Kapitel 11

Nach Weihnachten jenes Jahres geschah einiges, das im Leben vieler vieles änderte. Zunächst kam eine Kaltfront vom Polarkreis herunter und fror ganz Kanada, ganz Nordeuropa und ganz Großbritannien ein. Die Wetterkundler hörten auf, sich über den Treibhauseffekt zu ereifern und sprachen mit langen Gesichtern von der nächsten Eiszeit. Niemand verlor ein Wort darüber, daß vor fünftausend Jahren, als Stonehenge erbaut wurde, ausgesprochen milde klimatische Verhältnisse herrschten, und niemand erinnerte sich an die harten Winter des neunzehnten Jahrhunderts, die so kalt gewesen waren, daß man in London auf der Themse Schlittschuh lief, Kirmes feierte und Ochsen briet.

Damals kuschelten sich die Leute in ihre Ohrensessel und legten die Füße hoch, um sich vor Zug zu schützen, und die Frauen trugen ein Dutzend Unterröcke übereinander.

In dem Winter, als ich zweiundzwanzig wurde, regnete es Eis auf Schnee. Die Leute liefen auf ihrem Rasen Schlittschuh und bauten ihren Kindern Iglus. Dieselöl gefror. Pferderennen wurden nur noch auf einigen speziell angelegten Allwetterbahnen ausgetragen, aber ohne Schneeräumer ging es selbst dort nicht. Die Besitzer schimpften, da die Trainingskosten weiterliefen, Berufsrennreiter kauten an den Nägeln und Amateure erhielten Startverbot.

Weatherbys wurde mit Versicherungsansprüchen wegen Frostschäden überschwemmt, und mittendrin erklärte Evan, mein Chef, er wolle die Firma verlassen, um die Leitung einer neu gegründeten Versicherung zu übernehmen. Ich nahm an, Weatherbys würde ihn über meinen Kopf hinweg ersetzen, doch statt dessen baten sie ihn, mich bis zum Ablauf der dreimonatigen Kündigung in seine Arbeit einzuweisen. Mein Geburtsdatum schien sie nicht zu kümmern, obwohl ich mich selbst nach Weatherbys-Maßstäben für zu jung hielt; sie meinten lediglich, um Evan zu ersetzen, müsse man früh aufstehen.

Evan, schlaksig und hager, mit einem vogelähnlichen Kopf auf dem langen Hals, hatte seinerzeit eine Abteilung übernommen, deren Hauptfunktion darin bestand, Pferdebesitzern und Trainern unnötige Arbeit zu ersparen, und sie innerhalb von fünf Jahren mit Phantasie und Findigkeit zu einer Versicherung ersten Ranges ausgebaut.

In seinen letzten drei Monaten stellte er mich zusätzlich zu unserer täglich anfallenden Arbeit persönlich allen Versicherern vor, mit denen er am Telefon verhandelte, so daß die Leute in den Konsortien bei Lloyds schließlich wußten, mit wem sie es zu tun hatten, und ich lernte, ihre Sprache zu sprechen.

Er wies mich auf Versicherungstricks hin. »Hüte dich vor dem Freundschaftstrick«, sagte er.

»Der wäre?«

»Wenn sich zwei zusammentun«, meinte er belustigt. »Einer besitzt ein Pferd, das nicht mehr zu retten ist, weil es beispielsweise ein Nierenleiden hat, okay? Statt zum Tierarzt bringt Freund A das kranke Tier zur Auktion. Freund B ersteigert es und versichert es ab Fallen des Hammers. Diese Versicherung wurde eingeführt für Fälle, wo ein Millionen-Pfund-Hengst beim Verlassen des Verkaufsrings stolpert und sich ein Bein bricht. Sie tritt in Kraft, bevor ein Arzt sich das Tier ansieht. Freund B also kauft ein wertloses Pferd und versichert es ab Fallen des Hammers. Freund A tut unschuldig ... >Das Pferd wäre mir doch nie zur Auktion gekommen, wenn ich das geahnt hätte .< Freund B läßt seinen Kauf einschläfern und kassiert die Versicherung. Freund A und Freund B machen halbe-halbe.« Er lachte. »Du hast einen Riecher für Ganoven, Ben. Das schaukelst du schon.«

In eben diesen drei Monaten wurde mein Vater zur Hauptfigur in einem Fischereikrieg, bei dem auf höchster internationaler Ebene erörtert wurde, wer wieviel Fisch von welcher Art und Größe aus einer bestimmten Region der Weltmeere entnehmen durfte. Mit Einfühlung und Witz und indem er persönlich an Bord der salzverkrusteten, netzbewehrten Seekrankheitserzeuger ging, lernte er die Klagen und berechtigten Argumente jener kennen, die sich täglich den unzähmbaren Elementen aussetzten.

