Kapitel 9

Mein Vater ging also nach Westminster und ich nach Exeter, und die ereignisreichen, intensiv erlebten Wochen, die wir damit verbracht hatten, uns kennenzulernen, lebten als Erinnerung fort.

Es kam vor, daß wir uns wochenlang nicht sahen, aber wir telefonierten oft miteinander. Das Parlament war noch in der Sommerpause. Er würde ebenso neu einsteigen wie ich, wenn das Semester anfing.

In der Zwischenzeit ritt ich allmorgendlich Sarah’s Future unter Stallworthys kritischem Blick, und er schien mit mir nicht so unzufrieden zu sein wie Vivian Durridge, denn als ich ihn fragte, ob er den Fuchs mit mir für ein Rennen nennen würde, egal was für eins, meldete er ihn prompt für ein unauffälliges Sieglo-senrennen an einem Donnerstag in Wincanton und meinte nur, ich sei die Groschen hoffentlich auch wert, die mein Vater für Transport und Hufbeschlag, ganz zu schweigen vom Nenngeld, hinlegen müsse.

So ließ ich mich halb froh und halb schuldbewußt von Jim nach Wincanton fahren, und Jim, der nach der Starterangabe vor Ort das Pferd sattelte, konnte dessen Sieg ebensowenig fassen wie ich, als ich als Erster durchs Ziel ging.

»Der ist geflogen!« sagte ich begeistert und verblüfft beim Lösen der Gurte im Absattelring. »Er war großartig.«

»Ich hab’s gesehen.«

Jims verhaltene Reaktion fand ihre Erklärung darin, daß er nicht den Mut gehabt hatte, eine Wette anzulegen. Auch Stallworthy war nicht übermäßig erfreut. Er sagte am nächsten Morgen lediglich: »Du hast den besten Sieg des Pferdes verschenkt.

Wie kann man nur! Ich hätte ja nicht im Traum gedacht, daß du in Front gehst, wenn der Favorit stürzt, sonst hätte ich dir gesagt, halt den Fuchs schön kurz, dann machen wir das nächste Mal eine Stallwette. Möchte nicht wissen, was dein Vater dazu sagt.«

»Gratuliere«, sagte mein Vater.

»Aber keiner hat auf ihn gesetzt ...«

»Hör nicht auf Stallworthy. Hör auf mich. Du hast das Pferd, damit du was daraus machst. Damit du gewinnst, sooft du kannst. Und gewettet hab ich’s auch. Ich habe mit einem Buchmacher vereinbart, daß ich bei jedem Rennen, an dem du teilnimmst, egal wann, egal wo, zum Startkurs auf dich setze. Gestern habe ich 210 zu 10 auf dich gewonnen ... ich lerne sogar schon den Rennsportjargon. Versuch immer zu siegen. Verstanden?«

»Ja«, sagte ich schwach.

»Und es stört mich nicht, wenn du verlierst, weil ein anderes Pferd schneller ist. Halt dich nur an die Regeln und brich dir nicht den Hals.«

»Okay.«

»Ist sonst noch was?«

»Ehm .«

»Wenn du Angst hast, es mir zu sagen, kommen wir nicht weiter.«

»Angst habe ich nicht direkt.«

»Also?«

»Tja ... könntest du Stallworthy anrufen? Könntest du ihm sagen, er soll dein Pferd im Sieglosenrennen in Newton Abbot morgen in acht Tagen laufen lassen? Genannt hat er’s, aber jetzt will er wahrscheinlich nicht mehr. Er wird sagen, es sei zu früh. Das Pferd müsse fünf Pfund Aufgewicht tragen, weil ich gestern mit ihm gesiegt habe.«

»Stimmt das denn?«

»Ja, aber so viele Rennen, die für mich in Frage kommen, gibt’s nicht mehr, bis das Semester anfängt. Stallworthy will gewinnen, aber ich will einfach Rennen reiten.«

»Ja, ich weiß.« Er schwieg. »Newton Abbot geht klar. Sonst noch was?«

»Nur ... vielen Dank.«

Sein Lachen klang durch die Leitung. »Grüß Sarah’s Future von mir.«

Ich kam mir etwas albern vor, als ich dem Fuchs die Grüße bestellte, obwohl ich mir sogar angewöhnt hatte, mit ihm zu reden - wenn wir allein waren, manchmal laut, sonst meist in Gedanken. Trotz meiner Reiterfahrung war er das erste Pferd, mit dem ich kontinuierlich Tag für Tag zu tun hatte. Er war für meine Körpergröße und meinen Leistungsstand wie gemacht. Wenn ich morgens zum täglichen Arbeitsgalopp erschien, atmete er förmlich auf. Wir hatten das Rennen in Wincanton gewonnen, weil wir einander kannten und vertrauten und weil er, als ich ihn zum Schlußspurt aufforderte, gewußt hatte, was not tat, und über den ersten Platz schien er sich mindestens ebenso gefreut zu haben wie ich.

Jim verzieh uns den Erfolg und befaßte sich mit uns. Er hatte einen natürlichen Zugang zu Pferden, und wie sich bald herausstellte, lag die eigentliche Trainingsarbeit vorwiegend bei ihm. Stallworthy sah zwar meistens bei der Morgenarbeit zu, gewann seine Rennen aber mit Papier und Stift, indem er Zeiten, Gewichte und statistische Wahrscheinlichkeiten durchrechnete.

In der Mitte der langen Grasbahn waren zwei Reihen Trainingssprünge angelegt, eine mit drei Hürden, eine mit festen Hindernissen. Stundenlang leitete Jim den Fuchs und mich im schnellen und genauen Überspringen der Hindernisse an, indem er uns immer weiter vor dem eigentlichen Sprung mit dem Anreiten beginnen ließ.

