Der alte Schuhsalon, so erfuhr ich, war das angestammte Bezirksbüro der Partei, der mein Vater angehörte. Hier hatte Dennis Nagle, der vorherige Abgeordnete, bis zuletzt seine »Samstags-Sprechstunde« abgehalten, sich die Probleme der Region darlegen lassen und nach Lösungen gesucht. Er war noch keine sechzig, als er an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Orinda, seine ehrgeizige Frau, schäumte angeblich vor Wut darüber, daß der Wahlausschuß nicht sie, sondern meinen Vater beauftragt hatte, für die Partei um den Erhalt des vakanten Sitzes zu kämpfen.
Die Sache mit Orinda hörte ich, während ich still auf einem Hocker in der Ecke saß, von den drei Helferinnen, die meinem Vater erzählten, daß die Übergangene am Morgen zu ihnen ins Büro gekommen sei.
Die magerste, am wenigsten mütterliche Helferin, die auch die spitzeste Zunge hatte, sagte schadenfroh: »Man sollte meinen, sie trauert um Dennis, aber anscheinend nimmt sie ihm nur krumm, daß er gestorben ist. Sie redet nach wie vor von >unse-ren Wählernc, und sie sagt, sie hat ihm die Reden geschrieben und seine Ansichten geprägt. Und es sei von Beginn seiner Krankheit an ausgemacht gewesen, daß sie an seine Stelle tritt. Und wir seien Verräterinnen, weil wir für Sie arbeiten, George. Sie hat getobt vor Wut. Und Sie brauchten sich nicht einzubilden, sie ließe sich einfach so abdrängen. Und sie will heute abend zu dem Diner kommen!«
Mein Vater verzog das Gesicht.
Ich dachte bei mir, daß der Wahlausschuß wohl ganz vernünftig gehandelt habe.
Von meinem Eckplatz aus erfuhr ich auch, daß die Hauptoppositionspartei eine »Fettbacke mit null Sexappeal« gegen meinen Vater antreten ließ. Paul Bethunes Partei hatte in letzter Zeit einige kritische Wahlkreise dazugewonnen und war zuversichtlich, »im Zeichen der Wende« auch Hoopwestern erobern zu können.
In den nächsten Tagen sah ich sein Konterfei überall, ein breites Lächeln mit dem Slogan: Bethune ist besser. Geben Sie ihm Ihr Kreuz.«
Das fand ich unfreiwillig komisch. War er ein Knochenflik-ker?
An jenem ersten Abend hörte ich allerdings nur, daß er im Stadtrat saß und ihm die Haare ausfielen. Ganz abgesehen von der persönlichen Eignung konnte die drohende Glatze ihn um den Wahlsieg bringen. Die Vereinigten Staaten etwa hatten seit dem Kriegshelden Eisenhower keinen kahlköpfigen Präsidenten mehr gehabt, und nur wenige Eltern nannten ihren Nachwuchs noch Dwight.
Ich lernte, daß Gelächter Stimmen einbrachte und Dogmatik Stimmen kostete. Ich lernte, daß George Juliards männliche Ausstrahlung die rotwangigen Helferinnen beflügelte.
»Mein Sohn kommt mit zu dem Diner heute abend«, sagte er. »Er kann auf Mervyns Platz sitzen.« Mervyn Teck, sein Agent und Wahlkampfleiter, erklärte er, sei unwiderruflich in den Midlands aufgehalten worden.
Die drei Rotwangigen musterten mich noch einmal und nickten.
»Das Diner findet im Schlafenden Drachen statt, dem Hotel auf der anderen Seite des Platzes.« Er wies zu den Erkerfenstern hinaus auf die mit Körben voller Geranien geschmückte Giebelfassade eines knapp hundert Meter entfernten Gebäudes. »Um halb acht gehen wir rüber. Kurzer Empfang. Essen. Öffentliche Versammlung im großen Saal des Hotels. Wenn ein paar gute Zwischenrufer da sind, kann das bis Mitternacht dauern.«
»Ihr wollt Zwischenrufe?« fragte ich erstaunt.
»Natürlich. Das bringt doch erst Schwung in die Sache. Sonst schläft man ein.«
»Was ziehe ich an?« fragte ich schwach.
»Du mußt nur ordentlich aussehen. Ein Parteibonze beehrt uns. So ein unsicherer Wahlkreis ist ihnen schon mal einen Sonderauftritt wert. Ich gehe im Smoking, aber die Fliege ziehe ich vielleicht nachher aus. Mach ein, zwei Kragenknöpfe auf. Wir werden sehen.« Er lächelte beinah ruhig, aber ich merkte ihm die starke innere Erregung an. Ein Kämpfer ist das, dachte ich. Er ist mein Vater, dieser außergewöhnliche Mann. Er hat meine Träume beiseite gewischt und mich in eine andere Welt geführt, die zwar nicht ganz mein Fall ist, aber ich werde vier Wochen mit ihm gehen, weil er es will, und für ihn tun, was ich kann. Und danach? Er hatte es gesagt: Wir würden sehen.
Um halb acht gingen wir über den Platz, ich in grauer Hose und blauem Blazer (neu gekauft in Brighton), er in einer schwarzen Maßanfertigung, die wieder etwas zu meiner Bildung beitrug.
Er wurde mit Beifallsrufen und Applaus begrüßt. Ich lächelte unentwegt an seiner Seite, war furchtbar nett zu allen und schüttelte wie gewünscht eine Hand nach der anderen. Babys waren nicht zu sehen.
