26

Als ich am nächsten Morgen kurz nach sechs aufwachte und ans Fenster trat, sah ich, daß der Tau wie Rauhreif auf dem Rasen lag und daß die Bäume in weißen Nebel gehüllt waren. Es roch nach Frost in der Luft und nach Herbst, und ein kalter Wind blies.

Wie ich da am Fenster lehnte und in den Rosengarten hinuntersah, wo die Blumen nach dem heftigen Regen ihre welken braunen Köpfe hängen ließen, kamen mir die Ereignisse des gestrigen Tages auf einmal unwirklich und weit zurückliegend vor. Manderley begann einen neuen Tag, und den Garten berührten unsere Kümmernisse nicht. Eine Amsel lief mit einer hastigen Stakkatobewegung über den Rasen und hackte und zerrte hier und dort mit ihrem gelben Schnabel in der Erde. Auch eine Drossel ging ihrer Morgenbeschäftigung nach, und zwei dicke kleine Bachstelzen jagten einander, und eine Horde Spatzen lärmte in den Bäumen. Eine Möwe ruhte schweigend und einsam auf ausgebreiteten Flügeln hoch oben in der Luft und glitt dann in seitlichem Flug über den Wald in das Glückliche Tal hinab. Das Leben und Treiben draußen nahm seinen Fortgang; unsere Sorgen und Ängste hatten keinen Einfluß darauf.

Dieser Frieden auf Manderley! Diese stille Anmut! Wer auch in diesen Mauern lebte, was für Leid und Sorge sie auch beherbergten, was für Schmerzen und Ängste, wieviel Tränen sie auch sehen mochten - nichts konnte diesen Frieden stören, nichts die Anmut trüben. Die Blumen würden immer wieder blühen, die Vögel ihre Nester bauen, die Bäume Knospen treiben. Derselbe Moosgeruch würde der Luft seine Würze verleihen und Bienen und Grillen sie mit ihrem Summen und Singen erfüllen, und die Reiher würden wie immer tief im dunklen Wald horsten. Alljährlich würde der Flieder blühen und der Jasmin, und unter dem Eßzimmerfenster würden die vollen Knospen der weißen Magnolie sich langsam entfalten. Nichts würde Manderley je etwas anhaben können. Eingebettet in seine Rasenflächen, von seinem Wald umgeben, würde es für alle Zeiten hier stehen, ein Märchenschloß, geborgen und unvergänglich, während unten das Meer gegen den Strand brandete und verebbte und wieder heranflutete.

Maxim schlief noch, und ich weckte ihn nicht. Der Tag, der vor uns lag, würde lang und anstrengend sein. Die Landstraße und die Telegraphenpfähle, die Eintönigkeit der flachen Landschaft und dann die schwierige Einfahrt nach London. Wir wußten nicht, was uns am Ende der Fahrt erwartete. Die Zukunft lag im Dunkeln. Irgendwo im Norden von London lebte ein Mensch namens Baker, der nie von uns gehört hatte und der doch unser Glück in seiner Hand hielt. Bald würde auch er aufwachen und sich räkelnd und gähnend auf den neuen Tag vorbereiten. Ich ging ins Badezimmer und ließ mir ein Bad ein. Ich hatte wieder bei jedem Schritt und bei jedem Handgriff die gleiche Empfindung von Bedeutsamkeit wie gestern abend, als ich Robert beim Aufräumen zusah. Früher hatte ich dies alles automatisch getan, aber als ich an diesem Morgen den Schwamm ins Wasser warf, das gewärmte Handtuch über den Stuhl hängte und in die Wanne stieg, erlebte ich jede Einzelheit mit vollem Bewußtsein. Jeder Augenblick war etwas Kostbares, weil er das Wesen der Unwiederbringlichkeit in sich barg. Als ich wieder im Schlaf-zimmer war und mich anzuziehen begann, vernahm ich leise Schritte, die vor der Tür anhielten, und dann wurde der Schlüssel sachte umgedreht. Ein paar Sekunden darauf war alles still, und die Schritte entfernten sich wieder.

Mrs. Danvers hatte nicht vergessen. Ich hatte dasselbe Geräusch gestern abend gehört, kurz nachdem wir das Schlafzimmer betreten hatten. Sie hatte nicht angeklopft und sich bemerkbar gemacht, nur die leisen Schritte und das Geräusch des Schlüssels waren zu hören gewesen. Es brachte mich in die Wirklichkeit zurück und mahnte mich an meine Pflicht, dem Schicksal mutig die Stirn zu bieten.

