Und er würde sich eine Zigarette anzünden, während ich mir im stillen sagen würde: «Nur noch viereinhalb Minuten - ich werde ihn nie wiedersehen.»
Weil ich fortging, weil es zu Ende war, würden wir uns plötzlich nichts mehr zu sagen haben, während das Herz mir weh tat und schrie: «Ich liebe dich so sehr! Ich bin schrecklich unglücklich. Das ist mir bisher noch nie geschehen und wird es auch nie wieder.» Mein Gesicht aber würde in einem gekünstelten, konventionellen Lächeln erstarren und meine Stimme sagen: «Ja, also nochmals, ich bin Ihnen wirklich wahnsinnig dankbar, es war fabelhaft nett ...» Worte benutzend, die ich bis dahin nie benutzt hatte. Fabelhaft - was bedeutete das? - Gott weiß, mir war das völlig gleich; es war so ein Wort, wie Schulmädchen es gebrauchen, wenn sie von einem Hockeyspiel sprechen, völlig unzutreffend für jene vergangenen Wochen zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Und dann würde sich die Tür des Fahrstuhles öffnen, um Mrs. Van Hopper herauszulassen, und ich würde auf sie zugehen, und er würde sich wieder in seine Ecke zurückziehen.
Zum erstenmal seit ihrer Grippe nahm Mrs. Van Hopper das Mittagessen im Speisesaal ein, und ich hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, als ich nach ihr den Raum betrat. Er war an diesem Tag nach Cannes ge-fahren, so viel wußte ich, weil er es mir am Tag vorher mitgeteilt hatte, aber ich fürchtete die ganze Zeit, daß der Kellner eine Indiskretion begehen und mich fragen könnte: «Werden Mademoiselle heute abend wie gewöhnlich mit Monsieur speisen?» sooft der Kellner sich unserem Tisch näherte, wurde mir vor Angst beinahe übel, aber er sagte nichts.
Der Tag verging mit Packen, und abends kamen ihre Bekannten, um sich von ihr zu verabschieden. Wir aßen im Wohnzimmer, und sie ging gleich danach zu Bett. Ich hatte ihn noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Um halb zehn ging ich unter dem Vorwand, mir Anhängeadressen zu holen, in die Halle hinunter, aber er war nicht da. Der ekelhafte Portier lächelte, als er mich sah. «Falls Sie Mr. de Winter suchen sollten - er hat von Cannes anrufen und ausrichten lassen, er würde vor Mitternacht nicht zurück sein.»
«Ich möchte gern ein paar Anhängeadressen», sagte ich, aber ich sah ihm an, daß er sich nicht täuschen ließ. Es würde also keinen letzten Abend mehr geben. Diese Abendstunde, auf die ich den ganzen Tag über gehofft hatte, mußte ich nun allein in meinem Schlafzimmer damit zubringen, den Koffer und den prallen Wäschesack anzustarren. Vielleicht war es ganz gut so, denn ich hätte gewiß eine sehr schlechte Gesellschafterin abgegeben, und er würde mir vom Gesicht abgelesen haben, wie es um mich stand.
Ich weiß, daß ich in jener Nacht geweint habe, bittere junge Tränen, die ich heute nicht mehr weinen könnte. Wenn wir einmal älter als einundzwanzig sind, dann kommt das nicht mehr vor, dieses leidenschaftliche Tief-in-ein-Kissen-Schluchzen; die hämmernden Schläfen, die verschwollenen Augen, die enge, zugeschnürte Kehle. Und am Morgen darauf das eifrige Bemühen, alle Spuren vor den Augen der Welt zu verbergen, das wiederholte Baden des Gesichts mit kaltem Wasser, das Betupfen mit Eau de Cologne, die hastig verstohlene Benutzung der Puderquaste, die an sich schon verräterisch ist. Dazu noch die panische Angst, daß man von neuem weinen könnte, weil es nicht in unserer Macht steht, das Heraufquellen der Tränen zu verhindern, und daß ein verhängnisvolles Zuk-ken um den Mund das Unheil heraufbeschwören wird. Ich entsinne mich noch, wie ich das Fenster weit öffnete und mich hinauslehnte in der Hoffnung, die frische Morgenluft würde die verräterische Röte unter dem Puder wegblasen, und es kam mir vor, als ob die Sonne noch nie so hell geschienen und der neue Tag noch nie so vielversprechend begonnen hätte. Monte Carlo war plötzlich so anziehend und reizvoll, der einzige Ort in der Welt, wo es Aufrichtigkeit gab. Ich liebte es. Zärtlichkeit überwältigte mich. Und heute mußte ich es verlassen.
«Sie haben sich doch nicht etwa erkältet?» fragte Mrs. Van Hopper beim Frühstück.
«Nein, ich glaube nicht», erwiderte ich, mich an diesen Strohhalm klammernd; denn falls ich allzu rot um die Augen aussehen sollte, würde mir vielleicht eine Erkältung später als Ausrede dienen können.
