Mein Vater hatte die Versicherung für Sarah’s Future verfallen lassen, als ich bei Weatherbys anfing; einmal, weil das Pferd alterte und an Wert verlor, und zum anderen gerade, damit Weatherbys nicht zahlen mußte, wenn es ums Leben kam.
Entschuldigungen wollte er nicht hören, als ich ihn anrief. Er sagte lediglich: »Pech.«
Als ich zwei Tage nach Towcester wieder zur Arbeit kam, rückte der Mann, der das Bewerbungsgespräch mit mir geführt hatte, einen Stuhl an meinen Schreibtisch und sagte: »Ihr Pferd war ja mal bei uns versichert.«
Ich erklärte ihm, warum mein Vater die Versicherung hatte verfallen lassen.
»Ich wollte aber nicht mit Ihnen über Ihren Verlust sprechen«, sagte der Mann von Weatherbys, »wenn ich auch mit Ihnen fühle. Gute Besserung auch für Ihre Schulter. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Interesse hätten, in unsere Versicherungsabteilung zu wechseln und künftig dort zu arbeiten?«
Die Versicherungsabteilung, im wesentlichen ein einziger langer Raum, gesäumt von Büchern und Akten, noch mehr Büchern und noch mehr Akten, wurde von zwei Männern in den Zwanzigern geführt. Einer verließ jetzt die Firma.
Wollte ich seine Stelle übernehmen?
Gern.
Die Juliards erlebten zwei Beförderungen in einer Woche. Nach internen Uneinigkeiten wurden die Karten in der Regierung neu gemischt, und als die Gemüter sich beruhigt hatten, war mein Vater als Minister für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung ins Kabinett aufgestiegen.
Ich gratulierte ihm.
»Verteidigungsminister wäre mir lieber gewesen.«
»Nächstes Mal«, scherzte ich.
Ein ergebener Seufzer kam durch die Leitung. »Hast du schon mal von Hudson Hurst gehört?«
»Nein.«
»Wenn du meinst, ich steige schnell auf - er steigt noch schneller. Er hat mir das Verteidigungsministerium weggeschnappt. Für den Premier ist er zur Zeit die Nummer eins, das Nonplusultra.«
»Wie geht’s Polly?« fragte ich.
»Du bist unverbesserlich.«
»Aal in Aspik und Brontosaurusburger sind bei dir sicher in guten Händen.«
Ausnahmsweise lag keine Landwirtschaftskrise in der Luft, und beide verbrachten wir den Herbst dieses Jahres damit, uns in unser jeweiliges neues Reich einzuleben.
Es überraschte mich nicht weiter, daß mir die Versicherungsarbeit neuen Auftrieb gab: Sie kam nicht nur meinem Faible für Zahlen und Wahrscheinlichkeiten entgegen, sondern führte mich nicht selten auch auf Reisen, etwa wenn zu prüfen war, ob es die Poloponys, für die ich eine Prämie festsetzen sollte, wirklich gab.
Da Evan, mein Mitstreiter und Chef im Versicherungsressort, die Arbeit am Schreibtisch und am Computer vorzog, übernahm ich zusehends den Außendienst, eine durchaus sinnvolle Aufteilung, da ich wußte, wie ein guter Stall beschaffen war, und schnell ein Gespür dafür entwickelte, wo sich Mogeleien anbahnten. Versicherungsbetrug im Planungsstadium zu verhindern war spannend wie Schach: Sah man die Züge voraus, konnte man die Springer in Angriffsstellung bringen.
Als großer Vorteil dabei erwies sich meine Jugend. Ich sah vielleicht nicht mehr wie siebzehn aus, aber auch mit zweiundzwanzig nahm man mich oft nicht ganz für voll. Ein Fehler.
Im normalen, gradlinigen Arbeitsalltag hatten Evan (neunundzwanzig) und ich es mit unverdächtigen Versicherungen für Pferde und Fährnisse aller Art zu tun, angefangen von möglicher Zeugungsunfähigkeit bei Hengsten bis zum Güstsein bei Stuten.
Auch für Stallhöfe, Gebäude, Personen- und Sachschäden, Feuer, Diebstahl und Masern boten wir Versicherungsschutz an. Alles für jeden. Versicherungsträger hatten wir genug.