Als ich mich angekleidet hatte, ließ ich das Bad für Maxim ein. Gleich darauf kam auch Clarice mit dem Tee. Ich weckte Maxim. Er starrte mich zuerst wie ein verschlafenes Kind an, und dann zog er mich an sich. Wir tranken unseren Tee. Und während er badete, fing ich an, meinen kleinen Handkoffer zu packen. Wir mußten ja damit rechnen, längere Zeit in London aufgehalten zu werden.

Ich packte die Bürsten, die Maxim mir geschenkt hatte, ein Nachthemd, meinen Morgenrock und die Pantoffeln und auch noch ein zweites Kleid und ein zweites Paar Schuhe ein. Mein kleiner Koffer kam mir ganz fremd vor, als ich ihn aus dem Schrank holte. Es schien mir so lange her zu sein, seit ich ihn zum letztenmal benutzt hatte, und doch waren es nur vier Monate. Das Kreidezeichen der französischen Zollabfertigung war noch deutlich sichtbar. Mein Schlafzimmer fing an, wie alle Zimmer auszusehen, deren Bewohner verreisen wollen. Der Frisiertisch war ohne die Bürsten ganz kahl. Auf dem Boden lag Seidenpapier und ein Kofferschildchen. Die Betten, in denen wir geschlafen hatten, wirkten fremd und verlassen. Im Badezimmer hatten wir die Handtücher achtlos auf den Boden geworfen. Die Wandschränke gähnten mit offenen Türen. Ich setzte mir bereits den Hut auf, um nicht noch einmal nach oben gehen zu müssen, und ergriff Handtasche, Handschuhe und Köfferchen. Ich sah mich noch einmal im Zimmer um, ob ich auch nichts vergessen hätte. Die Sonne brach durch den Nebel und zeichnete Lichtkringel auf den Teppich. Als ich den Korridor entlangging, hatte ich plötzlich ein unerklärliches Gefühl, daß ich noch einmal zurückgehen müsse. Ohne zu überlegen, kehrte ich um und starrte noch einmal auf die leeren Betten, den offenen Schrank und die Teetassen auf dem Nachttisch. Das Bild grub sich mir unauslöschlich für immer ein, und ich fragte mich, warum es mich so bewegte und traurig stimmte, als ob diese leblosen Dinge mich nicht fortgehen lassen wollten.

Dann wandte ich mich um und ging zum Frühstück hinunter. Es war kalt im Eßzimmer; die Sonne hatte das Fenster noch nicht erreicht, und ich war dankbar für den heißen, bitteren Kaffee und den würzigen, gebratenen Schinken. Maxim und ich aßen schweigend. Hin und wieder blickte er auf seine Uhr. Ich hörte Robert das Handgepäck hinaustragen und gleich darauf den Wagen vorfahren.

Ich trat auf die Terrasse. Der Regen hatte die Luft gereinigt, es roch frisch und süß nach Gras. Sobald die Sonne höher stieg, würden wir einen wunderbaren Tag haben. Ich dachte, daß wir heute vor dem Essen einen Spaziergang ins Glückliche Tal gemacht und nachmittags mit unseren Büchern und Zeitungen unter der Kastanie gesessen hätten. Ich schloß die Augen und fühlte die Sonnenwärme auf Gesicht und Armen.

Maxim rief mich von drinnen. Ich ging ins Haus zurück und ließ mir von Frith in den Mantel helfen. Dann hörte ich wieder einen Wagen vorfahren. Es war Frank.

«Oberst Julyan wartet schon am Parktor», sagte er. «Er wollte nicht erst hier herunterfahren.»

«Schön», sagte Maxim.

«Ich werde mich den ganzen Tag im Büro aufhalten, falls ein Anruf von euch kommt», sagte Frank. «Nach dem Besuch bei Baker werdet ihr mich vielleicht in London gebrauchen können.»

«Ja», sagte Maxim, «das ist möglich.»

«Es ist gerade neun», sagte Frank, «du bist ganz pünktlich. Und gutes Wetter habt ihr auch. Ihr werdet eine glatte Fahrt haben.»

«Ja.»

«Hoffentlich strengt es Sie nicht so sehr an, Mrs. de Winter», sagte Frank dann zu mir. «Sie haben einen langen Tag vor sich.»