»Mein Sohn«, sagte er winkend. »Das ist mein Sohn.«
Einige der rund achtzig Leute bei dem Empfang und dem Diner waren förmlich gekleidet wie mein Vater, andere trugen nonchalant Hemden mit offenem Kragen, gestreift oder kariert.
Der Parteibonze kam mit perfekt sitzender schwarzer Fliege, seine Frau mit schlichten Diamanten. Ich sah, wie ungezwungen und charmant sie mit all den Fremden umging, und als ich ihr selbst vorgestellt wurde, drückte sie herzlich meine Hand und lächelte mir in die Augen, als sei es für sie der Höhepunkt des Abends, mich kennenzulernen. Bis du so viel echte und spontane Freundlichkeit in jeden Handschlag legen kannst, dachte ich, geht noch viel Wasser den Bach runter. Und ich sah auch, daß das Lächeln der Dame eine Urne voll Stimmen wert war.
Während sich der Saal füllte, begriff ich nach und nach, daß das Diner Eintritt kostete - daß bis auf den prominenten Besuch und meinen Vater alle für die Teilnahme bezahlt hatten. Mein Vater hatte offenbar auch für mich bezahlt. Obwohl eine der Organisatorinnen ihm versicherte, das sei nicht nötig.
»Laß dir niemals etwas schenken«, hatte er mich auf der Herfahrt von Brighton ermahnt. »Ein Geschenk mag harmlos aussehen, und auf einmal sitzt es dir im Nacken. Sag nein. Zahl aus der eigenen Tasche, verstanden?«
»Ich glaube.«
»Laß es nie dazu kommen, daß du für erwiesene Gefälligkeiten etwas Unrechtes tun mußt.«
»Laß dir von Fremden keine Bonbons geben?«
»Erfaßt.«
Die Organisatorin erklärte meinem Vater, daß er für eine mitgebrachte Ehefrau auch nicht hätte zahlen müssen.
Er sagte sanft lächelnd, aber bestimmt: »Für meinen Sohn zahle ich, liebe Polly. Widersprechen Sie nicht.«
Die liebe Polly wandte sich mit gespielter Gereiztheit an mich. »So ein Vater. Also ehrlich!« Ihr Blick ging an mir vorbei, und ihr Gesicht und ihre Stimme schwenkten von Schönwetter auf Sturm. »Scheibe!« sagte sie.
Ich schaute natürlich, wer oder was diese beinah komische Mißbilligung hervorgerufen hatte, und sah eine ernst blickende, dünne Frau in den Vierzigern, deren sonnengebräunte Haut in ihrem ärmellosen weißen Kleid glänzend zur Geltung kam. Blond gesträhntes Haar. Vitalität pur.
Die liebe Polly stieß ein leises: »Orinda!« hervor.
Orinda, die übergangene Kandidatin, versuchte nach Kräften, dem bevorzugten Rivalen die Schau zu stehlen, indem sie von einer ausgiebigen Umarmung zur nächsten schwebte und dabei laut verkündete: »Freunde, wir müssen der Partei dienen, so gut wir können, auch wenn der Wahlausschuß so einen Bock geschossen hat.«
»Zum Teufel mit ihr«, meinte die liebe Polly und setzte hinzu, daß sie selbst dem Wahlausschuß angehört habe.
Natürlich kannten alle Orinda. Sie klemmte sich den Kameramann des Lokalfernsehens unter den Arm, um ihrer schlanken weißen Gestalt die meisten Filmmeter zu sichern.
Die liebe Polly kochte vor Wut und zischte mir Informationen zu, als müsse sie platzen, wenn sie sie für sich behielt.
»Dennis war ein ganz Kuscheliger. Wie konnte er bloß so eine Natter heiraten!«
Die liebe Polly, selbst eher spröde als kuschelig, hatte ein längliches Gesicht, dem man nichts als Güte und Freundlichkeit ansah. Ihre Lippen waren dunkelrot bemalt - sie war wohl Lippenstift sonst nicht gewohnt, die Farbe paßte nicht zu ihrem gelblichen Teint.
»Dennis hat uns gesagt, wir sollten Orinda nominieren. Das hat sie ihm eingeredet. Er wußte ja, daß er stirbt.«
Orinda blendete nun einen Fotografen mit ihrem Lächeln.
»Der Mann ist von der Hoopwestern Gazette«, sagte Polly angewidert. »Jetzt kommt sie auf die Titelseite.«
»Aber ins Parlament kommt sie nicht«, meinte ich.
Pollys Augen richteten sich mit erwachender Belustigung auf mich. »Ganz der Vater, hm? Sein Blick fürs Wesentliche war das, was uns bewogen hat, ihn zu nominieren. Der Wahlausschuß bestand aus siebzehn Leuten, und am Anfang war die Mehrheit ganz klar für Orinda, die das als selbstverständlich ansah.«
Und sie hatte die Rechnung ohne Polly gemacht, dachte ich. Ohne Polly und ihresgleichen.
