Am Dienstag der letzten vollen Stimmenwerbungswoche brachte ein Lieferwagen endlich mein Fahrrad und die Kiste mit den Habseligkeiten, die ich bei Mrs. Wells zurückgelassen hatte.
Im Hotelzimmer oben stöberte Vater interessiert in den dürftigen Relikten meines Lebens: zwei Ehrenpreise für an Ostern gewonnene Amateurrennen, etliche Fotos von mir zu Pferd und auf Skiern, Schulfotos wie etwa ein steifes Gruppenbild der Schützenmannschaft, deren Kapitän einen Pokal in den Armen hielt. Bücher über Mathematik und über berühmte Rennreiter. Auch Kleider, aber nicht so viele, da ich zu meinem Leidwesen immer noch wuchs.
Vater suchte meinen Reisepaß, meine Geburtsurkunde und das gerahmte Foto seiner Hochzeit mit Mutter heraus. Er nahm das Bild aus dem Rahmen, und nachdem er es minutenlang betrachtet hatte, strich er mit dem Finger über ihr Gesicht und seufzte tief, für mich das erstemal, daß er erkennen ließ, wie nah ihm der Verlust ging.
Unüberlegt sagte ich: »Weißt du noch, wie sie war? Würdest du sie erkennen, wenn sie jetzt ins Zimmer käme?«
Er warf mir einen so freudlosen Blick zu, daß mir klar wurde, ich hatte eine unverzeihlich vorwitzige Frage gestellt, aber dann sagte er nur: »Die erste vergißt man nie.«
Ich schluckte.
Er sagte: »Hattest du schon deine erste?«
Ich wand mich, konnte vor Verlegenheit kaum sprechen, sagte schließlich aber wahrheitsgemäß: »Nein.«
Er nickte. Es war ein Augenblick nahezu unerträglicher Intimität, der erste überhaupt zwischen uns, aber er blieb völlig sachlich und ruhig und ließ mir Zeit, mich zu fassen.
Er sah einige Papiere durch, die er kürzlich aus London mitgebracht hatte, steckte sie zusammen mit meinen Identitätsnachweisen in seine Aktentasche, ließ die Schlösser zuschnappen und erklärte, wir würden der Hoopwestern Gazette einen Besuch abstatten.
Genaugenommen besuchten wir den Chefredakteur, der zugleich auch Herausgeber und Inhaber der Gazette, der einzigen lokalen Tageszeitung, war. Ein Mann in Hemdsärmeln, gestreßt, mittleren Alters und dem Tenor seiner Titelseiten nach ein Kritteler. Er stand von seinem Schreibtisch auf, als wir hereinkamen.
»Mr. Samson Frazer«, nannte Vater ihn beim Namen, »als wir neulich abends miteinander sprachen, haben Sie mich gefragt, ob ich meine Wähler für blöd halte.«
So bedeutend Samson Frazer in Hoopwestern sein mochte, er hatte nicht das Format meines Vaters. Interessant, dachte ich.
»Ehm ...«, sagte er.
»Wir kommen darauf zurück«, erklärte ihm Vater. »Zuerst möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
Er klappte die Aktentasche auf.
»Schauen Sie, was ich Ihnen mitgebracht habe«, sagte er und legte die Dokumente der Reihe nach vor den Redakteur hin. »Meine Heiratsurkunde. Die Geburtsurkunde meines Sohnes. Seinen und meinen Reisepaß. Ein Foto von meiner Frau und mir, aufgenommen vor dem Standesamt nach unserer Heirat. Auf der Rückseite« - er drehte das Foto um - »finden Sie Name und Copyrightvermerk des Fotografen sowie das Datum. Und hier ist der Totenschein meiner Frau. Sie ist an Komplikationen nach der Geburt unseres Sohnes gestorben. Unseres Sohnes Benedict hier, der mein einziges Kind ist und mir in diesem Wahlkampf zur Seite steht.«
Der Redakteur warf mir einen raschen Blick zu, als hätte er mich jetzt erst wahrgenommen.
»Sie beschäftigen einen gewissen Usher Rudd«, sagte mein Vater. »Den sollten Sie mit Vorsicht einsetzen. Er legt es anscheinend darauf an, Zweifel an der Identität und der ehelichen Geburt meines Sohnes auszustreuen. Da soll er dreiste Anspielungen gemacht haben.«
Er fragte den Redakteur, woher er das mit den »blöden« Wählern habe, eine Wendung, die wir nur spaßeshalber und unter vier Augen in unserem Hotelzimmer gebraucht hätten.
Samson Frazer erstarrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen.
»Wenn es sein muß«, sagte Vater, »schicke ich Haarproben zum Gentest ein. Haare von mir, von meinem Sohn und von meiner Frau - aus einer Locke, die sie mir geschenkt hat. Ich hoffe, Sie denken gut über alles nach, was ich Ihnen gesagt und Ihnen gezeigt habe.« Methodisch räumte er die Sachen wieder in seine Aktentasche. »Denn falls die Hoopwestern Gazette die Herkunft meines Sohnes in Zweifel ziehen sollte«, fuhr er freundlich fort, »dürfen Sie sicher sein, daß ich das Blatt und Sie persönlich wegen Verleumdung und Beleidigung verklage, und dann wären Sie vielleicht froh, Sie hätten es bleibenlassen.« Er verschloß die Aktentasche so heftig, daß daraus selbst schon eine Drohung klang.