«Ich hasse es, noch so herumzusitzen, wenn alles bereits gepackt ist», brummte sie; «wir hätten uns für den früheren Zug entscheiden sollen. Wenn wir uns bemühen, könnten wir es noch schaffen und uns dann länger in Paris aufhalten. Telegraphieren Sie Helen, sie soll uns nicht von der Bahn abholen, aber machen Sie gleich einen anderen Treffpunkt aus. Ich überlege» - sie sah auf ihre Uhr - «ja, ich denke doch, daß sie uns die reservierten Plätze noch umtauschen können. Jedenfalls lohnt es sich, den Versuch zu machen. Laufen Sie schnell ins Büro und sehen Sie, was sich erreichen läßt.»
«Ja», sagte ich, der Spielball ihrer Launen, ging in mein Zimmer, schlüpfte in den unvermeidlichen Flanellrock und zog mir den selbstgestrickten Pullover über den Kopf. Meine Gleichgültigkeit ihr gegenüber verwandelte sich in Haß. Also dies war nun wirklich das Ende! Selbst der Vormittag mußte mir genommen werden! Keine letzte halbe Stunde auf der Terrasse mehr, vielleicht nicht einmal zehn Minuten, um Lebewohl zu sagen. Weil sie eher mit dem Frühstück fertig geworden war, als sie vorausgesehen hatte, weil sie sich langweilte. Na gut, ich würde alle Zurückhaltung und Bescheidenheit fahren lassen und jeden Stolz aufgeben. Ich schlug die Tür des Wohnzimmers hinter mir zu und lief den Korridor entlang. Ich wartete nicht auf den Fahrstuhl, sondern rannte, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinauf, bis zum dritten Stock. Ich kannte seine Zimmernummer, 148, und ich klopfte laut an, blutrot und atemlos.
«Herein!» rief er, und ich öffnete die Tür, meinen Entschluß schon wieder bereuend, und der Mut sank mir, denn womöglich war er gerade erst aufgewacht, weil er gestern so spät schlafen gegangen war, und lag vielleicht noch im Bett, ungekämmt und reizbar.
Er rasierte sich am offenen Fenster, eine Kamelhaarjacke über dem Pyjama, und ich in meinem Flanellkostüm und den schweren Schuhen fühlte mich unbeholfen und zu warm angezogen. Ich war bloß töricht gewesen, während ich mir so dramatisch vorgekommen war.
«Was wollen Sie?» fragte er, «ist etwas nicht in Ordnung?»
«Ich möchte mich verabschieden», sagte ich, «wir reisen heute morgen ab.»
Er starrte mich an und legte dann seinen Rasierapparat auf den Waschtisch. «Schließen Sie die Tür», sagte er.
Ich schloß die Tür hinter mir, blieb verlegen stehen und ließ die Arme herabhängen.
«Was sagen Sie da?»
«Ja, es stimmt. Wir fahren heute ab. Wir wollten erst den späteren Zug nehmen, und jetzt möchte sie noch den früheren erreichen, und ich hatte Angst, ich würde Sie nicht mehr sehen. Ich mußte Sie ganz einfach noch einmal sehen, bevor ich abreise, um Ihnen zu danken.»
Da stolperten sie heraus, diese idiotischen Worte, genauso, wie ich es geahnt hatte. Ich fühlte mich gehemmt und linkisch; im nächsten Augenblick würde ich wieder sagen, wie fabelhaft nett er gewesen war.
«Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?» fragte er.
«Sie hat sich erst gestern dazu entschlossen. Es ging alles so schrecklich schnell. Ihre Tochter fährt Sonnabend nach New York, und wir begleiten sie. Wir werden sie in Paris treffen und zusammen nach Cherbourg fahren.»
«Sie will Sie mit nach New York nehmen?»
«Ja, und ich mag gar nicht. Ich finde es gräßlich. Ich werde mich da nur unglücklich fühlen.»
«Aber warum in Teufels Namen begleiten Sie sie denn dann?»
«Ich muß eben, das wissen Sie doch. Ich bekomme doch ein Gehalt von ihr. Ich kann es mir nicht leisten, sie einfach zu verlassen.» Er nahm seinen Rasierapparat wieder auf und rasierte sich fertig.
«Setzen Sie sich», sagte er. «Es wird nicht lange dauern. Ich ziehe mich rasch im Badezimmer an und bin in fünf Minuten fertig.»
Er nahm seine Sachen vom Stuhl, warf sie ins Badezimmer auf den Boden, ging hinein und schlug die Tür zu.
Ich setzte mich auf den Bettrand und begann an meinen Nägeln zu kauen. Die Situation war so unwirklich, und ich kam mir vor wie eine Marionette. Ich überlegte, was er wohl dachte, was er vorhatte. Ich sah mich im Zimmer um. Es war ein Raum, in dem irgendein beliebiger Mann hätte wohnen können, unordentlich und unpersönlich. Berge von Schuhen, viel mehr, als er hier jemals benutzen konnte, und über einem Band unzählige Schlipse. Der Frisiertisch war kahl bis auf eine große Flasche Haarwasser und zwei Haarbürsten mit Elfenbeinrücken. Keine Photos - nichts. Instinktiv hatte ich danach gesucht in der Annahme, daß mindestens eine Photographie dastehen würde, auf dem Nachttisch neben seinem Bett oder mitten auf dem Kaminsims. Ein großes Bild in einem Lederrahmen. Es standen jedoch nur einige Bücher da und eine Schachtel Zigaretten.