Polly meinte: »Sie scheut sich nicht mal, mit ihrem Liebhaber zu kommen!«
»Ehm«, sagte ich. »Bitte?«
»Der Mann hinter ihr. Das war Dennis’ bester Freund.«
Ich begriff zwar nicht, wieso Dennis’ bester Freund automatisch Orindas Liebhaber sein sollte, aber bevor ich nachhaken konnte, wurde Polly mir entführt. Dennis’ bester Freund, ein Mann, der es fertigbrachte, selbst im Smoking nach nichts auszusehen, schien mit den Gedanken eher woanders zu sein, hielt sich aber strikt hinter Orinda: Fast wie ein Leibwächter, dachte ich.
Der Parteipromi hingegen hatte wirklich einen Leibwächter dabei, einen kräftigen jungen Schatten, dessen Aufmerksamkeit auf die Gesellschaft, nicht auf seinen Brotgeber gerichtet war.
Ich fragte mich, ob mein Vater, wenn er weiter die Erfolgsleiter hinaufstieg, auch Leibwächter in Kauf nehmen würde.
Mein Vater forderte mich auf, ihn durch den Saal zu begleiten, und ich versuchte, es der Frau des Parteipromis gleich zu tun, reichte aber kaum an sie heran. Ich spielte, und sie war echt.
Man zog nach nebenan in den Speiseraum, wo sich zu viele für je zehn Personen gedeckte Tische auf zuwenig Quadratmetern drängten. Die Sitzordnung war durch Tischkarten festgelegt, und als ich mit meinem Vater als einer der letzten hereinkam, mußte ich feststellen, daß wir nicht nur an verschiedene Tische gesetzt worden waren - er kam natürlich zu dem Parteipromi und dem Vorsitzenden der Wählervereinigung -, sondern daß man mich nach ganz hinten zwischen eine Mrs. Leonard Kitchens und Orinda selbst gequetscht hatte.
Als Orinda sich an einem so unmöglichen Platz wiederfand, spie sie Feuer. Bebend vor Zorn stand sie da und klopfte mit einer Gabel an ihr Glas, um sich Gehör zu verschaffen, doch das ging im Trubel und Geschiebe der achtzig Platz nehmenden Leute völlig unter. Orindas Empörung drang kaum über ihr Gedeck hinaus.
»Das ist ein Affront! Ich sitze immer am Haupttisch! Ich verlange ...«
Niemand hörte ihr zu.
Durch das Gedränge sah ich, wie die liebe Polly meinen Vater an seinen Ehrenplatz bugsierte, und dachte belustigt, daß Orinda Pech hatte, weil Polly die Fäden in der Hand hielt.
Orinda starrte mich böse an, während ich höflich darauf wartete, daß sie Platz nahm. Sie hatte grüne Augen, schwarze Wimpern. Glattgeschminkter Teint.
»Wer sind Sie denn?« wollte sie wissen und schnappte sich kurzerhand meine Tischkarte. Ihr roter Mund klappte auf. Der Name verschlug ihr die Sprache.
»Ich bin sein Sohn«, sagte ich lahm, »möchten Sie nicht Platz nehmen?«
Sie kehrte mir den Rücken und wandte sich an ihren Leibwächter (Liebhaber?), den besten Freund ihres verstorbenen Mannes, eine nichtssagende Erscheinung mit teilnahmslosem Gesicht.
»Tu was!« befahl ihm Orinda.
Er blickte an mir vorbei und tat mich, ohne eine Miene zu verziehen, als Mensch ohne Bedeutung ab. Wortlos zog er den für Orinda vorgesehenen Stuhl heraus, und zu meiner Überraschung drängte sie ihre Wut zurück, setzte sich starr und steif und fügte sich in das, was sie nicht ändern konnte.
In der Schule lernte man, was Macht war, wer Macht hatte und wer nicht. (Ich hatte keine.) Orindas unscheinbarer Begleiter war ihr an innerer Kraft weit überlegen, so wenig er es nach außen zeigte.
Mrs. Leonard Kitchens, die Frau zu meiner Rechten, tippte auffordernd an meinen Stuhl; ich solle mich doch setzen. Mrs. Leonard Kitchens, mollig und mütterlich im geblümten Kleid, sagte mir mit hörbarem Dorseter Einschlag, mein Vater sehe zu jung aus, um so einen großen Sohn zu haben.
»Wirklich wahr«, pflichtete ich ihr bei.
Leonard selbst, eins weiter, hatte einen grimmigen Schnauzbart im Gesicht und bemühte sich vergebens, über seine Frau und mich hinweg mit Orinda ins Gespräch zu kommen. Ich erbot mich, meinen Platz mit ihm zu tauschen; seine Frau fauchte: »Nein!«
Dank Mrs. Leonard Kitchens’ talentiertem Geplauder brachten wir das Essen (Eiersalat, Huhn, Erdbeeren) ohne Zwischenfälle hinter uns, und dabei erfuhr ich, daß »mein Leonard«, ihr Mann, von Hause aus Gärtnereibesitzer war, extreme politische Ansichten vertrat und Aversionen gegen Manchester United hegte.
Beim Huhn erwähnte Mrs. Kitchens zu meiner Überraschung, daß Dennis Nagle nicht, wie ich angenommen hatte, irgendein Hinterbänkler gewesen war, sondern Staatssekretär im Handelsund Industrieministerium. Wenn mein Vater das Mandat bekam, würde er karrieremäßig weit hinter Dennis zurückstehen.