«Oh, das macht mir nichts», sagte ich. Ich sah auf Jasper herunter, der mit hängenden Ohren und seinen traurigen Spanielaugen vorwurfsvoll zu mir aufblickte.

«Nehmen Sie bitte Jasper mit zu sich ins Büro», bat ich. «Er sieht so traurig aus.»

«Ja, das werde ich gern tun.»

«So, jetzt wollen wir aber starten», sagte Maxim, «sonst wird Julyan noch ungeduldig. Mach's gut, Frank.»

Ich stieg in den Wagen und setzte mich neben Maxim. Frank schlug die Tür zu.

«Du wirst mich doch bestimmt anrufen, nicht wahr?» sagte er.

«Ja, natürlich», sagte Maxim.

Ich blickte zum Haus zurück. Frith stand oben auf der Freitreppe und Robert ein paar Schritte hinter ihm. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wandte mich ab und machte mir an meinen Schuhen zu schaffen, damit niemand es sähe. Dann startete Maxim den Wagen, wir bogen um die Kurve in die Anfahrt ein, und das Haus war nicht mehr zu sehen.

Am Parktor hielten wir an, um Oberst Julyan aufzunehmen. Er stieg hinten ein. Als er mich erblickte, sagte er in bedenklichem Ton: «Wir haben einen langen Tag vor uns, ich weiß nicht, ob Sie sich dem hätten aussetzen sollen. Ich hätte schon auf Ihren Mann achtgegeben.»

«Aber ich wollte gern mit», erwiderte ich.

Er sagte nichts mehr dazu und machte es sich in seiner Ecke bequem. «Wenigstens haben wir gutes Wetter, das ist immerhin etwas», sagte er.

«Ja», sagte Maxim.

«Favell will uns an der Kreuzung treffen. Wenn er nicht schon da ist, warten wir aber nicht auf ihn. Wir kommen sehr viel besser ohne ihn aus. Hoffentlich hat sich dieser Kerl verschlafen!»

Als wir jedoch die Kreuzung erreichten, sah ich schon von weitem den langen grünen Sportwagen, und mein Herz sank. Ich hatte auch gehofft, er würde nicht pünktlich sein. Favell saß hutlos am Steuer, eine Zigarette im Mund. Er grinste, als er uns kommen sah, und winkte uns, nicht anzuhalten. Ich rutschte tiefer auf meinem Sitz und legte die Hand auf Maxims Knie. Die Stunden verrannen; Meile nach Meile wurde zurückgelegt. Ich starrte wie in einer Art Betäubung auf die Landstraße. Oberst Julyan hinter uns schlief von Zeit zu Zeit ein. Ich drehte mich gelegentlich nach ihm um und sah ihn mit offenem Mund auf dem Polster ruhen. Der grüne Wagen hielt sich dicht in unserer Nähe; manchmal schoß er an uns vorbei, manchmal blieb er zurück, aber er blieb immer in Sicht. Um ein Uhr hielten wir an, um in einem dieser altmodischen Gasthäuser kleiner Provinzstädte zu Mittag zu essen. Oberst Julyan kämpfte sich durch das ganze Menü durch, fing mit Suppe und Fisch an und hörte mit Roastbeef und Yorkshirepud-ding auf. Maxim und ich nahmen nur etwas kalten Braten und eine Tasse Kaffee.

Halb und halb hatte ich erwartet, Favell in den Speisesaal kommen und sich an unseren Tisch setzen zu sehen. Aber als wir wieder hinaustraten, erblickte ich seinen Wagen vor einem Cafe auf der anderen Straßenseite. Er mußte uns vom Fenster aus beobachtet haben, denn keine drei Minuten später kam er wieder an uns vorbeigesaust.

Gegen drei erreichten wir die Vororte von London. Jetzt erst begann ich müde zu werden; der Lärm des Großstadtverkehrs machte mich schwindlig. Und es war heiß in London. Die Straßen flimmerten und glänzten in der Augusthitze, und die Blätter hingen matt von den Zweigen. Unser Unwetter gestern abend hatte sich offenbar nur örtlich ausgewirkt; hier war bestimmt kein Tropfen gefallen.