Nach fünf Minuten war er fertig, wie er es versprochen hatte. «Kommen Sie mit auf die Terrasse und leisten Sie mir Gesellschaft, während ich frühstücke», sagte er.
Ich sah auf meine Armbanduhr. «Ich habe keine Zeit», teilte ich ihm mit, «ich sollte jetzt eigentlich im Büro sein, um die reservierten Plätze umzutauschen.»
«Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken. Ich habe mit Ihnen zu reden», sagte er.
Wir gingen den Korridor entlang, und er klingelte nach dem Fahrstuhl. Es ist ihm nicht bewußt, dachte ich, daß der frühere Zug in etwa anderthalb Stunden fährt. Gleich wird Mrs. Van Hopper im Büro anrufen und fragen, ob ich dort bin. Wir fuhren ohne zu sprechen im Lift nach unten, und schweigend betraten wir die Terrasse, auf der die Tische zum Frühstück gedeckt waren.
«Was möchten Sie essen?» fragte er.
«Ich habe bereits gefrühstückt», entgegnete ich, «und ich kann allerhöchstens noch vier Minuten hier bleiben.»
«Bringen Sie mir Kaffee, ein weiches Ei, Toast, Marmelade und eine Apfelsine», sagte er zu dem Kellner. Und dann nahm er eine Nagelfeile aus der Tasche und begann an seinen Nägeln zu feilen.
«So», sagte er dann, «Mrs. Van Hopper hat also genug von Monte Carlo und will wieder nach Hause. Das will ich auch. Sie nach New York und ich nach Manderley. Was würden Sie vorziehen? Die Wahl steht Ihnen frei.»
«Bitte treiben Sie keinen Scherz damit, das ist unrecht von Ihnen», sagte ich, «und ich glaube, ich muß mich jetzt endlich um die Fahrkarten kümmern und mich von Ihnen verabschieden.»
«Wenn Sie annehmen, daß ich zu den Leuten gehöre, die schon beim Frühstück witzig sein können, dann irren Sie sich», sagte er. «Ich bin frühmorgens ausnahmslos schlecht gelaunt. Ich wiederhole es in allem Ernst: die Wahl steht Ihnen frei. Entweder begleiten Sie Mrs. Van Hopper nach Amerika, oder Sie kommen mit mir heim nach Manderley.»
«Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine Sekretärin oder so etwas brauchen?»
«Nein. Ich frage Sie, ob Sie mich heiraten wollen, Sie kleiner Dummkopf.»
Der Kellner kam mit dem Frühstück, und ich saß da, die Hände im Schoß, und sah zu, wie er die Kaffeekanne und das Milchkännchen hinstellte.
«Sie irren sich in mir», sagte ich, als der Kellner gegangen war, «ich bin kein Mädchen, das man heiratet.»
«Was zum Teufel meinen Sie damit?» sagte er, während er mich anstarrte und den Löffel aus der Hand legte.
Ich beobachtete eine Fliege, die sich auf die Marmelade setzte, und er scheuchte sie ungeduldig weg.
«Ich weiß nicht genau», sagte ich langsam, «ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Erst einmal gehöre ich nicht zu Ihrer Welt.»
«Was ist denn meine Welt?»
«Nun - Manderley. Sie verstehen schon, was ich meine.»
Er griff wieder nach seinem Löffel und nahm sich etwas Marmelade.
«Sie sind fast so dumm wie Mrs. Van Hopper und genauso unwissend. Was wissen Sie denn von Manderley? Ich bin schließlich der Mensch, der beurteilen kann, ob Sie dorthin gehören oder nicht. Sie glauben, ich frage Sie das aus einer Augenblickslaune heraus, nicht wahr? Weil Sie mir gesagt haben, daß Sie nicht nach New York fahren mögen. Sie glauben, ich mache Ihnen einen Heiratsantrag aus demselben Grund, aus dem ich Sie Ihrer Meinung nach im Auto spazierengefahren habe, ja? Und Sie an jenem ersten Abend zum Essen eingeladen habe. Aus reiner Nettigkeit. Stimmt's?»
«Ja», sagte ich.
«Eines Tages», fuhr er fort, während er sich den Toast dick bestrich, «werden Sie vielleicht begreifen, daß Nächstenliebe nicht gerade meine stärkste Eigenschaft ist. Im Augenblick, glaube ich, begreifen Sie überhaupt nichts. Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet. Wollen Sie mich heiraten?»
Ich glaube nicht, daß ich selbst in meinen kühnsten Träumen diese Möglichkeit erwogen hatte. Ich hatte mir einmal, als ich neben ihm im Wagen saß und wir viele Meilen lang geschwiegen hatten, eine romantische Geschichte ausgedacht, wie er auf den Tod krank lag und in seinen Fieberträumen nach mir verlangte und ich ihn dann pflegen durfte. Ich war gerade bei dem Punkt in meiner Geschichte angelangt, wo ich ihm die Stirn mit Eau de Co-logne benetzte, als wir vor dem Hotel vorfuhren, und deshalb blieb es dabei. Ein andermal hatte ich mir ausgemalt, wie ich in einem Pförtnerhäuschen auf Manderley wohnen und er mich manchmal besuchen und vor dem Kamin sitzen würde. Daß er so aus heiterem Himmel vom Heiraten redete, verwirrte mich, ja, erschreckte mich sogar, glaube ich. Es war so, als würde man vom König gebeten, seine Frau zu werden. Es klang nicht echt. Und er aß seelenruhig seinen Toast, als ob alles ganz natürlich wäre. In Romanen knieten die Männer vor den Frauen, und es war Mondschein. Nicht beim Frühstück, nicht so wie jetzt.