Mrs. Leonard Kitchens redete verschwörerisch in mein rechtes Ohr. »Ich sollte es Ihnen vielleicht nicht sagen, Ben, aber Polly hat absichtlich die Tischkarten vertauscht, damit Orinda neben Sie kommt. Ich hab’s gesehen. Sie hat dabei gelacht. Sie konnte Orinda noch nie leiden.« Ihre halblaute Stimme wurde noch leiser, damit die Dame zu meiner Linken nichts auffing. »Als Kandidatenfrau war Orinda klasse, besonders bei Feierlichkeiten und so, aber daß sie Dennis manchmal herumkommandiert hat, läßt sich nicht leugnen. Mein Leonard saß im Wahlausschuß und hat natürlich für sie gestimmt. Männer fahren eben auf sie ab.« Sie lehnte sich zurück, legte den großen Kopf auf die Seite und sah mich an. »In das Alter kommen Sie erst noch.«
Zu meiner Bestürzung merkte ich, wie ich rot wurde. Mrs. Kitchens lachte ihr weltkluges Lachen und verputzte ihre Erdbeeren. Orinda Nagle ignorierte mich völlig, jammerte aber ihrem wortkargen, meist nur brummenden Begleiter pausenlos die Ohren voll. Ich wäre lieber sonstwo gewesen.
Nach dem Essen wanderte die geschwätzige Gesellschaft den Gang hinunter in den großen, von Kronleuchtern erhellten hinteren Saal, der den Schlafenden Drachen hier zu einem beliebten Lokal für Hochzeiten, Tanzfeste und Diskussionsabende wie diesen machte.
Orindas Begleiter ließ seine Tischkarte zurück, und aus nicht allzugroßer Neugier sah ich sie mir an. Mr. A. L. Wyvern stand darauf.
Ich ließ »Mr. A. L. Wyvern« wieder zwischen die gebrauchten Servietten und Kaffeetassen fallen und pilgerte wie jedermann zu den für die Versammlung in Reihen aufgestellten Klappstühlen. Irgendwo hatte ich gelesen, daß solche Veranstaltungen manchmal kaum Publikum anzogen, aber hier fanden sich - vielleicht, weil mein Vater neu im Wahlkreis war - fast doppelt so viele Leute ein, wie an dem Diner teilgenommen hatten, und alles wartete auf gute Unterhaltung.
Es war die erste politische Versammlung, der ich beiwohnte, und von mir aus hätte es gern die letzte sein können.
Zuerst wurden vom Podium herunter einige Reden gehalten. Der Vorsitzende der Wählervereinigung kam vom Hundertsten ins Tausendste. Der Parteibonze sprach zwanzig Minuten im Stehen. Seine Frau lächelte beifällig dazu.
Mein Vater trat vor und lockerte die Sache auf, indem er den Saal zum Lachen brachte. Ich merkte, wie sich ein schmalziges Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, ähnlich dem der Frau des Bonzen, nur daß bei mir vor allem Erleichterung dahinterstand. Ich hatte befürchtet, er käme vielleicht nicht an, er könnte mich in peinliche Verlegenheit bringen, indem er sein Publikum langweilte.
Irrtum. Er sagte ihnen, was das Land brauchte und warum. Er sagte ihnen, was im argen lag und wie es sich ändern ließ. Er lieferte ihnen ein schmackhaftes Rezept. Er sagte ihnen, was sie hören wollten, und sie applaudierten ihm mit Händen und Füßen.
Der Kameramann des Lokalfernsehens filmte den Jubel.
Orinda war das natürlich überhaupt nicht recht. Sie saß so steif auf ihrem Platz, als hätte sie statt der Wirbelsäule einen Eisenstab im Rücken. Ich sah die harte Linie ihres Kinns und den grimmig angespannten Zug um ihren Mund. Sie hätte nicht kommen sollen, dachte ich; aber es konnte immerhin sein, daß sie die Entscheidung des Wahlausschusses tatsächlich für einen krassen Fehler hielt. Die liebe Polly, Chefabwählerin von Dennis’ Witwe, betrachtete hingerissen meinen Vater, als hätte sie ihn selbst kreiert, und ohne sie hätte er diese Gelegenheit, an seinem Glück zu schmieden, vielleicht ja wirklich nicht bekommen.
Strahlend über den gelungenen Auftakt, bat er um Fragen und zog, wie er es sich vorgenommen hatte, die Fliege aus. Er warf sie auf den Tisch und kam dann um den Tisch herum nach vorn, so daß nichts mehr zwischen ihm und dem Publikum war. Er umfing sie mit weit offenen Armen. Er lud sie ein, sich mit ihm gemeinsam auf ein politisches Abenteuer einzulassen, auf eine bessere Welt, insbesondere auf ein besseres Hoopwestern hinzuarbeiten.
Er hatte sie im Griff. Er brachte sie zum Lachen. Sein Timing hätte von einem Alleinunterhalter gelernt sein können. Er war mitreißend, überzeugend, aufrüttelnd, und ich auf meinem unauffälligen Eckplatz konnte nur staunen und schließlich stolz auf diesen Vater sein, der einen solchen Auftritt hinlegte.
»Ich bin für Sie da«, sagte er. »Kommen Sie über den Platz in mein Büro. Sagen Sie mir, was Sie drückt, was Ihnen Sorgen bereitet hier in Hoopwestern. Mit wem ich sprechen, wen ich anhören soll. Erzählen Sie mir, wie es hier früher war ... und ich sage Ihnen, was auf Sie zukommt. Wenn Sie mich wählen, werde ich für Sie arbeiten, Ihre Wünsche ins Parlament tragen, mich in allen Belangen für Sie einsetzen. Ich werde dem Unterhaus ein paar Glühbirnen aufstecken .«
Gelächter übertönte ihn. Die Glühlampenfabrik war der wirtschaftliche Motor der Stadt, und er wollte die Stimmen der Arbeiter.