Bis dahin hatte ich mir meinen Reitstil bei anderen Leuten abgesehen. Bei Jim lernte ich quasi von innen heraus zu reiten, so daß ich nach einem Monat mit Sarah’s Future langsam anfing, mich von einem ungestümen Zappler mit nichts als Flausen im Kopf in einen halbwegs kompetenten Amateurrennreiter zu verwandeln.

Nicht ohne ausgiebig darüber zu donnerwettern, daß Besitzer, die von Pferderennen keine Ahnung hatten, gut daran täten, alle Entscheidungen ihren Trainern zu überlassen, schickte Stallworthy den mit fünf Pfund Aufgewicht belasteten Fuchs nach Newton Abbot.

Auf der Bahn war ich noch nie geritten, und bei ihrem Anblick dachte ich zunächst, ich hätte besser auf Stallworthy hören sollen. Es war eine zweitausendvierhundert Meter lange, für Jagdrennen umfunktionierte Flachbahn mit scharfen Kurven, und das kurze Gras bot kaum Halt auf dem von der Augustsonne steinhart gebrannten Boden.

Stallworthy, der noch mehrere andere Pferde dort laufen ließ, war mit kritischem Auge präsent. Jim sagte mir beim Aufsatteln von Sarah’s Future, der Fuchs kenne die Bahn besser als ich (der sie ein paar Stunden zuvor abgegangen war, um die Sprünge und die Anreitwege aus der Nähe zu studieren); ich solle mich an das halten, was er mir zu Hause beigebracht habe und wegen des Aufgewichts nicht zuviel erwarten, zumal dies kein Amateurrennen sei und alle anderen im Feld Profis.

Wie immer war es das Tempo, das mich lockte und mir Erfüllung gab, und damit, daß wir Dritter wurden, hatte sich der Tag für mich schon gelohnt, wenngleich Stallworthy, der zufällig auch den Sieger trainiert hatte, mir wiederholt vorhielt: »Hab ich dir doch gesagt. Hab ich deinem Vater doch gesagt, da kommt nichts bei raus. Vielleicht hört er ja nächstes Mal auf mich.«

»Laß nur«, tröstete mich Jim. »Hätte der Fuchs heute gesiegt, bekäme er nächsten Samstag in Exeter zehn Pfund draufgepackt, immer vorausgesetzt, du bringst den Alten jetzt noch dazu, daß er ihn da laufen läßt. Er hält das bestimmt für zu früh, was es wahrscheinlich auch ist.«

Der Alte (Stallworthy) lieferte sich am Telefon ein Wortgefecht mit meinem Vater.

Mein Vater gewann.

Ebenso gewann mit fabelhaften sechs Längen Sarah’s Future, weil der viel längere Kurs auf dem Haidon-Moor oberhalb Exeter ihm entgegenkam. Er trug fünf, nicht zehn Pfund Aufgewicht und nahm sie leicht. Der Wettgewinn, versicherte Vater mir nachher, würde seine Trainingskosten bis Weihnachten decken.

Zwei Tage danach, zurück aus den Wolken, fing ich an, Mathematik zu lernen.

Mein Vater lernte Hinterbänklertaktiken, aber dafür hatte die Partei ihn nicht nach Hoopwestern geschickt. Er setzte mir auseinander, daß der Weg nach oben über die »Einpeitscher« in der Fraktion führe. Für mich klang das nach Dressur, aber darüber lachte er.

»Die Einpeitscher entscheiden, ob man für ein Ministeramt taugt.«

»Und sie stehen hinter dir?«

»Tja ... bis jetzt schon.«

»Was für ein Minister?« fragte ich ungläubig. »Dafür bist du doch wohl zu jung.«

»Die ganz Flotten sind mit zweiundzwanzig auf dem Weg dahin. Mit achtunddreißig bin ich alt.«

»Politik gefällt mir nicht.«

»Ich kann keine Rennen reiten«, meinte er.

Wen die Fraktion fallenlasse, erklärte er, dessen politische Laufbahn sei praktisch beendet. Nach dem ersten großen Schritt, dem Wahlsieg, bestehe der zweite darin, die Fraktion für sich zu gewinnen. Als der frisch gewählte Abgeordnete für Hoopwe-stern kurz darauf zum Unterstaatssekretär im Handels- und Industrieministerium ernannt wurde, galt das offenbar als Signal für das ganze Regierungsgefüge, daß ein neuer, heller Stern am Himmel aufgegangen war.

Ich hörte mir, unauffällig im Publikum sitzend, seine Antrittsrede an. Er sprach von Glühlampen und brachte das ganze Haus zum Lachen, und Hoopwesterns Anteil am Beleuchtungsmarkt schoß in die Höhe.

Ich ging im Anschluß an die Rede, als er im Bewußtsein seines Erfolgs wieder die Welt hätte umarmen können, mit ihm essen.

»Warst du eigentlich noch mal in Hoopwestern?« fragte er.