»Haben Sie verstanden?« fragte er.
Der Redakteur sah ganz so aus.
»Gut«, sagte mein Vater. »Wenn Sie mich bei einer unsauberen Geschichte erwischen, geht das in Ordnung. Wenn Sie aber eine konstruieren, hänge ich Sie an den Zehen auf.«
Samson Frazer fiel dazu nichts ein.
»Guten Tag, Sir«, sagte mein Vater.
Auf dem Rückweg ins Hotel war er in Hochstimmung, und er summte auf dem Weg nach oben.
»Was hältst du davon«, meinte er, »wenn wir einen Pakt schließen?«
»Was für einen Pakt?«
Er legte die Aktentasche auf den Tisch und nahm zwei Bogen Schreibpapier heraus.
»Ich habe vor«, sagte er, »dir ein Versprechen zu geben, und dasselbe Versprechen sollst du mir geben. Wir wissen beide, wie leicht man einem Usher Rudd ausgeliefert ist.«
»Es kann sogar sein«, warf ich ein, »daß er uns in diesem Augenblick belauscht, zumal wenn er weiß, wo wir gerade herkommen.«
Vater sah einen Moment lang erschrocken aus, grinste dann aber. »Soll er nur lauschen, der rothaarige Mistbock. Ich will dir nämlich versprechen, daß ich ihm oder Leuten seines Schlages niemals Grund zu schmutziger Publicity liefere. Ich werde die Langeweile in Person sein. Keine Schürzenjägerei, keine unerlaubten Zahlungen für Gefälligkeiten, kein Steuerbetrug und kein schräger Zeitvertreib wie Rauschgift oder abartiger Sex .«
Ich lächelte unbekümmert, belustigt.
»Ja«, sagte er, »aber das gleiche sollst du mir versprechen. Du sollst mir versprechen, daß du, wenn ich gewählt werde, meine ganze politische Laufbahn hindurch nichts tust, was mich in Mißkredit bringen, mein Amt kosten oder mir in irgendeiner Weise schaden kann.«
»Das tu ich doch sowieso nicht«, wandte ich ein.
»In deinem Alter sagt sich das leicht, aber du wirst noch sehen, was für schlimme Verlockungen das Leben bietet.«
»Ich verspreche es«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Damit ist es nicht getan. Ich möchte, daß wir es beide schriftlich machen. Damit du dir vor Augen halten kannst, was du versprochen hast. Es ist natürlich kein amtliches Dokument oder so etwas Hochgestochenes, nur eine
Willenserklärung.« Er schwieg, klickte seinen Kuli ein, während er überlegte, schrieb dann schnell etwas auf das eine Blatt, setzte seine Unterschrift darunter und gab es mir zu lesen.
Da stand: »Hiermit verspreche ich, daß ich Skandale meiden und niemals etwas Zweifelhaftes oder Ungesetzliches tun werde.«
Wau, dachte ich. Um dem Ganzen nicht zuviel Ernst beizumessen, sagte ich: »Das ist aber ziemlich weit gefaßt, oder?«
»Anders hat es keinen Wert. Aber du kannst deine Worte selber wählen. Schreib, wie du es für richtig hältst.«
Ich hatte nicht die Absicht, mich unwiderruflich auf einen engelhaften Lebenswandel festzulegen.
»Ich werde nichts tun«, schrieb ich, »was die politische Laufbahn meines Vaters beeinträchtigen oder seinem Ruf schaden könnte. Ich will mich bemühen, ihn vor Angriffen jeder Art zu schützen.«
Leichten Herzens unterschrieb ich und reichte ihm das Blatt. »Gut so?«
Er las es und lächelte. »Gut so.«
Er faltete die beiden Blätter zusammen, dann nahm er das Hochzeitsfoto und legte es mit der Bildseite nach unten auf das Glas im Rahmen. Er legte die beiden schriftlichen Versprechen auf das Bild und drückte wieder die Deckplatte mit den Klammern darauf fest.
»So«, sagte er, indem er das Bild umdrehte. »Jedesmal, wenn du dir jetzt das Foto von deiner Mutter und mir ansiehst, wirst du an die Abmachungen erinnert, die dahinter stecken. Einfacher geht’s nicht.«
Er stellte das Bild hin und gab mir ohne Umschweife meine Geburtsurkunde und meinen Paß zurück.
»Heb sie gut auf.«
»Mach ich.«
»In Ordnung. Dann also wieder auf in den Wahlkampf.«
Nachdem ich meine Papiere in einem Briefumschlag im Hotelsafe deponiert hatte, fuhren wir ins neue Büro, um Mervyn, Faith und Lavender samt Flugblättern zu einer morgendlichen Direktwerbetour durch drei Hoopwesterner Reihenhaussiedlungen abzuholen. Arbeiter aus der Glühlampenfabrik, hieß es.
