Kapitel 6

Am Ende des Nachmittags fuhr ich den Range Rover trübsinnig zurück zu Pollys Haus im Wald und hatte das Gefühl, ihre Hoffnungen enttäuscht und nicht nur eine einmalige Gelegenheit verpaßt, sondern alles nur noch schlimmer gemacht zu haben.

Als ich endlich mit Orinda (deren Absätze öfter denn je stek-kenblieben) zur Tribüne zurückgekehrt und in die Loge der Rennleitung hinauf gelangt war, hatte den Duke bereits wieder die Pflicht gerufen. Orinda verfolgte das dritte Rennen vom Balkon vor dem Speiseraum aus, drehte mir unbarmherzig den Rücken zu und verbat sich jede Unterhaltung.

Es siegte ein Pferd mit sieben Pfund Aufgewicht. Orinda hatte es nicht gewettet.

Als der Duke herzlich lächelnd wieder heraufkam, dankte sie ihm liebenswürdig für seine Gastfreundschaft und verabschiedete sich. Meinen Vater, Polly und mich würdigte sie dabei keines Wortes und keines Blickes, und ich wünschte mir die drei letzten, tapfer ertragenen Rennen hindurch, ich wäre kleiner, reicher und mit Genie gesegnet. Die vielen Möglichkeiten, die mir offenstanden, erschienen mir dürftig gegenüber dem unerfüllbaren Wunschtraum.

Als Polly uns nun einlud, ins Haus zu kommen, nahm mein Vater sofort an.

»Kopf hoch«, kommentierte er mein mürrisches Schweigen. »Man kann nicht immer nur gewinnen. Sag was. Du kriegst seit Stunden den Mund nicht auf.«

»Also gut . Orinda hat gesagt, Usher Rudd hält mich für deinen Buhlknaben.«

Mein Vater prustete in den Gin, den Polly ihm eingeschenkt hatte.

»Was ist denn ein Buhlknabe?« fragte Polly, mein Vater wußte es.

Ich sagte: »Usher Rudd will nachweisen, daß ich nicht dein Sohn bin. Wenn du eine Heiratsurkunde hast, leg sie in ein Bankfach.«

»Und deine Geburtsurkunde, wo ist die?«

»Bei meinem Zeug bei Mrs. Wells.«

Er runzelte die Stirn. Meine Sachen waren mir noch nicht gebracht worden. Sofort bat er Polly, telefonieren zu dürfen, und rief meine Vermieterin an. »Sie hat alles bereitgestellt«, berichtete er, »aber der Spediteur, den ich bestellt habe, war noch nicht da. Muß ich am Montag nachhaken.«

»Mein Fahrrad steht noch im Rennstall.«

Das erinnerte ihn zwar daran, wie rücksichtslos er sich über meine Ambitionen hinweggesetzt hatte, aber er erwartete offensichtlich nach wie vor, daß ich erwachsen wurde und mich mit den Tatsachen abfand.

»Komm drüber weg«, sagte er.

»Ja.«

Polly blickte von mir zu ihm und sagte: »Der Junge tut für Sie, was er kann, George.«

Wir fuhren ohne sie weiter nach Hoopwestern, und langsam gewöhnte ich mich an den Allradantrieb, das Gewicht und die Größe des Range Rovers. Ich brachte meinen Vater (nach Mer-vyns Wegbeschreibung) zu einem Gemeindesaal, wo er sich mit einem kleinen Heer von Wahlhelfern aus der gesamten Region treffen sollte. Die Wahlhelfer hatten ihre Familien und Freunde mitgebracht, aber auch Tee, Bier, Wein und Kuchen, damit alle zu essen und zu trinken hatten, während sie sich vom unerschöpflichen Kampfgeist meines Vaters anstecken ließen und Energie für die nächsten drei Wochen tankten.

»Mein Sohn ... das ist mein Sohn.« Immer wieder stellte er mich vor, und ich drückte Hände, lächelte in einem fort, plauderte mit alten Damen, unterhielt mich zurückhaltend über Fußball und zerknirscht über Pferderennen.

Mervyn zog mit Plänen und Listen von einer Gruppe zur anderen. Morgen kam dieser, am Montag jener Wahlbezirk an die Reihe: Handzettel . Plakate . Hausbesuche . Keiner der siebzigtausend Wähler sollte um Juliard herumkommen.

Und das noch drei Wochen lang . Trotz meiner neuen Aufgabe, Gefahren abzuwenden, sah ich eher quälende als schöne Zeiten auf mich zukommen.

Aber ich hatte eingewilligt ... und mein Wort galt.

Ich aß Schokoladenkuchen. Immer noch keine Pizza.

Gegen Ende der Versammlung holte ich den Range Rover aus der Nebenstraße, in der ich ihn geparkt hatte, und war mir ganz sicher, daß an diesem Abend niemand daran herumgepfuscht hatte.

Foster Fordham hatte mir telefonisch ein paar einfache Tips gegeben. »Nehmen Sie immer eine Schachtel Waschpulver mit. Wenn Sie den Wagen abstellen, streuen Sie auf beiden Seiten eine dünne Linie Waschpulver vom Vorder- zum Hinterrad. Dann sehen Sie, ob in Ihrer Abwesenheit jemand den Wagen bewegt oder sich daruntergelegt hat. Verstanden?«

»Ja. Danke.«

»Schalten Sie immer die Alarmanlage ein und öffnen Sie den Wagen von weitem per Fernbedienung, auch wenn Sie nur kurz weg waren.«

Ich hatte seine Anweisungen genau befolgt, unser Ablaß-schraubenklauer hatte offensichtlich keine neuen Tricks versucht. Ohne Zwischenfall fuhr ich meinen Vater von dem Gemeindesaal zurück zum Wahlkampfbüro mit dem Erkerfenster und überließ ihn seinen endlosen taktischen Erörterungen mit

Mervyn, während ich den Range Rover in die Garage sperrte und im nächsten Schnellrestaurant endlich eine Pizza erstand.