»Nein.«

»Ich natürlich schon. Leonard Kitchens steckt in Schwierigkeiten.«

»Wer?«

»Leonard .«

»Ach ja. Der unbändige Schnäuzer. In was für Schwierigkeiten?«

»Die Polizei hat jetzt möglicherweise das Gewehr gefunden, mit dem damals auf uns geschossen worden ist.«

»Die Polizei?« fragte ich, als er schwieg. »Meinst du damit den Polizisten Joe, dessen Mutter den Schulbus fährt?«

»Joe, der Sohn der Schulbusfahrerin, ist de facto Kriminalkommissar Joe Duke, und der ist jetzt im Besitz eines stark angerosteten 22er Gewehrs aus dem Schlafenden Drachen. Anscheinend waren die Dachrinnen des Hotels wieder mal von Laub verstopft, so daß das Regenwasser, statt durch die Fallrohre abzulaufen, übergeschwappt ist, und der Mann, der raufstieg, um die Dachrinne zu säubern, hat nicht nur Laub, sondern eben auch das Gewehr darin entdeckt.«

»Aber was hat das mit Leonard Kitchens zu tun?«

Mein Vater aß Pfeffersteak, nicht durchgebraten, mit Spinat.

»Leonard Kitchens ist der Gärtner, der im Schlafenden Drachen die Geranien an den Fenstern pflegt.«

»Aber -«, wandte ich ein.

»Anscheinend hat er in einem Besenschrank auf der Etage ein Wägelchen mit Sachen stehen, die er dafür braucht. Blumenschere, Gießkanne mit langem Ausguß, Dünger. Es heißt, er könnte das Gewehr in dem Wägelchen versteckt haben. Wenn man einen Stuhl ans Fenster stellt, kann man von da aus ein Gewehr in die Dachrinne legen. Und irgend jemand hat eins hineingelegt.«

Ich sah finster auf mein Essen.

»Du weißt ja, wie die Leute sind«, meinte mein Vater. »Jemand sagt, Leonard Kitchens hätte wohl Gelegenheit gehabt, das Gewehr in der Rinne zu verstecken, er geht ja im Hotel ein und aus, und der nächste läßt die Gelegenheit weg und stellt es als Tatsache hin.«

»Was sagt denn Leonard Kitchens selbst dazu?«

»Natürlich, daß ihm das Gewehr nicht gehört und daß er es nicht in die Dachrinne gelegt hat - und daß ihm niemand etwas anderes beweisen kann.«

»Das sagen die, die es waren, immer«, bemerkte ich.

»Ja, aber es gibt wirklich keinen Anhalt dafür, daß er jemals ein Gewehr besessen hat. Es hat sich niemand gefunden, der ihn in irgendeiner Weise mit Gewehren in Verbindung bringt.«

»Und was sagt Mrs. Kitchens?«

»Leonards Frau tut ihm überhaupt keinen Gefallen. Sie erzählt herum, er sei so vernarrt in Orinda, daß er es auch fertigbrächte, mich hinterrücks abzuknallen, damit der Weg für Orinda frei wird. Joe Duke hat sie gefragt, ob sie je ein Gewehr bei ihrem Mann gesehen habe, und anstatt nein zu sagen wie jeder vernünftige Mensch, sagte sie, er hätte ein Gartenhäuschen voller Gerümpel, da könnte alles mögliche herumliegen.«

»Hat Joe das Gartenhäuschen durchsucht? Ich meine, hat er nachgesehen, ob Leonard vielleicht Munition besitzt?«

»Joe hat keinen Durchsuchungsbefehl bekommen, weil kein begründeter Verdacht bestand. Außerdem wirst du wissen, daß man High-Speed-Munition ohne weiteres kaufen und noch leichter verschwinden lassen kann. Es läßt sich auch nicht mehr nachweisen, ob der Schuß wirklich aus diesem Gewehr kam; selbst wenn man den Lauf wieder rostfrei bekäme, müßte man noch eine Kugel haben, und die aus dem Wandgestell ist bei dem Brand endgültig verlorengegangen. Im Hotel wurden auch keine Patronenhülsen gefunden.«

Vater widmete sich wieder dem Steak. Als er Messer und Gabel weglegte, sagte er: »Ich habe den Range Rover zu Basil Rudd in die Werkstatt gebracht und zur genauen Untersuchung der Ölzufuhr den Motor auseinandernehmen lassen. In der Wanne war nichts als Öl. An sich war es völlig unmöglich von diesem Mechaniker - Terry oder wie er hieß -, den Pfropfen einfach in die Wanne durchzustoßen, aber Basil Rudd läßt nichts auf ihn kommen, und letztlich ist ja auch nichts passiert.«

»Aber es hätte was passieren können«, sagte ich. Ich überlegte einen Moment. »Kerzenbesitz wird Leonard Kitchens wohl nicht vorgeworfen?«

»Du wirst lachen«, sagte Vater, »aber in seinem Gartenzentrum gibt es neben Plastikzwergen und dergleichen auch Tischschmuck mit Kerzen, bunten Schleifen und so weiter.«

»Kerzen kriegt man überall«, sagte ich. »Und der Brand? Hat den auch Leonard Kitchens gelegt?«

»Er war da«, erinnerte mich mein Vater, und mir fiel ein, daß Mrs. Kitchens gesagt hatte, ihr Leonard sei für ein schönes Feuer immer zu haben.

»Hat die Feuerwehr eigentlich die Brandursache geklärt?«

Vater schüttelte den Kopf. »Damals nicht. Jetzt heißt es inoffiziell, durch Kerzen könne der Brand nicht ausgelöst worden sein. Leonard Kitchens bestreitet heftig, etwas damit zu tun zu haben.«

»Und was glaubst du?«

Mein Vater trank einen Schluck Wein. Er hätte mich gern auf den Geschmack von Burgunder gebracht, aber zu seinem Leidwesen trank ich immer noch lieber Diätcola.