Mervyn präsentierte stolz ein neues Megaphon. Sein treuer Drucker hatte Berge von JULIARDS nachgeliefert. Mervyn schien ausnahmsweise einmal mit sich und der Welt zufrieden, aber wie strahlte die Sonne erst für ihn, als Orinda eintraf und erklärte, auch sie sei kampfbereit.
Mit Faith und Lavender, die so kühl waren, wie Mervyn erhitzt war, quetschten wir uns also zu sechst in den Range Rover, während Crystal mit ihrer chronischen Scheu und Marge mit Besen und Staubtuch zurückblieben.
In acht Tagen, dachte ich, ist alles vorbei. Und was fange ich dann an? Drei oder vier Wochen blieben noch, bis das Semester in Exeter losging. Ich schob den Gedanken weg. Bis dahin war ich achtzehn. Vielleicht ein Trip nach Frankreich ... mit dem Fahrrad.
Ich fuhr in Gedanken versunken und hielt, wenn Mervyn es mir sagte.
Orinda trug einen eleganten, hell orangeroten Hosenanzug. Dazu wie immer Goldschmuck. Dezentes, perfektes Make-up.
Babys wurden geküßt. Mein Vater traf auf eine Reihe kinderhütender Hausmänner und Schichtarbeiter und erfuhr Wissenswertes über Glühfäden aus Wolfram. Ich plauderte mit einem Kaffeekränzchen alter Damen, die nicht ruhten, bis ihnen mein Vater die Hand gedrückt hatte. (Gerötete Wangen. Ein Strauß von Wählerstimmen.) Orinda traf alte Bekannte. Mervyn verkündete unser Erscheinen straßauf, straßab mit dem Elan eines Lumpensammlers, und Faith und Lavender ließen keine Klingel aus.
Als wir der letzten Siedlung den Rücken kehrten, hatten wir ein oder zwei Titmuss zu Gesicht bekommen, nicht einen
Whistle und so gut wie keinen Bethune; um so mehr Fenster warben jetzt für JULIARD. Man durfte hoffen.
Mervyn und mein Vater entschlossen sich, noch eine längere Straße anzuhängen, die aus etwas wohnlicher wirkenden Häusern unterschiedlicher Bauart bestand. Ich hatte von Hausbesuchen mittlerweile für die nächsten paar hundert Jahre genug, aber die anderen waren mit schier unermüdlichem Eifer dabei. Meinem Vater strahlte die Einsatzfreude aus den Augen, und Leute mit anderen politischen Auffassungen beflügelten ihn eher, als daß sie ihn entmutigten. Anscheinend wurde er es niemals leid, die Ungläubigen zu bekehren.
Halbherzig fragte ich Faith und Lavender, ob sie es nicht gut sein lassen und Mittagspause machen wollten. »Nein, nein«, schmetterten sie mich ab, »jede Stimme zählt.«
Einzig Orinda wirkte still und befangen statt selbstbewußt und extrovertiert wie sonst, und als ich mit ihr vor einem Altenheim, das die anderen im Sturm zu nehmen hofften, beim Range Rover wartete, fragte ich sie schließlich, was los sei.
»Nichts«, erwiderte sie, und ich hakte nicht nach, aber nach ein paar Augenblicken meinte sie: »Sehen Sie den weißen BMW dahinten?«
»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Der war auch in einer von den Siedlungen.«
»Er verfolgt uns.«
»Wer verfolgt uns? Usher Rudd?«
»Ach was.« Wider Erwarten wunderte sie sich über die Vorstellung. »Usher Rudd doch nicht. Das ist Alderney Wyvern.«
Das überraschte mich nun wieder, und ich fragte erstaunt: »Weshalb sollte der uns verfolgen?«
Orinda zog die Stirn kraus. »Er ist mir noch böse, weil ich Ihren Vater unterstütze.«
»Ja ... das habe ich mitgekriegt. Aber wieso?«
»Um das zu verstehen, sind Sie zu jung.«
»Ich könnte mir Mühe geben.«
»Dennis hat in allem auf Alderney gehört. Ich meine, er hat ihm seinen Aufstieg verdankt. Alderney hat ihm immer gesagt, was er tun soll. Er besitzt viel politisches Fingerspitzengefühl.«
»Warum geht er dann nicht selber ins Parlament?«
»Er sagt, das will er nicht.« Sie schwieg. »Ihn zu verstehen ist ehrlich gesagt nicht einfach. Aber er hat damit gerechnet, daß ich nominiert werde und als die Witwe Dennis’ Mandat übernehme, und er hat auf Leute wie diesen Schleimer Leonard Kitchens mit seinem grauslichen Schnurrbart eingewirkt, um meine Kandidatur durchzubringen. Aber dann hat das Parteibüro in Westminster aus heiterem Himmel beschlossen, George Juliard ins Parlament zu hieven, und der kam und hat den Wahlausschuß begeistert, der sowieso immer auf Polly hört, und die war hin und weg von ihm . Jedenfalls braucht Ihr Vater keinen Alderney. Ich glaube manchmal, die Macht, um die es Alderney geht, ist die Macht, hinter den Kulissen die Strippen zu ziehen.«
Das schien mir damals eine abstruse Vorstellung. (Ich mußte immer noch viel lernen.)
