Kapitel 8

Im letzten Zimmer links saß ein Mann hinter einem großen Schreibtisch, und im ersten Moment dachte ich mit einem unwillkommenen Herzhüpfer, es sei Vivian Durridge, der mich aufs neue an die Luft setzen wollte.

Er blickte von seinen Papieren auf, als ich eintrat, und ich sah, daß es zwar nicht Vivian Durridge, aber ein ähnlich strenger Vertreter der gleichen Generation war.

Statt einer freundlichen Begrüßung musterte er mich langsam von oben bis unten.

»Ihr Vater gibt sich viel Mühe mit Ihnen«, sagte er. »Hoffentlich sind Sie das wert.«

Da mir keine passende Antwort darauf einfiel, schwieg ich.

»Wissen Sie, wer ich bin?« fragte er.

»Leider nicht ... Sir.«

»Stallworthy.«

Er wartete, bis ich den Namen registriert hatte, und das ging recht schnell. Aber das, was ich mit dem Namen verband, ließ mich zögern. Es war zu schön, um gleich geschluckt zu werden.

»Ehm ... Spencer Stallworthy, der Trainer?«

»Genau.« Er schwieg. »Ihr Vater hat mich angerufen. Er will ein Rennpferd kaufen und es hier bei mir in Training stellen, damit Sie morgens mit dem Rad von der Uni herüberkommen können, um es zu arbeiten. Es soll in Amateurrennen laufen, damit Sie es reiten können.«

Er musterte mein Gesicht. Die Begeisterung war mir sicher anzusehen, denn ein dünnes Lächeln erhellte langsam seine grimmen Züge.

»Ich hoffe nur«, sagte er, »Sie sind so gut im Sattel, daß Sie meinem Stall keine Schande machen.«

Ich hoffte nur, daß er nicht mit Vivian Durridge verkehrte.

»Ihr Vater bat mich, ein geeignetes Pferd auszusuchen. Wir haben natürlich über die Preislage gesprochen. Ich sagte ihm, daß von den rund vierzig Pferden, die ich trainiere, immer ein paar zum Verkauf stehen. Im Augenblick habe ich zwei da, die in Frage kämen. Ihr Vater und ich haben abgesprochen, daß Sie heute herkommen und beide Tiere reiten. Dann sollen Sie sich für eins entscheiden. Es sollte eine Geburtstagsüberraschung sein - und wie ich sehe, ist die gelungen.«

Ich nickte atemlos.

»Gut. Dann gehen Sie jetzt bitte hinten raus. Mein Assistent Jim, der Sie hierhergebracht hat, wird Sie zum Stall fahren. Die Pferde stehen bereit - also ab mit Ihnen.«

»Ehm ...«:, sagte ich. »Vielen Dank.«

Er nickte und beugte sich über seine Schreibarbeit; und Jim fuhr mich einen knappen Kilometer zu dem alten Stallhof, der einen Anstrich hätte gebrauchen können und der seit Jahren die Sieger kleinerer Rennen in Westengland stellte. Stallworthy war nicht auf Cheltenham, Sandown oder Aintree aus. Er arbeitete für die hiesigen Farmer und Geschäftsleute und ließ ihre Pferde auch hier laufen.

Jim stieg aus und zeigte nur mit dem Finger. »Da ist die Sattelkammer.« Er drehte sich um. »Das Pferd in Box 27. Okay?«

Ich sah nach dem Insassen von Box 27 und fand einen sehr kräftigen Fuchswallach, der begierig schien, an die Luft zu kommen. Er hatte gute, kurze Beine, die Sprunggelenke nicht zu stark gewinkelt, und eine breite Brust, die so oder so mit jedem Hindernis fertig wurde. Vom Typ her eher ein eingefleischter Steepler als ein auf Sprünge umgestelltes Flachpferd.

Ich traute ihm Ausdauer und die nötige Ruhe zu, um einen vorschnell ermüdenden Amateur über die letzten Meter zu tra-gen, und wenn auf den ersten Blick etwas gegen ihn sprach, dann war es sein kurz geratener Hals.

Jim ließ den Fuchs von einem Pfleger satteln und aufzäumen, obwohl er, wenn mich nicht alles täuschte, erst vorgehabt hatte, mir das selbst zu überlassen.