»Ich halte Leonard Kitchens für so verbohrt«, sagte er, »daß ihm fast alles zuzutrauen ist. Man kann ihn zwar leicht als dummen Esel abtun mit seinem überdimensionalen Schnurrbart, aber an den Besessenen krankt die Welt, und wenn er wirklich noch einen Groll gegen mich hegt, möchte ich ihn lieber im Auge behalten.«

Ich gab mir Mühe mit dem Wein, fand aber wirklich nichts daran.

»Jetzt, wo du gewählt bist, hat es doch keinen Zweck mehr, dich in Unfälle zu verwickeln.«

Vater seufzte. »Bei Leuten wie Kitchens kann man nicht sicher sein, daß sie der Vernunft gehorchen.«

Ich übernachtete in seiner Wohnung an der Canary Wharf. Die großen Fenster blickten auf die breite Wasserfläche der Themse, über der hier einst Verladekräne aufragten, doch selbst mein Vater kannte »die Docks« nur noch als ein politisches Druckmittel früherer Zeiten. Von seinem alten Büro (er hatte seine Anlageberatung von zu Hause aus geführt) zu seinem neuen in Whitehall waren es dreieinhalb Kilometer Fußweg entlang dem Embankment, ein Marsch, mit dem er sich offensichtlich gut in Form hielt. Er strotzte vor Kraft und Energie. Obwohl er mein Vater war, fühlte ich mich von seiner Vitalität angesteckt und überwältigt zugleich.

Irgendwie liebte ich ihn schon sehr.

Ich fühlte mich völlig außerstande, an seine innere Kraft und seine Entschlossenheit jemals heranzureichen. Es dauerte Jahre, bis ich dahinterkam, daß ich das nicht brauchte.

Am Morgen nach seiner Antrittsrede nahm ich den Frühzug von Paddington nach Exeter und rauschte vom Ruhm, in dem ich mich eben noch gesonnt hatte, schnurstracks in die Anonymität.

In Exeter schlug ich mich als einer von achttausend dort wohnenden Studenten durch, ohne groß Aufmerksamkeit zu erregen, und vertiefte mich in Kalküle, lineare Algebra, Versicherungsstatistik und Wahrscheinlichkeitstheorie für ein Diplom in Mathematik und Betriebswirtschaft; und da ein kurzer Sprachkurs im Studium mit inbegriffen war, konnte ich meinen auf piste und ecurie (Bahn und Stall) beschränkten FranzösischWortschatz ein wenig ausbauen.

Sooft es ging, fuhr ich mit dem Rad zu Stallworthy, um Sarah’s Future zu reiten, und samstags führte ich ihn manchmal in die Startmaschine. Nach den Anfangserfolgen als Siegloser wurde es schwierig, Rennen zu finden, die ein beständiger, aber nicht herausragender Springer gewinnen konnte, doch ich war auch mit einem Ergebnis unter »ferner liefen« zufrieden: vierter, fünfter, sechster Platz, ein harmloser Sturz und niemals abgeschlagen.

An einem sehr kalten Samstag im Dezember, gegen Ende meines ersten Quartals, stand ich in Taunton auf der Tribüne und sah zu, wie ein Pferd von Stallworthy als Erster die letzte Hürde anging, daran hängenblieb, in einem Wirbel dreschender Beine stürzte und sich das Genick brach.

Die Unglücksstelle wurde abgeschirmt, das Tier mit einem Kran entfernt, und keine zehn Minuten später stieß ich auf Stallworthy, wie er versuchte, die Besitzerin zu trösten. Frauen, die weinten, waren nicht seine Spezialität. Hol mir Jim, sagte er, kam aber gleich wieder davon ab, vertraute die Weinende kurzerhand mir an und bat mich, mit ihr etwas trinken zu gehen.

Viele Trainer wurden blaß und schwach, wenn ihnen Pferde starben. Stallworthy zuckte die Achseln und strich eine Seite durch.

Mrs. Courtney Young, die betroffene Besitzerin, trocknete ihre Tränen und entschuldigte sich dafür, während ein doppelter Gin seine Wirkung tat.

»Das ist doch verständlich«, versicherte ich ihr. »Hätte ich mein Pferd verloren, wäre ich am Boden zerstört.«

»Aber Sie sind noch so jung. Sie kämen darüber weg.«

»Das kommen Sie sicher auch, mit der Zeit.«

»Sie verstehen nicht.« Wieder flossen die Tränen. »Ich habe die Versicherung für das Pferd verfallen lassen, weil ich die Prämie nicht aufbringen konnte, und Mr. Stallworthy schulde ich noch einen Haufen Trainingsgebühren; ich war sicher, daß mein Pferd heute gewinnt und ich meine Schulden begleichen kann - ich habe bei einem Buchmacher, bei dem ich ein Konto habe, darauf gewettet, und wovon soll ich den jetzt bezahlen? Ich hätte mein Pferd sowieso verkaufen müssen, wenn es verloren hätte, und jetzt geht das noch nicht mal .«

Arme Mrs. Courtney Young.

»Sie ist verrückt«, meinte Jim später zu mir, als er Sarah’s Future sattelte. »Sie wettet zuviel.«

»Was macht sie denn jetzt?«

»Was sie jetzt macht?« rief er aus. »Sie wird noch ein paar Erbstücke verkaufen. Sich ein neues Pferd zulegen. Bis sie eines Tages alles verliert.«

Ich grämte mich nur kurz um Mrs. Courtney Young, aber am selben Abend rief ich meinen Vater an und empfahl ihm, Sarah’s Future zu versichern.