Die Morgenarbeit mit Sarah’s Future fehlte mir fürchterlich, aber als es auf den Winter zuging und immer kälter und immer später hell wurde, sagte ich mir, daß ich wie im Vorjahr doch nur an Wochenenden richtig hätte mitziehen können.
Was das Rennreiten anging, hatte ich Glück: Der Trainer in Northamptonshire, der den Fuchs übernommen hatte, rief mich eines Tages an, daß einer seiner Besitzer, ein Farmer, einen Amateur - also einen unbezahlten Reiter - für ein Pferd suchte, das er für chancenlos hielt.
Warum läßt er es dann laufen? dachte ich. Ich nahm den Ritt mit Freuden an und rackerte, und das Pferd wurde Dritter. Der entzückte Farmer holte mich noch öfter ran, und obwohl ich nie für ihn siegte, wurde ich unter seinen Bekannten herumgereicht wie eine Schachtel Pralinen und galoppierte fast jeden Samstag irgendwo zum Start.
Es war nicht dasselbe wie mit Sarah’s Future, aber noch widerstrebte es mir, ein neues Pferd zu kaufen, selbst wenn ich es mir hätte leisten können. Eines Tages vielleicht. Wenn ich mein Auto abbezahlt hätte.
Für meinen Hang zur Geschwindigkeit fand ich eine plausible Erklärung. Wenn man erwachsen wurde, war es schließlich normal, den Kitzel des Risikos zu suchen. Kampfgeist war angeboren: Vielleicht ersetzten die Rennbahnsprünge und die Skihänge den Krieg.
Vor Weihnachten sagte mein Vater, wir - er selbst, Polly und ich - seien zu einem Empfang in der Downing Street Nr. 10 geladen, zum traditionellen Weihnachtsplausch des Premierministers mit den Angehörigen seines Kabinetts und ihren Familien.
Polly zog ein annehmbares Kleid an, mein Vater mietete einen Chauffeur, und die Juliards traten in Dreierformation durch die berühmte Haustür. Das Personal begrüßte meinen Vater als einen, der dort hingehörte. Auch Polly war schon dort gewesen, aber ich war unwillkürlich beeindruckt, als ich in einem Strom von anderen Gästen durch den Flur mit den schwarzweißen Fliesen und den roten Wänden ins Innere kam und die historische Treppe hinaufging. Porträts aller bisherigen Premierminister hingen in dem leuchtend gelben Treppenhaus, und der wohlwollende Ausdruck, mit dem mein Vater sie betrachtete, sagte mir, daß er sich bemühen würde, eines schönen Tages dazuzukommen.
Daß noch zwanzig andere Kabinettsminister den gleichen Traum träumten, nicht zu reden vom Schattenkabinett der Opposition, spielte keine Rolle: Ohne Ehrgeiz bekam man niemals einen Platz an dieser Wand.
Der Empfang fand unter angeregtem Geplauder in einem großen, festlichen Bereich im ersten Stock statt, der sogenannten Säulenhalle. (So genannt wegen der zwei Säulen.)
Wir wurden liebenswürdig von der Frau des Premiers begrüßt - ihr Mann müsse jetzt wirklich bald kommen - und zu Tabletts mit gefüllten Gläsern und mistelumrankten Weihnachtsplätzchen dirigiert.
Ich fragte nicht mehr eigensinnig nach Diätcola. Ich trank den premierministerlichen Sekt und mochte ihn.
Natürlich kannte ich so gut wie niemand, und sei es nur vom Sehen. Polly hielt mich eine Zeitlang im Schlepptau, während ihr Mann sich längst abgekoppelt hatte, lachend und grüßend umherzog und sich keine Feinde machte. Nach anderthalb Jahren an Vaters Seite kannte Polly das ganze Kabinett, aber niemanden davon nach Orinda-Art als »mein Liiieber«.
Schließlich erschien der Premierminister wirklich, und mein Vater sorgte dafür, daß der große Mann Polly mit Herzlichkeit und mir zumindest mit gespieltem Interesse die Hand gab.
»Sie reiten erfolgreich Rennen, nicht wahr?« fragte er, die Stirn in Falten.
»Ehm ... manchmal«, erwiderte ich schwach.
Er nickte. »Ihr Vater ist stolz auf Sie.«
Da sah ich wohl verblüfft aus. Der Premierminister, ein etwas rundlicher Mann mit stahlhartem Händedruck, lächelte ironisch, ehe er sich der nächsten Gruppe zuwandte, und mein Vater war unschlüssig, ob er ihn einen Lügner schimpfen sollte oder nicht.