Wer Gutes tun will, braucht Macht, sagte er, wie die Glühbirne den Strom. Allerdings sollte man nur Menschen Macht verleihen, die genug Kraft in sich haben, um sie zurückzugeben wie Wärme und Licht. »Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken, lasse ich Ihre Lampen leuchten.«
Die Energie meines Vaters sprang auf die Leute über. Sie fragten laut, er antwortete laut. Wo es darauf ankam, war er ernst, sonst scherzte er. Völkermord entsetzte ihn, und Katzen waren ihm sympathisch. Er ließ sich nicht festnageln, versprach aber, niemals für etwas einzutreten, über dessen Tragweite er sich nicht im klaren sei.
»Die Gesetzgebung«, sagte er scherzhaft, »erreicht nicht selten genau das, was sie eigentlich verhindern soll. Das wissen wir alle. Wir beklagen die Folgen. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen lassen werde, solange ich Ihre Interessen vertrete. Sie als Bürger von Hoopwestern sagen mir bitte klipp und klar, wo Gefahren drohen und worauf ich achten muß. Ich werde leise für Sie sprechen, nicht poltern und lärmen, denn Lärm stiftet nur Unfrieden, aber das leise Wort wirkt im stillen, findet Gehör und wird in sinnvolles Tun umgesetzt.«
Ob sie ihn verstanden oder nicht, sie mochten ihn.
Als eifrigste Zwischenrufer des Abends entpuppten sich nicht etwa die Anhänger des Oppositionskandidaten Paul Bethune, obwohl einige an dem Diner teilgenommen hatten und nachher auf den Klappstühlen ein kampflustiges Trüppchen bildeten, sondern die vermeintlichen politischen Mitstreiter (de facto aber persönlichen Gegner) meines Vaters, Orinda Nagle und Leonard Kitchens.
Beide verlangten ein entschiedenes Bekenntnis zu der von ihnen gewünschten Politik. Beide erregten sich und gestikulierten wild. Mein Vater antwortete mit gelassenem Humor und hielt sich an das erklärte Grundsatzprogramm seiner Partei: Er mußte sich auch die Stimmen der extrem Linientreuen sichern.
Orinda mit ihrer Erfahrung merkte zwar, daß sie keinen Stich bekam, kämpfte aber weiter. Mr. A. L. Wyvern kniff halb die Augen zu und vergrub die Ohren im Jackenkragen. Ich konnte richtig zusehen, wie sein Einfluß auf Leonard und Orinda nachließ.
Mein Vater würdigte die Leistung Dennis Nagles. Orinda sagte, keineswegs besänftigt, ein blutiger Anfänger wie George Juliard könne unmöglich weitermachen, wo ihr Mann aufgehört habe, ganz gleich, wie breit die Heldenbrust, wie geistreich, schlagfertig und charismatisch er sei.
Ein Buhruf kam aus den hinteren Reihen. Gelächter brach aus, löste die von Orinda aufgebaute nervöse Anspannung. Das gab meinem Vater wieder Aufwind, der Orinda herzlich für die Jahre ihrer Arbeit in der Partei dankte und ihr geschickt die Anerkennung des Publikums verschaffte, indem er ihr zuklatschte und alle ermunterte, es ihm nachzutun. Es gab großzügigen, wenn auch nicht lebhaften Beifall.
Orinda, durch dieses Dankeschön zum Schweigen gebracht, mußte sich in ohnmächtiger Wut geschlagen geben. Leonard Kitchens sprang von seinem Platz auf, um für sie zu sprechen, und wurde niedergeschrien. Sein Schnauzbart sträubte sich vor Ärger, die dicken Brillengläser blinkten im Licht, während er wie ein verwundeter Stier hin und her wankte. Sein gemütliches Frauchen sah aus, als würde sie ihm, wenn sie heimkamen, den Gnadenstoß versetzen.
Mein Vater lobte Leonards treue Haltung und versprach ihm, sich im Falle seiner Wahl immer an den hohen Zielen und dem ehrenvollen Vorbild Dennis Nagles zu orientieren. Mit weniger sei den Menschen in Hoopwestern nicht gedient.
Wieder gab es Jubel. Wieder forderte er sie zum persönlichen Gespräch auf, und sie drängten sich an den Sitzen vorbei nach vorn, um ihn beim Wort zu nehmen.
Die liebe Polly, munter plaudernd mit Parteipromi und Frau, winkte mich aufs Podium, und der Promi meinte angesichts der lärmenden, erregten Menge zu mir, mein Vater verfüge bereits über alle Voraussetzungen, um ganz nach oben zu kommen. »Er braucht lediglich Glück - und darf sich nicht die Finger verbrennen«, sagte er.
»Wie Paul Bethune«, meinte Polly nickend.
»Hat er sie sich verbrannt?« fragte der Promi.