»Wie lief es heute?« fragte er. »Ich habe die Rennergebnisse gehört, und du warst nicht unter den ersten drei.«

»Vierter. Was ist mit der Versicherung?«

»Wer versichert denn Pferde?«

»Weatherbys.«

»Und du bist dafür?«

»Deinetwegen«, sagte ich.

»Dann schick mir den Papierkram.«

Weatherbys, das Unternehmen, das Versicherungen für Pferde abschloß, war die für den gesamten Galopprennsport zuständige Verwaltungsbehörde. Weatherbys führte ein Archiv, erfaßte die Namen der Pferde und Angaben über die Besitzer, bis hin zu den Rennfarben; an Weatherbys schickten die Trainer ihre Nennungen für die Rennen; Weatherbys gab jeweils die Starterbestätigung und informierte die Presse über Rennausschreibungen, Weatherbys druckte über Nacht farbige Rennprogramme und lieferte sie morgens an die Rennbahnen aus.

Weatherbys veröffentlichte die Renntermine, führte das Gestütbuch für die Vollblutzucht und überwies als zentrale Verrechnungsstelle das Reitgeld an die Jockeys, Geldpreise an die Besitzer, alles an jeden. Weatherbys verfügte über eine sichere Datenbank.

Eigentlich ging im Rennsport nur wenig ohne Weatherbys.

Wegen der verrückten, verheulten, dummen Mrs. Courtney Young kam ich auf die Idee, mich eines fernen Tages vielleicht bei Weatherbys um eine Stelle zu bewerben.

Im Frühling meines dritten Jahrs in Exeter kam Vater mich (wie schon einige Male vorher) besuchen, und zu meiner Überraschung brachte er Polly mit.

Ich hatte in den Weihnachtsferien jeweils eine Woche mit Skilaufen verbracht (gut für mein Französisch!), und ich ritt in jeder freien Minute, aber da ich auch studierte und wenn nicht mit Auszeichnung, so doch mit annehmbaren Noten durch alle Klausuren und Prüfungen kam, konnte ich ihm ruhigen Gewissens gegenübertreten und ihm (so weit waren wir inzwischen doch) mit unkomplizierter Freude die Hand geben.

»Weißt du eigentlich«, sagte mein Vater, »daß jetzt bald Parlamentswahlen sind?«

Mein erster Gedanke war: »O Gott, nein!« Ich sprach das zwar nicht aus, aber es stand offensichtlich in meinem Gesicht zu lesen.

Die liebe Polly lachte, und Vater sagte: »Diesmal sollst du nicht mit auf Stimmenfang gehen.«

»Du brauchst doch einen Leibwächter.«

»Ich habe einen Profi engagiert.«

Sofort war ich eifersüchtig - absurd. Erst nach gut zehn Sekunden brachte ich es fertig zu sagen: »Hoffentlich schützt er dich auch.«

»Es ist eine Sie. Alle möglichen Kampfsportgürtel.«

»Mhm.« Ich warf einen Blick auf Polly, aber ihr war nichts als Güte anzusehen.

»Polly und ich«, sagte mein Vater, »tragen uns mit der Absicht zu heiraten. Wir wollten hören, ob du was dagegen hast.«

»Ich habe überhaupt nichts dagegen«, sagte ich. »Im Gegenteil.«

Ich küßte sie auf die Wange.

»Du meine Güte«, staunte sie. »Du bist ja noch mehr gewachsen.«

»Wirklich?« fragte Vater interessiert. »Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Der letzte Schub«, seufzte ich. »Ich bin drei Zentimeter größer und acht Kilo schwerer als in Hoopwestern.« Zu kräftig, hätte ich hinzufügen können, um es als Jockey weit zu bringen, aber beste Voraussetzungen für einen Amateurrennreiter.

Polly selbst hatte sich nicht verändert, wenn ich auch mit Interesse sah, daß sie statt des knallroten Lippenstifts jetzt einen scharlachroten trug, der ihr genauso schlecht stand. Ihre Kleider waren immer noch unter Flohmarktniveau, und ihre Haare hatten schon länger keine Schere mehr gesehen. Mit ihrem länglichen Gesicht und der hageren, sehnigen Gestalt paßte sie äußerlich gar nicht zu meinem immer kräftiger werdenden Vater, aber sie strahlte die gleiche große Güte aus wie immer und eine Herzlichkeit, in der mir jetzt ein Anflug von Belustigung zu liegen schien. Sie hatte nie etwas Linkisches oder Befangenes an sich gehabt, sondern war einfach stark und intelligent genug, kompromißlos sie selbst zu sein.

Mehr als eine Hochzeit verwandter Geister, dachte ich. Eine hochmoralische Verbindung.

»Gratuliere«, sagte ich zu meinem Vater und meinte es auch so, und er freute sich.

»Was machst du nächsten Samstag?« fragte er.

»Da reite ich in Chepstow.«

Er schüttelte den Kopf. »Da möchte ich dich an meiner Seite haben.«

»Heißt das ...«, ich zögerte, »ihr heiratet ... nächsten Samstag?«

»Genau«, stimmte er zu. »Nachdem wir uns dazu durchgerungen haben und du ja einverstanden bist, brauchen wir nicht mehr zu warten. Ich werde zu Polly in das Haus im Wald ziehen und uns auch in London noch eine größere Wohnung suchen.«

Polly, so erfuhr ich nach und nach an diesem Nachmittag, hatte das Haus im Wald von ihren Eltern geerbt, zusammen mit einem Vermögen, das es ihr erlaubte, ehrenamtlich tätig zu werden, wo immer sie es für nötig hielt.

Sie war zwei Jahre älter als mein Vater. Keine Eheerfahrung; der Schalk in ihren Augen verbat sich die damit zugleich auch schon beantwortete intimere Frage.