«Mein Vorschlag scheint keinen großen Anklang zu finden», sagte er. «Das tut mir leid. Ich bildete mir nämlich ein, Sie liebten mich. Ein schwerer Schlag für meine Eitelkeit.»
«Aber ich liebe Sie ja», sagte ich. «Ich liebe Sie schrecklich. Sie haben mich sehr unglücklich gemacht, und ich habe die ganze Nacht geweint, weil ich dachte, ich würde Sie nie wiedersehen.»
Als ich das sagte, lachte er und streckte mir die Hand über den Frühstückstisch entgegen. «Gott segne dich dafür!» sagte er. «Eines Tages, wenn du das erhabene Alter von sechsunddreißig Jahren erreicht hast, was, wie du mir anvertraut hast, dein Ehrgeiz ist, werde ich dich an diesen Augenblick erinnern. Und du wirst mir nicht glauben wollen. Es ist ein Jammer, daß du erwachsen werden mußt.»
Ich schämte mich bereits und war böse auf ihn, weil er gelacht hatte. Also man machte als Frau einem Mann keine solchen Geständnisse. Ich hatte noch eine Menge zu lernen.
«So, das wäre also abgemacht, nicht wahr?» sagte er, weiteressend. «Anstatt die Gesellschafterin von Mrs. Van Hopper zu bleiben, wirst du meine, und deine Pflichten werden fast genau die gleichen sein. Ich habe ebenfalls eine Schwäche für Neuerscheinungen in der Leihbibliothek, für Blumen im Wohnzimmer und ein Kartenspiel nach dem Abendessen. Und habe es gern, wenn mir jemand den Tee einschenkt. Der einzige Unterschied ist, daß ich nicht Taxol benutze, sondern Eno, und du mußt dafür sorgen, daß mir meine besondere Zahnpasta-Sorte nie ausgeht.»
Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch und wußte nicht, was ich von mir selbst und von ihm halten sollte. Lachte er noch immer über mich, war es alles nur ein Scherz? Er blickte auf und las den Zweifel in meinem Gesicht. «Ich bin ziemlich unverblümt gewesen, wie?» sagte er. «Dies entspricht so gar nicht deiner Vorstellung von einem Heiratsantrag. Eigentlich müßten wir uns in einem Wintergarten befinden, du in einem weißen Kleid mit einer Rose in der Hand, und im Hintergrund müßte eine Geige spielen. Und ich müßte dir im Schatten einer Palme eine glühende Liebeserklärung machen. Dann hättest du das Gefühl, auf deine Kosten gekommen zu sein. Mein armer Liebling, was für eine Schmach. Aber laß gut sein, auf unserer Hochzeitsreise entführe ich dich nach Venedig, und wir werden Hand in Hand in einer Gondola sitzen. Aber allzu lange wollen wir nicht dort bleiben, weil ich dir gern Manderley zeigen möchte.»
Er wollte mir Manderley zeigen ... Und plötzlich begriff ich, daß alles so geschehen würde: ich würde seine Frau sein, wir würden zusammen im Garten spazierengehen, wir würden den schmalen Weg durch das Tal hinunter zur steinigen Küste wandern. Ich sah mich bereits nach dem Frühstück auf den Stufen der Terrasse stehen und nach dem Wetter Ausschau halten, den Vögeln Krumen hinstreuen und später hinauslaufen, einen großen Strohhut auf dem Kopf, die Gartenschere in der Hand, und Blumen für das Haus schneiden. Jetzt wußte ich, warum ich als Kind jene Ansichtskarte gekauft hatte - es war eine Vorahnung gewesen, ein blinder Schritt in die Zukunft.
Er wollte mir Manderley zeigen . In meinem Kopf war auf einmal ein großes Durcheinander; Gestalten tauchten vor mir auf, ein Bild nach dem anderen - und unterdessen aß er seine Apfelsine, gab mir dann und wann ein Stückchen ab und sah mich unverwandt an. Wir würden von unzähligen Menschen umgeben sein, und er würde sagen: «Ich glaube, Sie kennen meine Frau noch nicht.» Mrs. de Winter. Ich würde Mrs. de Winter sein. Ich sah meinen neuen Namen geschrieben vor mir, auf Scheckformularen für die Lieferanten und auf Einladungen zu Abendgesellschaften. Ich hörte mich selbst am Telephon sagen: «Kommen Sie doch übers nächste Wochenende nach Manderley.» Menschen, immer viele Menschen. «Oh, aber sie ist einfach reizend, Sie müssen sie kennenlernen -» Auf mich bezog sich das, geflüsterte Worte, und ich würde so tun, als hätte ich nichts gehört.
