Nach dem anstrengenden ganztägigen Gastspiel in Quindle hätte ich meinem Vater eine Verschnaufpause gegönnt, aber ich war mir noch nicht darüber im klaren, wieviel Ausdauer angehenden Volksvertretern ab verlangt wird. Statt in Ruhe seine Batterien aufladen zu können, mußte er zu einem weiteren Händeschüttel- und Lächelmarathon, nur diesmal nicht im Lüsterglanz des großen Saals des Schlafenden Drachen, sondern in viel einfacheren, normalerweise der Vorschulerziehung dienenden Räumlichkeiten in einem Außenbezirk von Hoopwestern.
An Korkbretter gepinnte Malversuche von Kindern schmückten die Wände, hauptsächlich Strichmännchen mit dicken Köpfen und abstehenden Zottelhaaren, die an Medusas Schlangenhaupt gemahnten. Einfache Schilder in kindgerechter Druckschrift forderten »Wir laufen nicht, wir gehen« und »Zum Melden heben wir die Hand«.
Von überall stürmten Grundfarben auf das arme Auge ein, und hätte ich mich nicht daran erinnert, wäre es mir kaum möglich erschienen, daß auch meine Erziehung auf dieser Ebene begonnen hatte. Eine andere Welt, weit zurück.
Zum Inventar gehörten mehrere Reihen Klappstühle, wie sie mit der Zeit für mich zum vertrauten Anblick wurden, und eine provisorische Rednertribüne mit einem Mikrophon, das bei jeder Probe und auch beim Ein- und Ausschalten pfiff
Neonröhren verbreiteten ein ungemütliches, grünlichweißes Licht, und es waren zu wenige, um irgend jemandes Stimmung aufzuheitern. Der Vorraum zur Hölle, dachte ich, und tatsächlich konnte man das Publikum, das an dieser ungastlichen Stätte erschienen war, an Fingern und Zehen abzählen, ohne in Verlegenheit zu kommen.
Mervyn Teck empfing uns am Eingang mit einem prüfenden Blick auf die Uhr, aber da ich glücklicherweise meinen Stolz überwunden und aus Angst vor einer ungebührlichen Verspätung den Weg erfragt hatte, waren wir auf die Minute genau zu der auf unseren Handzetteln verkündeten Zeit eingetroffen.
Auf dem Podiumstisch, neben dem launischen Mikrophon, befanden sich ein Hammer für Ordnungsrufe und zwei große, mit Folie überzogene Sandwichplatten.
Zwei oder drei Wahlhelferinnen drängten sich tatendurstig um den Kandidaten, aber zehn Minuten nach Beginn der Veranstaltung hatte sich statt Begeisterung nur Apathie im Saal breitgemacht.
Ich hatte angenommen, mein Vater würde, enttäuscht über die schwache Resonanz, den unliebsamen Auftritt schnellstmöglich hinter sich bringen, doch er scherzte darüber, legte das Mikrophon weg, setzte sich auf den Rand des Podiums und bat die wenigen verstreuten Zuhörer, nach vorn aufzurücken, damit es mehr nach einer richtigen Versammlung aussehe.
Sein Trick funktionierte. Alle kamen nach vorn. Er redete ungezwungen mit ihnen, als seien es lauter Bekannte, und vor meinen Augen verwandelte er das Debakel in eine nützliche PR-Lektion. Bis die Sandwiches ausgepackt und herumgereicht wurden, hörten längst auch die paar Leute, die gekommen waren, um zu stören, friedlich zu.
Mervyn Teck wirkte nachdenklich, aber auch unzufrieden.
»Ist was?« fragte ich ihn.
»Für Orinda wären viel mehr Leute gekommen«, meinte er säuerlich. »Sie hätte ein volles Haus gehabt. Man liebt sie hier; jedes Jahr verteilt sie Preise an die Kinder. Selbstgekaufte.«
»Das tut sie bestimmt auch weiterhin.«
Ich hatte das ohne Ironie gesagt, aber Mervyn Teck warf mir einen mißfälligen Blick zu und ließ mich stehen. Eine der Wahlhelferinnen erklärte mir liebenswürdig, daß die Veranstaltung zeitlich mit einem TV-Straßenfeger zusammengefallen sei; sogar die Kneipen hätten Donnerstag abends darunter zu leiden. Morgen sehe das schon anders aus. Das Rathaus werde brechend voll sein.
»Ehm«, sagte ich, »was ist denn im Rathaus?«
»Sind Sie nicht sein Sohn?«
»Doch, aber ...«
»Und da wissen Sie nicht, daß er morgen abend direkt gegen Paul Bethune antritt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ein Knaller«, freute sie sich. »Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.«
Auch mein Vater gab sich, als ich ihn auf der kurzen Rückfahrt ins Zentrum von Hoopwestern darauf ansprach, frohen Mutes.
»Das«, meinte ich, »bringt auch sicher viel mehr als das mittlere Fiasko von heute abend.«
»Jede Stimme zählt«, berichtigte er mich. »Wenn ich heute abend zwei, drei Stimmen hereingeholt habe, reicht das schon. Man muß die Wechselwähler für sich gewinnen, und die kriegt man nur einzeln.«
»Ich habe Hunger«, sagte ich, als wir an einem hell erleuchteten Schnellrestaurant vorbeikamen, also setzte ich zurück und bestellte Hähnchen mit Banane und Speck, und selbst dort ließ sich mein Vater, vom Frittenkoch erkannt, auf eine politische Plauderei ein.
Früh am nächsten Morgen kaufte ich eine Gazette. Schmuddelsex und Paul Bethune (samt Fotos) nahmen die Seiten vier bis fünf ein, der Großteil der Titelseite aber galt dem Thema:
Schüsse auf Juliard?