Die Presse nahm Notiz. Schlagzeilen erschienen: JULIARDS Fischzug und Juliard in Japan.

Leute aus der Versicherungsbranche meinten: »Dieser Juliard - wohl nicht verwandt mit Ihnen?«

»Mein Vater.«

»Scheint sich gut für Fisch und Fritten einzusetzen.«

Fisch und Fritten - das Grundnahrungsmittel - verschafften meinem Vater Geltung.

Ein Fernsehsender schickte einen Kameramann mit ihm auf See, und obwohl dem Ärmsten die ganze Zeit kotzschlecht war, drehte er unvergeßliche Filmmeter von meinem Vater, wie er im Ölzeug halb über der Reling, über den Brechern hing und -grinste.

Jedes Schulkind erkannte ihn auf Bildern gleich als den »Fischminister«; seinen Kabinettskollegen behagte das wenig.

Ein Sensationsblatt grub das fünf Jahre alte Superfoto von Vater beim Sprung aus dem brennenden Wahlkampfbüro aus und brachte es groß in einem doppelseitigen Artikel zum Lob der Männlichkeit, der Geistesgegenwart und der zupackenden Politik, die sich derzeit auf dem weiten blauen Meer bewährten.

Das behagte nun auch dem Premierminister nicht ganz. George Juliard als relativer Neuling und Chef eines eher unauffälligen Ministeriums ging in Ordnung. George Juliard als Mann von schnell wachsender Popularität war eine Bedrohung.

»Man darf um einen Minister keinen Kult treiben«, äußerte sich der Premier in einem Fernsehinterview, aber andere sprachen von »Führungsqualitäten« und »Dynamik«, und Polly riet dem lieben George, etwas leiser zu treten, damit sein Erfolg die Kollegen nicht gegen ihn aufbringe.

Mein Vater huldigte daher ausgiebig dem Heer von Beamten, mit denen er seine Fischkriegslösungen erarbeitet hatte. »Ohne ihre Unterstützung ...« und so weiter und so fort. Demütig verbeugte er sich im Kabinett nach allen Seiten.

Gegen Ende der langen Frostperiode berichteten die Rennsportzeitungen, die nach Wochen weitgehender Stagnation um Material verlegen waren, des langen und breiten über den Entschluß von Sir Vivian Durridge, mit dem Trainieren aufzuhören.

Ein von wohlklingenden Klischees wie »lange, glänzende Laufbahn« wimmelnder Artikel erinnerte an seine Siege im Derby (vier) oder in anderen großen Rennen (»mehr, als der Platz uns zu nennen erlaubt«) und führte seine wichtigsten Besitzer (»vom Königshaus abwärts«) ebenso auf wie die wichtigsten Jockeys, die er engagiert hatte (»Champions allesamt«).

Ziemlich weit unten kam dann die fesselnde Kunde, daß den Rennberichten zufolge »Benedict Juliard zwei Jahre lang als Amateur für Durridge geritten hat«.

»Benedict Juliard ist, wie jeder im Rennsport weiß, der Sohn George Juliards, unseres charismatischen Ernährungsministers. Ben Juliard hat dreimal auf von Sir Vivian trainierten Pferden gesiegt und dann bei ihm aufgehört.«

Soviel zu Sir Vivian Durridge. Einen angenehmen Ruhestand, Sir Vivian!«

Anscheinend waren bei den eisigen Temperaturen auch die Seitensprünge zurückgegangen. Usher Rudd, unverändert aktiv mit langer Linse und mieser Gesinnung, erlebte eine Durststrek-ke bei der gnadenlosen Verfolgung des unglücklichen, Frauen liebenden und Frauen schlagenden, aber auch Chorknaben nicht verschmähenden Spitzenmanns der Opposition, der entweder eine Pause eingelegt hatte oder sich besser versteckte.

Usher Rudd, von der Hoopwestern Gazette als Falschmelder gefeuert und seither bei vielen Blättern schlecht angesehen, hatte dennoch als freier Mitarbeiter ziemlich schräger Sexmagazine ein Auskommen gefunden.

Das Motto, nach dem er unverändert lebte: Schmutz verkauft sich.

Und wo keiner ist, erfinde ihn.

Der Oppositionspolitiker beging Selbstmord.

Ein Schock lief durch das Parlament, ein Zittern durch manch ein Gewissen.