Die liebe Polly drückte mir den Arm. »George sagt nicht, daß er stolz auf dich ist. Aber es hört sich ganz so an, wenn er von dir redet.«
»Dann hält er’s wie ich.«
»Du bist wirklich ein netter Mensch, Benedict.«
»Ich hab dich auch gern«, sagte ich.
Vater hatte sich suchend umgeschaut. »Seht ihr den Mann da drüben?«
»Da drüben« waren ungefähr zwanzig Männer.
Polly sagte: »Meinst du den mit den flachen weißen Haaren und den runden Augen? Das ist doch der Innenminister.«
»Genau, Liebes. Aber ich hatte den gemeint, mit dem er sich unterhält. Der so regierungsfähig und für hohe Ämter wie gemacht aussieht. Das ist Hudson Hurst.«
Polly schüttelte den Kopf. »Ach was. Hudson Hurst hat doch einen geölten schwarzen Pferdeschwanz und so eine alberne
Bart-Schnurrbart-Kombination, die den Mund einrahmt und davon ablenkt, was einer sagt.«
»Jetzt nicht mehr.« Mein Vater lächelte, aber ohne Freude. »Jemand muß Hudson Hurst klargemacht haben, daß sein Styling politisch unklug war. Er hat sich die Haare abgeschnitten und den Bart abrasiert. Was man jetzt sieht, sind die unge-schmückten, launischen Lippen des Verteidigungsministers, gnade uns Gott.«
Fünf Minuten später legte mein Vater dem Verteidigungsminister scheinbar freundlich die Hand auf die Schulter und sagte: »Mein lieber Hud, darf ich Ihnen meine Frau und meinen Sohn vorstellen?«
Liebet eure Feinde ...
Ich haßte Politik.
Hud hatte einen feuchtkalten Händedruck, für den er vermutlich nichts konnte, und wenn er unlängst noch einen geölten schwarzen Pferdeschwanz und eine schwarze Bartzier um den Mund getragen hatte, dann war beides sehr wahrscheinlich gefärbt gewesen. Jetzt waren seine Haare von einem leicht graumelierten Braun, das sich einer meiner verflossenen Freundinnen zufolge nicht künstlich erzeugen ließ, und er trug es zurückgekämmt und im Nacken spitz zulaufend, ein Schnitt geradewegs nach James-Bond-Manier. Vornehm. Durchaus eindrucksvoll. Vertrauenerweckend.
Die dichten dunklen Locken meines Vaters waren so geschnitten, daß die schöne Kopfform ins rechte Licht gerückt wurde. Meisterhaft. Nun ja.
Hudson Hurst war überaus freundlich zu Polly. Lächeln, lächeln, dachte ich in Erinnerung an Hoopwestern: Lächeln, lächeln, Hände schütteln und Stimmen gewinnen. Er streifte mich mit einem Blick, aber ich zählte nicht.
Die liebenswürdige Frau des Premierministers erschien neben mir und fragte mich, ob ich mich gut unterhielte.
»Aber ja. Danke, sehr gut.«
»Sie sehen ein bißchen verloren aus. Kommen Sie mal mit.« Sie führte mich auf die andere Seite des großen Raums und blieb vor einer streng gekleideten Frau stehen, die mich stark an Orin-da erinnerte. »Jill, das ist der Sohn von George Juliard. Kümmern Sie sich doch bitte um ihn.«
Jill musterte mich von Kopf bis Fuß und schaute der entschwindenden Gastgeberin ohne Begeisterung nach.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »ich weiß nicht, wie Sie heißen.«
»Vinicheck. Erziehung.«
»Ministerin für?«
Ihre grimmigen Lippen kräuselten sich. »Natürlich.«
Eine andere schlicht und elegant gekleidete Frau gesellte sich zu ihr: noch ein Orinda-Klon. Sozialministerin.
Sie sagte unverblümt: »Wo kauft Ihre Mutter denn ihre Kleider?«
Ich folgte ihrem Blick und sah Polly auf der anderen Seite unbefangen mit dem weißhaarigen, rundäugigen Mann reden -dem Innenminister. Pollys Kleider entsprachen wie immer nicht dem landläufigen Geschmack, spiegelten aber unverkennbar ihre Persönlichkeit.