Ja (Augenzeugen) und Nein (er war unverletzt). Die Polizei hielt sich zurück (sie hatte keine Waffe gefunden). Schaulustige wie der selbsternannte Schußwaffenexperte sagten aus, Juliard sei eindeutig das Ziel eines Mordanschlags gewesen. Dies sei seine Auffassung, und er habe immer recht.
Die Reporter (einschließlich Usher Rudds) führten übereinstimmend ins Feld, daß die Orinda-Nagle-Fraktion sehr schlecht auf Juliard zu sprechen sei. Der Chefredakteur bezweifelte in seinem Leitartikel, daß politischer Mord auf einer so niedrigen politischen Ebene stattfand. So etwas geschehe nur Weltpolitikern. Auf ungewählte Kandidaten fürs Unterhaus würden keine Anschläge verübt.
Ich ging zu Fuß durchs Städtchen zu der Ringstraße, an der Rudds Reparaturwerkstatt lag, und erreichte sie, als sie gerade geöffnet wurde. Es war eine große Werkstatt mit einem noch größeren abgezäunten Hof, auf dem gewartete und noch zu wartende Autos bereitstanden. Dort im Freien stand auch der Range Rover, auf dessen Metallic-Lack schon die Sonne glänzte.
Ich fragte nach dem Chef und wurde zu ihm geführt. Basil Rudd, dünn, rothaarig, sommersprossig und voller Energie, sah Usher Rudd so ähnlich, daß sie Zwillinge hätten sein können.
»Fragen Sie nicht«, sagte er, auf meine Zeitung schielend. »Er ist mein Cousin. Ich habe nichts mit ihm zu tun, und wenn Sie sich schlagen wollen, sind Sie an den Falschen geraten.«
»Also eigentlich wollte ich nur den Range Rover abholen. Der gehört meinem Vater.«
»So?« Er blinzelte. »Können Sie sich ausweisen?«
Ich zeigte ihm eine von meinem Vater unterschriebene Vollmacht und meinen Führerschein.
»Na gut.« Er nahm zwei Schlüssel an einem Ring mit beschriftetem Anhänger aus einer Schublade und hielt sie mir hin. »Schalten Sie vorher den Alarm aus. Die Rechnung geht an Mr. Juliards Parteizentrale, okay?«
»Ja, danke. War irgendwas dran?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn, dann hat sich das erledigt.« Er sah auf einen aufgespießten Arbeitsbogen. »Ölwechsel. Generalüberholung. Das ist alles.«
»Könnte ich vielleicht mal die Leute sprechen, die das ausgeführt haben?«
»Wozu denn?«
»Ehm ... ich muß meinen Vater chauffieren, und ich kenne den Wagen noch nicht ... Vielleicht hat jemand ein paar Tips, wie ich verhindern kann, daß der Motor überhitzt wird, wenn wir so im Schneckentempo von Haus zu Haus fahren.«
Basil Rudd zuckte die Achseln. »Fragen Sie Terry. Es war sein Job.«
Ich dankte ihm und ging zu Terry, der sich mit drei Worten beschreiben ließ: groß, dick, kahlköpfig. Dazu ein brauner, ölverschmierter Overall.
Auch er sah auf meine Zeitung. Er legte Gift in seine tiefe Dorseter Stimme.
»Kommen Sie mir bloß nicht mit Bobby Rudd.«
Das hatte ich nicht vorgehabt, aber ich sagte: »Warum nicht?«
»Weil der die Leute durchs Schlafzimmerfenster mit vibrationsempfindlichen Horchapparaten belauscht, und ehe man sich’s versieht, steht in der Zeitung zwar nicht, wie man’s getrieben, aber was man im Bett über den Chef und seine Lieblingskundin erzählt hat, die dauernd ihren neuen Wagen in die Werkstatt bringt, damit er ihr unter den Rock fassen kann. Wegen Bobby bin ich rausgeflogen.«
»Sie sind doch noch hier«, meinte ich.
»Na ja, Basil hat mich eingestellt, weil er Bobby, seinen Cousin, nicht riechen kann. Rausgeflogen bin ich in Quindle bei Bobbys Vater, dem versoffenen Onkel von Basil ...« Er unterbrach sich. »Was wollen Sie denn, wenn Sie Bobby Usher Rudd nicht herführt, Junge?«
»Ich, ehm . Sie haben den Range Rover meines Vaters gewartet. Was war da dran?«
»Abgesehen von dem Blümchenkram?« Er kratzte sich den blanken Schädel. »Fremdkörper in der Ölwanne, würde ich mal sagen. Sonst nichts. Ihr Auto ist wie neu.«
»Was für ein Fremdkörper?«
Er sah mich unschlüssig an. »So genau weiß ich das nicht.«
»Hm ... woher wissen Sie denn, daß einer drin war?«
Um das zu beantworten, holte er weit aus, indem er zunächst einmal erzählte, wie er an den Auftrag gekommen war. »Jemand von Ihrem Wahlkampfbüro - Teck oder so ähnlich - rief Basil an, Sie hätten da einen bemalten Range Rover, mit dem vielleicht was nicht stimmt, den sollte sich gleich mal jemand vornehmen, also bin ich hin, hab mir von Teck die Schlüssel geben lassen und den Wagen gestartet, und wie der anspringt, ist astrein.«
Ich sah ihn schweigend an.