Er war der Schattenschatzkanzler gewesen, derjenige, dem der Staatshaushalt unterlegen hätte, wenn seine Partei an der Macht gewesen wäre. In ihrer Buchführung hatte Rudd bei aller Stöberei keinen Fehler entdecken können.

Die Leitartikler wiesen mit halb gespieltem Entsetzen darauf hin, daß Ehebruch (wie Selbstmord) vielleicht Sünde sei, nach britischem Recht aber kein Verbrechen. Einen Menschen zur Verzweiflung zu treiben - war das Sünde? War das ein Verbrechen?

Usher Rudd wiederholte reulos grinsend nur immer wieder sein Credo: Wenn Leute, die im Rampenlicht standen, privat verwerflich handelten, hatte die Öffentlichkeit ein Recht, das zu erfahren.

War dem so? Was hieß verwerflich? Wer sollte das beurteilen? Die Talkshows kauten es endlos durch.

Usher Rudd war entweder »der Wachhund des Volkes« oder ein gemeingefährlicher Spanner.

Vater meinte auf einem Spaziergang in den Wäldern um Pol-lys Haus zu mir, Usher Rudd halte wahrscheinlich bereits Ausschau nach einer neuen Zielscheibe.

»Bis er dem nächsten armen Teufel im Nacken sitzt, denk immer daran, wie er uns im Schlafenden Drachen belauscht hat, und sieh dich vor«, sagte er. »Damals wollte er uns reinreiten, und wir haben ihn um seine Stelle gebracht.«

»Ja, aber du hast dich bestimmt an die Abmachung gehalten, die du damals unterschrieben hast - nichts Zweifelhaftes oder Unrechtmäßiges zu tun und keinen Skandal zu verursachen. Usher Rudd kann dir also nichts anhaben.«

Er lächelte. »Diese Abmachungen! Ja, daran habe ich mich gehalten. Aber Kleinigkeiten wie ein sauberes Gewissen bremsen den rothaarigen Mistkerl nicht. War es für dich schwer, zu deinem Wort zu stehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mich dran gehalten.«

Allerdings hatte das von mir selbst formulierte Versprechen sich eindeutig hemmend auf mein sogenanntes Sexualleben ausgewirkt. Ich hatte zwei kurze, wenn auch schöne Romanzen erlebt, eine an der Universität, eine in der Rennwelt, mich in beiden Fällen aber nicht auf eine tiefere Beziehung eingelassen. Dem ungeregelten Geschlechtsverkehr hatte Usher Rudd wirksamer entgegengestanden als die Aidsgefahr.

Als die Sonne endlich warm auf das Haus am Rand von Wellingborough schien, in dem ich eine eigens für die geliebte, aber verstorbene Oma der Familie hergerichtete Wohnung gemietet hatte, sickerte infolge eines Rohrbruchs im Dachgeschoß erst Wasser durch die Zimmerdecken, bevor die Decken selbst herunterkamen. Für die Zeit der nun erforderlichen großen Renovierung packte ich mein Zeug wieder in Kisten, schaffte es ins Büro und lagerte es in dem freien Raum unter meinem Schreibtisch.

Evan räumte nach und nach den Ramsch, der sich in seiner fünfjährigen Amtszeit angesammelt hatte, aus dem Büro. Vielbewunderte Pin-ups verschwanden. Übersichtlich ordnete er tausend Akten und schrieb mir ein Register. Er vermachte mir drei zerrupfte Grünpflanzen, die nach mehr Licht schrien.

»Ohne dich bin ich aufgeschmissen«, sagte ich.

»Du kannst mich jederzeit anrufen.« Sein Vogelkopf inspizierte die nun nicht mehr persönlich gestaltete Raumhälfte. »Wirst du aber nicht tun. Du entscheidest schon selbst. Wenn dir irgend jemand das nicht zutrauen würde, bekämst du meine Stelle nicht.«

Nachdem er mit vielen Runden Bier verabschiedet war, nutzte ich den Sommer, um erst vorsichtig, dann immer entschlossener neue Verantwortlichkeiten zu übernehmen, legte innerhalb von sechs schnell vergehenden Monaten das Image des großen Jungen völlig ab und gewann an Selbstbewußtsein, vielleicht auch an Kompetenz, bis der Mensch aus mir geworden war, der ich fortan bleiben würde.

Als ich Polly davon erzählte, meinte sie, die Veränderung sei offensichtlich und ich hätte Glück - manche Leute wüßten noch nicht einmal mit dreißig, wer sie seien.

Mein Vater, der schon mit neunzehn gewußt hatte, wer er war, hatte im Frühsommer seine Position im Kabinett untermauert und den Neid seiner Kollegen durch gewissenhaftes Arbeiten in Anerkennung, wenn nicht Bewunderung verwandelt. George Juliard war eine feste politische Größe.