Ich sah mich mit einem Korb Weintrauben und Pfirsiche zum Pförtnerhäuschen hinuntergehen, zu der alten Frau, die krank war. Ihre Hände streckten sich mir entgegen: «Der Herr segne Sie, Madam, für Ihre Güte!» und meine Entgegnung: «Wenn Sie noch irgend etwas nötig haben, schicken Sie nur jemand zum Haus hinauf.» Mrs. de Winter. Ich würde Mrs. de Winter sein. Ich sah den polierten Tisch im Eßzimmer und die hohen Wachskerzen. Maxim am Tischende. Eine Gesellschaft von vierundzwanzig Personen. Ich trage eine Blume im Haar. Alle sehen auf mich und heben ihre Gläser. «Auf die Gesundheit der jungen Frau!» und später sagt Maxim zu mir: «Du hast noch nie so bezaubernd ausgesehen.» Große, kühle, von Blumen überfüllte Räume. Mein Schlafzimmer, in dem im Winter ein warmes Feuer brennt; ein Klopfen an der Tür, und eine Frau kommt lächelnd auf mich zu. Maxims Schwester. Und sie sagt: «Es ist wirklich wundervoll, wie glücklich du ihn gemacht hast; alle sind so begeistert von dir. Du hast uns im Sturm erobert.» Mrs. de Winter. Ich würde Mrs. de Winter sein.
«Der Rest der Apfelsine ist sauer, ich würde ihn lieber nicht essen», sagte er, und ich starrte ihn an, weil ich seine Worte erst allmählich begriff, und blickte dann auf die Frucht auf meinem Teller nieder. Das letzte Stückchen sah hart und blaß aus. Er hatte recht. Die Apfelsine war sehr sauer. Ich hatte einen scharfen, bitteren Geschmack im Mund und es erst jetzt bemerkt.
«Soll ich Mrs. Van Hopper die Neuigkeit mitteilen, oder willst du es tun?» fragte er mich.
Er legte seine Serviette zusammen und schob seinen Teller zurück, und ich fragte mich, wie er nur so gleichmütig sprechen konnte, als handele es sich um eine ganz geringfügige Angelegenheit, nur um eine Änderung von Plänen, während es auf mich wie eine Granate wirkte, die in tausend Splitter explodierte.
«Sag du es ihr», erwiderte ich. «Sie wird außer sich sein.»
Wir erhoben uns, und ich war aufgeregt und errötete und zitterte bereits in Erwartung dessen, was nun kommen würde. Ohne ein Wort verließ er die Terrasse, und ich folgte ihm zum Fahrstuhl. Wir kamen an der Anmeldung vorüber, und niemand blickte auch nur zu uns auf. Der Geschäftsführer war gerade mit einem Stoß Papieren beschäftigt und sprach über die Schulter hinweg mit einem seiner Angestellten. Er weiß nicht, dachte ich, daß ich Mrs. de Winter sein werde. Ich werde in Manderley leben. Manderley wird mir gehören. Wir fuhren im Fahrstuhl zum ersten Stock und gingen dann den Korridor entlang. Er nahm meine Hand und schwang sie, während wir vorwärtsgingen. «Kommt dir zweiundvierzig sehr alt vor?» fragte er.
«O nein», antwortete ich rasch. «Ich mag junge Männer nicht.»
«Du hast ja nie welche gekannt», sagte er.
Wir waren vor der Tür von Mrs. Van Hoppers Appartement angelangt. «Ich glaube, ich mache das lieber allein mit ihr ab», meinte er. «Aber sag mir, macht es dir etwas aus, wenn wir sehr bald heiraten? Auf eine Aussteuer und den ganzen anderen Unfug legst du doch keinen Wert, oder? Die ganze Angelegenheit könnte nämlich innerhalb von wenigen Tagen erledigt werden; einfach auf dem Standesamt. Wir brauchen nur eine Lizenz, und dann fahren wir im Wagen nach Venedig oder wohin du Lust hast.»
«Nicht in der Kirche?» fragte ich. «Ohne weißes Kleid, ohne Brautjungfern, Glockengeläute und Chorgesang? Was werden deine Verwandten und alle deine Freunde dazu sagen?»
«Du darfst nicht vergessen», sagte er, «daß ich das ganze Hochzeitstheater schon einmal genossen habe. Also?»
«Natürlich», antwortete ich, «ich hatte im Moment nur gedacht, daß wir in Manderley heiraten würden. Natürlich mache ich mir nichts aus einer kirchlichen Trauung und Hochzeitsgästen und all dem.»
Und ich lächelte ihn an. Ich machte ein heiteres Gesicht. «Ich freu mich schon darauf», sagte ich.
Er war inzwischen auf die Tür zugegangen und hatte sie geöffnet, und wir befanden uns in dem kleinen Vorraum des Appartements.
«Sind Sie es?» rief Mrs. Van Hopper aus dem Wohnzimmer, «was zum Kuckuck haben Sie eigentlich die gan-ze Zeit gemacht? Ich habe dreimal im Büro angerufen, und man sagte mir, Sie wären überhaupt nicht dagewesen.»