»Tja, na ja«, sagte er und kratzte sich wieder die Glatze. »Dieser Teck meinte zu mir, es könnte sein, daß jemand auf Ihren Vater geschossen hat, darum sollte ich nachsehen, ob an dem Range Rover nicht die Bremsen manipuliert waren oder so, und ich habe die ganze Kiste durchgecheckt, aber da war nichts. Keine Bomben oder so was, aber weil Teck trotzdem wollte, daß ich ihn mit hernehme, habe ich ihn hier noch mal inspiziert.«
Er machte eine Kunstpause. Entgegenkommend fragte ich: »Was haben Sie gefunden?«
»Das ist es eben. Ich hab was nicht gefunden.«
»Erklären Sie doch bitte.«
»Keine Schraube an der Wanne.«
»Was?«
»Ölwechsel. Routinesache. Ich fahre den Range Rover über die Grube und will die Schraube an der Ölwanne lösen, um das alte Öl abzulassen, und was sehe ich, die Schraube ist nicht da. Keine Ablaßschraube. Aber der Meßstab zeigt Öl an. Normaler Ölstand. Voll. Also laß ich erst mal den Motor laufen, und der Öldruck ist genau wie auf der Fahrt hierhin normal, das heißt, der Motor bekommt Öl, aber da die Ablaßschraube fehlt, muß man sich fragen, wieso das ganze Öl nicht ausgelaufen ist.«
»Ja, und wieso nicht?«
»Weil das Loch mit etwas anderem verstopft war.«
»Mit einem Lappen?« tippte ich an. »Papiertaschentüchern?«
»Eher nicht. Mit etwas Festerem. Jedenfalls habe ich einen Draht eingeführt und die Öffnung freigemacht, und das Öl ist rausgelaufen wie sonst auch. Kein verschmutztes Öl wohlgemerkt. Der letzte Ölwechsel war noch nicht so lange her.«
»Der Pfropfen, oder was es nun ist, liegt also noch in der Wanne?«
Er zuckte die Achseln. »Nehme ich mal an. Da kann aber nicht viel passieren. Der Ablauf ist kaum größer als ein kleiner Finger.« Er hielt seine ölverschmierte Hand hoch. »Es war also kein dicker Pfropfen.«
»Mhm.« Ich zögerte. »Haben Sie Basil Rudd darauf hingewiesen?«
Er schüttelte sein großes Haupt. »Der hatte schon Feierabend, als ich mit den Arbeitsberichten ins Büro kam, und so wild fand ich das auch nicht. Ich habe eine passende neue Schraube reingedreht und fertig. Dann habe ich wie üblich sauberes Öl nachgefüllt und den Range Rover raus auf den Hof gefahren, wo er jetzt steht. Der ist tipptopp. Da kriegen Sie keinen Ärger mit.«
»Ich hole ihn gleich«, sagte ich. »Muß nur noch mal ins Büro wegen der Rechnung.«
Ich kehrte ins Büro zurück, bat Basil Rudd, meinen Vater im Ort anrufen zu dürfen, und bekam mit einer einladenden Geste den Hörer hingehalten.
»Frag doch bitte mal die Leute, die zuletzt deinen Range Rover gewartet haben, ob an der Ölwanne eine normale Ablaßschraube war«, sagte ich zu meinem Vater. Ich erzählte ihm, was Terry entdeckt und wie er das Problem gelöst hatte.
Basil Rudd hob jäh den Blick von einem Formular, das er gerade ausfüllte, und wollte Einwendungen machen, doch ich meinte lächelnd, es handle sich um eine harmlose Nachfrage, und wartete auf die Antwort meines Vaters. Er sagte mir, ich solle bleiben, wo ich war, und rief fünf Minuten später zurück.
»Mein Mechaniker verbittet sich jede Andeutung, daß mit dem Range Rover irgend etwas nicht gestimmt haben könnte. Er hat ihn am Montag komplett durchgecheckt. Also, was ist los?«
»Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich gar nichts.«
»Bring den Wagen her. Wir brauchen ihn heute.«
»Gut«, sagte ich.
Ich gab Basil Rudd den Hörer zurück und dankte ihm für das Gespräch.
»Um was geht es denn eigentlich?« fragte er.
»Wenn ich das nur wüßte«, erwiderte ich. »Ich fahre noch nicht lange Auto. Aber ich bin um die Sicherheit meines Vaters besorgt seit der Sache mit dem Schuß ...«, ich wedelte mit der Zeitung, »und es kann sein, daß ich mich umsonst aufrege. Aber bei der letzten Wartung war eine normale Ablaßschraube an der Ölwanne und gestern nicht mehr.«
Basil Rudd zeigte sich zuerst ungehalten, dann besorgt und ging schließlich mit mir hinaus, um ein Wort mit Terry zu reden.
Terry kratzte sich zur Abwechslung den vom braunen Overall bedeckten Bauch.
»Bitte glauben Sie mir, daß ich hier nicht herummeckern will«, sagte ich. »Ich möchte nur herausfinden, womit die Ölwanne verstopft war, denn wenn es um meinen Vater geht, macht mir offen gestanden alles Angst, was ich mir nicht erklären kann. Was könnte man also statt der Ablaßschraube in die Wanne stecken, und vor allem, wozu?«
Die beiden Mechaniker schwiegen, da sie die Antwort nicht kannten.
»Das Öl war ganz sauber«, sagte Terry.
Wieder Stille.
Basil Rudd sagte: »Wenn man das neue Öl abläßt und den Motor auseinandernimmt, wird sich der Pfropfen finden, den Terry in die Wanne zurückgestoßen hat, aber das wäre kostspielig und meines Erachtens ein ganz unnötiger Aufwand.«
Wieder Stille.
»Ich frage meinen Vater«, sagte ich.
Wir zogen wieder ins Büro, und ich unterrichtete meinen Vater von der möglichen teuren Notlösung, den Motor auseinanderzubauen.