Jim hatte mich nicht ganz ernst genommen. Aber jetzt war ich im Stall, bei den Pferden, und vielleicht deshalb weniger ein Jux als ein Kunde für ihn. Jedenfalls leuchtete es Jim und dem Pfleger durchaus ein, daß ich zunächst sehen wollte, wie das Pferd ging, wenn es im Schritt herumgeführt wurde. Irgendwann in meiner lückenhaften Rennsportausbildung hatte ein freundlicher alter Jok-key mir gesagt - und demonstriert -, daß ein Pferd, das gut ging, auch gut galoppierte. Ein ruhiger, weit ausgreifender Gang war günstig für Jagdrennen über lange Strecken. Ein unruhiger, hüpfender Gang sprach für einen nervösen, unausgeglichenen Galopp.

Der Fuchs ging mit so langen, gemessenen Schritten, daß es aussah, als könnte er ewig marschieren. Als er mit seinem Pfleger zweimal rundgelaufen war, hielt ich ihn an und tastete seine Beine ab (keine Verdickungen durch alte Sehnenschäden), schaute ihm ins Maul (auch wenn man das bei einem geschenkten Pferd nicht tun soll) und schätzte ihn auf etwa sieben Jahre, ein gediegenes Alter für ein Jagdpferd.

»Wo kann ich ihn reiten?« fragte ich Jim, und er deutete zum Hof hinaus auf das Gatter einer großen Weide, die sich als die Haupttrainingsbahn des ganzen Stalls entpuppte. Offenes Trainingsgelände gab es in diesem gemütlichen Teil von Devon offenbar nicht.

»Sie können ans andere Ende traben oder galoppieren«, sagte Jim, »und kommen dann halbschnell zurück. Er . der Fuchs . kennt den Weg.«

Ich schwang mich auf den Rücken des Pferdes, stellte die Spitzen meiner unzweckmäßigen Turnschuhe in die Bügel und schnallte sie länger, während ich mich an das große Tier gewöhnte, mit dem ich halbschnell reiten und zumindest die Illusion sollte erleben können, in meinem Element zu sein. Vielleicht würde ich nie ein großer Jockey werden, und vielleicht war ich manchmal linkisch und unbeholfen, weil ich so sprunghaft wuchs und mein Körper sich noch dauernd veränderte, aber ich hatte schon die verschiedensten Pferde geritten, meist in der Urlaubszeit, wenn die Leute jemand brauchten, der auf ihre Tiere aufpaßte. Ich hatte Trainer gebeten, Erfahrung mit Rennpferden sammeln zu dürfen, und in den beiden letzten Jahren war ich in jedem Rennen gestartet, das mir angeboten wurde: sechsundzwanzig Mal bisher, mit drei Siegen, zwei dritten Plätzen, drei Stürzen.

Der Fuchs von Stallworthy war gut aufgelegt und zeigte es mir, indem er geduldig stillhielt, während ich die Bügel schnallte und Jim mir aus der Sattelkammer eine Sturzkappe holte, ohne die er mich nicht ziehen lassen wollte, auch wenn sie eine Nummer zu klein war.

Der breite Rücken des Fuchses strotzte vor Muskeln, und ich hatte dreieinhalb Wochen nicht mehr auf einem Pferd gesessen; wäre er an diesem Morgen fuchtig gewesen, hätte er mir durchgehen und mich lächerlich machen können, aber er ging so friedlich wie ein altes Schulpferd zum Trainingsgelände.

Sein Trab gefiel mir weniger, denn er war holprig und warf mich durch die Gegend, aber sein leichter Galopp war wie ein Sessel. Wir gingen einträchtig zum anderen Ende der dort leicht abfallenden Grasbahn - die richtige Arbeit begann also, gut zur Kräftigung der Beine, mit einem Anstieg.

Den Fuchs halbschnell zu reiten war ein bißchen so, als säße man auf einer abgefeuerten Rakete: Kraft, Zielbewußtsein, schwer vom Kurs abzubringen. Ein wenig atemlos hielt ich an und ging zu Jim hinüber, der am Gatter stand. »Gut«, sagte er nur, »jetzt versuchen Sie den anderen.«

Das andere Pferd - ein brauner Wallach mit schwarzer Mähne - war dünner und vom Typ her schneller als der Fuchs. Er trug den Kopf höher, tänzelte und brannte darauf, in die Hufe zu kommen. Wie weit ihn die schnellen Beine tragen würden, war vielleicht fraglich.