Mervyn und mein Vater aßen zerstreut die Hälfte davon. Mervyn legte stapelweise Aufkleber und zu verteilende Handzettel bereit. Ja, meinte er auf meine Frage hin, selbstverständlich seien Nachwahlen unerhört aufregend, spannender könne es im ereignisreichen Leben eines Wahlkampfmanagers kaum werden. Und die Benefizparty für nächste Woche müsse noch unter Dach und Fach gebracht werden - schade, daß Orinda dafür diesmal nicht zuständig sei ...

Ich gähnte und ging, den beiden Älteren das Abschließen der Türen überlassend, nach oben; und ich erwachte mitten in der Nacht von starkem Rauchgeruch.

Rauch!

Ich richtete mich im Bett auf.

Mehr oder weniger instinktiv wälzte ich mich aus den Laken, schüttelte unsanft die reglose Gestalt im anderen Bett, rief: »Feuer!« und sprang zur angelehnten Zimmertür, um nachzusehen, ob meine schlimme Befürchtung wirklich zutraf.

Kein Zweifel.

Das untere Stockwerk stand in hellen, lodernden Flammen. Dicker Rauch drang herauf. Vom hinteren Büro hatte das Feuer bereits auf das Wohnzimmer im ersten Stock übergegriffen.

Ich schnappte in dem Qualm nach Luft, drehte mich auf dem Absatz herum und stürzte ins Bad. Wenn du alle Hähne aufdrehst, dachte ich, läuft das Wasser über und löscht mit. Ich stöpselte die Wanne und das Waschbecken zu, drehte sämtliche Hähne voll auf, warf ein Badetuch in die Kloschüssel und betätigte die Spülung. Schnappte mir das durchnäßte Handtuch, lief damit ins Schlafzimmer, sperrte den Rauch aus und dichtete die Ritze unter der Tür ab, all das in rasendem Tempo.

»Das Fenster«, rief ich. »Das verdammte Fenster klemmt.«

Es war mit Farbe wie zusammengeleimt, und mein Vater hatte sich seit Tagen darüber geärgert, daß es nicht aufging. Wir trugen nur Unterhosen, und es wurde immer heißer. »Die Treppe können wir nicht nehmen.« Kapiert er nicht? dachte ich. Wortlos ergriff er den einzigen Stuhl im Zimmer und ließ ihn ins Fenster krachen. Glas zerbrach, aber die Scheiben waren klein, und der Holzrahmen blieb ganz. Wir waren über dem Erkerfenster, das auf den Platz ging. Ein zweiter Schlag mit dem Stuhl ließ die Lagen alter Farbe platzen, und das Fenster flog nach beiden Seiten auf - aber unten hatte sich das Feuer schon durch das Erkerdach gefressen und schoß die Wand herauf.

Aus dem Erker des Trödelladens nebenan schlugen ebenfalls Flammen. Offenbar wütete das Feuer dort sogar schon länger und hatte bereits den Dachstuhl erreicht, denn über unseren Köpfen sprühten rote und goldene Funken in den Himmel.

Ich hastete zur Tür, dachte, es bliebe uns doch nur die Treppe, aber auch wenn das nasse Handtuch den Rauch weitgehend fernhielt, gegen Feuer half es nicht. Die Klinke war schon zu heiß zum Anfassen. Hinter der Tür war eine Flammenwand.

»Wir sind eingeschlossen«, rief ich grimmig. »Die Tür brennt.«

Mein Vater schaute mich kurz an.

»Versuchen wir unser Glück und springen. Zuerst du.«

Er stellte den ramponierten Stuhl ans Fenster und bedeutete mir, daraufzusteigen und möglichst weit hinauszuspringen.

»Erst du«, sagte ich.

Inzwischen waren Leute auf dem Platz und schrien, und die schrille Sirene eines Feuerwehrwagens kam näher.

»Schnell«, sagte mein Vater. »Diskutier jetzt nicht. Spring.«

Ich stieg auf den Stuhl und griff nach dem Fensterrahmen. Die Farbe verbrannte mir die Hand.

»Spring!«

Ich faßte es nicht: Er mühte sich in Hemd und Hose und zog den Reißverschluß zu.

»Na los. Spring!«

Ich setzte einen nackten Fuß auf den Rahmen, zog mich hoch und sprang mit aller Kraft meiner durchtrainierten Muskeln hinaus - flog durch die Flammen, die aus dem Erker schlugen, verfehlte die brennende Vorderfront nur um Zentimeter und krachte mit einer solchen Wucht auf das Kopfsteinpflaster, daß ich Sternchen sah. Ich hörte Leute schreien, spürte, wie ich gepackt und vom Feuer weggezogen wurde, versuchte aber, mich aus ihrem Klammergriff loszureißen, um den Sturz meines Vaters abzufangen. Ich hatte die Kraft nicht. Setzte mich auf den Boden. Konnte nicht einmal sprechen.

Unglaublicherweise blitzten Kameras. Die Not, die Lebensgefahr, in der wir uns befanden, wurde gefilmt! Ohnmächtiger Zorn stieg in mir auf. Empörung. Ich hätte heulen können. Zu Unrecht, nehme ich an.