»Laß mal. Aber bleib, wo du bist«, befahl mein Vater. »Bleib in der Werkstatt. Gib mir mal Basil Rudd.«
Ihr Gespräch zog sich ein paar Minuten hin. Basil Rudd vertrat die Ansicht, daß der Junge - ich - wegen nichts die Pferde scheu mache, meinte schließlich aber achselzuckend: »Gut, soll mir recht sein.« Er legte auf und wandte sich an mich: »Ihr Vater schickt jemand wegen des Range Rovers vorbei. Sie sollen so lange hier warten.«
Terry maulte, er habe den Wagen ordentlich inspiziert und niemand könne etwas anderes behaupten. Basil Rudd sagte mit ungnädiger Miene, noch mehr Zeit könne er nicht mit mir vergeuden, er habe Berge von Schreibarbeit zu erledigen. Ich entschuldigte mich zwar nicht direkt, sagte aber, ich würde draußen im Range Rover warten, und ging gemütlich zu dem abgezäunten Bereich hinüber. Ich deaktivierte die Alarmanlage des Wagens und setzte mich hinters Steuer, um mich anhand der Betriebsanleitung mit seiner Mechanik vertraut zu machen.
Nach über einer Stunde erschien am Seitenfenster Basil Rudd in Begleitung eines anderen Mannes, der mir, als ich ausstieg, mit einem ironischen Schmunzeln sagte, er sei gekommen, um das Rätsel der verschwundenen Ablaßschraube zu lösen. Foster Fordham sei sein Name. Er sah mehr wie ein Anwalt als wie ein Mechaniker aus: statt Arbeitskleidung weißes Hemd mit grauen Nadelstreifen, eleganter dunkler Anzug, blanke schwarze Schuhe. Er trug eine hell gefaßte Brille und hatte gutfrisiertes, glattes braunes Haar.
Basil Rudd bat Foster Fordham im Gehen, sich bei ihm im Büro zu melden, wenn er fertig sei, und Fordham, der Rudds entschwindendem Rücken nachschaute, teilte mir scheinbar gelangweilt mit, er erweise meinem Vater hier eine große Gefälligkeit, denn er sei beratender Ingenieur und lege normalerweise nicht selbst Hand an.
Ich wollte ihm die Sache mit dem Gewehrschuß erklären, doch er wandte ein, darüber wisse er genau wie über die fehlende Schraube schon Bescheid.
»Ich arbeite im Motorrennsport«, sagte er. »Mein Fachgebiet ist Sabotage.«
Sicher war mir anzusehen, wie unbedarft ich mir angesichts seiner selbstbewußten Gelassenheit vorkam.
»Soviel ich weiß«, sagte er, »wollten Sie gestern mit dem Wagen von hier nach Quindle fahren. Wie weit ist das?«
»Knapp zwanzig Kilometer.«
»Zweispurige Fahrbahn? Flache, gerade Strecke?«
»Größtenteils einspurig, mit vielen scharfen Kurven, strek-kenweise ansteigend.«
Er nickte. Er gedenke jetzt nach Quindle zu fahren, sagte er, und ich würde ihn begleiten. Verblüfft, aber vertrauensvoll setzte ich mich auf den Beifahrersitz und lauschte dem gesunden Brummen des Motors, als er ihn anließ und vom Autohof auf die Hoopwesterner Umgehungsstraße in Richtung Quindle fuhr. Er konzentrierte sich ganz auf Armaturenbrett und Straße und schwieg, bis wir den höchsten Punkt der langen, starken Steigung auf halbem Weg zu unserem vermeintlichen Ziel erreicht hatten. Dann aber hielt er an, wendete ohne ein Wort der Erklärung und fuhr geradewegs zurück zu Rudds Reparaturwerkstatt.
Wie am Tag zuvor flogen Autos vorbei, schossen förmlich aus blinden Winkeln auf uns zu. Fordham fuhr schneller, als ich es mit Crystals Wagen riskiert hatte, aber wenn er vom Rennsport kam, war das nicht weiter verwunderlich.
In der Werkstatt wies er Terry an, das Motoröl in ein sauberes Behältnis ablaufen zu lassen. Terry sagte, das Öl sei zu heiß. Fordham gab ihm ein wenig Zeit, betonte aber, das Öl müsse noch abgelassen werden, solange es heiß sei.
»Warum denn?« fragte Terry. »Es ist sauber. Ich habe es gestern erst gewechselt.«
Fordham antwortete nicht. Schließlich drehte Terry mit dick behandschuhten Händen die Ablaßschraube auf und fing das heiße Öl wie gewünscht in einem sauberen 20-Liter-Kanister aus Kunststoff auf. Fordham bat ihn zunächst, den Kanister im Kofferraum des Range Rovers zu verstauen, und dann, die Ablaßschraube wieder anzuziehen und frisches, kühles Öl nachzufüllen.
Terry zog zum Zeichen seines Unmuts die Brauen hoch, gehorchte aber. Mr. Fordham, die Ruhe selbst, ließ mich wissen, daß die Untersuchung damit abgeschlossen sei, und schlug vor, wir sollten Basil Rudd adieu sagen und mit dem Range Rover zu meinem Vater fahren. Basil Rudd verlangte natürlich Erklärungen. Fordham sagte ihm ausnehmend höflich, er werde einen schriftlichen Bericht bekommen und es bestehe kein Grund zur Beunruhigung.
Fordham fuhr ohne Eile zu dem Parkplatz in der Innenstadt, und ich folgte ihm brav in die Wahlkampfzentrale, wo mein Vater und Mervyn Teck gerade taktische Fragen erörterten.
Mein Vater stand auf, sowie er uns erblickte, und hinkte mit Fordham hinaus zu dem Range Rover. Durchs Fenster sah ich sie ernst miteinander reden, dann holte Fordham den Ölkanister aus dem Range Rover, lud ihn in den Kofferraum eines in der Nähe stehenden Mercedes, setzte sich hinters Steuer und fuhr davon.