Sie habe nicht die Absicht, sagte sie, Orinda Nagle zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Orinda und Mervyn Teck hatten sich Tag für Tag mit großem Erfolg um den Wahlkreis gekümmert. Polly war nicht scharf darauf, Feiern zu eröffnen oder mit Kameras zu flirten. Sie würde wie gehabt hinter den Kulissen wirken. Und wo es darauf ankam, dachte ich, würde man auf sie hören.

Sechs Tage später heirateten sie und mein Vater ohne jedes Trara. Ich stand neben meinem Vater, der Duke, der Orinda zum Pferderennen gelockt hatte, führte Polly, und alle vier unterschrieben wir die Urkunden.

Die Braut trug Braun mit einer Gold- und Bernsteinkette, die ihr mein Vater geschenkt hatte, und sah edel aus. Ein von mir bestellter Fotograf hielt das Ereignis fest. The Times brachte eine kurze Notiz. Die Hoopwestern Gazette zog später nach. Mr. und Mrs. George Juliard meldeten sich nach einer Woche Paris in Hoopwestern zurück, um die Fabrikarbeiter bei der Stange zu halten.

Ich fand immer noch nichts an Politik und war unerhört froh, daß ich wegen meiner Abschlußprüfungen unmöglich noch einmal als Wahlbegleiter fungieren konnte.

Es gab viele politisch aktive Studenten in Exeter, aber ich hielt mich auch da zurück und lebte mein anderes Ich nur auf Stallworthys Trainingsgelände und diversen Rennbahnen aus. In dem Frühjahr gelang mir kein Sieg, aber es ging mir nur darum, das Tempo zu erleben, und als sei es dem Denkvermögen förderlich, begriff ich Differentialgleichungen zweiter Ordnung um so besser, je öfter ich Rennen ritt.

Die Parlamentswahlen rauschten an mir vorbei wie eine Brandungswelle, und Vater und seine Partei wurden in ihrer Macht bestätigt. Eine dünne, aber ausreichende Mehrheit.

Niemand schoß auf ihn, niemand verstopfte ihm die Ölwanne mit Wachs, niemand zündete Pollys Haus an und niemand gab der Kampfsportexpertin zu tun.

Der Verdacht gegen Leonard Kitchens, geschossen und ge-zündelt zu haben, hielt sich hartnäckig, aber diesmal hätte man ihm nichts vorwerfen können, denn seine nachhaltig verstimmte Frau hatte verlangt, daß er sie auf eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer entführte, und keinen Widerspruch geduldet. Am Wahltag waren sie in Athen.

Die arme Isobel Bethune hatte recht gehabt: Paul war von seiner Partei nicht noch einmal aufgestellt, sondern durch eine würdige Stadträtin ersetzt worden. Das unruhige Auge Paul Bethunes hatte sich, auch wenn das keine Schlagzeilen mehr hergab, erneut ein außereheliches Ziel gesucht, und Isobel, restlos bedient, hatte ihre Ehe und ihre unleidlichen Söhne hinter sich gelassen und war zu ihrer Schwester nach Wales gezogen.

Polly hielt mich mit trockenem Humor auf dem laufenden. Eine Bessere hätte mein Vater nicht heiraten können.

Ich bat ihn aufzupassen, daß im Beisein des enthüllungsfreudigen Usher Rudd keine leicht geschürzten Schönheiten kunstvoll auf seinem Schoß landeten. Ob ich noch nicht wisse, fragte er, daß Usher Rudd wegen frei erfundener Schmutzereien von der Gazette gefeuert worden sei? Gegenwärtig, so fügte er vergnügt hinzu, stelle Usher mit der langen Linse einem untreuen Spitzenmann der Opposition nach.

Als die Regierungspartei sich nach den allgemeinen Wahlen neu formierte, wurden die Posten umverteilt. Niemand in Westminster wunderte sich, daß mein Vater einen Riesenkarrieresprung nach oben tat und Staatsminister im Verkehrsministerium wurde, nur eine Stufe unterm Kabinettsminister.

Ich ließ das beste Foto von seiner Hochzeit mit Polly rahmen und stellte es neben das von ihm und meiner Mutter. Nachdenklich las ich die Versprechen, die er und ich unterschrieben hatten, noch einmal durch und steckte sie wieder hinter Mutters Bild. Es war, als gehörten sie zu einer anderen Welt. Ich war in Exeter wirklich erwachsen geworden und hatte auch »die erste« gehabt, die ich nie vergessen würde; aber an die grundlegenden Vereinbarungen von damals hatten wir uns bis heute gehalten, und ich war mir sicher, auch wenn es jetzt vielleicht etwas melodramatisch klang, daß ich meinen Vater im Ernstfall wirklich gegen jede Art von Angriff schützen würde.

Ich machte mein Schlußexamen, und als sich abzeichnete, daß ich ein ordentliches Diplom bekommen würde, schrieb ich an Weatherbys und bewarb mich um eine Stelle.

Was für eine Stelle? wollten sie wissen.

Wieder schrieb ich. Ich könne addieren, subtrahieren und mit Computern umgehen, und ich sei Rennen geritten.

Ach, der Juliard. Sie luden mich zum Vorstellungsgespräch.

Sitz des Familienunternehmens Weatherbys, das seit seiner Gründung im Jahre 1770 immer neue, immer effizientere Wege gefunden hat, dem Galopprennsport zu dienen, war ein von Wiesen, Bäumen und friedlicher Landschaft umgebener roter Ziegelbau nahe der kleinen alten Marktstadt Wellingborough, rund hundert Kilometer nordwestlich von London in Northamptonshire.