Die einen riefen meinem Vater zu, er solle springen, die anderen, er solle nicht springen, sondern warten, bis die Feuerwehr da sei, die sich jaulend bereits einen Weg durch die Schaulustigen bahnte und ihre Gelbhelme ausspie.

»Noch nicht! Noch nicht!« wurde gerufen, als die Feuerwehrleute ihre mechanische Leiter ausfuhren, um an meinen Vater heranzukommen, doch der zeichnete sich im Fenster dunkel gegen einen glutroten Hintergrund ab. Er stand auf dem Stuhl -und die Tür hinter ihm brannte lichterloh.

Bevor die Leiter bei ihm war, rollten sonnenhelle Flammen durch das Zimmer, und er stieg auf den Fensterrahmen und warf sich hinaus, warf sich wie ich über das aus dem Erker hochlek-kende Feuer hinweg in die Dunkelheit, obwohl er wußte, daß er sich dabei den Hals brechen, den Schädel einschlagen konnte, zumal der Boden nicht zu sehen, die Entfernung nicht abzuschätzen, das Pflaster aber nur zu nah war. Knochenbrecherisch nah.

Eine Kamera blitzte.

Zwei Männer in gelben Astronautenanzügen und dicken Handschuhen rannten mit einem runden, trampolinähnlichen Sprungtuch aufs Haus zu. Keine Zeit, in Position zu gehen. Sie rannten einfach, mein Vater krachte in sie hinein, und alle landeten in einem Wirbel von Armen und Beinen am Boden. Helfer umdrängten sie und nahmen mir die Sicht auf das Gewirr, aber in den Beinen meines Vaters war Leben gewesen - und im Gegensatz zu vorhin hatte er Schuhe angehabt!

Ich war rußverdreckt, hatte bei der Landung auf dem Pflaster ein paar Prellungen und Kratzer abbekommen, spürte, obwohl ich noch benommen war, daß mir Tränen übers Gesicht liefen, und ich hustete und hatte Blasen an Händen und Füßen, aber das zählte alles nicht. In meinem Kopf war Lärm und Chaos. Ich hatte meinen Vater vor Gefahren schützen wollen und an einen Rauchmelder noch nicht einmal gedacht.

Seine Stimme sagte: »Ben?«

Ich blickte verwirrt auf. Er stand vor mir; er lächelte sogar. Wie konnte er nur!

Männer in gelben Schutzanzügen rollten Schläuche auf und spritzten Unmengen von Wasser aus dem Tank in die brennenden Erker. Es gab Dampf, Rauch, doch die Flammen züngelten hartnäckig weiter. Man legte mir eine rote Decke um die Schultern und sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen. Ich wußte nicht recht, wer die Leute waren und worüber ich mir keine Gedanken machen sollte. Ich wußte eigentlich gar nichts.

»Ben«, sagte mein Vater mir ins Ohr, »du hast eine Gehirnerschütterung.«

»Hm?«

»Du bist offenbar mit dem Kopf aufgeschlagen. Kannst du mich hören?«

»Kein Rauchmelder. Meine Schuld ...«

»Ben!« Er schüttelte mich. Man riet ihm davon ab.

»Ich sorge dafür, daß du gewählt wirst«, sagte ich.

»Himmel.«

Vertraute Gesichter kamen in mein Blickfeld und verschwanden wieder. Ich wunderte mich, daß sie mitten in der Nacht komplett angezogen herumliefen, bis ich erfuhr, daß es erst zwanzig nach elf war und nicht fünf vor vier. Ich war früh schlafen gegangen und hatte die Zeiger verwechselt, als ich wachgeschreckt, fast unbekleidet, mit der Uhr am Arm aus dem Fenster gesprungen war.

Amy war da, rang die Hände und weinte. Weinte um ihren zu Asche gewordenen Trödel, das noch immer unverkaufte, jetzt unwiederbringlich verlorene Wandgestell. Was ist eine Etagere, Amy? Ein Eckenfüller, eine Art Regal mit vielen kleinen Fächern zum Verwahren von Tellern, Fotos und allem möglichen Kram.

Auch Gewehrkugeln?

»Ach herrje«, sagte sie. »Die Kugel hatte ich noch in der ollen Strickjacke im Laden, und jetzt ist sie hin, aber was soll’s, es war ja doch nur ein Klümpchen Blei.«

Mrs. Leonard Kitchens klopfte mir tröstend auf die Schulter. »Lassen Sie nur, Junge, in dem ganzen Bunker war ja doch nur Plunder und Papier. Flugblätter. Weiter nichts! Mein Leonard ist auch da. Haben Sie ihn gesehen? Für ein ordentliches Feuer ist er immer zu haben, aber jetzt ist der Zauber ja vorbei. Ich will nach Hause.«

Usher Rudd fixierte seine Beute im Krebsgang, sah in den Sucher, trat zurück und knipste. Er grinste auf meine Wolldecke herab, stellte in Ruhe den Bildausschnitt ein, prüfte die Schärfe.

Blitz.

Der Kameramann des Lokalfernsehens kam mit stärkerer Beleuchtung, aber das Feuer brannte immer noch heller.

Mervyn rang die Hände wegen der Stapel verbrannter JULIARD-Zettel. Er war kaum eine halbe Stunde daheim gewesen, als ihn jemand wegen des Brandes im Trödelladen angerufen hatte.

Crystal Harley kniete neben mir, tupfte mit Papiertaschentüchern Blut von meinem Gesicht und sagte besorgt: »Da komme ich wohl besser morgen mal zur Arbeit.«

Paul und Isobel Bethune hielten mit ihrem Auto in der Fußgängerzone. Im Notfall galten andere Regeln, meinte der Herr Stadtrat, drängte sich, ernste Besorgnis im Blick, zu meinem Vater durch, begrüßte ihn brüderlich und hatte für jeden einzelnen Feuerwehrmann ein Wort der Anerkennung.