»Und da ich jetzt zu Ihrem Vater halte«, sagte Orinda, »höre ich nicht mehr so auf Alderney. Sonst habe ich mich immer nach ihm gerichtet. Dennis auch, denn wenn uns Alderney gesagt hat, das und das läuft ab auf der politischen Bühne, lag er meistens richtig, und jetzt bin ich auf einmal dauernd mit Ihnen und Ihrem Vater unterwegs ... Sie werden lachen, aber ich glaube fast, er ist eifersüchtig!«
Ich lachte nicht. Immer wieder sah ich, was für eine Wirkung mein Vater auf die Frauen in Hoopwestern hatte, angefangen bei der spitzzüngigen Lavender. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er einen Kometenschweif aus Eifersucht im Wahlkreis hinterlassen hätte, aber er brauchte ja auch die Stimmen der Männer, und ich hatte bemerkt, daß er zu Frauen bewußt Distanz hielt.
Alderney Wyvern, ein Stück entfernt, stieg aus seinem Wagen, stellte sich breitbeinig, die Hände in den Hüften, auf den Gehsteig und starrte Orinda an.
»Am besten, ich rede mal mit ihm«, meinte Orinda.
»Lieber nicht«, sagte ich instinktiv.
Sie hörte die Sorge in meiner Stimme und lächelte. »Wir kennen uns seit Jahren.«
Ich hatte Eifersucht noch nicht in ihrer krassen, ausgewachsenen Form, sondern nur als ohnmächtige jugendliche Wut kennengelernt, doch ich spürte intuitiv, daß mit A. L. Wyvern eine große - und beunruhigende - Veränderung vorgegangen war.
Bis jetzt hatte ich ihn stets als jemanden erlebt, der sich bewußt zurücknahm, der leise und selbstbeherrscht auftrat, als wollte er nicht auffallen. Damit war es vorbei. Die untersetzte Gestalt wirkte jetzt massiger, die Schultern waren hochgezogen, das Gesicht auch noch von weitem grimmig angespannt. Aus ihm sprach die hemmungslose Wut eines Aufrührers, eines militanten Streikenden.
»Bleiben Sie hier«, sagte ich zu Orinda.
»Seien Sie nicht albern.«
Selbstbewußt ging sie in ihrem lebhaften Orangerot auf ihn zu.
Ich hörte seine dumpf grollende Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Ihre Antwort war unbekümmert, neckend. Sie faßte nach seinem Arm, wie um ihn liebevoll zu streicheln, und er schlug ihr heftig ins Gesicht.
Sie schrie ebensosehr vor Schreck wie vor Schmerz auf. Ich lief zu ihnen hinüber, und obwohl Wyvern mich kommen sah, versetzte er ihr noch einen Schlag mit dem Handrücken auf Nase und Mund.
Schreiend nahm sie die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen, und wollte gleichzeitig von ihm weglaufen, aber er hielt sie an der Schulter ihrer Jacke fest und holte mit der Faust zu einem dritten Schlag aus.
Sie riß sich los. Dabei kam sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte vom Gehsteig auf die Fahrbahn.
Plötzlich erschien auf der bisher so stillen und leeren Straße des Wohnviertels ein schwerer Lastwagen, der mit quietschenden Bremsen, wild plärrender Hupe auf Orinda zuhielt.
Orinda taumelte, als hätte sie die Orientierung verloren, und ich rannte auf sie zu, ohne Tempo oder Entfernung abzuschätzen, nur getrieben von der Notwendigkeit des Augenblicks.
Der Lkw-Fahrer machte bei dem Versuch, ihr auszuweichen, einen Schlenker und verschlimmerte damit nur alles, weil seine Fahrtrichtung nicht abzusehen war. Es konnte leicht passieren, daß ich sie ihm vor den Kühler stieß statt weg davon, aber ich warf mich wie bei einem Rugby-Angriff auf Orinda, so daß sie halb unter mir auf den harten Asphalt flog, und die Bremsspur der kreischenden schwarzen Reifen ging Zentimeter an unseren Füßen vorbei.
Orinda blutete aus der Nase, weinte vor Schmerzen, und darüber hinaus war sie benommen und verwirrt. Selbst noch außer Atem, kniete ich mich neben sie und hoffte, ihr nicht unnötig weh getan zu haben, wo der Lkw sie vielleicht ohnehin verfehlt hätte.
Der Lastwagen hatte ein paar Meter vor uns angehalten, und der Fahrer, der heraussprang und im Laufschritt auf uns zukam, übte sich bereits in gekränkter Unschuld.