Jill Vinicheck meinte freundlich: »Ihr Vater hat vielleicht eine glänzende Karriere vor sich, aber dann muß Ihre Mutter sich anders anziehen, sonst reißen die Modeweiber der Zeitungen sie in Stücke.«
Die Sozialministerin schloß sich an. »Alle Frauen in der Politik werden durch die Mangel gedreht. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Die Rocklänge Ihrer Mutter stimmt nicht, wenn ich das sagen darf. Ich meine es nur gut. Wobei man sich in der Rocklänge offen gestanden immer vergreift, wenn’s nach den Modeweibern geht. Aber vielleicht können Sie ihr doch ein paar Tips von uns geben.«
»Ehm .«
»Vor allem«, sagte Jill Vinicheck gutgelaunt, »darf sie nie Kleider im Laden kaufen.«
Soziales nickte. »Sie muß sie anfertigen lassen.«
Jill Vinicheck: »Immer Wolle, Seide oder Baumwolle. Niemals Polyester oder Nylon.«
»Wir kennen einen fabelhaften Mann, der Ihrer Mutter, die so lang und mager ist, wirklich Stil geben könnte. Er hat dafür gesorgt, daß die Zeitungen uns jetzt ganz anders behandeln. Sie schreiben über unsere Politik statt über unsere Kleider. Und er tut das nicht nur für Frauen. Allein, wie er Hudson Hurst umgekrempelt hat! Hud sah ehrlich gesagt ein bißchen nach Gangster aus, aber jetzt ist er ein Staatsmann.«
»Worauf warten wir?« sagte Jill Vinicheck mit der Energie, die ihren Aufstieg zweifellos gefördert hatte. »Unser Zauberkünstler muß hier irgendwo sein. Machen wir ihn doch gleich mit Ihrer Mutter bekannt.«
»Ehm ...«:, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß sie -«
»Ach, da ist er ja«, sagte Soziales, trat einen Schritt zur Seite und stürzte sich auf ihr Ziel. »Darf ich vorstellen .«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm, er drehte sich zu ihr um, und vor mir stand A. L. Wyvern.
Alderney Anonymer Liebhaber Wyvern.
Kein Wunder, daß Erziehung und Soziales mich an Orinda erinnert hatten. Auch sie war damals nach seinen Vorstellungen gekleidet gewesen.
Ich erkannte ihn sofort, während er ein paar Sekunden brauchte, um meinem damaligen Aussehen vier Jahre hinzuzufügen.
Dann wurde sein Gesicht hart und böse, und er schien aus der Fassung gebracht, obwohl er, da mein Vater im Kabinett saß, davon hätte ausgehen können, daß wir beide zum Weihnachtsempfang für die Angehörigen geladen waren. Vielleicht hatte er nicht daran gedacht. Jedenfalls war er unangenehm überrascht, mich hier wiederzusehen.
Ich umgekehrt auch.
Erziehung und Soziales schauten verwirrt drein.
»Wir kennen uns«, sagte Wyvern knapp.
Auch er sah jetzt anders aus. In Hoopwestern hatte er eine unauffällige Erscheinung gepflegt, die man leicht vergaß. Vier Jahre später fiel es ihm nicht mehr so leicht, sich unsichtbar zu machen.
Ich hatte ihn damals auf Ende Dreißig geschätzt, aber das war vermutlich doch zu tief gegriffen. Er hatte Falten bekommen und schüttere Haare, und er trug jetzt eine Brille mit einem dünnen, dunklen Gestell. Nach wie vor aber umgab ihn die Aura stiller, verborgener Macht.
Auf dem Weihnachtsempfang in der Downing Street kam die latente Gewaltbereitschaft, die sich in einer Ohrfeige für Orinda entladen und sie beinah das Leben gekostet hatte, nicht offen zum Ausdruck. Er sagte nicht wütend: »Eines Tages krieg ich Sie« zu mir, aber ich sah, wie sich die böse Absicht wieder in den zusammengekniffenen Augen spiegelte, als hätte er keinerlei Zeit gehabt, sich zu besinnen.