Mich überkam ein plötzliches Verlangen, zu lachen, zu weinen, beides zugleich, und außerdem empfand ich ein merkwürdiges Übelkeitsgefühl im Magen. In meiner Verwirrung wünschte ich einen Augenblick, daß sich gar nichts ereignet hätte, daß ich irgendwo ganz allein wäre, spazierengehen und vor mich hinpfeifen könnte.
«Ich fürchte, es ist alles meine Schuld», sagte er, während er ins Wohnzimmer ging und die Tür hinter sich schloß; ich hörte gerade noch Mrs. Van Hoppers erstaunten Ausruf. Dann ging ich in mein Zimmer und setzte mich vor das offene Fenster. Mir war genauso zumute wie im Wartezimmer eines Arztes. Als müßte ich jetzt die Seiten einer Zeitschrift durchblättern, Bilder ansehen, die mir nichts sagten, und Artikel lesen, deren Inhalt ich sofort wieder vergessen würde, bis die Krankenschwester kam. «Es ist alles in Ordnung, die Operation ist zufriedenstellend verlaufen. Kein Grund zur Sorge mehr. Ich würde jetzt nach Hause gehen und schlafen.»
Die Zimmerwände im Hotel waren sehr dick; ich konnte kein Stimmengemurmel hören. Was mochte er wohl zu ihr sagen, wie seine Worte wählen? Vielleicht sagte er: «Ich habe mich sofort in sie verliebt, gleich bei unserer ersten Begegnung. Wir sind dann jeden Tag zusammen gewesen.» Und ihre Antwort darauf: «Wahrhaftig, Mr. de Winter, das ist die romantischste Geschichte, die ich je gehört habe.» Romantisch, das war das Wort, das mir im Fahrstuhl nicht einfallen wollte. Ja, natürlich, romantisch! Das war es, was die Leute sagen würden. Es war alles sehr plötzlich und romantisch. Sie entschlossen sich plötzlich zu heiraten, so mir nichts dir nichts. Was für ein Abenteuer! Ich lächelte mir selbst zu, wie ich da auf dem Fensterplatz meine Arme um die hochgezogenen Knie schlang.
Ich sollte den Mann heiraten, den ich liebte. Ich sollte Mrs. de Winter werden. Es war dumm, immer noch dieses Übelkeitsgefühl im Magen zu haben, wenn man so glücklich war wie ich. Reine Nervosität natürlich. Hier so warten zu müssen wie beim Doktor. Alles in allem wäre es wohl besser gewesen - jedenfalls viel natürlicher -, wenn wir einander anlächelnd Hand in Hand ins Wohnzimmer gegangen wären und er einfach gesagt hätte: «Wir werden heiraten, wir lieben uns sehr.»
Liebe. Bisher hatte er noch nichts davon gesagt, daß er mich liebte. Keine Zeit vielleicht. Es ging alles so schnell, während er frühstückte. Marmelade und Kaffee und diese Apfelsine. Keine Zeit. Die Apfelsine schmeckte sehr bitter. Nein, er hatte nichts davon gesagt, daß er mich liebte. Nur, daß wir heiraten würden. Kurz und entschlossen, sehr originell. Ein origineller Heiratsantrag war viel schöner. Viel ehrlicher. Nicht so wie andere Menschen. Nicht so wie jüngere Männer, die wahrscheinlich lauter Unsinn sprachen und selbst nicht die Hälfte von dem glaubten, was sie da redeten. Nicht so wie jüngere Männer, die so inkonsequent, so leidenschaftlich sind und die unmöglichsten Dinge schwören. Nicht so wie er selbst, als er sich zum erstenmal verlobte und Rebecca bat ... Ich darf nicht daran denken. Fort damit. Ein verbotener Gedanke. Niemals darf ich daran denken, niemals, niemals, niemals. Er liebt mich, er will mir Manderley zeigen. Wann werden sie ihre Unterredung endlich beendet haben, wann werden sie mich endlich rufen?
Da lag der Gedichtband noch immer neben meinem Bett. Er hatte vergessen, daß er ihn mir geliehen hatte. Er konnte ihm also nicht so viel bedeuten. «Nur zu», flüsterte der Teufel mir ein, «schlage die Titelseite auf, das ist es doch, was du tun möchtest, nicht wahr? Schlage sie nur auf.» Unsinn, sagte ich, ich will das Buch nur mit den übrigen Sachen einpacken. Ich gähnte, schlenderte auf den Nachttisch zu und nahm das Buch in die Hand. Meine Füße verfingen sich in der Schnur der Lampe, ich stolperte, das Buch fiel mir aus der Hand auf den Boden und öffnete sich dabei auf der Titelseite. «Max von Rebecca.» Sie war tot, und man sollte die Toten in Ruhe lassen. Sie schliefen in Frieden, und auf ihren Gräbern wiegte sich das Gras. Aber wie lebendig, wie kraftvoll wirkte ihre Handschrift. Diese merkwürdig schrägen Buchstaben. Der Tintenklecks. Es sah wirklich so aus, als ob es erst gestern geschrieben worden wäre. Ich nahm meine Nagelschere aus dem Necessaire und fing an zu schneiden, während ich dabei wie ein Verbrecher über meine Schulter sah.