Ich stand bis zum Ende der Grasbahn in den Bügeln und ließ den Trab und den leichten Galopp unter mir wogen. Dieser Braune war nicht darauf trainiert, seinen Reiter die schöne Landschaft genießen zu lassen; er war geboren, um Rennen zu laufen, und sonst interessierte ihn nichts. Statt am Ende der Grasbahn ruhig kehrtzumachen, drehte er sich mit hängender Schulter flink um die Achse, ein Manöver, das nichtsahnende Reiter garantiert aus dem Sattel hebt. Ich hatte das schon bei vielen Pferden gesehen. Mich hatten auch schon welche abgeworfen. Bei Stallworthys Braunem war ich darauf vorbereitet, nicht weil ich ihn für link hielt, sondern weil ich seinen Eifer spürte.

Sein halbschneller Galopp zurück war ein unentwegter Kampf gegen meine Arme: er wollte viel mehr rangehen. Nachdenklich sprang ich runter und führte ihn ans Gatter zu Jim.

»Gut«, sagte Jim. »Welchen nehmen Sie?«

»Ehm ...« Ich klopfte dem Braunen den Hals. Er schüttelte heftig den hübschen Kopf, vermutlich nicht aus Mißbilligung, sondern aus Zufriedenheit.

»Wie wär’s«, sagte ich, »wenn wir in der nächsten Kneipe ein Sandwich essen gehen und ich mir die Rennberichte und die Zucht ansehe?«

In Kneipen fühlte ich mich nach dreieinhalb Wochen mit meinem Vater ziemlich wohl.

Jim lachte auf. »Ich sollte einen Schuljungen abholen, hieß es. Sie sind mir vielleicht ein Schuljunge.«

»Ich bin seit einem Monat mit der Schule fertig.«

»Ja, dann!«

Mit gutmütiger Ironie holte er bei Stallworthy die fraglichen Unterlagen und fuhr mit mir zu einer Schenke im Ort, wo man ihn als gerngesehenen Stammgast begrüßte. Wir setzten uns auf eine Holzbank mit hoher Rückenlehne, und er legte die Rennberichte zwischen seinem Bier und meiner Diätcola auf den Tisch.

Bei der Zucht von Hindernispferden kommt es auf die Mütter an. Die Mutter eines Siegers bringt mit großer Wahrscheinlichkeit noch weitere Sieger hervor. Die Mutter des Fuchses hatte zwar selbst nie gesiegt, dafür aber zwei ihrer Nachkommen. Der Fuchs hatte bisher nur einen zweiten Platz erreicht.

Die Mutter des Braunen war nie ein Rennen gelaufen, doch ihre sämtlichen Nachkommen mit Ausnahme des ersten Fohlens hatten gesiegt. Der Braune bisher zweimal. Beide Pferde waren acht.

»Erzählen Sie mir von ihnen«, sagte ich zu Jim. »Was muß ich wissen?«

Er würde mir auf keinen Fall die reine Wahrheit sagen, wenn ihm eine Provision winkte. Pferdehändler waren wie Autohändler dafür bekannt, daß sie ihre Ware zu sehr priesen. »Warum stehen sie zum Verkauf?« fragte ich.

»Ihre Besitzer brauchen Geld.«

»Mein Vater würde ein Tierarztzertifikat verlangen.«

»Das geht klar. Welches Pferd möchten Sie?«

»Ich spreche erst mit meinem Vater und sage Ihnen Bescheid.«

Jim lächelte schief. Seine Brauen waren so weiß wie seine Wimpern. Da ich mich mit ihm anfreunden mußte, wenn ich regelmäßig zur Morgenarbeit kommen wollte, ging ich, so bedauerlich das sein mochte, mit der ganzen Politikerschläue meines Vaters daran, mir seine Sympathien zu sichern, und dachte bei mir, daß ich bei aller Bereitschaft, den Sorgen und Wünschen der Leute zu lauschen, schon einige bedenkliche Kniffe gelernt hatte. Jim eröffnete mir lachend, daß er sich an Stallworthy gehängt habe, weil er keinen vergleichbaren Trainer mit einer heiratsfähigen Tochter habe finden können. Sein Glück, daß ich nicht Usher Rudd war, dachte ich.