Isobel fragte mich leise, ob es mir gut gehe.

»Natürlich nicht!« fuhr Crystal sie an. »Er ist durch die Flammen gesprungen und aufs Pflaster geknallt. Was erwarten Sie denn?«

»Und, ehm . sein Vater?«

»Sein Vater kommt ins Parlament«, sagte Crystal.

Es lebe die Politik, dachte ich.

»Paul war auf einer Versammlung«, sagte Isobel. »Als er von dem Brand hörte, hat er mich zu Hause abgeholt, weil ich ja vielleicht auch was tun kann. Es sieht immer besser aus, wenn ich dabei bin, meint er.«

Wasser schoß aus dem schweren Schlauch, zischte durch die Flammen, lief wieder aus dem Gebäude heraus und schwappte aufs Pflaster. Mich fröstelte unter der naß gewordenen roten Decke.

Ein zweiter Löschzug auf der Rückseite schickte gewaltige Fontänen übers Dach, so daß die beiden glitzernden Wasserfälle sich vereinten und gemeinsam als monströser Regen niedergingen. Plunder und Flugblätter ein Glutmeer; draußen zwei zitternde, verletzliche Wesen.

Die Gelbhelme richteten ihre Schläuche verschwenderisch auf die noch dunklen Gebäude neben den brennenden Läden, und schließlich ging den wütenden Flammen zwangsläufig die Nahrung aus, sie wurden schwächer, fauchten nur noch, wo sie vorher brüllten, gaben den Kampf auf und räumten das Feld, so daß nicht mehr Funken, sondern Flocken heißer Asche auf den Platz herabrieselten und zwar noch beißender Brandgeruch, aber keine Hitze mehr auf die Sinne eindrang.

Irgendwer holte den Arzt, der sich drei Tage zuvor den Fuß meines Vaters angesehen hatte; er leuchtete mir in die Augen und die Ohren, betastete die Beule an meinem Kopf, deckte die Brandblasen gut ab, damit sie nicht aufgingen und sich entzündeten, und teilte Vaters Auffassung, daß es genügte, wenn ein so gesunder junger Mann am nächsten Morgen noch einmal zu ihm kam.

Für die angebrochene Nacht besorgte uns mein Vater, an das Mitgefühl des Direktors appellierend, ein Zimmer im Schlafenden Drachen, und die Frau des Direktors besorgte mir etwas zum Anziehen.

»Sie Ärmster ... Sie Ärmster ...« Es machte ihr Spaß, uns zu bemuttern, aber auch die Reporter der Londoner Tageszeitungen, die sich am nächsten Tag die Klinke in die Hand gaben, empfingen sie und ihr Mann mit offenen Armen.

Usher Rudds wirklich gelungene Aufnahme meines Vaters beim Sprung aus dem Fenster des brennenden Zimmers erschien auf der Titelseite nicht nur der Hoopwestern Gazette und des nächsten Quindle Diary (Juliard IM Pech), sondern jeder großen überregionalen Zeitung (JULIARDS LUFTSPRUNG), zusammen mit den schnell erzählten Fakten, denen unzählige Kommentare, Einschätzungen und Ausdeutungen auf dem Fuß folgten.

Die Leute sagen einem immer, was man hätte tun sollen. Sie sagen einem, was sie getan hätten, wenn sie mitten in der Nacht von einem Brand im Stockwerk unter ihnen aufgewacht wären.

Sie sagen, daß man als allererstes selbstverständlich die Feuerwehr ruft, aber wie man die rufen soll, wenn das einzige Telefon unten steht, wo das Feuer tobt, behalten sie für sich. Wie soll man die Feuerwehr rufen, wenn die Telefonleitung durchgeschmort ist?

Hinterher kann jeder logisch denken, aber in der Hitze, dem Qualm, dem Lärm und der Gefahr ist klares Denken so gut wie ausgeschlossen.

Unüberlegtes Handeln in Gefahrensituationen wird gern als »Panik« bezeichnet und als solche verziehen, dabei hat es weniger mit Panik, mit übermäßiger Furcht zu tun als damit, daß die Zeit fehlt, genau nachzudenken.

Vielleicht hätten mein Vater und ich anders gehandelt, wenn uns das Ganze als Denksportaufgabe vorgesetzt worden wäre, für die es eine richtige und eine falsche Lösung gab.

Vielleicht hätten wir die Matratzen aus dem Fenster werfen sollen, um damit unseren Sturz abzufangen. Wenn sie durch das Fenster gepaßt hätten. Jedenfalls wären wir beide fast umgekommen, und daß wir beide noch lebten, war mehr Glück als Verstand.

Mit Anziehen darf man keine Zeit verlieren, sagen sie einem. Besser nackt in dieser Welt, als angezogen in der nächsten. Aber »sie«, wer immer das nun ist, sind sicher nie im vollen Rampenlicht gesprungen.

Ich dachte nachher, ich hätte schnell meine Jacke und meine Reitkappe aus dem brennenden Wohnzimmer holen sollen, statt mich mit den Wasserhähnen abzugeben. Und ich hätte mir Handtücher um Hände und Füße wickeln sollen, bevor ich auf die Fensterbank gestiegen war.