Auch im Innern des überaus beschäftigten Sekretariats war die Atmosphäre bemerkenswert ruhig und gelassen. Da ich wußte, wieviel Arbeit aus wie vielen Bereichen dort täglich anfiel, hatte ich wohl mit der lärmenden Hektik einer Zeitungsredaktion alten Stils gerechnet, aber es ging beinah still zu, die meisten Leute saßen vor Computerbildschirmen, und wer mit Schriftstücken oder Disketten unterwegs war, lief nicht, sondern ging ohne Hast.

Ich wurde von einer Abteilung zur anderen gereicht, umhergeführt und in einem unverfänglichen Gespräch schließlich nach meinem Alter und meinen Referenzen gefragt. Enttäuscht fuhr ich heim: Sie waren nett und höflich gewesen, hatten aber nicht die zündenden Fragen gestellt, die man von jemand erwartet, der einen Posten zu vergeben hat.

Mutlos verschickte ich von Exeter aus Bewerbungen an verschiedene Firmen. Bei Weatherbys hatte ich mich vertraut gefühlt; schade, daß sie mich nicht als einen der Ihren ansahen.

Immerhin setzten sie sich mit den Leuten, die ich als Referenz angegeben hatte, in Verbindung - meinem Tutor an der Universität und Stallworthy selbst.

Der barsche alte Trainer eröffnete mir, er habe gesagt, mein Charakter und mein Lebenswandel seien zufriedenstellend. Herzlichen Dank, dachte ich bei mir. Jim lachte. »Er will nicht, daß du weggehst und Sarah’s Future mitnimmst. Ein Wunder, daß er dich nicht als Großmaul und Quertreiber hingestellt hat.« Von meinem Tutor kam ein Brief:

Lieber Benedict,

anliegend die Fotokopie des Zeugnisses, das ich an Weatherbys, eine Organisation, die wohl mit Pferderennen zu tun hat, geschickt habe.

Sein Zeugnis im Wortlaut:

Benedict Juliard dürfte ein gutes, wenn auch nicht glänzendes Diplom in Mathematik und Betriebswirtschaft erworben haben. In den drei Jahren an der Universität hat er sich kaum an studentischen Aktivitäten beteiligt, da sein Interesse, wie es scheint, ausschließlich Pferden galt. Über seinen Charakter und sein Verhalten ist nichts Nachteiliges bekannt.

Mist, dachte ich. Nun ja.

Zu meiner großen Überraschung bekam ich auch einen Brief von Sir Vivian Durridge:

Mein lieber Benedict,

mit Freude habe ich gesehen, daß Sie in den vergangenen drei Jahren auf Sarah ’s Future, dem Pferd Ihres Vaters, wiederholt als Amateurrennreiter zum Erfolg gekommen sind. Wie er Ihnen sicher erzählt hat, sollte ich ihm damals helfen, Ihnen klarzumachen, daß Sie nicht dazu geschaffen waren, ein Hindernisjockey der Spitzenklasse zu werden. Inzwischen finde ich, es war unnötig brutal von mir, Ihnen Drogenmißbrauch vorzuwerfen, denn ich wußte genau, daß einer wie Sie damit nichts zu tun hat, doch an dem bewußten Morgen hatte ich - leider - den Eindruck, nur so könnte man Sie dazu bringen, daß Sie alles hinschmeißen und, wie Ihr Vater es wollte, studieren. Jetzt habe ich von einem Freund bei Weatherbys gehört, daß Sie sich dort um eine Anstellung beworben haben. Ich lege die Kopie eines Briefes bei, den ich an Weatherbys geschrieben habe, und hoffe, ich kann damit einiges zwischen uns wieder in Ordnung bringen.

Herzlich, Ihr Vivian Durridge

Die Anlage lautete:

An die Zuständigen:

Benedict Juliard hat als sechzehn- und siebzehnjähriger Amateur meine Pferde geritten. Ich habe ihn in jeder Beziehung als absolut vertrauenswürdig erlebt und würde ihn für jeden Posten, um den er sich bewirbt, uneingeschränkt empfehlen.

Das Blatt Papier in zitternden Händen, setzte ich mich. Vivian Durridge wäre so ungefähr der letzte gewesen, den ich um eine positive Beurteilung gebeten hätte.

Ich war mir noch unschlüssig gewesen, wo ich meine Geburtsurkunde hintun sollte, damit sie nicht verlorenging, wenn

ich mal wieder umzog. Am sichersten dafür schienen mir Vaters Hochzeitsfotos zu sein, denn die würde ich auf keinen Fall wegkommen lassen, und da ich gerade beschlossen hatte, die Geburtsurkunde hinter dem gerahmten Bild von Vater und Polly zu verwahren, als der bemerkenswerte Brief von Vivian Durridge kam, legte ich ihn gleich mit ein.

Drei Tage darauf brachte die Post einen Brief mit dem Firmenemblem von Weatherbys, ein Hengst unter einer Eiche in Miniatur, nach einem Gemälde von George Stubbs.

Ich hatte Angst, ihn zu öffnen. »Wir bedauern ...«, würde es heißen.

Nun, es mußte sein.

Ich riß den Brief auf, und da stand: »Wir freuen uns ...«

Wir freuen uns.

Am selben Abend rief mein Vater an. »Stimmt es, daß du dir eine Stelle bei Weatherbys besorgt hast?«

»Ja. Woher weißt du?«

»Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten?«

»Habe ich nicht dran gedacht.«

»Du bringst mich zur Verzweiflung, Ben.« Er hörte sich aber nicht sonderlich verstimmt an.