Als mein Vater wieder hereinkam, teilte er Mervyn gutgelaunt mit, daß der Range Rover jetzt startklar sei und wir ohne Bedenken mit ihm durch die Stadt fahren könnten.
Schließlich brachen wir auf. Ich fuhr, schaltete mit der gebotenen Vorsicht und stellte mich auf die Besonderheiten des Allradantriebs ein. Vater saß mit seinem Gehstock neben mir. Mervyn Teck saß mit einem Megaphon bewaffnet im Fond und drückte die dicken Knie zusammen, damit auch noch zwei Wahlhelferinnen hinten Platz fanden, die dünne, bittersüße Lavender und die mütterliche Faith.
Die drei auf der Rückbank waren kampferprobte alte Hasen, und staunend machte ich Bekanntschaft mit dem härtesten Teil des Wahlkampfs, dem Stimmenfang von Haus zu Haus.
Die Wohnblockstraße, bei der wir anfingen, bestand aus einheitlichen Doppelhäusern mit gestutzten Gartenhecken und betonierten Auffahrten zu verschlossenen Garagentoren. An einigen Fenstern zur Straße hin prangten Aufkleber mit der schlichten Losung BETHUNE: Er hatte diese Gegend vor uns beackert.
»Diese Straße ist ein Sammelbecken von Wechselwählern«, meinte Mervyn mit seltener Belustigung. »Mal sehen, ob wir das Ruder noch herumreißen können.«
Er ließ mich anhalten, schnallte sich los, stieg aus und beschwor die unsichtbaren Anwohner durch das nachhallende Megaphon, für Juliard, Juliard, Juliard zu stimmen.
Für mich war es ein merkwürdiges Gefühl, wie die Hauswände ringsum meinen Namen zurückwarfen, aber der Kandidat nahm es beifällig lächelnd zur Kenntnis.
Lavender und Faith stiegen ebenfalls aus, jede mit einer Tüte voll Aufklebern, auf denen, in etwas größerer Schrift als Bethune auf den Bethune-Aufklebern, Juliard stand. Sie begannen auf beiden Straßenseiten an den Haustüren zu klingeln oder zu klopfen, und wenn sich niemand meldete, steckten sie einen Aufkleber in den Briefkasten.
Kam jemand an die Tür, lächelten sie und zeigten auf den Range Rover, worauf mein Vater dann ausstieg und den Fußweg hinaufhinkte, um seine Schau abzuziehen, was ihm offensichtlich bestens gelang. Ich fuhr die Straße im Kriechtempo ab, mein Vater humpelte klaglos weiter, Mervyn schwang sein Megaphon, und Lavender und Faith ließen keinen Handzettel übrig. Die Leute winkten freundlich hinter uns her, und die ersten Juliards erschienen an den Fenstern. Als wir die Straße durchhatten, war ich fast tot vor Langeweile, doch die Überredungskünstlerinnen Lavender und Faith sonnten sich in ihrem Erfolg und betrachteten die Straße als dazugewonnen.
Nach zwei weiteren langen Fahrten durch die Vorstadt (wobei zumindest ein Baby geküßt wurde) gönnten wir uns ein Mittagssandwich in einer Kneipe.
»Wenn dich jemand ins Haus bittet«, sagte mein Vater (den an diesem Vormittag fünf oder sechs Leute hereingebeten hatten), »gehst du ins Wohnzimmer und sagst: >Haben Sie es aber hübsch hier!<, auch wenn du es gräßlich findest.«
Lavender, Faith und Mervyn nickten zustimmend, und ich meinte: »Das ist doch verlogen.«
»Du mußt noch viel lernen.«
Wir saßen am Fenster. Ich schaute hinaus auf den gut sichtbaren Range Rover und dachte bei mir, daß ich an diesem Morgen schon einiges dazugelernt hatte und daß das, was ich hier mitbekam, wahrscheinlich eine Menge Wählerstimmen wert war.
Als sei er meinem Gedankengang gefolgt, sagte mein Vater leichthin: »Wir reden nachher darüber«, doch erst als wir uns für das abendliche Streitgespräch im Rathaus umzogen, kam er auf Foster Fordham zu sprechen.
Bis dahin hatte ich Mervyn schon überredet, den Wagen nachts in einer Mietgarage unterzustellen, nicht ohne die sanfte unterstützung meines Vaters, der beiläufig meinte: »Der Junge hat recht, Mervyn. Damit wäre uns allen gedient. Jedenfalls schadet es nichts, wenn man ihn vor Dieben schützt«, und da der Wagen nicht der Partei, sondern meinem Vater gehörte, bekam er seinen Willen.