Erstaunlicherweise reizte mich das eher, als daß es mich ängstigte. Der Adrenalinstoß in meinem Blut signalisierte nicht Flucht, sondern Kampf. Und ob er mir das so deutlich ansah, wie ich es empfand, oder nicht, jedenfalls blendete er die Bosheit hinter dem dunklen Brillengestell aus und seilte sich mit einer kurzen Floskel von Erziehung und Sozialem ab. Als er fortging, war es, als lenke er bewußt jeden seiner langsamen Schritte.
»Hoppla«, rief Jill Vinicheck aus. »Gesprächig ist er ja nie, aber ich finde, das war jetzt doch ... unhöflich.«
Nicht unhöflich, dachte ich.
Mordlüstern.
Nach dem Empfang aßen Polly, Vater und ich in einem der wenigen guten Londoner Speiserestaurants, die ohne Lärm auskamen. Man verstand sein eigenes Wort.
Mein Vater hatte sich brüderlich mit dem Premier unterhalten, und Polly fand, die runden Augen des Innenministers seien wohl doch kein Anzeichen von Besessenheit.
Ich fragte, ob es der Innenminister sei, der dafür sorge, daß Häftlinge in Haft blieben und illegale Einwanderer rausflogen.
Mehr oder weniger, stimmte Vater zu.
»Habt ihr gewußt, daß da ein Schaubild mit sämtlichen Regierungsämtern auf einer Art Staffelei zu sehen ist?«
Mein Vater, angelegentlich mit Broccoli beschäftigt, die ihm eigentlich nicht schmeckten, nickte, aber Polly sagte, sie habe es nicht gesehen.
»Sind komische Sachen dabei«, meinte ich, »zum Beispiel Minister für ehemalige Länder und Unterstaatssekretär für den Busverkehr.« Polly staunte, aber Vater nickte. »Jeder Premier denkt sich Ämter und Titel aus, die zeigen, worauf es ihm ankommt.«
»Theoretisch«, sagte ich, »könnte man also einen Minister zur Abschaffung gelber Plastikenten ernennen.«
»Nun mach mal einen Punkt, Benedict«, meinte Polly.
»Er spielt doch nur darauf an«, sagte mein Vater, »daß man die Leute am schnellsten dazu kriegt, etwas haben zu wollen, indem man es ihnen verbietet. Wenn es heißt, das und das dürft ihr nicht haben, dann kämpfen sie drum.«
»Trotzdem«, tippte ich an, »sollte der Premierminister ein Gesetz erlassen, das es Alderney Wyvern verbietet, in Downing Street Nr. 10 Sekt zu trinken.«
Polly und meinem Vater klappte die Kinnlade herunter.
»Er war da«, sagte ich. »Habt ihr ihn nicht gesehen?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Er ist auf der anderen Seite des Raums geblieben, wo du nicht hinkamst. Er sieht etwas verändert aus. Älter, mit weniger Haaren. Er trägt eine Brille. Aber die Erziehungsministerin, die Sozialministerin und der Verteidigungsminister beten ihn an, um nur die zu nennen, bei denen ich mir sicher bin. Orinda und Dennis Nagle waren Kinderkram. Alderney Wyvern hat die Hände jetzt an Hebeln, mit denen er eure Politik entscheidend beeinflussen kann.«
»Ich glaub das nicht«, sagte mein Vater.
»Die Damen für Erziehung und Soziales haben mir erzählt, sie hätten einen Bekannten, der, ehm . meiner Mutter ein wunderbares neues Outfit zaubern könnte. Er hätte schon Hudson Hurst vom Gangstertyp zum Mann von Welt umgemodelt. Was glaubst du, was Alderney dafür von ihnen kriegt?«
»Nein«, sagte mein Vater. »Keine Geheiminformationen. So läuft das nicht!«
Er war empört. Ich schüttelte den Kopf.
»Was denn?« fragte Polly. »Was bekommt er dafür?«
»Ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich«, sagte ich. »Ich nehme an, sie hören auf ihn und halten sich an seine Ratschläge. Orinda hat mir vor Jahren gesagt, er habe ein glänzendes Gespür für politische Vorgänge. Er könne voraussagen, was kommt, und mit seinen Tips, wie Dennis Nagle sich auf dies und das einstellen sollte, habe er fast immer richtig gelegen. Dennis Nagle war auf dem Weg nach oben, als er starb, und ich denke mal, wenn er nicht gestorben wäre, säße er jetzt, von Wyvern flankiert, im Kabinett.«
Mein Vater stieß die Broccoli zur Seite. Gut, daß seine Broccolibauern nicht zusahen. Sie rührten gerade die Trommel für eine allgemeine Broccoliwoche, um das Gemüse unters Volk zu bringen. Ein Gesetz zur Eindämmung des Broccoliverzehrs hätte mehr bewirkt.