»Ach herrje!« Polly wurde ganz verlegen. »George hat uns verboten, über Paul Bethunes Charakter herzuziehen. Solche Schmähkampagnen können nach hinten losgehen, meint er. Paul Bethune hat eine Geliebte und mit der Geliebten ein uneheliches Kind, was er nach Kräften zu vertuschen versucht hat, und George will das nicht gegen ihn verwenden.«
Mrs. Promi sah mich abschätzend an. »Über Ihrer Geburt liegt doch wohl kein Schatten, junger Mann?«
»Natürlich nicht«, versicherte ihr Polly mit Vehemenz, und ich fragte mich, ob mein Vater seinerzeit vielleicht daran gedacht hatte, daß es für ihn einmal wichtig sein könnte, ein Kind zu haben, das ehelich war. So wie ich ihn an diesem Tag kennengelernt hatte, schien zwar alles möglich, am wahrscheinlichsten aber blieb, daß er meine Mutter aus dem für ihn typischen Ehrgefühl heraus geheiratet hatte. Ich war nach wie vor überzeugt, daß er sich niemals vor der Verantwortung für seine Taten drückte. Daß ich kein Wunschkind war, wußte ich, aber das Leben, das er mir ermöglicht hatte, ließ wirklich nichts zu wünschen übrig.
Es wurde Mitternacht, bis sich das Gros der Leute auf den Heimweg machte. Mr. und Mrs. Promi waren samt Chauffeur und Leibwache längst abgerückt. Polly gähnte aus wohlverdien-ter Müdigkeit. Orinda und Mr. A. L. Wyvern waren nirgends zu sehen, und Mrs. Leonard Kitchens hatte ihren Leonard mit scharfem Zungenschlag hinausgepeitscht.
Ich wartete auf meinen Vater bis zum Schluß, nicht nur, weil ich keinen Schlüssel zu unserer Bleibe über dem Wahlkampfbüro hatte, sondern auch, weil mein Vater jemanden brauchte, bei dem er sich entspannen konnte, wenn der Jubel verhallt war. Man brauchte keine achtzehn zu sein, um zu wissen, daß auf Siegesfreude das Bedürfnis nach menschlicher Nähe folgte. Nach drei meiner wenigen gewonnenen Jagdrennen war ich in die leere Wohnung bei Mrs. Wells zurückgekehrt und hatte keinen gehabt, mit dem ich lachen, johlen, toben und meine unbändige Freude teilen konnte. Heute abend brauchte mich mein Vater. Eine Frau wäre besser gewesen, aber irgend jemand mußte dasein. Also blieb ich.
Er legte mir den Arm um die Schultern.
»Herrgott«, sagte er.
»Eines Tages wirst du Premierminister«, prophezeite ich ihm. »Mr. Promi hat Angst davor.«
Er sah mich müde, mit glänzenden Augen an. »Weshalb sollte jemand Angst davor haben?«
»Cäsaren werden immer umgebracht. Hast du doch selbst gesagt.«
»Bitte?«
»Du warst brillant.«
»Auf deinen Sarkasmus kann ich verzichten, Ben.«
»Nein, im Ernst, Vater .«
»Dad.«
»Dad ...« Ich blieb stecken. Als Dad konnte ich ihn nicht ansprechen. Ein Dad war jemand, der seine Kinder in die Schule fuhr, sich Schneeballschlachten mit ihnen lieferte und sie herunterputzte, wenn sie zu spät nach Hause kamen. Von einem Dad bekam man keine Weihnachtskarte mit beigefügtem Scheck für die Skischule. Dads gratulierten nicht mit einem unpersönlichen Fax per Hoteladresse, wenn ihr Sproß einen Juniorenabfahrtslauf gewann. Dads standen an der Piste und schauten sich das an. Im Gegensatz zu Vätern.
Die letzten Versammlungsteilnehmer kamen herbei, um ihm strahlend zu gratulieren. Er ließ mich los und gab ihnen die Hand, verbindlich und freundlich zu allen, und ich sah im Geist schon, wie sie in den nächsten vier Wochen herumerzählten: »Juliard ist ein ausgezeichneter Mann, so einen brauchen wir ... Wählen Sie Juliard, da liegen Sie richtig.« Dieser Abend würde Wellen schlagen, auch über den Bezirk von Hoopwestern hinaus.
Mein Vater kam ein wenig von seiner Wolke herunter und fand, er habe für diesen Tag genug getan. Wir verließen den Saal und kehrten ins Foyer zurück, um schließlich, von einhelligen Gutenachtwünschen begleitet, durch die warme Augustnacht zu dem schwach erhellten Haus mit den Erkern auf der anderen Seite zu gehen.
Um den Platz herum standen Straßenlaternen, und hinter uns hatten wir die Lichter des Hotels, doch das schmucke Pflaster, auf dem wir gingen, war schwarz und holprig. Später erfuhr ich, daß ältere Leute bei Glatteis hier öfters ausrutschten und sich die Knochen brachen, und in dieser euphorischen Nacht stolperte mein Vater auf dem unebenen Belag und schlug bei dem mißglückten Versuch, sich aufzufangen, mit einem Knie am Boden auf.
Genau in diesem Moment gab es einen lauten Knall, ein scharfes Pfeifen, und Glas klirrte.
Ich bückte mich zu meinem Vater hinunter und sah im Licht seine schreckgeweiteten Augen und den schmerzverzogenen Mund.
»Lauf«, sagte er. »Geh in Deckung. Hau ab!« Ich blieb jedoch, wo ich war.