Ich schnitt die Seite ganz aus dem Buch heraus. Ich ließ keine gezackte Kante zurück, und das Buch sah weiß und sauber aus, als die Seite draußen war. Ein neues Buch, wie unberührt. Ich zerriß die Seite in viele kleine Fetzen und warf sie in den Papierkorb. Dann setzte ich mich wieder ans Fenster. Aber ich dachte unaufhörlich an die Papierfetzen, und nach einer Weile mußte ich wieder aufstehen und noch einmal in den Korb sehen. Selbst jetzt noch hob sich die Tinte schwarz und dick von den kleinen Papierstückchen ab. Die Schrift war unversehrt geblieben. Ich zündete ein Streichholz an und verbrannte die Fetzen. Die Flamme gab ein hübsches Licht; sie färbte das Papier, kräuselte die Ecken und machte die schrägen Buchstaben unleserlich. Die Papierstückchen zerfielen in graue Asche. Der Buchstabe R hielt sich am längsten, er krümmte sich in der Flamme, wölbte sich einen Augenblick nach außen, schien zu wachsen. Dann schrumpfte er zusammen; das Feuer vernichtete ihn. Zurück blieb nicht eigentlich Asche, sondern mehr eine Art federiger Staub ... Ich ging zum Waschtisch und wusch mir die Hände. Ich fühlte mich besser, viel besser. Ich hatte das frische, zuversichtliche Gefühl, das man zum Jahresbeginn beim Anblick des neu-en Kalenders an der Wand empfindet. Der erste Januar. Ich empfand die gleiche, fröhliche Unbeschwertheit. Die Tür ging auf, und er kam ins Zimmer.
«Alles in Ordnung», sagte er, «der Schock verschlug ihr zunächst die Sprache, aber sie erholt sich bereits wieder; ich werde also hinunter ins Büro gehen und dafür sorgen, daß sie den früheren Zug noch erreicht. Einen Augenblick schwankte sie noch. Ich glaube, sie machte sich Hoffnungen, als Trauzeugin auftreten zu können. Aber ich war sehr energisch. Geh jetzt hinein und sprich mit ihr.»
Er sagte nichts davon, daß er froh und glücklich sei. Er nahm auch nicht meinen Arm und ging nicht mit mir ins Wohnzimmer. Er lächelte und winkte mir zu und ging fort. Ich ging zu Mrs. Van Hopper, unsicher und verlegen wie ein Dienstmädchen, das ihre Kündigung durch einen Freund hatte mitteilen lassen.
Sie stand am Fenster und rauchte eine Zigarette: eine komische, dicke kleine Gestalt. Ihr Mantel spannte sich straff über der vollen Brust, der lächerliche Hut schwebte seitlich auf ihrem Kopf.
«Ja», sagte sie mit einer trockenen und harten Stimme, mit der sie gewiß nicht zu ihm gesprochen hatte. «Sie haben Ihre Freiheit zu nutzen verstanden, das muß Ihnen der Neid lassen. Stille Wasser sind tief - bei Ihnen trifft das jedenfalls zu. Wie haben Sie es fertiggebracht?»
Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Ihr Lächeln gefiel mir nicht.
«Es traf sich günstig für Sie, daß ich die Grippe hatte», sagte sie. «Jetzt ist mir klar, was Sie die ganze Zeit über getrieben haben und warum Sie so vergeßlich gewesen sind. Trainerstunden - daß ich nicht lache! Das hätten Sie mir immerhin sagen können.»
«Es tut mir leid», sagte ich.
Sie sah mich von oben bis unten neugierig an und musterte mich prüfend. «Und er sagte mir, daß er Sie schon in wenigen Tagen heiraten will. Da haben Sie auch wieder Glück, daß Sie keine Eltern mehr haben, die unbequeme Fragen stellen könnten. Nun, mich geht das ja jetzt nichts mehr an. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich frage mich nur, was seine Freunde dazu sagen werden, aber das ist ja wohl seine Privatangelegenheit. Sie wissen, daß er erheblich älter ist als Sie?»
«Er ist zweiundvierzig», erwiderte ich, «und ich bin alt für mein Alter.»
Sie lachte und ließ die Asche ihrer Zigarette auf den Boden fallen. «Das sind Sie zweifellos», sagte sie. Sie fuhr fort, mich in einer Weise anzustarren, wie sie es bisher noch nie getan hatte. Abschätzend, mit anerkennendem Blick wie ein Preisrichter bei einer Zuchtviehausstellung. Es lag etwas eindringlich Forschendes in ihrem Blick, etwas Unsympathisches.
«Sagen Sie mir», bemerkte sie vertraulich, «von Frau zu Frau: haben Sie sich etwas zuschulden kommen lassen?»
Sie benahm sich genau wie Blaize, die Schneiderin, als sie mir die zehn Prozent anbot.
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», sagte ich.
Sie lachte wieder und zuckte die Achseln. «Na schön ... lassen Sie's gut sein. Aber ich habe immer gesagt, daß die englischen Mädchen es in sich haben trotz ihrem sportlichen Getue. Ich soll also allein nach Paris fahren und Sie zurücklassen, während Ihr Beau die Heiratslizenz besorgt. Ich habe übrigens zur Kenntnis genommen, daß er mich nicht zur Hochzeit eingeladen hat.»