Er habe bei einem Geschäftsessen mit jemand vom Weather-by-Clan gesprochen, sagte er. Der Insiderklatsch in London übertreffe das Internet bei weitem.

Ich fragte ihn, ob ich Sarah’s Future mitnehmen könnte, wenn ich aus Devon wegzog.

»Such dir einen Trainer.«

»Danke.«

Spencer Stallworthy maulte. Jim zuckte die Achseln: das Leben war immer im Fluß. Ich verabschiedete mich dankbar von ihnen und gab meinem Fuchs ein neues Zuhause.

Weatherbys brachte mich in der technischen Abteilung unter, die für Nennungen, Starter, Gewichte, Reiter und Startnummern zuständig war - für sämtliche Details jedes einzelnen Rennens in Großbritannien, so daß an den meisten Tagen rund tausend Transaktionen zusammenkamen, mitunter auch bis zu dreitausend.

Abgewickelt wurde das alles mit elektronischer Geschwindigkeit in luftigen, offenen Räumen und in der gelassenen Stille, die mich bei meinem ersten Besuch so beeindruckt hatte. Gerade erst einundzwanzig geworden, hatte ich befürchtet, altersmäßig vielleicht im Nachteil zu sein, aber die ganze Belegschaft war jung und offensichtlich mit Freude dabei. Nach einem Monat konnte ich mir nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten.

Immer wieder tauchte mein eigener Name auf, nicht nur, wenn ich ein Rennen ritt, sondern auch bei den Kollegen nebenan, die die Besitzerdatei führten.

Man scherzte gern über mich: »He, Juliard, wenn du den Klepper in Fontwell wieder reitest, kriegt er sieben Pfund aufgebrummt«, oder »He, Juliard, in Ludlow hast du das Pferd erdrückt. Iß nicht so viel Pudding!«

Sarah’s Future genoß, soweit ich es beurteilen konnte, die frischeren nördlichen Winde mindestens so sehr wie die milde Luft von Devon. Wie immer begrüßte er mich wild und schnaubte durch die breiten schwarzen Nüstern, wenn ich morgens antanzte, und fand es ganz normal, wenn ich ihm meinen Arm um den Hals legte und ihm ehrlich sagte, er sei ein toller Kerl.

Wer glaubt, daß Mensch und Tier im Bewußtsein wahrhaft eins werden können, macht sich vermutlich etwas vor, aber nach mehreren Jahren gemeinsam erlebter Geschwindigkeit waren der Fuchs und ich uns wahrscheinlich so nahe, wie die Beziehung zwischen verschiedenen Arten es überhaupt zuläßt.

Eines Samstags, ungefähr ein Jahr nach meinem Einstieg bei Weatherbys, traten das Pferd und ich in Towcester zu einem normalen Jagdrennen über 4800 Meter an, wobei die unauffälligen Farben meines Vaters, Gold und Grau, in dem anhaltenden Nieselregen ziemlich untergingen.

Niemand im Publikum schien hinterher genau zu wissen, was passiert war. Von meinem Standpunkt aus hatten wir am Anstieg vor der Zielgeraden präzise zum Sprung über einen großen, offenen Graben angesetzt. Ein anderes Pferd stolperte, krachte in uns hinein und brachte Sarah’s Future völlig aus dem Gleichgewicht. Er war dieses Hindernis in den vergangenen Jahren etliche Male glatt gesprungen; weder er noch ich rechneten mit einem Unglück. Die Füße wurden ihm zur Seite gefegt. Er schlug lang hin und warf mich nach vorn ab. Es war eine dieser knallharten Landungen, bei denen man sofort weiß, daß etwas gebrochen ist, bloß nicht genau, was. Ich hörte es knacken. Ich rollte ab und zog den Kopf ein, um ihn vor den Hufen der noch kommenden Pferde zu schützen. Das restliche Feld der Halbtonner klapperte über mich hinweg, während ich bang und atemlos auf dem glitschigen Gras lag, Halme im Mund, Halme in der Nase, und im unkontrollierbaren Wegrutschen noch die Rennbrille verlor.

Das Kampfgetümmel entfernte sich zum nächsten Sprung hin. Zwei Pferde und zwei Reiter hatten damit nichts mehr zu tun. Das Pferd, das Sarah’s Future gerammt hatte, rappelte sich unsicher auf und trottete wie benommen davon, während sein abgesetzter Reiter sich über mich beugte und sich mit der Frage: »Alles klar, Mann?« nach bestem Wissen entschuldigte.

Ich ließ mich von ihm hochziehen und stellte fest, daß der Bruch irgendwo in meiner Schulter saß.

Sarah’s Future, der ebenfalls wieder auf den Beinen war, versuchte aufzutreten, humpelte aber nur im Kreis. Er konnte das eine Vorderbein nicht belasten. Ein Helfer faßte ihn am Zügel und hielt ihn fest.

In hilfloser Liebe zu dem Pferd ging ich hin und wollte, es wäre nicht wahr, es könnte nicht sein, daß unser enges Miteinander ein so jähes Ende fand.

Wie jeder halbwegs erfahrene Reiter wußte ich, daß nichts mehr zu machen war. Sarah’s Future mußte, wie Sarah selbst, Abschied nehmen von dieser Welt.

Ich weinte. Ich konnte nicht anders. Es sah wie Regen aus. Das Pferd hatte sich das linke Vorderbein gebrochen. Sein Reiter das linke Schlüsselbein.

Das Pferd starb.

Der Reiter blieb am Leben.

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