Die Frauen gingen alle in dünnen Sommerkleidern, und die Männer trugen keine Hüte. Es roch nach Auspuffgasen und heißem Asphalt und Orangenschalen. Die Omnibusse rollten schwerfällig dahin, und die Taxis krochen förmlich. Mein Rock und meine Jacke scheuerten mich an Handgelenk und Knien, und meine Strümpfe klebten auf der Haut.

Oberst Julyan setzte sich hoch und sah durchs Fenster. «Hier hat es offenbar nicht geregnet», sagte er.

«Nein», sagte Maxim.

«Könnten es hier aber auch gut gebrauchen.»

«Ja.»

«Wir haben Favell leider nicht abschütteln können. Er ist immer noch dicht hinter uns.»

Auf den Geschäftsstraßen wimmelte es von Menschen. Müde Frauen mit schreienden Babies im Kinderwagen starrten in die Auslagen; Straßenhändler riefen ihre Waren aus; kleine Jungens hängten sich hinten an Lastwagen an. Der Lärm war unerträglich, und selbst die verbrauchte stickige Luft strömte Reizbarkeit aus.

Die Fahrt durch London kam mir endlos vor, und als wir schließlich aus dem dicksten Gewühl heraus waren und Hampstead hinter uns lag, da dröhnte es in meinem Kopf unerträglich, und meine Augen brannten.

Auch Maxim mußte müde sein. Er war sehr blaß, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Aber er sagte nichts. Oberst Julyan gähnte ununterbrochen; er riß seinen Mund weit auf und gähnte laut, und hinterher seufzte er zufrieden. Das wiederholte sich alle paar Minuten. Ich spürte eine dumpfe Wut darüber in mir aufsteigen, und ich mußte alle Beherrschung zusammennehmen, um mich nicht umzudrehen und ihn anzuschreien.

Hinter Hampstead zog er einen Straßenplan hervor und begann Maxim nach Barnet zu dirigieren. Der Weg war zwar gar nicht zu verfehlen, da an jeder Kreuzung Wegweiser standen, aber er ließ es sich trotzdem nicht nehmen, Maxim auf jede Abzweigung aufmerksam zu machen, und wenn Maxim doch einmal zögerte, dann kurbelte Oberst Julyan die Fensterscheibe herunter und zog bei den Passanten Erkundigungen ein.

Und als wir Barnet erreicht hatten, mußte Maxim jeden Augenblick anhalten. «Können Sie mir vielleicht sagen, wo hier eine Villa Roseland ist? Sie gehört einem Doktor Baker, der erst kürzlich hergezogen ist», und der Befragte stand dann mit gerunzelter Stirn da, und daß er keine Ahnung hatte, war ihm deutlich vom Gesicht abzulesen.

«Doktor Baker? Ich kenne hier keinen Doktor Baker. In der Nähe der Kirche gibt's ein Haus, das Rosenschlößchen heißt, dort wohnt allerdings eine Mrs. Wilson.»

«Nein, wir suchen Roseland, Doktor Bakers Haus», sagte Oberst Julyan, und dann fuhren wir weiter und hielten diesmal vor einem Kindermädchen, das einen Sportwagen schob. «Können Sie uns sagen, wo hier eine Villa Roseland ist?»

«Tut mir leid, ich bin hier auch fremd.»

«Sie kennen nicht zufällig einen Doktor Baker?»

«Doktor Davidson kenne ich.»

«Nein, wir suchen einen Doktor Baker.»

Ich blickte zu Maxim auf. Er sah sehr müde aus. Sein Mund bildete eine schmale harte Linie. Hinter uns kroch Favells grüner staubbedeckter Wagen.

Schließlich zeigte uns ein Postbote den richtigen Weg. Ein quadratisches, efeuumranktes Haus ohne Namensschild, an dem wir schon zweimal vorübergefahren waren. Mechanisch öffnete ich meine Handtasche und puderte mir das Gesicht. Maxim hielt draußen am Rinnstein. Er fuhr nicht in die Garteneinfahrt hinein. Wir saßen eine Weile, ohne zu sprechen.

«So, da wären wir also», sagte Oberst Julyan dann. «Und es ist jetzt genau zwölf Minuten nach fünf. Wir werden ihn gerade beim Tee überraschen. Vielleicht warten wir besser noch ein Weilchen.»

Maxim zündete sich eine Zigarette an und streckte mir seine Hand hin. Aber er sprach nicht. Ich hörte Oberst Ju-lyan mit dem Straßenplan rascheln.