»Sie ist mir direkt vor den Wagen gelaufen, ich hatte keine Chance. Da war ich nicht schuld ... ich konnte nichts machen ... Ich kann nichts dafür, daß sie ganz voll Blut ist.«
Weder Orinda noch ich antworteten. Es war belanglos. Ihn traf keine Schuld, und niemand würde etwas anderes behaupten. Der Schuldige stand verdutzt und wütend auf der anderen Straßenseite, steif wie ein Brett, starrte böse herüber und dachte nicht daran, uns zu Hilfe zu kommen.
Als ich wieder Luft bekam, fragte ich Orinda, ob alles in Ordnung sei. Blöde Frage eigentlich, da ihre Nase blutete und Wy-verns brutale Hände noch andere Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Ihre Jacke war zerrissen. Ein schwarzer Schuh fehlte. Das sorgfältige Make-up war verschmiert, und sie wirkte schlaff und matt am ganzen Körper.
Die Orinda, die auf der Straße lag, war von der selbstbewußten, weltgewandten, Kameras becircenden Orinda, die ich kannte, weit entfernt; sie sah aus wie eine nette, schwer erschütterte normale Frau mittleren Alters, die versuchte, ihre fünf Sinne zusammenzuraffen und zu begreifen, was geschehen war.
Ich beugte mich vor und legte ihr einen Arm in den Nacken, um zu sehen, ob sie sich aufsetzen konnte, und zu meiner Erleichterung ging sie darauf ein, richtete sich halb auf und blieb, den Kopf und die Hände auf die hochgezogenen Knie gestützt, am Straßenrand sitzen.
Sie hat sich nichts gebrochen, dachte ich aufatmend. Die Brüche waren innen, in der Seele und nicht zu heilen.
Sie versuchte sich das Blut mit den Fingern abzuwischen und fragte schluchzend: »Haben Sie ein Taschentuch?«
Ich hatte keins.
»In meiner Handtasche ist eins.«
Ihre Handtasche war im Range Rover.
»Ich hole sie Ihnen«, sagte ich.
»Nein, Benedict ... bleiben Sie bei mir!«
»Rufen Sie einen Krankenwagen«, mischte sich der Fernfahrer ein. »Ich habe sie nicht angefahren, das weiß ich genau. Ich kann nichts dafür, daß sie blutet.«
»Nein«, stimmte ich ihm zu und stand auf. »Aber Sie sind ein kräftiger Mann, und Sie können mir helfen, die Dame zu dem goldverzierten Range Rover dort hinüberzubringen.«
»So sehen Sie aus«, unterbrach er. »Ich mach mich doch nicht voll Blut, das war nicht meine Schuld, daß sie mir direkt vor die Räder läuft.«
»Schon klar«, sagte ich. »Es war nicht Ihre Schuld. Aber Sie haben immerhin angehalten, und wenn Sie mir jetzt noch helfen, sie da zu dem Wagen zu bringen, und mir Ihren Namen und den der Firma, für die Sie fahren, sagen würden, damit ich das notieren kann, dann können Sie sich auch gleich wieder auf den Weg machen.«
»Keine Polizei«, sagte er.
»Man braucht bei einem Unfall nicht die Polizei zu rufen, wenn niemand verletzt worden ist, und Sie sagen ja selbst, daß Sie die Dame nicht verletzt haben.«
»Echt? Woher wissen Sie das alles? Sie sind doch noch grün.«
Ich hatte es bei der Vorbereitung auf den Führerschein gelernt, aber wozu ihm Geschichten erzählen? Ich bückte mich und versuchte Orinda auf die Beine zu helfen, und sie stand wacklig auf und hielt sich an mir fest, um nicht wieder zu stürzen.
Unbeholfen legte ich den Arm um sie. Sie zitterte am ganzen Körper. Mein Vater hätte sie einfach gepackt und zum Auto getragen, aber abgesehen davon, daß ich nicht wußte, ob ich die nötige Kraft besaß, war mir der Altersunterschied zwischen uns peinlich. Absurd eigentlich. Ich wollte sie beschützen, dabei fühlte ich mich selbst unsicher.
Ein paar Autos fuhren vorbei, und die Insassen reckten neugierig die Köpfe.
»Also gut, gnä’ Frau«, sagte der Fahrer unvermittelt, indem er ihren weggeflogenen Schuh aufhob und ihn ihr anzog, »halten Sie sich an meinem Arm fest.«
Er stützte sie wie ein Fels, und sie ging unsicher mit uns, zaghaft einen Fuß vor den anderen setzend, als wüßte sie nicht genau, wo der Boden war. So kamen wir schließlich zu dem Range Rover und setzten Orinda auf den Beifahrersitz, wo sie matt zurücksank und dem Fahrer dankte.