Aber ich glaube nicht, daß meinen Vater die lebensgefährlichen Sekunden, die er darauf verwandte, Hemd und Hose anzuziehen, je gereut haben. Selbst als es um Leben und Tod ging, war ihm klar gewesen, daß ihn ein Foto, auf dem er sich halbnackt vor den Flammen rettete, seine ganze Laufbahn hindurch verfolgen würde. Noch im Augenblick größter Gefahr hatte er daran gedacht, wie wichtig ein sicheres Auftreten war. Ganz gleich, was Usher Rudd in Zukunft alles ausgrub - George Juliard war und blieb der geistesgegenwärtige Mann auf Seite 1, der in der Not den Kopf behielt und sich die Schuhe anzog.

Die polizeilichen Ermittlungen wurden von Joe, dessen Mutter den Schulbus fuhr, an gehobene Ränge auf Kreisebene weitergereicht, aber die Feuerwehrleute konnten nicht beschwören, daß Brandstiftung vorlag, niemand fand das verschwundene 22er Geschoß, und Foster Fordhams Bericht über Wachspartikel in der Ölwanne wurde als nicht schlüssig angesehen.

Wohl war es möglich, daß drei Anschläge auf Juliard verübt worden waren, sei es, um seine Wahl zu verhindern, sei es, um ihn aus dem Weg zu räumen, aber es stand nicht fest. Es gab keinen bestimmten Verdacht.

In der hochsommerlichen Nachrichtenflaute räumten die Londoner Redakteure dem Rätsel zwei Tage ausführlicher Berichterstattung ein. George Juliard kam landesweit ins Fernsehen. Jeder einzelne Stimmberechtigte im Wahlkreis Hoopwestern wußte, wer Juliard war.

Während mein Vater sich mit PR-Leuten abgab und Mervyn wie eine aufgeregte Schmeißfliege herumkurvte, um ein erschwingliches neues Büro zu finden, saß ich den halben Sonntag hindurch in einem Sessel am Fenster unseres Zimmers im Schlafenden Drachen, ließ die Prellungen und Kratzer heilen und betrachtete das ausgebrannte Gebäude auf der anderen Seite des Platzes.

Von irgendwo hier oben, dachte ich, irgendwo zwischen den vielen Geranien in Hängekörben (arrangiert von ihrem Leonard, dem Gärtner, hatte Mrs. Kitchens mir voll Stolz erzählt), irgendwo zwischen diesen vielen roten Pompons, den kleinen blauen Blumen mit mir unbekanntem Namen und den flaumig weißen, die das farbenfrohe Dekor der langen Vorderfront des Hotels ergänzten und abrundeten, von irgendwo hier oben hatte jemand mit einem 22er Gewehr auf meinen Vater angelegt.

In dem Zimmer, das wir für die Nacht bekommen hatten, war der Schütze eher nicht gewesen, denn das lag viel weiter in Richtung Rathaus als der Haupteingang des Hotels, aus dem wir gekommen waren. Bei einem Schuß von meinem Platz aus hätte man berücksichtigen müssen, daß die Zielperson sich nicht geradeaus, sondern seitwärts bewegte. Der Schuß eines Pirschjägers, aber nicht das Gewehr dafür.

Ein Abpraller konnte im Prinzip zwar überall hingehen, aber ich hielt es doch für unwahrscheinlich, daß eine von meinem Platz aus geschossene Kugel den Trödelladen hätte treffen können.

Schließlich erkundete ich im Schlafanzug und mit verbundenen Füßen die ganze erste Etage des Hotels, erhaschte durch ein oder zwei offene Türen einen Blick auf den Marktplatz und kam zu einem kleinen Aufenthaltsraum mit Sesseln und niedrigen Tischen, der direkt über der allgemein zugänglichen Hotelhalle liegen mußte. Vom Fenster dort sah man genau in die Richtung, aus der mein Vater und ich über das Pflaster gekommen waren.

Jeder - wirklich jeder, der kaltblütig genug dazu war hätte sich zwischen die bodenlangen Vorhänge stellen, das Fenster öffnen, den Lauf eines 22er Gewehrs über die Fensterbank legen und durch die Geranien in die laue Nacht schießen können.

Interessiert bat mein Vater den Direktor, die Gästeliste vom Mittwoch sehen zu dürfen, und sie wurde ihm sogar gezeigt, enthielt aber keinen ihm bekannten Namen.

»Wir haben’s versucht«, seufzte mein Vater, und auch die Polizei versuchte es zu gegebener Zeit, mit dem gleichen Resultat.

Bis Montag früh hatte Mervyn einen leerstehenden Laden in einer Nebenstraße gemietet und einen Schreibtisch für Crystal und ein paar Klappstühle zusammengeborgt. Zwei Tage lang stockte die Kampagne, während er seinen Stammdrucker be-kniete, quasi zum Selbstkostenpreis und im Eiltempo Flugblätter und Plakate nachzuliefern, doch am späten Dienstagnachmittag hatte sich dank Faith, Marge und Lavender, den unermüdlichen Hexen, der leere Laden bereits zu einem normal funktionierenden Büro samt Teekanne und Mobiltelefon gemausert.

Montag und Dienstag beherrschte George Juliard die Zeitungen und belebte ein paar Talkshows, und am Mittwoch morgen geschah ein Wunder.

Mervyn hatte eine neue Generalstabskarte an die Wand geheftet und zeigte mir gerade, wo ich mit Faith und Lavender (und wiederhergestellten Füßen) entlangfahren sollte, weil es noch Klinken zu putzen gab. Da unser Megaphon verbrannt war, sollte ich bitte ab und zu durch Hupen auf uns aufmerksam machen, aber nicht allzu aufdringlich, damit Leute, die wollten, daß ihr Baby schlief, nicht verärgert wurden. Junge Mütter (er drohte mir mit dem Finger) seien für jede Wahl ausschlaggebend. Ein geküßtes Baby bedeute eine Stimme. Hunderttausend Politiker, von einst und heute, könnten nicht irren.