«Wir hätten London gar nicht zu berühren brauchen», sagte er. «Das hätte uns gute vierzig Minuten eingespart. Die ersten zweihundert Meilen haben wir einen guten Durchschnitt gemacht, aber von Chiswick an wurden wir aufgehalten.»

Ein Botenjunge radelte pfeifend vorüber. An der Ecke hielt ein Omnibus, und zwei Frauen stiegen aus. Irgendwo schlug eine Kirchenuhr die Viertelstunde. Favell in seinem Wagen hinter uns rauchte ebenfalls. Jede Empfindung war in mir abgestorben. Ich saß da und beobachtete diese unwichtigen kleinen Dinge. Die beiden Frauen gingen die Straße entlang. Der Botenjunge bog um die Ecke. Ein Spatz hüpfte vor dem Auto herum und pickte im Straßenschmutz.

«Dieser Baker ist offenbar kein Gärtner», sagte Oberst Julyan. «Sehen Sie doch nur, wie er die Büsche über den Zaun wachsen läßt. Die hätten längst gekappt werden müssen.» Er faltete den Plan zusammen und steckte ihn in die Tasche. «Merkwürdig, sich ausgerechnet hier zur Ruhe zu setzen», fuhr er fort. «Unmittelbar an der Hauptstraße und noch dazu von den Nachbarhäusern eingezwängt. Mich könnte das nicht begeistern. Aber die Villa hat gewiß einmal eine schöne Lage gehabt, bevor die Neubauten sich dazwischendrängten. Zweifellos gibt's aber in der Nähe einen guten Golfplatz.»

Er schwieg eine Weile, dann öffnete er die Tür und stieg aus. «So, de Winter, was meinen Sie, wollen wir jetzt hineingehen?»

«Von mir aus gern», sagte Maxim.

Wir stiegen alle aus. Favell schlenderte auf uns zu.

«Worauf habt ihr denn gewartet? Daß das Herzklopfen sich beruhigt?»

Niemand antwortete ihm. Wir gingen durch den Garten zur Haustür, eine bunte Gesellschaft. Hinter dem Haus entdeckte ich einen Tennisplatz und hörte den dumpfen Aufprall der Bälle. Eine Jungenstimme rief: «Vierzig fünfzehn, nicht dreißig beide. Erinnerst du alter Esel dich nicht mehr an den Ball, den du ausgeschlagen hast?»

«Sie sind offenbar fertig mit Teetrinken», sagte Oberst Julyan. Er zögerte einen Augenblick, dann läutete er. Die Glocke schlug irgendwo in den hinteren Räumen an. Nach längerem Warten öffnete ein sehr junges Hausmädchen die Tür. Der Anblick so vieler Fremder schien sie etwas zu erschrecken.

«Doktor Baker zu Hause?» fragte der Oberst.

«Ja, Sir, kommen Sie bitte herein.»

Sie führte uns durch die Diele in den Salon, der im Sommer anscheinend nicht oft benutzt wurde. Das Porträt einer sehr einfach aussehenden brünetten Frau hing an der Wand. Ich dachte, ob das wohl Mrs. Baker sei. Die Chintzbezüge auf den Sesseln und dem Sofa waren neu und glänzten. Auf dem Kaminsims standen die Photographien von zwei Schuljungen mit runden, lächelnden Gesichtern. In der Ecke am Fenster stand ein großer Radioapparat. Antennendraht und Verbindungsschnüre hingen an ihm herunter. Favell betrachtete das Porträt; Oberst Ju-lyan stellte sich vor den leeren Kamin. Maxim und ich sahen aus dem Fenster. Unter einem Baum entdeckte ich einen Liegestuhl, aus dem ein Frauenkopf emporschaute. Der Tennisplatz mußte auf der anderen Seite liegen. Ich hörte die Jungen einander zurufen. Ein alter Scotchterrier kratzte sich mühsam mitten auf dem Gartenweg. Wir warteten etwa fünf Minuten. Ich hatte mich noch nie so gefühlt, so stumpf und leer.

Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ins Zimmer. Er war von mittlerer Größe, hatte ein ziemlich langes Gesicht und ein etwas hervorstehendes Kinn. Sein aschblondes Haar fing schon an, grau zu werden. Er trug weiße Tennishosen und eine blaue Sportjacke.

«Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie habe warten lassen», sagte er, ebenso erstaunt wie das Hausmädchen beim Anblick der vielen Besucher. «Ich mußte mir nur schnell die Hände waschen, weil ich gerade Tennis spielte, als es klingelte. Bitte nehmen Sie doch Platz», sagte er zu mir. Ich setzte mich auf den nächsten Stuhl und wartete.

«Sie werden sich vermutlich fragen, was dieser sonderbare Überfall soll, Doktor Baker», sagte Oberst Julyan.

«Und ich bitte Sie herzlich für uns alle um Entschuldigung. Mein Name ist Julyan. Das ist Mr. de Winter, Mrs. de Winter und Mr. Favell. Sie haben vielleicht jüngst in der Zeitung den Namen de Winter gelesen?»

«Oh!» sagte Doktor Baker. «Ja ja, ich erinnere mich. Irgendeine Gerichtsverhandlung, nicht wahr? Meine Frau hat den ganzen Fall verfolgt.»

«Die Geschworenen nahmen Selbstmord an», sagte Fa-vell, vortretend, «und ich halte das für völlig ausgeschlossen. Die verstorbene Mrs. de Winter war meine Cousine, und ich kannte sie von Kind an. Sie wäre nie auf diesen Gedanken verfallen, und außerdem hatte sie auch gar keinen Beweggrund. Und von Ihnen möchten wir gern wissen, was sie ein paar Stunden bevor sie starb, bei Ihnen gesucht hat.»

«Überlaß das bitte Oberst Julyan und mir», sagte Maxim ruhig. «Doktor Baker hat keine Ahnung, wovon du sprichst.»

Er wandte sich an den Arzt, der mit gerunzelter Stirn dastand und dessen höfliches Lächeln, mit dem er uns begrüßt hatte, erstarrt war. «Der Vetter meiner verstorbenen Frau ist mit dem Gerichtsbefund nicht einverstanden», erklärte Maxim, «und wir sind deshalb hergefahren, weil wir Ihren Namen und die Adresse Ihrer früheren Praxis in ihrem Terminkalender gefunden haben. Sie hatte sich offenbar bei Ihnen angesagt und muß wohl auch um zwei Uhr bei Ihnen gewesen sein, da sie hinter Ihren Namen ein Kreuz gemacht hatte. Können Sie das wohl noch feststellen?»

Doktor Baker hörte mit großem Interesse zu, aber als Maxim geendet hatte, schüttelte er den Kopf. «Es tut mir sehr leid», sagte er. «Aber ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor. Ich hätte bestimmt den Namen de Winter nicht ver-gessen, aber ich habe in meinem ganzen Leben keine Mrs. de Winter behandelt.»

Oberst Julyan zog seine Brieftasche heraus und reichte ihm die Seite aus Rebeccas Notizbuch, die er herausgerissen hatte. «Hier steht es», sagte er. «Baker zwei Uhr. Und daneben ein großes Kreuz als Zeichen, daß diese Verabredung auch eingehalten wurde. Und hier steht Ihre Telephonnummer, Museum 0488.»

Doktor Baker starrte nachdenklich auf das Blatt Papier. «Sehr eigenartig, wirklich sehr merkwürdig. Ja, die Nummer stimmt, Sie haben recht.»

«Könnte sie Ihnen nicht einen falschen Namen angegeben haben?» fragte Oberst Julyan.

«Doch ja, das ist natürlich möglich, das könnte sie getan haben. Es wäre allerdings etwas ungewöhnlich, und ich sehe so etwas auch nicht gern. Es schadet nur unserem Berufsstand, wenn so etwas einreißt.»

«Sie haben doch bestimmt Ihre Eintragungen vom vorigen Jahr aufgehoben?» sagte Oberst Julyan. «Ich weiß, daß es gegen Ihre Schweigepflicht verstößt, aber es handelt sich hier um ganz besondere Umstände. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß der Besuch der Verstorbenen bei Ihnen in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem - Selbstmord stehen muß.»

«Ermordung», sagte Favell.

Doktor Baker blickte mit fragend gehobenen Augenbrauen auf Maxim. «Das konnte ich natürlich nicht ahnen, daß es sich um so etwas handeln würde», sagte er leise. «Selbstverständlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen. Wenn Sie mich für ein paar Minuten entschuldigen wollen, werde ich nach oben gehen und meine Bücher heraussuchen. Ich habe jeden Besuch notiert und eine kurze Charakteristik des Krankheits-bildes hinzugefügt. Bitte, bedienen Sie sich mit Zigaretten. Für einen Sherry ist es wohl noch etwas früh, nicht wahr?»