»He!« sagte der plötzlich und musterte den auffälligen Wagen. »Ist das nicht die Kiste von dem Politiker? Dem mit dem komischen Namen?«
»Juliard.«
»Genau.«
»Ich bin sein Sohn«, sagte ich. »Die Dame hier, der Sie so gekonnt ausgewichen sind und der Sie gerade geholfen haben, ist Mrs. Orinda Nagle, die Frau des Abgeordneten, der bis zu seinem Tod den Kreis Hoopwestern im Parlament vertreten hat.«
»Gott!« Vor Überraschung ließ er wenigstens die Rechtfertigungsversuche. Wahrscheinlich legte er sich schon eine Neufassung der Geschichte für seine Arbeitgeber zurecht. »Ich bin aus Quindle«, sagte er. »Wie die Dinge liegen, hat Ihr Vater angeblich keine Chance, aber jetzt wähle ich ihn vielleicht trotzdem. Das wär doch schon was!«
Ich notierte seinen Namen, den er mir bereitwillig nannte, sowie Namen und Rufnummer der Möbelfabrik, bei der er beschäftigt war, und er sagte förmlich strahlend »Kopf hoch« zu Orinda und fuhr winkend mit einem Lächeln - ja, mit einem Lächeln - für uns beide von dannen.
Alderney Wyvern hatte die ganze Zeit über dagestanden, als wären seine Schuhsohlen am Boden festgeklebt.
Das Gehupe und die quietschenden Reifen hatten einige Leute aus ihren Häusern gelockt, aber da nicht direkt ein Unfall passiert und Orinda aufgestanden war und sich ins Auto gesetzt hatte, war ihre Neugier rasch verflogen. Usher Rudd und seine Kamera waren ausgerechnet jetzt, wo es wirklich etwas zu berichten gab, nicht zur Stelle gewesen.
Mein Vater, Mervyn, Faith und Lavender kamen von einem siegreichen Bekehrungszug durchs Altersheim zurück und erschraken beim Anblick der blutverschmierten, erschütterten Orinda. Das Papiertuch aus ihrer Handtasche hatte wenig ausgerichtet. Sie weinte jetzt einfach unglücklich vor sich hin und ließ den Tränen freien Lauf.
»Was ist los?« fragte mein Vater mich grimmig. »Was hast du getan?«
»Nichts!« sagte ich. »Ich meine ... wirklich nichts.«
Orinda sprang mir bei. »George, Benedict hat mir geholfen ... Ich fasse es nicht ...« Ihre Stimme kippte. »Alderney ... Alderney ... h-h-hat mich geschlagen.«
»Er hat was?«
Wir schauten alle die Straße hinunter auf Wyvern, der noch kampflustig die Stellung hielt, und meinem Vater mußte im Gegensatz zu mir niemand erst erklären, was für Gefühle hier im Spiel waren. Grimmig entschlossen ging er auf den keine Spur von Reue zeigenden ehemals besten Freund zu und stellte ihn, wenn wir auch die Worte nicht verstanden, laut zur Rede. Wyvern gab genauso heftig Antwort und fuchtelte mit den Armen.
»Benedict ...«, bat mich Orinda, zunehmend nervös, »sehen Sie zu, daß die beiden aufhören.«
Sie hatte leicht reden; das waren zwei erwachsene Männer, und ich ... Egal, schon war ich da und packte meinen Vater am Arm, als er gerade mit geballter Faust wütend auf Wyvern losgehen wollte, der unglaublicherweise spöttisch grinste.
Mein Vater fuhr herum und brüllte mich an: »Mach, daß du wegkommst.«
»Der Pakt«, rief ich. »Denk an den Pakt.«
»Was?«
»Unser Pakt«, wiederholte ich. »Schlag ihn nicht, Vater ... Dad. Schlag ihn nicht.«
Die unbeherrschte Wut verschwand aus seinen Augen, als wäre er plötzlich aufgewacht.
»Er will, daß du ihn schlägst«, sagte ich. Ich wußte nicht, wie ich darauf kam oder wieso ich mir da so sicher war. Es hing damit zusammen, daß sich Wyvern, statt wegzufahren, nicht vom Fleck gerührt hatte, aber in erster Linie war es Intuition, ausgehend von seiner Körpersprache. Er suchte Streit. Er wünschte meinem Vater alles mögliche an den Hals, nicht zuletzt schlechte Publicity vor dem Wahltag.
Mein Vater sah mich ausdruckslos an und ging dann an mir vorbei zum Range Rover. Ich wollte ihm nachgehen, aber Wyvern, dessen niemals lächelnde Züge jetzt brutale Gemeinheit bloßlegten, packte mich und riß mich zu sich herum. Wenn der Vater nicht spurte, sollte der Sohn dafür büßen.
Ich konnte weder boxen noch Karate, besaß aber von Natur aus gute Reflexe und eine in Reit- und Skisport geschulte Körperbeherrschung. Wyvern hatte vielleicht kräftige Hände, aber ich konnte zwei wilden Schlägen nach meinem Gesicht ausweichen, die mich glatt umgeworfen hätten, und konzentrierte mich ganz darauf, auf den Beinen zu bleiben.
Er drängte mich gegen eine schulterhohe Bruchsteinmauer zwischen dem Gehsteig und einem Garten, doch ich entwand mich seinem Griff und nahm Reißaus, da ich nicht irgendeinen Kampf gewinnen, sondern nur ungeschoren davonkommen wollte.