Sonntag nachmittags schlief Spencer Stallworthy anscheinend, und so bekam ich ihn an dem Tag nicht mehr zu sehen. Jim fuhr mich gegen drei mit Bert, dem Hund, zurück nach Exeter und übergab mich grinsend und schulterklopfend dem stummen Fahrer der schwarzen Limousine.

»Bis dann«, sagte Jim.

»Ich kann’s kaum erwarten.«

Die Zukunft erschien plötzlich in einem viel helleren Licht. Mein Vater hatte mir die ganzen Teenagerjahre hindurch keinen monatlichen Unterhalt gezahlt, sondern jeweils zu Weihnachten einen Pauschalbetrag für das ganze Jahr überwiesen, und davon hatte ich so viel gespart, daß ich mir vorübergehend eine Wohnung in Fahrradentfernung von Spencer Stallworthy suchen und mich unter Rennsportzeitungen begraben konnte.

Der Chauffeur brachte mich nicht zum Wahlkampfbüro, wo er mich abgeholt hatte, sondern zu einem Sportplatz am Rand von Hoopwestern, wo sich offenbar ein Mittelding zwischen Kirmes und politischer Kundgebung dem Ende näherte. Luftballons, Hüpfburg, bunte Rutschbahnen und Karussells hatten Kinder (und somit wählende Eltern) angelockt, und an den Kirmesbuden war außer häßlichen Blumenvasen so gut wie nichts mehr zu haben.

Gemalte Transparente verkündeten: 15 Uhr: Feierliche Eröffnung durch Orinda Nagle und 15.15 Uhr: George Juliard. Beide waren jetzt, um 17.30 Uhr, immer noch da und schüttelten ringsherum Hände.

Die liebe Polly sah den schwarzen Wagen am Tor anhalten und eilte über staubiges, dürres Gras, um mich in Empfang zu nehmen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Benedict. Haben Sie sich ein Pferd ausgesucht?«

»Dann hat er’s Ihnen erzählt?« Ich blickte zu dem Podest auf der anderen Seite des Platzes, wo ihn Leute mit Autogrammheften umringten.

»Er war den ganzen Tag wie aufgedreht.« Polly lächelte noch breiter. »Eigentlich hätte er Sie nur als Wahlkampfdekoration mit nach Hoopwestern gebracht, meinte er, aber hier hätte er Sie erst richtig kennengelernt, und er wollte Ihnen etwas wirklich Schönes schenken zum Dank für alles, was Sie getan haben.«

»Polly!«

»Er sagte mir, es sei ihm nicht klar gewesen, welch einen Verzicht es für Sie bedeutet, wenn Sie, wie er es verlangt hat, studieren, statt Rennen zu reiten, daß Sie sich aber nicht aufgelehnt, ihm den Rücken gekehrt oder ihn zum Teufel gewünscht hätten. Deshalb sollten Sie ein ganz besonderes Geschenk bekommen.«

Ich schluckte.

Er sah mich von der anderen Seite aus, und Polly und ich gingen über den Platz und blieben vor dem Ring der Autogrammjäger stehen.

»Na?« fragte er über ihre Köpfe hinweg. »Hat dir eins gefallen?«

Ich wußte keine angemessene Antwort. Er blickte mir aber ins Gesicht, lächelte bei dem, was er darin sah, und schien mit meiner Sprachlosigkeit zufrieden. Er stieg vom Podest herunter, bahnte sich, nach links und rechts signierend, einen Weg durch das Gedränge, bis er auf Reichweite heran war, und blieb dann stehen.

Wir sahen uns mit großer Verbundenheit an.

»Na los«, forderte mich Polly auf. »Umarmen Sie ihn.«

Aber mein Vater schüttelte den Kopf, und ich hielt mich zurück, wobei mir klar wurde, daß es für Gefühlsäußerungen zwischen uns keine angestammten Regeln gab und daß wir bis zu diesem Augenblick auch keine allzu tiefen Gefühle auszudrük-ken gehabt hatten. Weit entfernt davon, uns zu umarmen, hatten wir uns nie auch nur die Hand gegeben.