Oberst Julyan und Maxim schüttelten den Kopf. Ich glaubte schon, Favell würde etwas sagen, aber Doktor Baker war bereits aus dem Zimmer.

«Scheint ein ordentlicher Mann zu sein», bemerkte Oberst Julyan.

«Er hätte uns auch einen Whisky Soda anbieten können», meinte Favell. «Den hält er wahrscheinlich hinter Schloß und Riegel. Mir hat er nicht sehr gefallen. Ich glaube nicht, daß er uns weiterhelfen wird.»

Maxim sagte nichts. Ich hörte noch immer die Bälle auf dem Tennisplatz aufspringen. Der Terrier bellte, und eine Frauenstimme rief ihm zu, still zu sein. Sommerferien. Baker hat mit seinen Söhnen gespielt, und wir hatten sie gestört. Eine hell tönende goldene Uhr unter einem Glassturz tickte hastig auf dem Kamin. Daneben lehnte eine Ansichtskarte vom Genfer See. Die Bakers hatten also Freunde, die gerade in der Schweiz waren.

Doktor Baker trat wieder mit einem großen Buch und einem Karteikasten ins Zimmer. Er stellte beides auf den Tisch. «Ich habe das ganze vorige Jahr mitgebracht», sagte er. «Ich hab's mir nicht wieder angesehen, seit ich umgezogen bin. Ich habe meine Praxis erst vor sechs Monaten aufgegeben, wie Sie ja wissen.» Er schlug das Buch auf und blätterte die Seiten um. Ich sah atemlos auf seine Hände. Natürlich würde er die Eintragung finden; es war nur noch eine Frage von Minuten, Sekunden. «Siebenten, achten, neunten», murmelte er, «nein, nichts, zwölften, sagten Sie? Um zwei Uhr? Aha!»

Keiner von uns rührte sich. Wir sahen ihn alle an.

«Am zwölften um zwei Uhr war eine Mrs. Danvers bei mir», sagte er.

«Danny? Was in aller Welt ...» fing Favell an. Maxim unterbrach ihn.

«Sie hat natürlich einen falschen Namen angegeben», sagte er. «Das war uns ja von vornherein klar. Erinnern Sie sich jetzt an den Besuch, Doktor?»

Doktor Baker suchte bereits in der Kartei. Seine Finger durchblätterten die Abteilung D, und er fand die gesuchte Karte fast augenblicklich. Er überflog sie rasch. «Ja», sagte er dann, «ja, Mrs. Danvers. Jetzt erinnere ich mich genau.»

«Groß, schlank, brünett und sehr schön?» fragte Oberst Julyan ruhig.

«Ja», sagte Doktor Baker, «ja, das stimmt.»

Er las die Aufzeichnungen auf der Karte durch und ordnete sie dann wieder ein. «Selbstverständlich verstößt es gegen unseren Berufskodex», sagte er zu Maxim. «Wir betrachten unsere Patienten als unsere Beichtkinder. Aber Ihre Frau ist tot, und die Umstände sind, wie Sie sagten, wirklich ganz außergewöhnlich. Sie wollen von mir wissen, ob ich Ihnen einen Grund angeben kann, weswegen Ihre Frau Selbstmord begangen haben könnte? Ich glaube, das kann ich. Die Frau, die sich mir gegenüber als Mrs. Danvers ausgab, war schwer krank.»

Er hielt inne und sah uns der Reihe nach an.

«Ich erinnere mich sehr gut an sie», sagte er und wandte sich wieder seinen Karteikarten zu. «Das erstemal war sie eine Woche vor dem bewußten Datum bei mir. Sie klagte über Schmerzen, die mich veranlaßten, sie zu röntgen. Zum zweitenmal kam sie, um das Ergebnis der Röntgenaufnahmen zu erfahren. Ich habe die Bilder nicht hier, aber ich habe die Diagnose niedergeschrieben. Ich erinnere mich, wie sie in meinem Sprechzimmer vor mir stand und die Hand nach den Aufnahmen ausstreckte.

Ich wartete und wartete. Warum sagte er es denn nicht endlich, damit diese Qual ein Ende hatte und wir gehen konnten? Warum mußten wir hier noch sitzen bleiben und mit den Augen an seinen Lippen hängen?