«Ich glaube nicht, daß er überhaupt jemanden dabei haben will, und Sie würden ja auf jeden Fall schon unterwegs sein.»
«Hm, hm», machte sie. Sie nahm ihre Puderdose heraus und begann sich die Nase zu pudern. «Ich nehme an, Sie wissen, was Sie wollen», fuhr sie fort; «schließlich ist das Ganze doch eine sehr überstürzte Angelegenheit, das müssen Sie zugeben. Eine Bekanntschaft von wenigen Wochen. Ich glaube nicht, daß er sehr leichtzunehmen ist, und Sie werden sich ihm weitgehendst anpassen müssen. Sie haben bisher ein sehr behütetes Leben geführt, und Sie können nicht behaupten, daß ich Ihnen zu viel zugemutet habe. Sie werden allerhand Pflichten haben als Herrin von Manderley. Um es frei heraus zu sagen, meine Liebe, ich zweifle sehr, daß Sie dieser Aufgabe gewachsen sind.»
Ihre Worte klangen wie das Echo meiner eigenen, die ich vor einer Stunde geäußert hatte.
«Sie haben einfach nicht die Erfahrung», sprach sie weiter. «Sie kennen dieses Milieu ja gar nicht. Bei meinen Bridgetees haben Sie auch nicht zwei Sätze hintereinander herausgebracht; wie wollen Sie da eine Unterhaltung mit seinen Freunden führen können? Die Gesellschaften auf Manderley waren berühmt, als seine Frau noch lebte; aber das hat er Ihnen natürlich alles schon erzählt, nicht wahr?»
Ich zögerte, und Gott sei Dank fuhr sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten.
«Natürlich möchte man Ihnen wünschen, daß Sie glücklich werden, und ich gestehe ein, er ist gewiß eine sehr anziehende Persönlichkeit, aber - nun ja, ich bedaure Sie, und persönlich finde ich nun mal, daß Sie einen großen Fehler begehen - einen Fehler, den Sie noch bitter bereuen werden!»
Sie legte die Puderdose in die Handtasche zurück und sah sich nach mir um. Vielleicht meinte sie es wirklich ehrlich, aber ich wollte nichts von dieser Art Aufrichtigkeit wissen. Ich sagte nichts. Vielleicht sah ich verletzt aus, denn sie zuckte wieder die Achseln, trat vor den Spiegel und rückte ihren Reisehut zurecht. Ich war froh, daß sie wegfuhr, froh, daß ich sie nicht wiedersehen würde. Ich bedauerte jede Stunde, die ich mit ihr verbracht hatte, in ihren Diensten, von ihrem Geld lebend, immer in ihrem Schlepptau, stumm und unscheinbar wie ein Schatten. Natürlich war ich unerfahren, natürlich war ich dumm und ungeschickt, schüchtern und jung. Das wußte ich nur zu genau. Sie brauchte es mir nicht erst zu sagen. Ich hatte den Eindruck, daß sie absichtlich so zu mir gesprochen hatte, daß sie sich aus irgendeinem typisch weiblichen Grund über diese Heirat ärgerte; die gesellschaftliche Rangordnung, so, wie sie sie verstand, war durcheinandergeraten.
Nun, es sollte mir gleich sein. Ich würde sie und ihre spitzen Worte vergessen. Ein neues Selbstvertrauen war in mir erwacht, als ich vorhin die Seite zerriß und die Papierfetzen verbrannte. Weder für ihn noch für mich würde die Vergangenheit mehr existieren, wir standen beide vor einem neuen Anfang. Das Vergangene war verweht wie die Aschenreste im Papierkorb. Ich würde Mrs. de Winter werden. Ich würde auf Manderley leben.
Bald würde sie fort sein, allein in ihrem Schlafwagen dahinrattern, und er und ich würden zusammen hier im Hotel im Speisesaal zu Mittag essen und Pläne für die Zukunft schmieden. Ich stand an der Schwelle zu einem großen Abenteuer. Vielleicht würde er endlich richtig mit mir sprechen, wenn sie erst einmal fort war; wie sehr er mich liebte, wie glücklich er wäre. Bisher war dafür keine Zeit gewesen, und überhaupt lassen sich solche Dinge nicht so einfach aussprechen; sie müssen warten, bis der richtige Moment gekommen ist. Als ich aufsah, begegnete ich ihrem Blick im Spiegel. Sie beobachtete mich mit einem kleinen, nachsichtigen Lächeln um die Lippen. Ich dachte schon, sie würde sich doch noch großmütig erweisen, mir die Hand geben und mir Glück wünschen, mir Mut zusprechen und mir versichern, daß sich alles bestimmt zum Besten wenden würde. Aber sie lächelte nur weiter und schob eine lose Haarsträhne unter den Hut.
«Sie wissen doch hoffentlich», sagte sie, «warum er Sie heiratet? Sie haben sich doch nicht etwa eingebildet, daß er in Sie verliebt ist? Das große, leere Haus ist ihm ganz einfach so auf die Nerven gegangen, daß er fast wahnsinnig geworden wäre - das ist alles. Das hat er mir ziemlich unverblümt gesagt, bevor Sie hereinkamen. Er hält es dort allein einfach nicht länger aus .»