»Danke«, sagte ich zu ihm.

Es hörte sich dürftig an, aber er nickte: ihm genügte es.

»Ich möchte mit dir darüber reden«, sagte ich.

»Hast du eins ausgesucht?«

»Mehr oder weniger, aber ich will das erst mit dir besprechen.«

»Beim Abendessen.«

»Wunderbar.«

Orinda lächelte mir freundlich zu; sie war voll wiederhergestellt, die verbliebenen Spuren übertüncht, die zitternde, verschreckte Frau in den blutbespritzten Kleidern restlos ausgewechselt durch die First Lady des Wahlkreises, die alle möglichen Feste eröffnet und allen die Schau stiehlt.

»Benedict, mein Liiieber!« Sie zumindest hatte keine Berührungsängste und umarmte mich so, daß es jeder mitbekam. Sie duftete nach Parfüm. Ihr kupferfarbenes Kleid war, passend zu ihren Augen, grün bestickt, und Polly erstarrte neben mir in der uralten Reaktion der Biederen gegenüber dem Biest.

Liebe Polly. Liebste Polly. Ich war nach außen viel zu jung, um zu zeigen, daß ich sie verstand, und hätte sie nur beleidigt, wenn ich sie hätte trösten wollen. Die liebe Polly trug noch Reste des scheußlichen Lippenstifts auf dem Mund, eine klobige Bernsteinkette um den Hals und breit geriemte Sandalen zu einem schlickgrünen Kleid. Ich mochte beide Frauen, aber nach ihren Kleidern zu urteilen, würden sie nie zusammenkommen.

Unwillkürlich schaute ich Orinda über die Schulter, um zu sehen, ob der anhängliche Anonyme Liebhaber wieder auf dem Posten war, doch Wyvern hatte Hoopwestern als Weg zu Macht und Einfluß endgültig abgeschrieben. Statt seiner lungerte Leonard Kitchens mit seinem unbändigen Schnurrbart dümmlich grinsend um sie herum. Mrs. Kitchens hielt sich grimmigen Blicks hinter ihm.

Usher Rudd pirschte, aufdringlich wie je, auf der Suche nach unvorteilhaft abzulichtenden Leuten umher, tat aber, als er mich erblickte, interessanterweise so, als habe er mich nicht gesehen, und zog in eine andere Richtung. Ich bildete mir nicht ein, daß er mir Gutes wollte.

Mervyn Teck und ein Troß engagierter Wahlhelfer waren überzeugt, daß dieser Nachmittag zum Erfolg beitragen würde, und brachten Vater und mich zurück zum Schlafenden Drachen. Noch vier Tage bis zum Wahltag; eine Ewigkeit.

Bei einem guten Abendessen im Hotelrestaurant erzählte ich meinem Vater von den beiden Stallworthy-Pferden. Ein phlegmatischer Fuchs mit Steherqualitäten und ein leicht erregbarer brauner Flieger mit schwarzer Mähne.

»Tja«, meinte er stirnrunzelnd. »Du hast es gern schnell. Du wirst den Braunen nehmen. Was zögerst du?«

»Das Pferd, das ich möchte, hat einen Namen, der dich vielleicht stört. Ändern kann ich den nicht, das ist verboten, wenn ein Vollblüter erst mal gelaufen ist. Ich nehme das Pferd nur mit deinem Einverständnis.«

Er machte große Augen. »Was für ein Name soll mich denn so stören?«

Nach einer Pause sagte ich: »Sarah’s Future.«

»Ben!«

»Seine Mutter war Sarah Jones, sein Vater Bright Future. Das ist eine gute Abstammung für ein Hindernispferd.«

»Der Braune -?«

»Nein«, sagte ich. »Der Fuchs. Den möchte ich. Er hat noch nie gesiegt, nur Zweiter war er mal. Ein Siegloser hat eine größere - bessere - Auswahl an Rennen. Außerdem hat die Chemie gestimmt. Er paßt zu mir.«

Mein Vater zerbröselte geistesabwesend ein Brötchen.

»Sarah’s Future«, sagte er schließlich, »- du bist ganz wörtlich Sarahs Zukunft. Ich nehme an, sie würde sich freuen. Morgen früh rufe ich Stallworthy an.«

Weit davon entfernt, im Vorfeld des Wahltags an Eifer nachzulassen, kniete sich die Juliard-Truppe in den letzten drei Tagen noch einmal tüchtig rein.