»Wenn er so clever ist«, fragte Polly, »warum sitzt er dann nicht selbst im Kabinett?«
»Orinda hat mir erklärt, daß Alderney Macht ausüben möchte, indem er hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält. Ich fand das erst abwegig. Aber ich habe dazugelernt.«
»Macht ohne Verantwortung«, meinte Vater leise.
»Verbunden«, sagte ich kläglich, »mit einem erschreckenden Jähzorn, der zum Ausbruch kommt, wenn er auf Widerstand stößt.«
Mein Vater hatte nicht mit eigenen Augen gesehen, wie Wyvern auf Orinda losgegangen war - wie schnell, wie hart und rücksichtslos. Aber er hatte das Blut und die Tränen gesehen und war drauf und dran gewesen, dafür Vergeltung zu üben. Wyvern hatte den Ruf meines Vaters ruinieren wollen, indem er ihn zum Zuschlagen provozierte. Ich konnte es mir zwar noch nicht ganz erklären, ahnte aber dunkel, daß Gewalt gegen Wyvern letztlich den Angreifer zerstören würde.
Mit dem Segen Evans, meines Chefs, hatte ich den Donnerstagabendempfang in Nr. 10 mit dem Freitagmorgentermin bei einem Versicherungsinspektor verbunden, um zu klären, ob im Fall eines abgebrannten Heuspeichers Zufall oder Vorsatz im Spiel war, und wollte den Freitagabend mit Polly und Vater in London verbringen, um dann am Samstag in Stratford-upon-Avon ein Rennen zu reiten, aber Freitag früh erreichte mich die Nachricht meines Vaters, ich solle mich am Nachmittag mit ihm noch einmal in der Downing Street treffen.
»Ich dachte, du möchtest dir das Haus vielleicht etwas genauer ansehen«, meinte er vergnügt. »Bei diesen Empfängen kriegt man ja nichts mit.«
Er hatte einen sogenannten Boten vom Hauspersonal gebeten, uns offiziell herumzuführen, und so stiegen wir noch einmal die gelbe Treppe hinauf, ließen uns mehr Zeit beim Betrachten der Gemälde und schlenderten durch die drei großen Gesellschaftsräume, die sich an den Vorraum anschlossen: den weißen Saal, den grünen Saal und die Säulenhalle, wo der Empfang stattgefunden hatte.
Der Bote sagte stolz, das Haus sehe so gut aus und werde so gut gepflegt wie nie zuvor in seiner wechselvollen Geschichte. Ursprünglich war es einmal ein Doppelhaus gewesen (ähnlich wie das abgebrannte Wahlkampfbüro in Hoopwestern), das kleinere mit Blick auf die Downing Street, dahinter ein Herrenhaus mit Blick in die Gegenrichtung. Im Innern war es zweieinhalb Jahrhunderte hindurch immer wieder umgestaltet worden, und seit der jüngsten großen Renovierung besaß das Ganze einen Anstrich von achtzehntem Jahrhundert, den es vorher nicht gehabt hatte.
»Der grüne Saal hieß früher mal blauer Saal«, sagte der Bote vergnügt. »Der schöne Stuck, der jetzt fast alle Decken ziert, ist verhältnismäßig neu. Die klassizistischen Tympana ebenso. Jetzt sieht das hier so aus, wie es immer schon gedacht war.«
Zu seiner Freude sparten wir nicht mit Bewunderung.
»Hier drüben«, er marschierte auf eine Ecke der Säulenhalle zu, »liegt der kleine Speiseraum.« (Mit Platz für zwölf Personen.) »Dahinter der Raum für die Staatsbankette.« (Dunkle Wandtäfelung, Platz für vierundzwanzig Esser.)
Er kommentierte uns sämtliche Gemälde in den Räumen. Ich dachte an die vielen Premierminister, die all diese Pracht und Eleganz nicht gekannt hatten, für die das Gebäude nur ein Büro gewesen war. Sie hatten schon etwas verpaßt.