»Foster Fordham wußte nicht, wie weit du dich auskennst«, sagte er und fuhr sich mit dem Kamm durch die dichten dunklen Locken, ohne viel an der Frisur zu ändern. »Er war erstaunt, daß du gar nichts gefragt hast.«
»Terry, der Mechaniker, hat gefragt - und keine Antwort bekommen.«
»Was glaubst du denn, was nun eigentlich los war?«
»Hm ... wenn ich oder sonst jemand gestern mit dem Range Rover nach Quindle gefahren wäre, hätten wir wahrscheinlich einen Unfall gebaut. Nehme ich zumindest an.«
Mein Vater ließ den Kamm sinken und sagte ruhig: »Weiter.«
»Ich glaube schon«, sagte ich, »daß die Kugel, die so nah an uns vorbeiging, dir gegolten hat, und selbst wenn du nicht tödlich getroffen, sondern einfach schwer verletzt worden wärst, hätte es das Aus für deinen Wahlfeldzug bedeutet. Aber die ganze Stadt war Zeuge, daß du dir nur den Fuß verrenkt hast. Wenn also jemand nach einer weiteren Gelegenheit gesucht hat, dich auszuschalten, bot sich der Range Rover an, der die ganze Nacht unbewacht auf dem Parkplatz stand und an seiner auffälligen Gold-und Silberbemalung eindeutig als deiner zu erkennen war.«
»Ja.«
»Während der Osterferien, als ich die meisten Fahrstunden nahm, habe ich viele Motorsportzeitungen gelesen.«
»Ich dachte, da hättest du für deine Aufnahmeprüfung an der Uni gebüffelt.«
»Hm ... und für Sir Vivian geritten bin ich damals auch noch. Ich meine, rechnen kann ich im Schlaf. Ich mußte nur zusehen, daß ich alle Prüfungsfragen, die vorher mal aufgetaucht waren, im Kopf hatte. Ich will jetzt wirklich nicht angeben, aber bei mir war einfach noch viel Platz da oben, also hab ich mir die Autozeitschriften reingezogen. Ich wußte nicht, daß du einen Range Rover hast, aber ich kannte die Dinger vom Lesen. Ich wußte auch von der Diebstahlsicherung. Wenn der Wagen also die ganze Nacht ruhig auf dem Parkplatz gestanden hatte und wenn nur du die Schlüssel zum Deaktivieren des Alarms hattest, dann konnte da niemand rein - man hätte sich nur von außen ... oder von unten ... an dem Wagen zu schaffen machen können .« Ich brach ab, weil ich mir albern vorkam, doch er bedeutete mir, weiterzureden.
»Ich dachte, die Bremsflüssigkeit könnte abgelassen worden sein, damit die Bremsen versagen«, erklärte ich. »Oder die Reifen könnten zerstochen worden sein, damit einer platzt, wenn wir schnell fahren. Auf der Strecke nach Quindle kommt alles so aus den Kurven geschossen . wenn man da die Kontrolle verliert, braucht man viel Glück, aber ein Range Rover ist fast wie ein Panzer gebaut - das heißt, dir passiert vielleicht nichts, wenn es zum Unfall kommt, aber die Leute, die du rammst, könnten drauf gehen oder zumindest schwer verletzt werden ... und dann würdest du doch nicht mehr gewählt, oder?«
Mein Vater ließ sich Zeit, bis er sich mir zuwandte und antwortete. »Es waren weder die Bremsen noch die Reifen«, sagte er.
»Es war das Motoröl.«
Er nickte. »Was hältst du davon?«
»Ich glaube«, sagte ich, »Fordham wußte von vornherein Bescheid. Er sagte, er sei Fachmann für Sabotage im Motorsport, und an dem Range Rover hat ihn überhaupt nichts gewundert. Für ihn muß das ein ziemlich klarer Fall gewesen sein.«
»Ich kenne ihn schon lange«, meinte mein Vater lächelnd. »Und was hat er mir nun gesagt?«
Das ist so etwas wie ein Test, dachte ich. Ich konnte nur Vermutungen anstellen, aber jedenfalls sagte ich, was ich vermutete. »Daß jemand die Ablaßschraube entfernt und die Öffnung verstopft hat, damit nicht das ganze Öl rausläuft.«
»Weiter.«
»Der Pfropfen sollte mit Verzögerung herausfallen, damit der Motor im Fahren kein Öl mehr bekommt und sich festfrißt, und da es ein Vierradantrieb ist, hätte sich der Wagen dann nicht mehr steuern lassen und wie ein Felsblock auf der Straße gelegen.«
»Nicht schlecht.«
»Aber Terry - der Mechaniker - hat den Pfropfen einfach durchgestoßen wie man einen Korken in die Flasche drückt, was ich ehrlich gesagt unmöglich finde, und eine neue Schraube eingedreht, bevor er sauberes Öl nachgefüllt hat ... das habe ich dir am Telefon erzählt.«
»Mhm. Und woraus bestand dieser Pfropfen?«
Darüber hatte ich auf der Fahrt durch die Vororte nachgedacht. »Als erstes«, sagte ich zögernd, »dachte ich, es wäre vielleicht etwas Chemisches, das sich mit dem Öl verbindet und es gerinnen läßt oder etwas in der Art, so daß es nicht mehr um die Kolben läuft und die sich festfressen, aber das kann nicht sein, weil der Pfropfen in der Wanne war, als Foster Fordham nach Quindle fuhr und den Motor absichtlich heißlaufen ließ, und
Terry sollte ja dann das Öl ablassen, solange es noch heiß war, deshalb könnte ich mir denken, daß der Pfropfen vielleicht geschmolzen ist und daß Fordham das Öl mitgenommen hat, um nachzusehen, was sich darin findet.«
»Ja«, sagte mein Vater.
»Wenn es nämlich auf der Fahrt nach Quindle gestern in der Wannenöffnung geschmolzen wäre, hätten wir in Minutenschnelle das ganze Öl verloren, und der Motor wäre hin gewesen. Als Terry heute früh das heiße Öl abließ, kam es dünn wie Wasser raus.«
»Fordham sagt, das ist ein alter Trick. So alt, daß ihn im Motorsport keiner mehr bringt.«
»Und ... woraus bestand der Pfropfen?«
»Was glaubst du denn?«
Ich zögerte. »Es muß was ganz Einfaches gewesen sein. Ich meine, ruckzuck improvisiert nach dem Fehlschuß.«
»Also?«
»Vielleicht ist eine Kerze in das Loch gesteckt und abgeschnitten worden. Vielleicht war es Wachs?«
Mein Vater band gelassen seine dezent gestreifte Krawatte. »Foster Fordham wird es uns genau sagen.«
Es war schon erstaunlich, dachte ich, als wir zu dem Streitgespräch mit Bethune ins Rathaus kamen, wie viele Gesichter mir in gerade einmal zwei Tagen vertraut geworden waren.