»Ben«, sagte er, »um Himmels willen, das war ein Schuß.«
»Ja, ich weiß.«
Wir waren mitten auf dem Platz; leicht zu treffende, unbewegliche Ziele. Während er sich aufzurappeln versuchte, sagte er mir noch einmal, ich solle verschwinden, und ausnahmsweise bildete ich mir selbst ein Urteil und widersetzte mich ihm.
Er konnte sein rechtes Fußgelenk nicht belasten. Er kam halb hoch, knickte wieder ein und beschwor mich, zu fliehen.
»Bleib unten«, sagte ich ihm.
»Du verstehst nicht .« Seine Stimme klang gequält.
»Bist du getroffen?«
»Was? Ich glaube nicht. Ich habe mir den Fuß verrenkt.«
Alarmiert von dem Knall, den die Häuser am Platz zurückgeworfen hatten, kamen Leute aus dem Hotel auf uns zugelaufen und blieben neugierig, unschlüssig, mit verständnislosen Mienen um uns herum stehen.
Einige sagten in dem Durcheinander: »Was ist denn? Was ist passiert?«, andere streckten ihm die Hände entgegen, um ihm aufzuhelfen, zeigten sich wohlmeinend besorgt und freundlich.
Als ihn ein ganzer Ring von Leuten umgab, ergriff er schließlich meinen Arm und stützte sich auf andere, um auf die Füße zu kommen, oder besser gesagt, auf den rechten Fuß, denn den linken konnte er nicht aufsetzen, weil es zu weh tat. Er war jetzt weniger erschrocken als verlegen und sagte den Hilfsbereiten, die ihn umdrängten, er sei eben zu dumm, um aufzupassen, wo er hintrete. Er entschuldigte sich. Es sei nichts passiert. Zum Beweis lächelte er. Und fluchte verhalten, was den Leuten gefiel.
»Aber der Knall«, sagte eine Frau.
Zustimmendes Nicken. »Das hat sich angehört wie ein .«
»Nicht bei uns in Hoopwestern .«
»War das . ein Gewehr?«
Ein wichtigtuerischer Mann sagte entschieden: »Ein Büchsenschuß, ganz ohne Zweifel. Irgendein Irrer ...«
»Aber wo denn? Hier hat doch niemand ein Gewehr.«
Alle blickten sich um, doch es war längst zu spät, um das Gewehr oder gar den wilden Schützen zu entdecken.
Mein Vater legte mir wieder den Arm um die Schultern, aber diesmal nicht, weil er Zuspruch brauchte, sondern um sich abzustützen, und gab allen zu verstehen, daß wir uns nun lange genug auf dem Platz aufgehalten hätten.
Der Wichtigtuer stieß mich förmlich beiseite, nahm meinen Platz als Stütze ein und sagte: »Überlassen Sie mir das. Ich bin stärker als der Bub. Wir haben Sie gleich drüben. Stützen Sie sich nur auf mich.«
Mein Vater drehte sich nach mir um, und ich sah ihm an, daß er mir zuliebe widersprochen hätte, aber da mir das unnötig schien, bedeutete ich ihm, mit dem Mann zu gehen. Der Wichtigtuer schleppte meinen humpelnden Vater gekonnt zum Büro hinüber, und wir blieben umdrängt von Leuten, die ihre Teilnahme und ihre Hilfsbereitschaft bekundeten.
Ich ging hinter meinem Vater, was ich ganz natürlich fand. Dann hörte man eine angstvolle, hohe Stimme, und ich drehte mich um und sah Polly, die stolpernd in Riemensandalen über das Pflaster gelaufen kam.
»Ben ... Ben ... ist auf George geschossen worden?«
»Nein, Polly«, sagte ich, um sie zu beruhigen. »Nein.«
»Jemand sagte, man hätte auf George geschossen.« Sie war außer Atem und voller Unglauben.
»Schauen Sie, da läuft er.« Ich nahm sie beim Arm und zeigte hin. »Er hinkt, und er regt sich furchtbar auf, weil er sich den Fuß verrenkt hat und sich auf jemand stützen muß.«
Pollys Arm zitterte, und der Aufruhr in ihr legte sich erst, als sie sah, daß George wirklich noch auf den Beinen war und kräftig fluchen konnte.
»Aber der Schuß .«
Ich sagte: »Anscheinend hat jemand genau in dem Moment, als er auf dem Pflaster gestolpert ist, einen Schuß abgefeuert, aber der hat ihn auf keinen Fall getroffen, sonst würde er ja bluten.«
»Sie sind noch so jung, Ben.« Sie zweifelte immer noch.
»Jedes Kind kann sehen, daß er nicht blutet.« Ich sagte es scherzend, aber vermutlich überzeugte sie die aus meinen Worten klingende Erleichterung. Sie blieb an meiner Seite und schloß sich der Rattenfängerprozession zum Eingang des Wahlkampfbüros an, wo mein Vater einen Schlüssel hervorholte und alle hineinbat.
Er hüpfte zu dem Drehstuhl hinter seinem gewohnten Schreibtisch, sah eine Nummer nach und rief die Ortspolizei.
»Da sind schon Beschwerden eingegangen«, erklärte er uns, als er auflegte. »Sie sind auf dem Weg hierher. Abfeuern eines Schusses ... Ruhestörung ... so in der Art.«
Jemand sagte: »Sie brauchen einen Arzt«, und jemand anders verständigte einen.
»Zu liebenswürdig. Sie sind alle unheimlich nett«, sagte mein Vater.