Schon hörte ich Wyvern hinter mir und sah, wie mein Vater mit wieder aufloderndem Zorn kehrtmachte, um mir zu helfen.
»Steig ein«, schrie ich ihn verzweifelt an, »setz dich ins Auto!«, und er stockte, drehte sich wieder um und tat wunderbarerweise, was ich gesagt hatte.
Drei Schritte von dem Range Rover entfernt blieb ich stehen und drehte mich rasch zu Wyvern um, der bei aller Erregung das Kalkül nicht vergessen hatte: Er taxierte sein Publikum - Orinda,
Vater, Mervyn, Faith, Lavender -, und da er angesichts so vieler kalter Blicke zu dem Schluß kam, daß weitere Tätlichkeiten unliebsame rechtliche Konsequenzen haben würden, machte er drei Meter von mir entfernt halt.
Bei seinem giftigen Gesichtsausdruck wurde mir ganz mulmig.
»Eines Tages«, sagte er, »eines Tages krieg ich dich.«
Aber nicht heute, dachte ich, und nur das zählte.
Er ging ein paar Schritte rückwärts, wobei seine Züge sich bereits wieder glätteten, dann drehte er sich um und lief zu seinem Wagen, als wäre nichts passiert. Stieg ein, ließ den Motor an und fuhr seelenruhig, ohne quietschende Reifen oder ähnliche Mätzchen davon.
Die Leute in und um den Range Rover brachten erst einmal den Mund nicht auf.
Schließlich räusperte sich Mervyn und sagte: »Orinda braucht einen Arzt.«
Sie war anderer Meinung. »Ich brauche ein Taschentuch.«
Faith und Lavender förderten ein paar zerdrückte weiße Papiertücher zutage. Orinda trocknete ihr Gesicht, sah in einen Handspiegel und stöhnte über den traurigen Anblick, den sie bot. »So gehe ich nirgendwohin.«
»Und die Polizei?« tippte Faith an.
»Nein«, sagte Orinda, und niemand hielt dagegen.
Alle waren still, als ich uns mit dem Range Rover zurück zum Büro fuhr, und dort setzte mein Vater Orinda gleich in ihr eigenes Auto, um sie nach Hause zu bringen, während ich hinterherfuhr, um ihn mit zurückzunehmen.
Er schwieg auf der ganzen Rückfahrt, doch als ich anhielt, sagte er schließlich: »Orinda meint, ohne dich hätte der Laster sie überfahren.«
»Oh.« »Stimmt das?«
»Der Fahrer ist uns ausgewichen.«
Er wollte genau wissen, was passiert war.
»Ihre Augen tränten«, sagte ich. »Sie konnte nicht sehen, wo sie hinlief.«
Ich wollte aussteigen, aber er hielt mich zurück.
»Warte.« Es schien, als suchte er nach Worten und fände sie nicht.
Schließlich sagte er: »Ich fürchte, ich habe dir mehr aufgeladen, als in meiner Absicht lag.«
Ich lachte beinah. »Über Langeweile kann ich nicht klagen.«
Am darauffolgenden Samstag fuhr er zeitig nach Quindle, wo eine Rundfahrt durch die Vororte anstand, und wegen eines Essens am gleichen Abend und weiterer Verpflichtungen am Sonntagmorgen blieb er über Nacht dort.
An diesem Sonntag wurde ich achtzehn. Vater hatte gesagt, er werde mir einen Geburtstagsgruß dalassen, den ich früh um neun bei Crystal abholen solle. Er sei am Nachmittag zurück, und später würden wir zur Feier des Tages essen gehen. Keine Wahlversammlungen mehr, hatte er gesagt. Nur wir beide, mit Champagner.
Als ich um neun zum Wahlkampfbüro kam, war die Tür noch zu, und erst eine Viertelstunde später erschien Crystal und schloß auf. Ja, sie hätte eine Karte von meinem Vater für mich, meinte sie ... und herzlichen Glückwunsch.
Sie nahm einen Briefumschlag aus der Schublade und gab ihn mir, und ich fand eine Grußkarte mit einem lustigen Spruch übers Älterwerden darin und sonst nichts. »Dein Dad«, hatte er daruntergeschrieben.
»Sie sollen raus auf die Straße gehen und nach einem schwarzen Wagen mit Chauffeur suchen«, teilte mir Crystal mit, »aber fragen Sie mich nicht, warum und wieso, denn das hat George mir nicht gesagt, er hat nur gegrinst wie ein Honigkuchen. Also schieben Sie ab und suchen Sie den Wagen.«
»Danke, Crystal.«
Sie nickte und scheuchte mich mit einer Handbewegung hinaus, und ich fand die schwarze Limousine mit Chauffeur etwa hundert Meter entfernt, wo sie geduldig auf dem Parkplatz stand.
Der Chauffeur reichte mir wortlos einen unadressierten weißen Briefumschlag.