Orinda, die sich selbstquälerisch wieder die Ehre gab, trug ein goldfarbenes Minikleid mit einer schwarzen Federboa, die sich um ihren Nacken und ihre Arme wand wie die Schlange, nach der sie benannt war, und heischte bewundernde Aufmerksamkeit. Ihre grünen Augen blitzten. Ein Smaragd und ein Diamantarmband glitzerten an ihrem Handgelenk. Ihre glamouröse Erscheinung konnte niemandem entgehen.
Einen Schritt hinter ihr stand wie immer ihr Schatten, der Mann mit dem fast schon wieder vergessenen Namen A. L. Wyvern. A. L., dachte ich, wie Anonymer Liebhaber. Im Smoking im Schlafenden Drachen hatte er nach nichts ausgesehen, und hier im Rathaus, in grauem Anzug und blauem Hemd, stand er ohne jede Ausstrahlung herum.
Die füllige Mrs. Kitchens, in Dunkelblau mit purpurroten Rüschen, wachte adleräugig über »meinen Leonard« und hinderte ihn mit festem Griff, seinen widerwärtigen Schnäuzer in Orindas Nähe zu befördern. Sie winkte fröhlich und warf mir einen zweideutigen Blick zu, von dem ich mich nicht in Verlegenheit bringen ließ.
Mervyn war natürlich auch da und hatte Crystal zum Mitschreiben dabei. Die drei Hexen betätigten sich als Platzanwei-serinnen, und die liebe Polly kam, als sie uns erblickte, freudestrahlend angelaufen und schleifte meinen Vater stolz zu dem erhöhten Lesepult, hinter dem er nachher stehen sollte. Polly war offenbar die Organisatorin des Abends.
Wie mit einem Trompetentusch traf Bethunes Lager ein. Unruhe, ein Raunen und dünner Beifall gingen durch den Saal. Es lebe der Seitensprung, dachte ich.
Paul Bethune war bei Licht besehen ein beleibter und schwerblütig wirkender Mann um die Fünfzig, mit einem Doppelkinn und dem schütteren Haar, das ihn letztlich mehr Stimmen kosten konnte als ein uneheliches Kind. Bei ihm waren ein geschäftiger zweiter Mervyn Teck - wie sich herausstellte, tatsächlich sein Agent - und eine nervöse Frau, die verhuscht von unten herauf in die Welt blickte. Ihr wurde ein Platz in der ersten Reihe zugewiesen, und Polly, die mich energisch herbeiwinkte, stellte sie mir als Isobel, die Frau von Paul Bethune vor.
Isobel schien äußerst unangenehm davon berührt, daß ich nun neben ihr saß, doch ich versicherte ihr mit meinem unverfänglichsten Grinsen, niemand könne sich so fehl am Platz vorkommen wie ich selber.
»Ich bin gerade erst mit der Schule fertig«, sagte ich. »Von Politik habe ich keine Ahnung. Für Sie und Ihren Mann ist das jetzt ja schon der dritte Wahlkampf, habe ich gehört, da wirft Sie das wohl alles nicht so um.«
»Ach je«, sagte sie. »Sie sind ja noch ein Kind. Wie wollen Sie da .«
»Ich bin fast achtzehn.«
Sie lächelte schwach, erstarrte dann plötzlich zu völliger Reglosigkeit, und etwas Schlimmeres als meine Nähe ließ sie blaß werden.
»Was haben Sie, Mrs. Bethune?« fragte ich.
»Dieser Mensch«, sagte sie leise. »Mein Gott.«
Ich folgte mit den Augen ihrem Blick und sah Basil Rudd.
»Das ist nicht Usher Rudd, der Journalist. Es ist sein Cousin Basil Rudd. Er repariert Autos.«
»Doch, doch. Das ist dieser elende Schmierfink.«
»Nein, Mrs. Bethune. Es ist sein Cousin. Sie gleichen sich, aber das ist Basil.«
Zu meinem Entsetzen fing sie an zu weinen. Ich sah mich verzweifelt nach Hilfe um, aber Polly hatte alle Hände voll mit Kabeln für Mikrophone und Fernsehkameras zu tun, und Paul Bethune wandte sich, als er seine Frau so aufgelöst sah, sichtlich ungehalten ab.
Rücksichtsloser Mistkerl, dachte ich. Und dumm dazu. Ein wenig Fürsorglichkeit hätte ihm hier Stimmen eingebracht.
Isobel Bethune stand unsicher auf, suchte in ihrer abgewetzten schwarzen Handtasche vergebens nach etwas, womit sie ihre Tränen trocknen konnte, und ich bot ihr ungeschickt, aber verständnisvoll den Arm, um sie zur Tür zu begleiten.
Sie erging sich auf dem ganzen Weg in nur halb verständlichen Erklärungen ohne rechten Zusammenhang. »Paul hat darauf bestanden, daß ich mitkomme ... Ich wollte nicht, aber er sagte, dann könnte ich ihm gleich einen Dolch in den Rücken jagen ... und jetzt wird er vor Wut kochen, aber was erwartet er denn von mir nach den ganzen Fotos in der Zeitung, von ihm und dem Mädchen ... die hatte noch nicht mal was an, na ja, so gut wie nichts. Ich soll lächeln und so tun, als wäre alles in Ordnung, dabei macht er mich doch zum Gespött, auch wenn ich da vielleicht selbst schuld bin, aber von dem Verhältnis habe ich erst aus der Zeitung erfahren, und er streitet es auch gar nicht ab. >Ja, was verlangst du denn?< sagt er ...«
Wir gingen durch die Eingangshalle und hinaus an die frische Luft, während die meisten Leute erst noch kamen und voller Neugier in Isobels verweintes Gesicht starrten. Da es ungnädig hell draußen war und auch noch eine Weile bleiben würde, denn es war erst halb acht, steuerte ich sie vom Eingang weg, und sie ging ohne jeden Widerstand mit mir um die nächste Ecke.