»Ich werde jedes Baby küssen, das mir unter die Augen kommt«, versprach ich unbekümmert.

Er sah mich finster an, für keinen Spaß zu haben. Ich mußte an die jüngste Ermahnung meines Vaters denken: »Witze ja, aber nicht gegenüber der Polizei, für die ist Humor ein Fremdwort. Und mach nie einen politischen Witz, damit eckst du nur an. Denk immer dran, daß schon eine hochgezogene Augenbraue Anstoß erregen kann. Und daß jede noch so kleine Möglichkeit, Anstoß zu nehmen, genutzt wird.«

Ich hatte ihn angestarrt. »Sind die Leute so blöd?«

»Als blöd«, meinte er mit gespielter Strenge, »solltest du die

Menschen niemals bezeichnen. Sie können strohdumm sein, aber wenn du sie blöd nennst, bist du ihre Stimme los.«

»Und du willst, daß dich auch Blöde wählen?«

Er hatte gelacht. »Mach keine Witze.«

Am Mittwochmorgen, als das Wunder geschah, war er nach London gefahren. Nur Mervyn, Crystal, Faith, Marge, Lavender und ich waren in dem improvisierten Büro und behalfen uns, so gut es ging, ohne Computer (für die Spesenabrechnung), Kopierer (für die Zeitpläne) und Fax (für Nachrichten aus fernen Galaxien wie Quindle).

Orinda kam herein.

Der Bürobetrieb stand still.

Sie war ganz in Limonengrün: Hose, Jacke und Stirnband. Goldener Schmuck. Neben der schwarzen Eidechstasche trug sie eine große Plakatrolle bei sich.

Sie blickte in dem kahlen Raum umher, lächelte Marge ein wenig an und faßte mich ins Auge.

»Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte sie ruhig. »Draußen.«

Ich ging mit ihr hinaus. Die Sonne schien auf den Gehsteig. Passanten zogen an uns vorbei.

»Seit Samstag habe ich über vieles nachgedacht«, begann sie. »Am Sonntagmorgen, so gegen halb acht, stand unangemeldet ein Zeitungsmensch vor meiner Tür.«

Sie schwieg. Ich nickte nur.

»Er hat gefragt, ob es mich freut oder ärgert, daß Sie nicht in den Flammen umgekommen sind. Sie und Ihr Vater, meine ich.«

»Oh.«

»Bis dahin wußte ich von dem Brand nichts.«

»Mich wundert, daß Sie niemand verständigt hat.«

»Wenn ich schlafen gehe, ziehe ich immer das Telefon raus. Ich schlafe sowieso schlecht.« »Oh«, sagte ich wieder unbestimmt.

»Der Journalist wollte wissen, was ich von der Ansicht halte, daß auf George Juliard gezielt lebensbedrohliche Anschläge verübt werden, damit er seine Kandidatur zurückzieht und den Weg für mich frei macht.«

Sie hielt inne und musterte mein Gesicht. »Ich sehe, daß Ihnen der Gedanke nicht neu ist.«

»Nein, aber ich glaube nicht, daß Sie etwas damit zu tun haben.«

»Wieso?«

»Sie sind verletzt. Sie sind aufgebracht. Aber Sie würden keinen Mord begehen.«

»Wann werden Sie achtzehn?«

»In zehn Tagen.«

»Dann betrachten Sie das als Geschenk dafür.« Sie drückte mir die Plakatrolle in die Hände. »Mein Geschenk. Ihnen verdanke ich ...« Sie unterbrach sich und schluckte. »Machen Sie damit, was Sie wollen.«

Neugierig rollte ich die steifen Bögen auseinander, die ich oben und unten festhalten mußte, damit sie nicht wieder zusammenschlugen. Auf dem ersten stand in riesiger Blockschrift:

Orinda Nagle sagt: Wählen Sie Juliard

Ich weiß, daß mir die Kinnlade herunterklappte.

»Es sind zehn Stück«, sagte sie nur. »Alles die gleichen. Ich habe sie heute morgen drucken lassen. Die drucken gern nach, wenn Sie wollen.«

»Orinda .« Ich war praktisch sprachlos.

»Sie haben mir auf der Rennbahn etwas klargemacht ...«:, begann sie und setzte wieder neu an. »Sie haben mir gezeigt, daß man mit einer unerträglichen Enttäuschung fertig werden kann.

Sie haben mir einen Spiegel vorgehalten. Jedenfalls soll niemand meinen, ich hätte Ihr altes Wahlkampfbüro angezündet, um Ihren Vater loszuwerden, und deshalb schlage ich mich auf seine Seite. Von jetzt an werde ich ihn in jeder Hinsicht unterstützen. Ich hätte nie auf die Leute hören sollen, die mir einreden wollten, er hätte mich um mein Recht betrogen. Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber ehrlich gesagt frage ich mich, ob ich nicht sogar erleichtert darüber war, daß ich nicht nach Westminster gehen muß . Die Arbeit im Wahlkreis, die mag ich wirklich, und das tut auch am meisten weh - daß diejenigen, für die ich so geschuftet habe, mir einen Fremden vorgezogen haben.«

Sie schwieg und schaute mich fast verzweifelt an, um zu sehen, ob ich sie überhaupt verstand, und ich verstand sie so gut, daß ich mich spontan vorbeugte und ihr einen Kuß auf die Wange gab.

Eine Kamera blitzte.