Ich löste mich aus dem Gedränge und schaute von der offenen Tür hinüber zum Schlafenden Drachen, der sinnigerweise hellwach war - Leute blickten aus den Fenstern der oberen Stockwerke, Leute standen im hell erleuchteten Eingang.
Das Pfeifen der vorbeizischenden Kugel fiel mir ein, und ich dachte an Abpraller. Mein Vater war auf geradem Weg vom Hotel zum Wahlkampfbüro gegangen. Wenn die Kugel ihm gegolten hatte und er genau im Moment des Abdrückens gestolpert war; wenn der Schuß aus einer der oberen Etagen des Schlafenden Drachen gekommen war und nicht von unten, wo noch zu viele Leute herumliefen; wenn das Klirren, das ich gehört hatte, wirklich von zersprungenem Glas rührte - wieso waren dann die Scheiben hier im Erker noch alle unbeschädigt?
Weil das Ganze ein Zufall war, sagte ich mir. Der Schuß war nicht dazu bestimmt gewesen, George Juliards politische Laufbahn zu beenden, bevor sie noch angefangen hatte. Natürlich nicht. Kindisch, das zu dramatisieren.
Ich wollte wieder hineingehen, drehte mich um und sah ein paar Glasscherben am Boden aufblitzen.
Das Fenster des Trödelladens nebenan war getroffen worden.
Abpraller. Die Kugel konnte durch die gewölbte Oberfläche eines Pflastersteins aus der geraden Flugbahn gebracht worden sein. Eine geradeaus fliegende Kugel hätte wahrscheinlich glatt das Glas durchschlagen, ohne es zu zerschmettern, aber eine aus der Bahn gebrachte ... deren Schwingungen konnten Glas bersten lassen.
Die Polizei traf auf dem Parkplatz des Büros ein, und der Arzt ebenfalls. Alle redeten gleichzeitig.
Der Arzt sagte, während er Vaters Fuß verband, es handele sich um eine Zerrung, nicht um einen Bruch. Kalte Umschläge und Hochlagern empfahl er. Die Polizei ließ sich von dem Wichtigtuer über Gewehrschüsse belehren.
Ich stellte mich etwas abseits, und irgendwann sah ich, wie mein Vater erstaunt und fragend durch das Gedränge zu mir herübersah. Ich lächelte ein wenig, und schon war die Sicht auf ihn wieder durch Leute versperrt.
Einem Polizisten, der noch nicht lange in Uniform zu stecken schien, erzählte ich von dem zerbrochenen Fenster nebenan, und er kam mit nach draußen, um es sich anzusehen. Als ich aber etwas von Abprallern andeutete, bekam er einen spöttischen Blick und fragte mich, wie alt ich sei. Wir hätten in der Schule Gewehrschießen geübt, antwortete ich. Er nickte unbeeindruckt und machte sich eine Notiz. Als er wieder zu seinen Kollegen hineinging, folgte ich ihm.
Die liebe Polly stand bei meinem Vater und hörte sich besorgt alles an. Ein Fotograf machte Aufnahmen. Dafür, daß niemand angeschossen worden war, dauerte das ganze Theater recht lange, und es ging auf zwei Uhr zu, bis ich endlich die Türen vorn und hinten absperren, die Riegel vorlegen und die Festbeleuchtung ausschalten konnte.
Mein Vater rutschte rückwärts im Sitzen die Treppe hinauf. Er wollte nicht mehr Hilfe als unbedingt nötig in Anspruch nehmen und quälte sich allein ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer, auf eins der beiden Einzelbetten. Für mich war eigentlich die Bettcouch in dem kleinen Wohnzimmer vorgesehen, aber ich landete schließlich halb angezogen und kein bißchen müde auf dem zweiten Bett, neben meinem Vater.
Vor knapp zwanzig Stunden war ich mit dem Fahrrad bei Mrs. Wells losgefahren, um in den sonnigen, begrasten Hügeln Galopp zu reiten. Ich war aus meinem alten Leben herausgerissen und in eine neue Welt verpflanzt worden, und minutenlang hatte ich befürchtet, ich könnte eine Kugel in den Rücken bekommen. Wie sollte ich da schlafen?
Ich knipste die Nachttischlampe aus.
Mein Vater sagte im Dunkeln: »Wieso bist du nicht weggelaufen, Ben?«
Nach kurzem Zögern erwiderte ich: »Wieso wolltest du denn, daß ich weglaufe?«
»Damit du nicht erschossen wirst.«
»Mhm. Aus dem Grund bin ich geblieben. Damit du nicht erschossen wirst.«
»Du hast dich dazwischengestellt ...?«:
»Immer noch besser als Babys tätscheln.«
»Ben!«
»Ich glaube, das war ein 22er Gewehr, wie man es zum Scheibenschießen nimmt«, sagte ich nach einer Weile. »Ein High-Speed-Geschoß wahrscheinlich. Das Geräusch kenne ich. Eine 22er Kugel bringt einen so leicht nicht um. Man müßte schon glatt in den Kopf oder ins Genick getroffen werden. Ich habe nur deinen Kopf abgeschirmt.«
Im anderen Bett war es still. Dann sagte er: »Ich hatte vergessen, daß du schießen kannst.«
»Ich war in der Schulmannschaft. Unser Schießlehrer war einer der landesbesten Scharfschützen.« Ich lächelte im Dunkeln. »Und du hast den Unterricht bezahlt.«