Auf der inliegenden Karte stand: Steig ein.
Und darunter: Bitte.
Mit aufkommender guter Laune befolgte ich die Anweisung.
Es überraschte mich wenig, daß der Fahrer (nicht derselbe wie damals, und auch der Wagen war ein anderer) mir nicht sagen wollte, wo es hinging. Aber wir fuhren offensichtlich nach Westen, und Exeter kam auf den Schildern immer näher.
Der Chauffeur lenkte in die Stadtmitte und hielt vor dem Haupteingang des größten Hotels. Wie schon einmal wurde mir feierlich der Wagenschlag aufgehalten, und mit einem nicht im Drehbuch stehenden breiten Grinsen deutete der Fahrer auf die Hotelhalle und überließ mich den livrierten Türstehern, die sich hochmütig erkundigten, ob ich kein Gepäck hätte.
Mein Gepäck bestand aus dem, was ich anhatte: ein langärmeli-ges weißes Sweatshirt, neue Bluejeans und ausgetretene Turnschuhe. Mit wesentlich mehr Selbstvertrauen als in Brighton betrat ich das Foyer und fragte an der Rezeption nach George Juliard.
Die Empfangsdame drückte Tasten an einem Computer.
»Tut mir leid, aber wir haben keinen Gast namens Juliard.«
»Schauen Sie bitte noch mal.«
Sie schaute. Schenkte mir ein geschäftsmäßiges Lächeln. Immer noch kein Juliard, heute nicht, früher nicht, niemals.
Diesmal war ich wirklich nicht im Land abgeschnittener Jeans und spruchbeladener T-Shirts. Selbst am hochsommerlichen letzten Sonntag im August dominierten hier, im besten Hotel der Domstadt, Straßenanzüge. Damen um die Fünfzig. Man war im Gottesdienst gewesen. Ich kam finster zu dem Schluß, daß der Fahrer mich falsch abgeliefert hatte.
An die Hotelhalle schloß sich auf einer Seite ein Wintergarten mit Sesseln und Grünpflanzen an, und da setzte ich mich erst mal hin und überlegte, was zu tun sei. Hatte mein Vater gewollt, daß ich Exeter kennenlernte, bevor ich dort zu studieren anfing?
Oder was?
Nach ungefähr einer halben Stunde kam ein Mann, der ähnlich wie ich gekleidet, aber gut zehn Jahre älter war, in das Hotel. Er sah sich in der Halle um und schlenderte gemütlich auf mich zu.
»Juliard?« fragte er. »Benedict?«
Ich stand auf und überragte ihn um ein paar Zentimeter, was ihn zu überraschen schien. Er hatte strohblondes Haar, weiße Wimpern und sonnengebräunte Haut. Ein kräftiger, selbstbewußter Mann, der sich in seiner Welt wohl fühlte.
»Ich heiße Jim«, sagte er. »Ich soll Sie abholen.«
»Wer sind Sie denn?« fragte ich. »Wo bringen Sie mich hin?«
Er lächelte und sagte nur: »Kommen Sie.«
Er führte mich aus dem Hotel und ein paar Ecken weiter zu einem staubigen, verbeulten roten Auto mit zerfledderten Illustrierten, zerknülltem Butterbrotpapier, kaffeegefleckten Plastikbechern und einem Mischlingshund, der auf den Namen Bert hörte, im Innern.
»Kümmern Sie sich nicht um die Unordnung«, meinte Jim vergnügt, indem er einen Stoß verknitterter Zeitungen vom Beifahrersitz auf den Boden fegte. »Herzlichen Glückwunsch übrigens.«
»Ehm ... vielen Dank.«
Er fuhr so, wie mein Fahrlehrer es mir untersagt hatte: schnell aufs Gas, ruckartig auf die Bremse. Hü und hott. Impuls und Vorsicht. Ihm hätte ich immer vertraut.
Soweit ich es beurteilen konnte, fuhren wir nur zehn bis fünfzehn Kilometer nach Westen. Raus aus der Stadt, an einem Wegweiser zum Streatham Campus der Uni Exeter vorbei (dort war auch die mathematische Abteilung), mitten hinein ins ländliche Devon, wo die Häuser tief herabgezogene Strohdächer und winzige Fenster hatten.
Jim hielt mit einem Ruck vor einer größeren Ausgabe des Grundmusters und zeigte auf eine massive Haustür.
»Gehen Sie da rein«, wies er mich an. »Durch den Flur, die letzte Tür links.« Er grinste. »Und alles Gute.«
Ich war schon froh, aus seiner Kiste herauszukommen, und sei es nur, weil mir der buntgemischte Bert dann nicht mehr den Hals ablecken konnte.
»Wer wohnt denn hier?«
»Das sehen Sie dann.«
Er stellte mich vor eine einfache Entscheidung: Entweder tun, was er gesagt hatte, oder sehen, wie ich zurück nach Exeter kam. Ab mit Alice in den Kaninchenbau, dachte ich.
Ich öffnete die schwere Holztür und ging durch den Flur zur letzten Tür links.