»Ich fasse es nicht«, schrie Orinda. »Er folgt mir auf Schritt und Tritt.«

Usher Rudd nutzte das Überraschungsmoment und eilte bereits die Straße hinunter, um sich unter die Passanten zu mischen.

»Mir läuft er auch nach«, sagte ich und legte Orinda die Hand auf den Arm, damit sie gar nicht erst versuchte, ihn noch einzuholen. »Sie haben mich vor ihm gewarnt, und ich habe meinen Vater informiert ... aber solange Usher Rudd sich an die Gesetze hält, kann man wohl nichts gegen ihn machen, und das Recht ist immer noch auf der Seite von Rudd und Konsorten.«

»Mein Privatleben geht doch nur mich an!« Sie warf mir einen Blick zu, als sei es meine Schuld, daß sich auch andere dafür interessierten.

»Drogenhändler«, sagte ich, »wären arbeitslos, wenn niemand Drogen haben wollte.«

»Was?«

»Der sogenannte Antidrogenkrieg richtet sich gegen die Falschen. Man müßte die Käufer einsperren. Die Nachfrage stoppen. Der menschlichen Natur einen Riegel vorschieben.«

Sie sah mich verständnislos an. »Was haben Drogen denn mit Usher Rudd zu tun?«

»Wenn die Leute nicht scharf auf seinen Schund wären, würde er ihn nicht fabrizieren.«

»Und Sie meinen ... die Nachfrage bleibt?«

Darauf brauchte ich ihr nicht zu antworten. Wir gingen wieder ins Büro, und nachdem sie ihre Neuigkeit verkündet hatte, ließ sie sich von Mervyn (ohne Foto) in die Arme schließen und von den drei Hexen willkommen heißen, die zwar ihre Vorbehalte hatten, sich aber in alter Treue, mit vor Aufregung geröteten Wangen, schnell auf die neue Lage einstellten.

»Wo werbt ihr heute, Mervyn?« fragte Orinda, und er zeigte es ihr auf der Karte, was unverhofft dazu führte, daß ich an diesem Morgen den Range Rover mit Mervyn, Faith, Lavender und Orinda samt den Plakaten, auf denen sie uns ihre Sympathie erklärte, durch Hoopwestern fuhr.

Da Mervyn den Redakteur der Gazette verständigt und ihn aus seiner Hau-die-Politiker-Haltung herausgeschockt hatte, erwarteten uns auf dem Parkplatz hinter dem ausgebrannten Laden eine rasch zusammengetrommelte Schar Schaulustiger, der Leitartikler der Gazette (der sonst wenig zu tun hatte) und der verliebte Bildreporter, der Orinda schon bei dem Empfang im Schlafenden Drachen vor acht Tagen wie hypnotisiert mit seiner Kamera hinterhergelaufen war.

Orinda flirtete wieder mit der Kamera (oder mit ihm - es lief auf dasselbe hinaus) und verkündete elegant über ein störungsfreies Mikrophon, daß George Juliard, ein Politiker, den das Land mit Sicherheit noch schätzen lernen werde, der bestmögliche Ersatz für ihren geliebten Mann Dennis sei, der sein Leben den Menschen dieses wunderbaren Teils von Dorset gewidmet habe.

Applaus, Applaus. Begleitet von dem nur leicht inszenierten Beifall, flimmerte sie in den 12-Uhr-Nachrichten durch die Wohnstuben von Hoopwestern.

Als mein Vater mit dem Zug aus London zurückkam, hatte er schon mit gemischten Gefühlen von Orindas Pressekonferenz gehört - wollte sie ihm das Leben retten oder nur die Schau stehlen? -, aber bei der nächsten Wahlversammlung am selben Abend umarmten sie einander so herzlich, wie es noch einen Tag vorher undenkbar gewesen wäre.

Nicht alle waren angetan.

Orindas Schatten Wyvern, der Anonyme Liebhaber, folgte ihr wie Donnergrollen. Sie, ganz strahlende Großmut und Stärke, umweht von brombeerfarbenem Satin, warf ihm immer wieder fragende Blicke zu, als sei ihr unklar, woher sein Mißmut rührte. Im Gegensatz zu mir, der im Lauf des Abends allmählich dahinterkam, begriff sie nicht, daß sie mit dem für sie befreienden Entschluß, den Ärger über ihre Nichtaufstellung über Bord zu werfen, irgendwie seine Stellung untergraben hatte. Er war Dennis Nagles bester Freund gewesen, aber Orinda ließ ihren Dennis jetzt hinter sich.

Die liebe Polly blickte zu meinem Erstaunen ausgesprochen finster drein, obwohl sie Orindas Sinneswandel selbst mit herbeigeführt hatte.

»Mit einer so radikalen Kehrtwende hatte ich nicht gerechnet«, nörgelte sie. »Jetzt gibt sie wieder die First Lady im Wahlkreis. Die Rolle steht ihr zwar gut, aber sie ist nicht Georges Frau und kann nicht wie früher bei jeder Feier die Gastgeberin spielen oder so, aber ich wette, genau das schwebt ihr vor. Was haben Sie ihr beim Pferderennen bloß gesagt?«

»Ich dachte, Sie wollten, daß sie meinem Vater zur Seite steht«, erwiderte ich.

»Na ja, schon. Aber ich möchte nicht, daß sie die ganze Zeit herumläuft und sagt, wir hätten sie aufstellen sollen.«

»Bringen Sie ihn ins Parlament«, sagte ich. »Stellen Sie ihn an den Startblock, dann wird er mit Orinda und allem anderen schon fertig.«

»Wie alt sind Sie noch mal?«

»Ende nächster Woche werde ich achtzehn. Und Sie, liebe Polly, haben selbst gesagt, daß ich Gedanken lesen kann.«

Sie fragte etwas bestürzt: »Können Sie etwa meine lesen?«

»Ein bißchen.«

Sie lachte unbehaglich, aber ich las nur Gutes bei ihr.