Das Rathaus lag auf der einen Seite des gepflasterten Platzes. Der Schlafende Drache nahm die angrenzende Seite ein, Geschäfte (und unser Wahlkampfbüro) die beiden anderen. Breite Gassen, durch die früher Autos gefahren waren, gingen von den vier Ecken ab, und an einer davon lag der Rathauseingang. Auf der dem Platz zugewandten Seite des Rathauses verlief eine Art Wandelgang unter Arkaden, mit Bänken zum Ausruhen. Isobel Bethune ließ sich auf eine der Bänke sinken, und nach einem Augenblick der Feigheit, in dem ich sie am liebsten sich selbst überlassen hätte, setzte ich mich zu ihr und überlegte, was ich bloß sagen könnte.
Eine unnötige Sorge. Sie weinte hemmungslos weiter und ließ ihrem Unglück und dem Hader mit ihrem ungerechten Schicksal freien Lauf. Ich hörte nur halb zu, betrachtete den verhärmten Zug um ihren rotgemalten Mund, ihre verquollenen Augen, ihre grau strähnigen Haare und sah doch, daß sie vor gar nicht langer Zeit recht hübsch gewesen sein mußte - bis Usher Rudd ihre heile Welt mit einem Schlagzeilenhammer zertrümmert hatte.
Ihre Söhne seien genauso schlimm, schluchzte sie. Fünfzehn und siebzehn, immer nur mürrisch, immer kontra, hätten an allem was zu meckern. Wenn Paul gewählt würde, wäre er wenigstens öfter aus dem Haus, und o Gott, was rede sie da nur, aber wenn er nicht ginge, müsse sie gehen - und wo sollte sie denn hin? Sie sei mit ihrer Weisheit am Ende.
Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch, dachte ich. Ich war erst zwölf gewesen, als meine Tante Susan schreiend und türenknallend ausgerastet war, das Auto über den Rasen in die Hecke gefahren hatte und zur Beobachtung in eine Klinik eingewiesen wurde; ihr Zustand hatte sich dann noch verschlimmert, als ihr zweiter Sohn fortging, sich einer Rapband anschloß und Aids bekam. Onkel Harry hatte meinen Vater um Hilfe gebeten, und der hatte eine gewisse Ordnung wiederhergestellt und auch Susan zur Besinnung gebracht; und mochte die Familie seitdem auch nicht überglücklich sein, so war sie doch zumindest nicht zerrüttet.
»Möchten Ihre Söhne, daß Ihr Mann gewählt wird?« fragte ich Isobel Bethune.
»Die brummen ja nur rum. Aus denen kriegt man kein Wort heraus.« Sie zog die Nase hoch und wischte sich die Augen mit den Fingern. »Paul meint, Orinda hätte er leicht besiegt, aber mit George Juliard sehe das anders aus. Oh! Ich hatte vergessen, daß Sie sein Sohn sind. Da sollte ich nicht so mit Ihnen reden. Paul wird sich aufregen .«
»Sagen Sie ihm nichts davon.«
»Besser nicht ... Möchten Sie was trinken?« Sie blickte zum Schlafenden Drachen hinüber. »Einen Cognac?«
Ich schüttelte den Kopf, aber da sie sagte, sie brauche dringend etwas zur Beruhigung und wolle nicht alleine trinken, ging ich mit ihr über den Platz und trank eine Cola, während sie sich einen doppelten Remy Martin mit Eis genehmigte. Wir saßen an einem kleinen Tisch in der Bar, die an diesem Freitagabend überwiegend von Paaren besucht war.
Isobels Hände zitterten.
Sie sagte, sie wolle sich frischmachen, und kam dann mit gekämmten Haaren, nachgezogenem Lippenstift und gepuderten Augenlidern zurück, hielt zwar immer noch ein Taschentuch in der Hand, war aber schon viel gefaßter.
Sie bestellte noch einen Cognac. Ich lehnte eine zweite Cola ab.
»Ins Rathaus will ich nicht mehr«, sagte sie. »Ich gehe von hier zu Fuß nach Hause. So weit ist das nicht.«
Als sie zu ihrem Glas griff, zitterte und klirrte nach wie vor das Eis darin.
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?« fragte ich.
Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf meine. »Sie sind ein netter Junge«, sagte sie, »ganz gleich, wer Ihr Vater ist.«
In dem Moment gab es den vertrauten hellen Blitz, dann rollte surrend ein Film weiter, und ein paar Schritte von uns entfernt stand der andere Rudd, Bobby Usher persönlich, siegesfroh grinsend und megawattstarke Bosheit ausstrahlend.
Isobel Bethune sprang empört von ihrem Platz auf, aber Usher Rudd, der Fluchterfahrene, war bereits zur Tür hinaus, ehe sie ihrem Unmut Luft machen konnte. »Wie ich den hasse«, sagte sie, wieder den Tränen nah. »Den bringe ich noch um.«
Ich bat den Barmann, ein Taxi zu rufen.
»Mrs. Bethune hat noch nicht bezahlt.«
»Oh.«
»Ich habe kein Geld dabei«, sagte sie. »Bitte seien Sie so lieb und übernehmen Sie das.«
Ich kramte den Rest des Geldes, das mein Vater mir in Brighton gegeben hatte, aus den Taschen und drückte es ihr in die Hand.
»Bezahlen Sie dem Herrn die Zeche. Ich darf noch keine Alkoholika kaufen, und da möchte ich keinen Ärger bekommen.«
Baß erstaunt rechneten Isobel und der Barmann ab.