Wieder im Vorraum, wies unser Führer mit dem Finger nach oben. »Im nächsten Stock liegt die Privatwohnung des Premierministers, und hinter der verschlossenen Tür dort liegt sein eige-nes Gemach, das man nur betritt, wenn er darum bittet. Unten aber ...«, schon brachte er uns per Lift ins Erdgeschoß, »geht es dort entlang und durch den Vorraum in den Sitzungssaal des Kabinetts, was ich Ihnen, Sir, natürlich nicht zu sagen brauche, doch den können Sie Ihrem Sohn selbst zeigen, ich warte dann nachher am Ausgang auf Sie.«
Mein Vater dankte ihm herzlich für seine Mühe, und ich dachte etwas überwältigt, daß ich mir noch nie so richtig das lebendige Erbe der Geschichte vor Augen geführt hatte, das mein Vater anzutreten hoffte.
Der Vorraum war ein Vorraum: ein Sammelplatz eben, aber mit leuchtend roten Wänden.
Der Sitzungssaal im hinteren Teil des ehemaligen Herrenhauses war länglich, mit hohen Fenstern auf der einen Längs- und der hinteren Schmalseite, die auf einen friedlichen, ummauerten Garten blickten.
Irische Terroristen hatten in diesem Garten einmal eine Bombe deponiert, als das ganze Kabinett im Haus war. Die Bombe hatte wenig Schaden angerichtet. Jetzt sah das Gras unberührt aus. Frieden war relativ. Guy Fawkes konnte wieder auferstehen.
Erstaunlicherweise hatte Sir Thomas Knyvet, der Stadtrat, der Guy Fawkes in flagranti mit seinen Pulverfässern ertappte, genau an der Stelle gewohnt, wo der Bauunternehmer George Downing später das Haus Nr. 10 errichten ließ.
»Da sitze ich normalerweise«, sagte mein Vater, als er zu dem Tisch in der Saalmitte ging und hinter einem der zwei Dutzend Stühle stehenblieb. »Der Stuhl in der Mitte, der mit den Armlehnen, gehört dem Premier. Es ist der einzige mit Lehnen.«
Der große Tisch war nicht rechteckig, sondern ein langgezogenes Oval, damit, wie Vater erklärte, der Premierminister die einzelnen Kabinettsmitglieder besser sehen konnte.
»Na los«, neckte ich ihn. »Nimm dir den Lehnstuhl.«
Er war halb verlegen, halb scheu, konnte der Versuchung aber nicht widerstehen. Es sah ja nur sein Sohn. Er krebste seitwärts um den Tisch herum und setzte sich in den Lehnstuhl; machte es sich bequem, lehnte die Arme an, lebte den Traum.
Hinter ihm an der Wand hing das einzige Gemälde in diesem Raum, ein Porträt von Sir Robert Walpole, der als erster den Titel Premierminister erhalten hatte.
»Alles wie für dich gemacht«, sagte ich.
Er stand verlegen auf und sagte, wie um der Situation das Prickelnde zu nehmen: »Auf dem Platz gegenüber dem Premier sitzt normalerweise der Finanzminister.«
»Und wie viele von euch legen die Füße auf den Tisch?«
Er warf mir einen ungehaltenen Blick zu. »Mit dir kann man wirklich nirgends hingehen.«
Wir kehrten ins Foyer zurück, wo mein Vater auf die Uhr sah. Wie aufs Stichwort erschien der Bote, um uns zur Tür zu bringen, und ich fragte mich flüchtig, ob sie drinnen, wie es nur vernünftig gewesen wäre, Videokameras hatten, um das Kommen und Gehen von Besuchern aufzuzeichnen.
Während wir uns noch verabschiedeten, öffnete sich die Tür, und herein kam der Premierminister, gefolgt von zwei wachsamen jungen Männern: Leibwächtern.
Der Premierminister sagte ohne Überraschung: »Tag,
George« und warf seinerseits einen vielsagenden Blick auf die Uhr. »Kommen Sie mit. Und Sie, ehm .«
Mein Vater sagte: »Ben.«
»Ben, ja. Der Rennreiter. Sie auch.«
Er führte uns durchs Foyer und an der Treppe vorbei in ein enges, hektisch betriebsames Büro voller Leute, die sich bei seinem Eintritt von ihren Plätzen erhoben.