Ich fuhr den Range Rover von morgens bis abends. Ich fuhr dreimal nach Quindle und quer durch die Dörfer. Ich baute das Podest auf und nahm es wieder auseinander, bis ich es im Schlaf konnte. Ich lud kistenweise Flugblätter ein und aus. Ich beturtel-te Babys, spielte Ball mit Jugendlichen, drückte zahllose Hände und lächelte, lächelte, lächelte.

Am letzten Abend, einem Mittwoch, lud mein Vater alle Mitarbeiter und Wahlhelfer zum Dankeschön-Essen in den Schlafenden Drachen. In einem Saal hinter dem Rathaus gab Paul Bethune ein Essen.

Die Leute von Bethune hatten mehrmals unseren Weg gekreuzt; ihr Megaphon war lauter, ihr Troß größer, ihr Wahlkampfauto nicht ein bemalter Range Rover, sondern ein Doppeldeckerbus ohne Dach, den sie von ihrer Parteizentrale ausgeliehen hatten. Bethunes Botschaft folgte ihm überallhin: »Dennis Nagle war weltfremd und altmodisch. Wählen Sie Bethune, der ist von hier, der kennt sich aus.«

Nach der letzten Meinungsumfrage im Wahlkreis lag Paul Bethune zwei Punkte vorn. Titmuss und Whistle waren aus dem Rennen.

Die Gazette hatte lediglich trompetet: Dem Schmutz keine CHANCE! und von einer »neuen Moral« gesprochen, ohne diese zu definieren. Der Herausgeber hatte, obwohl sein Herz für Bethune schlug, Usher Rudd von der Leine gelassen und damit einerseits seine Auflage erhöht, andererseits ein Eigentor geschossen. Muß er sehen, wie er damit klarkommt, dachte ich belustigt.

Mein Vater dankte seinen treuen Mitarbeitern.

»Egal, was morgen wird«, sagte er, »Sie sollen wissen, wie dankbar ich Ihnen allen bin . für Ihren Einsatz, Ihre unermüdliche Energie, Ihre unverwüstlich gute Laune. Ich danke unserem Koordinator Mervyn für seine hervorragende Planung. Wir haben unser Bestes getan, die Botschaft der Partei rüberzubringen. Jetzt entscheiden die Wähler.«

Er dankte Orinda dafür, daß sie sich auf seine Seite geschlagen hatte. »... Mit ihrer Unterstützung sah alles gleich ganz anders aus ... beruhigend für die Stammwähler ... ungemein großzügig .«

Orinda, herrlich anzuschauen in Smaragdgrün mit goldenem Geschmeide, sah bescheiden drein und genoß es.

Polly gab neben mir fast einen Würgelaut von sich.

Ich schluckte ein Kichern hinunter.

»Glauben Sie nicht, ich hätte vergessen«, sagte sie streng zu mir, »daß Sie aus Orinda, der Feindin, einen Engel gemacht haben. Ich stecke das nur weg, weil die Parteiführung die Begabung Ihres Vaters nutzen möchte. Nach dem Motto: Er muß ran. Genau wie Sie hat mir die Partei praktisch gesagt, ich solle ihm Starthilfe geben, dann wäre er nicht aufzuhalten.«

Aber irgend jemand, dachte ich, hatte versucht, meinen Vater gar nicht zum Start kommen zu lassen. Jedenfalls konnte es sein. Eine Kugel, ein Wachspfropfen, ein Brand aus ungeklärter Ursache. Wer aber war es, der versucht hatte, ihn auf diesem Weg zu bremsen, statt die Entscheidung der Wahlurne zu überlassen? Niemand hatte sich ernstlich bemüht, das herauszufinden.

Nach den Ansprachen kam mein Vater voller Elan zu Polly und mir und setzte sich mit einem erregten Glänzen in den Au-gen. Aus seinem kantigen Gesicht sprach ein wacher Geist. Die dunklen Locken standen ihm quirlig vom Kopf.