«Sie wollte also die Wahrheit wissen», fuhr er fort, «und ich habe sie ihr nicht vorenthalten. Einige Patienten beruhigt es, wenn man nicht lange drumherum redet. Ihre verstorbene Frau war ein solcher Typ. Aber das wissen Sie ja selbst. Sie hörte mich völlig gelassen an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie sagte nur, sie habe schon selbst so etwas geahnt. Dann zahlte sie das Honorar und ging; und ich habe sie nie wiedergesehen.»

Doktor Baker klappte den Karteikasten zu und schloß das Buch. «Der Schmerz hatte noch nicht richtig eingesetzt, aber das Gewächs war bereits fest im Gewebe verwurzelt, und in höchstens drei, vier Monaten hätten wir sie ständig unter Morphium halten müssen. Eine Operation hätte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gehabt, das sagte ich ihr auch. Dazu war die Wucherung schon zu weit fortgeschritten. In einem solchen Fall kann man nichts anderes tun, als Morphium geben und abwarten.»

Niemand sprach. Die kleine Uhr tickte auf dem Kaminsims, und vom Garten tönte das Rufen der spielenden Jungen herein. Ein Flugzeug brummte über das Haus hinweg.

«Dem äußeren Anschein nach hätte man sie allerdings für eine kerngesunde Frau halten müssen», fuhr der Arzt fort. «Etwas zu dünn und zu blaß, wenn ich mich recht erinnere, aber das ist ja heute leider Gottes modern. Danach kann man bei einem Patienten nicht mehr gehen. Nein, der Schmerz hätte sich von Woche zu Woche gesteigert, wie ich Ihnen bereits sagte, und in spätestens vier Monaten hätte sie ohne Morphium nicht mehr auskommen können. Übrigens erinnere ich mich, daß die Röntgenaufnahme eine leichte Deformierung der Gebärmutter zu erkennen gab, das heißt, daß sie niemals ein Kind hätte bekommen können. Aber das, wie gesagt, nur nebenbei; mit der eigentlichen Krankheit hatte das ja nichts zu tun.»

Danach hörte ich Oberst Julyan sprechen. Er sagte etwas davon, wie freundlich es von Doktor Baker gewesen sei, sich so viel Mühe zu machen. «Sie haben uns alles gesagt, was wir wissen wollten», sagte er, «und wenn Sie uns noch eine Abschrift Ihrer Karteikarte schicken könnten, würden Sie uns damit einen großen Dienst erweisen.»

«Aber das ist doch ganz selbstverständlich», sagte Doktor Baker.

Alle hatten sich erhoben, und ich stand ebenfalls auf und schüttelte Doktor Baker die Hand, und dann verabschiedeten sich die anderen auch von ihm. Er ging uns in die Diele voraus. Eine Frau steckte ihren Kopf aus der gegenüberliegenden Tür und zog sich hastig wieder zurück, als sie uns erblickte. Jemand ließ sich oben ein Bad ein, das Wasser lief sehr laut. Der Scotchterrier war hereingekommen und beschnupperte meine Füße.

«Soll ich die Abschrift Ihnen oder Mr. de Winter schik-ken?» fragte Doktor Baker.

«Vielleicht brauchen wir sie auch gar nicht», entgegnete Oberst Julyan. «Ich glaube sogar bestimmt, daß wir darauf verzichten können. Mr. de Winter und ich werden Ihnen jedenfalls deshalb noch Bescheid geben. Hier ist meine Karte.»

«Es freut mich wirklich, daß ich Ihnen von Nutzen sein konnte», entgegnete Doktor Baker. «Ich hätte es mir natür-lich nie träumen lassen, daß Mrs. de Winter und Mrs. Danvers ein und dieselbe Person gewesen sind.»

«Nein, natürlich nicht», sagte Oberst Julyan.

«Fahren Sie wieder nach London zurück?»

«Ja, ich denke doch.»

«Dann fahren Sie am besten gleich links am Briefkasten vorbei und halten sich dann rechts von der Kirche; von da ab ist es ein gerader Weg.»

«Danke schön, vielen Dank!»

Wir gingen in den Garten hinaus und auf unsere Wagen zu.

Doktor Baker zog den Terrier ins Haus zurück, und ich hörte, wie die Tür hinter uns ins Schloß fiel. Gegenüber auf der Straße begann ein Leierkastenmann mit einem Holzbein «Die letzte Rose» zu spielen.

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