»So, Ben, Sie bleiben mal bei diesen braven Leuten hier, während ich mich mit Ihrem Vater unterhalte.«
Er ging durch den Raum, öffnete eine Tür und bedeutete meinem Vater, ihm zu folgen. Das Büropersonal begrüßte mich freundlich, bot mir einen Stuhl an und erklärte mir, daß ich in dem Raum sei, wo die eigentliche Arbeit stattfinde; hier werde das Leben des Premierministers organisiert, wie es seine Politik erfordere.
Freitag nachmittags gehe es etwas ruhiger zu, sagten sie, aber an die zweihundert Leute seien insgesamt in den Büros beschäftigt, und einmal habe jemand gezählt, wie oft die Eingangstür von Nr. 10 in vierundzwanzig Stunden geöffnet und geschlossen wurde, und sei auf über neunhundert Mal gekommen.
Ununterbrochen klingelte das Telefon. Schließlich galt ein Anruf mir, und ich wurde gebeten, wie mein Vater nach nebenan zu gehen. Ich kam in einen großen, gepflegten stillen Raum, der halb Büro, halb Salon war.
Mein Vater und der Premierminister saßen entspannt in dik-ken Sesseln, und mit einer Handbewegung wurde mir bedeutet, mich dazuzusetzen.
»Ihr Vater und ich«, sagte der Premierminister, »haben uns über Alderney Wyvern unterhalten. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet, fand aber nichts an ihm auszusetzen. Ich weiß, daß Jill Vinicheck und andere Frauen im Kabinett der Meinung sind, ihm viel zu verdanken, und daß er vor allem auch Hudson Hurst ein neues, besseres Image verschafft hat. Das finde ich in keiner Weise bedenklich oder inakzeptabel. Der Mann ist taktvoll und zurückhaltend und hat politisch, soweit ich weiß, nie einen Fehler gemacht. Besonders Jill Vinicheck findet, daß seine Ratschläge ihr einige Male geholfen haben, und fest steht, daß die Presse jetzt nicht mehr über ihre Kleider lästert, sondern sie als Politikerin ernst nimmt.«
»Ehm ...«, sagte ich. »Ja, Sir.«
»Ihr Vater sagt, er und Sie haben Alderney Wyvern von einer anderen Seite kennengelernt. Einer gewalttätigen Seite. Er sagt, daß Ihrer Ansicht nach diese Gewaltbereitschaft noch besteht. Es fällt mir schwer, das zu glauben, kann ich dazu nur sagen, und solange ich nichts dergleichen bei ihm erkenne, muß ich von Wyverns Unschuld ausgehen. Ich bin sicher, daß Sie mich beide in der besten Absicht auf den möglichen Einfluß Wyverns in meinem Kabinett aufmerksam gemacht haben, aber wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, George, Ihr Sohn ist ein sehr junger Mann ohne rechte Lebenserfahrung, und möglicherweise bauscht er Probleme hier unnötig auf.«
Mein Vater verzog keine Miene. Ich fragte mich, was der Premierminister von Wyvern gehalten hätte, wenn er ihn auf Orinda hätte losgehen sehen. Ohne einen solchen Anschauungsunterricht war er anscheinend nicht davon zu überzeugen, daß sich in der äußeren Schale des Mannes, den er kannte, etwas völlig anderes verbarg - so wie die schimmernde, schön gezackte Muschelschale den glitschigen, schneckenähnlichen Mollusk beherbergt, der bäuchlings vorwärtskriecht.
Der Premierminister sagte: »Ich nehme zur Kenntnis, was Sie mir mitgeteilt haben, und werde es im Kopf behalten, aber einen Handlungsbedarf sehe ich im Augenblick nicht.«
Er erhob sich zum Zeichen, daß die Unterredung beendet sei, gab meinem Vater gutmütig wie immer die Hand, und ich mußte daran denken, wie Vater mir auf unserer Fahrt von Brighton nach Hoopwestern am Tag, da alles anfing, gesagt hatte, daß die Menschen nur glauben, was sie glauben wollen. Offenbar galt das auch für den Premierminister.
Als wir Haus Nr. 10 verlassen hatten, sagte ich düster zu meinem Vater: »Geholfen habe ich dir nicht.«
»Es mußte sein. Es war richtig, ihn zu warnen. Selbst wenn es meiner Karriere abträglich sein sollte, war es richtig.«
Vaters unbedingte Redlichkeit, dachte ich, konnte ihm noch einmal zum Verhängnis werden.