»Ich gewinne die Wahl«, sagte er breit lächelnd. »Ich gewinne. Das spüre ich.«

Seine Euphorie übertrug sich auf die ganze Gesellschaft und blieb ihm bis zum Frühstück am nächsten Morgen erhalten. Die Nervosität stellte sich bei der zweiten Tasse Kaffee ein, und eine ganze Stunde schlug er sich mit Bedenken herum, ob er denn wirklich genug gearbeitet habe, ob er nicht mehr hätte tun können.

»Du gewinnst«, sagte ich.

»Aber die Meinungsumfragen ...«

»Die Meinungsumfragen werden nicht mittags in Dorfkneipen gemacht.«

»Der Trend geht in die andere Richtung .«

»Dann werd wieder Geschäftsmann und mehre deinen Reichtum.«

Er sah mich groß an und lachte, und bald darauf fuhren wir die Wahllokale ab, wo man uns sagte, nach der inoffiziellen Befragung der Wähler an den Ausgängen seien die Stimmen ungefähr gleich verteilt, aber wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.

Hier und da stießen wir auf Paul Bethune, der ähnlich unruhig in gleicher Sache unterwegs war. Er und mein Vater waren ausnehmend höflich zueinander.

Die Unruhe hielt den ganzen Tag und den ganzen Abend an. Am Nachmittag regnete es nach wochenlangem Schönwetter heftig. Beide Seiten unkten, nun sei alles zu spät. Beide Seiten dachten, es sei vielleicht ihr Glück. Der Regen hörte auf, als die Fabrikarbeiter Feierabend hatten und zu den Urnen pilgerten.

Um zehn schlossen die Wahllokale, und das Zählen begann.

Mein Vater stand an unserem Zimmerfenster und schaute über den kopfsteingepflasterten Platz zu der ausgebrannten Ruine des Doppelhauses.

»Hör auf, dir Gedanken zu machen«, sagte ich. Als hätte er das gekonnt.

»Sie wollten mich unbedingt, verstehst du?« sagte er. »Die Parteiführung war der Ansicht, meine Erfahrung in der Wirtschaft sollte zum Wohl des Landes eingesetzt werden. Und wenn ich sie jetzt enttäuscht habe?«

»Hast du nicht«, versicherte ich ihm.

Er lächelte schief. »Sie haben mir einen unsicheren Wahlkreis angetragen, um zu sehen, was ich daraus mache. Und ich, ich fühlte mich geschmeichelt! Geschieht mir recht.«

»Vater .«

»Dad.«

»Na schön - Dad. Auch gute Leute verlieren.«

»Herzlichen Dank.«

Zur gegebenen Zeit gingen wir hinüber zum Rathaus, wo die Stimmung keineswegs ruhig, sondern mit Hoffnung und Verzweiflung geladen war. Paul Bethune, umringt von Anhängern mit riesigen Rosetten, lächelte angestrengt. Isobel Bethune, in dunklem Braun, versuchte sich unsichtbar zu machen.

Mervyn unterhielt sich zerstreut mit Paul Bethunes Agent, und ich hätte darauf gewettet, daß beide nicht hörten, was der andere sagte.

Usher Rudd fotografierte gnadenlos.

Es gab vereinzelten Applaus, als mein Vater erschien, und Polly (in Perlmuttgrau) und Orinda (in dramatisch glitzerndem Weiß) rauschten übers Parkett, um ihn persönlich zu begrüßen.

»Mein liiieber George«, jubelte Orinda und hielt ihm ihre glatte Wange zum Kuß hin. »Ja, Dennis ist bei uns.«

Der liiiebe George sah verlegen drein.

»Es läuft ganz gut, George«, sagte Polly aufmunternd.

»Nach den ersten Meldungen ist die Stimmenverteilung ziemlich ausgeglichen.«

Die Auswertung unterlag strengen Sicherheitsvorkehrungen. Nicht einmal diejenigen, die die Kreuze zählten, wußten, wer vorn lag.

Mein Vater und Paul Bethune wirkten entschieden ruhiger, als sie waren.

Nach und nach füllte sich das Rathaus mit Anhängern beider Lager. Nach Mitternacht, gegen eins schon, versammelten sich die vier Kandidaten und ihre engsten Anhänger nervös auf dem Podium und lächelten gekünstelt. Paul Bethune spitzte gereizt nach seiner Frau, aber sie hatte sich gut im Publikum versteckt. Orinda stand wie selbstverständlich neben Vater auf dem Podium, wenn auch Polly, die mit mir unten stand, meinte, daß ich dort oben hingehörte, nicht diese ... diese ...