Bei Leonard Kitchens konnte man das Gegenteil behaupten. Mir war aufgefallen, daß die Spitzen seines buschigen Schnurrbarts als Wetterfahne fungierten und anzeigten, in welche Richtung seine Gefühle gingen. Ihr entschiedenes Hochstehen an diesem Abend war kämpferisch und wichtigtuerisch zugleich, eine Verbindung, die auf Streitlust deutete. Die korpulente Mrs. Kitchens (in großen rosa Blüten auf dunkelblauem Grund) verfolgte ein Weilchen besorgt die Wege ihres Leonards auf der Versammlung und kam dann schnurstracks zu mir.

»Tun Sie was«, zischte sie mir ins Ohr. »Orinda soll meinen Leonard in Ruhe lassen.«

Mein Eindruck war eher, daß er es war, der Orinda nicht in Ruhe ließ, da sein Schnurrbart dauernd ihren Hals umsummte, aber auf Mrs. Kitchens’ fortgesetztes Drängen ging ich zu ihnen und hörte mir Leonards erhitzte, quengelige Einwendungen an.

»Ich würde alles für dich tun, Orinda, das weißt du, aber jetzt unterstützt du den Feind, und wenn ich sehe, wie der sich an dich ranschmeißt, wird’s mir -«

»Komm schon, Leonard«, sagte Orinda leichthin, ohne die brodelnde Lava hinter dem etwas lächerlichen Äußeren zu bemerken, »die Lage hat sich geändert.«

Zumindest nach außen hin hatte Orinda die Partei definitiv hinter JULIARD geeint; doch als wir am Abend in unserem Zimmer waren, wollte mein Vater buchstäblich kein Wort über sie hören. Im Gegenteil, er legte ganz entschieden den Finger auf die Lippen, zog mich auf den Gang hinaus und schloß die Tür hinter sich.

»Was ist los?« fragte ich verwundert.

»Der Redakteur der Gazette hat mich heute abend gefragt, ob ich meine Wähler für blöd halte.«

»So ein Quatsch. Das ist doch -« Ich verstummte.

»Eben. Denk mal zurück. Als wir im Scherz von blöden Wählern gesprochen haben, waren wir allein hier auf dem Zimmer. Hast du das weitererzählt?«

»Natürlich nicht.«

»Woher hatte es dann die Gazette?«

Ich starrte ihn an und sagte langsam: »Von Usher Rudd.«

Er nickte.

»Hast du mir nicht erzählt, daß dieser Automechaniker - Terry oder wie er hieß - rausgeflogen ist, weil Usher Rudd sein Bettgeflüster mit einem Gerät belauscht hat, das anhand von Schwingungen im Fensterglas Stimmen aufzeichnet?«

»Usher Rudd«, fuhr ich auf, »will nachweisen, daß ich nicht dein Sohn bin.«

»Laß ihn doch, da fällt er auf die Nase.«

»Orinda schleicht er auch nach, von den Bethunes nicht zu reden.«

»Der denkt, wenn er genügend Dreck schleudert, bleibt schon irgendwas hängen. Du darfst ihm keinen Angriffspunkt bieten.«

In den nächsten Tagen stellte sich heraus, daß Orindas Kehrtwende in Hoopwestern selbst am stärksten einschlug, in Quindle schon weniger und in den vielen verstreuten Dörfern mit eige-nem Kirchturm, Telefonhäuschen und ein, zwei Kneipen so gut wie gar nicht. Daheim und in der näheren Umgebung wurde sie begeistert beklatscht, aber den Leuten in beispielsweise Middle Lampfield (637 Einw.) entlockte die Ankündigung ihres Besuchs gerade mal ein höfliches: »Mhm«, bevor sie sich wieder dem heimischen Apfelwein zuwandten.

Im ganzen Wahlkreis wurde mehr Apfelwein als Babynahrung konsumiert, und daß mein Vater den schaumigen Most ausgezeichnet vertrug, brachte ihm Sympathien ein. Jeden Mittag klapperten wir die Kneipen ab (ich fuhr), und immer wieder bekam ich das gleiche Fazit zu hören. »Ein guter Mann, Ihr Vater, der weiß, was bei uns auf dem Land gebraucht wird. Ich glaube, ich wähle ihn. Dieser Bethune, der so hoch gehandelt wird, ist doch ein Stadtrat, und damit können die uns hier den Buckel runterrutschen.«

Mein Vater brachte sie zum Lachen. Er kannte die Heupreise. Sie wären mit ihm zum Südpol gegangen.

Orinda hielt die Dörfer für Zeitverschwendung, und Mervyn ebenso.

»Das Gros der Stimmen sitzt in den Kleinstädten«, dozierten sie. Dennis Nagle war besonders in Geschäftskreisen beliebt gewesen.

»Man wählt den Mann, mit dem man Dart spielt«, sagte mein Vater und verfehlte Doubletop. »Ich zahle mein Glas, sie zahlen ihres. Keiner ist dem anderen verpflichtet.«

Orinda mochte keinen Apfelwein, und sie hielt nichts von Kneipen. Lavender mochte überraschenderweise beides; also grasten mein Vater, Lavender und ich mehrere Tage lang die Gegend mit dem silber- und goldverzierten Range Rover ab und bekehrten, wie mein Vater sagte, möglichst jeden erreichbaren Wähler.

In der Woche darauf war es Orinda, die beinah ihr Leben ließ.

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