Ihr fehlten die Worte.

Mein Vater sagte mir hinterher, daß den Kandidaten - wahrscheinlich, damit keiner losheulte - das Ergebnis gesteckt worden war, bevor sie sich der Öffentlichkeit stellten, aber anzumerken war ihnen das nicht.

Schließlich wuselte sich der Kreiswahlleiter (dem es oblag, das Ergebnis zu verkünden) zur Bühnenmitte durch, tippte ans Mikrophon, um zu hören, ob es funktionierte, grinste in die Fernsehkameras und bat ganz unnötig um Ruhe.

Er zog seinen großen Auftritt in die Länge, indem er umherblickte, als wolle er sich vergewissern, daß wirklich alle, die es anging, auf dem Podium waren, und verlas endlich langsam, inmitten der Stille klopfender Herzen, das Ergebnis.

In alphabetischer Reihenfolge:

Bethune ... soundso viel tausend.

Juliard ... soundso viel tausend.

Titmuss ... soundso viel hundert.

Whistle . neunundsechzig.

Das zu verarbeiten, dauerte einen Moment. Der Wahlleiter verbat sich ein voreiliges Hurra aus dem Publikum mit strengem Blick und führte seine Aufgabe zu Ende.

George Juliard ist somit gewählt ...

Der Rest ging in Beifall unter.

Polly faßte es in Zahlen. »Er hat mit knapp zweitausend Stimmen gewonnen. Ist das toll!«

Polly küßte mich.

Auf dem Podium küßte Orinda schmatzend den neuen Abgeordneten.

Das war zuviel für Polly, die mich stehenließ, um zu ihm zu eilen.

Dafür hatte ich plötzlich die arme, traurige Isobel Bethune an meiner Seite.

»Guck sich einer diese Schlampe neben Ihrem Vater an; als hätte sie die Stimmen reingeholt.«

»Geholfen hat sie schon.«

»Sie selbst hätte aber nicht gesiegt. Ihr Vater hat die Wahl gewonnen. Gegen meinen Paul. Der hat klar verloren. Ihr Vater hat nie auf seine Geliebte angespielt, mit keinem Wort, obwohl sich das anbot, aber die Öffentlichkeit vergißt so was nicht. Schmutz bleibt eben hängen.«

»Mrs. Bethune .«

»Das war Pauls dritter Anlauf, das Mandat zu kriegen«, erzählte sie mir mutlos. »Die ersten beiden Male, gegen Dennis Nagle, wußten wir, daß er unterliegt, aber diesmal war die Partei überzeugt, daß er’s schafft, weil der Ausgang der jüngsten Nachwahlen für uns sprach und die Gegenpartei statt Orinda einen Unbekannten rangeholt hat, und jetzt werden sie Paul nicht mehr aufstellen. Er hat verloren wie noch nie, obwohl alles für ihn sprach, und nur wegen diesem gräßlichen Usher Rudd, den könnte ich umbringen ...« Sie vergrub ihr Gesicht in einem

Taschentuch, wie um ihre Umgebung auszublenden, strich mir über den Arm und sagte leise: »Ich vergesse Ihnen Ihre Freundlichkeit nicht.«

Ihr blöder Mann oben auf dem Podium sah unverändert selbstzufrieden aus.

Vor einem Monat, dachte ich, hatte ich noch gar nicht gewußt, daß es die Bethunes gab.

Die liebe Polly hatte im verborgenen geblüht.

Ich hatte nichts von Orinda, nichts von Alderney Wyvern gewußt.

Ich hatte weder Mrs. Kitchens noch ihren wenig liebenswerten, fanatischen Leonard gekannt und den tüchtigen, dicken Mervyn so wenig wie die scheue Crystal. Wie Faith, Marge und Lavender mit Nachnamen hießen, wußte ich immer noch nicht, aber von dem gemeinen rothaarigen Ekel, dessen Lebensglück darin bestand, hinter die heimlichen Freuden anderer zu kommen, um ihnen einen Strick daraus zu drehen, kannte ich den vollen Namen und würde ihn auch nicht wieder vergessen: Bobby Usher Rudd.

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