Ich fragte ihn nach Alderney Wyvern.

Vater zog die Stirn in Falten. »Ich habe ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen, aber er ist noch da, und der Premier läßt immer noch nichts auf ihn kommen. Ich würde sagen, sowohl Hudson Hurst wie auch Jill Vinicheck tanzen nach seiner Pfeife. Es passiert immer wieder, daß sie sagen, in der und der Frage seien sie noch unentschieden, ein paar Tage darauf aber eine ganz entschiedene Ansicht vertreten, in der sie dann unweigerlich übereinstimmen ... und ich glaube, das sind Wyverns Ansichten, wenn ich es auch nicht beweisen kann.«

»Sind die Ansichten denn gut?«

»Sehr gut manchmal, aber darum geht es nicht.«

Das Parlament ging in die Sommerpause. Polly und der Abgeordnete für Hoopwestern verbrachten den ersten Teil der Pause im Wahlkreis, wohnten in Pollys Haus und arbeiteten mit Mer-vyn und Orinda. Die vier waren, zum Besten der Stamm- wie auch der Wechselwähler, zu einem starken, harmonischen Team zusammengewachsen.

Dann machten mein Vater und Polly eine Reise um die Welt und durch ihre Hauptstädte, um sich über Hunger, Dünger und die Launen des Klimas zu informieren, und als sie zurückkamen, hatten sie ein recht genaues Bild davon, wie sich auf dem blauen Planeten Milliarden von Menschen ernährten.

Ich in meiner kleinen Welt in Wellingborough beschäftigte mich mit Zahlen und Risiken und zog wieder in meine Omawohnung, als die neuen Decken trocken waren.

Usher Rudd klemmte sich hinter einen Bischof. Alle außer Hochwürden atmeten auf.

Ich ritt im August einen Sieger und im September noch einen.

Keiner von uns ahnte, daß sich derweil aus kleinen, leisen Störungen ein dunkler Wolkenberg zusammenbraute. Ein Cäsar wird immer ermordet, hatte mein Vater einmal gesagt, und als das Parlament wieder zusammentrat, waren die Messer gewetzt.

Besorgt erzählte mein Vater Polly und mir, daß Hudson Hurst dem Premier die Parteiführung streitig machen wolle. Hudson Hurst gehe die Kabinettsmitglieder der Reihe nach um Unterstützung an. Elegant, wie er jetzt aufzutreten wisse, erkläre er ihnen mit schönen Worten, daß die Partei einen energischen, jüngeren Führer brauche, einen, der das Volk mitreiße und in der Lage sei, für die nächsten allgemeinen Wahlen in drei Jahren die Weichen zu stellen.

»Alderney Wyvern«, sagte ich, »führt die Feder.«

»Um Gottes willen«, meinte Polly entsetzt.

»Wyvern hatte von Anfang an vor, sich die Macht zu erschleichen«, sagte mein Vater.

»Dann halt ihn auf!« rief Polly aus.

Aber Hudson Hurst schied aus der Regierung aus und erklärte der Öffentlichkeit, die Mehrheit der Regierungspartei sei mit den Entscheidungen, die in ihrem Namen getroffen würden, nicht einverstanden, und er könne es besser.

»Halt ihn auf«, sagte Polly noch einmal. »Stell dich gegen ihn.«

Wir saßen zu dritt bei Polly am Küchentisch, überwältigt von der unverhofften Wendung der Ereignisse. Mein Vater hatte zwar angestrebt, eines Tages vielleicht Premierminister zu werden, sich darunter aber vorgestellt, friedlich die Amtsnachfolge anzutreten, nicht als Mitverschwörer in den Iden des März.

Da ihm Loyalität über alles ging, fuhr er in die Downing Street und stellte sich auf die Seite des Premierministers. Der Premier sah jedoch ein, daß die Partei einen Wechsel wollte, und entschloß sich zu gehen, sobald ein neuer Vorsitzender gewählt sei. Damit war der Weg für meinen Vater frei, sich um das höchste Amt zu bewerben. Er stellte sich dem Kampf.

An einem scheinbar harmlosen Dienstagmorgen im Oktober fuhr ich wie gewohnt zu Weatherbys und merkte, daß mich niemand ansah. Verwundert, aber nicht weiter beunruhigt, ging ich in mein Büro, und dort hatte mir ein freundlicher - oder unfreundlicher - Mitmensch eine Shout! auf den Schreibtisch gelegt. Aufgeschlagen in der Mitte.

Shout! war das Wochenblatt, das regelmäßig Usher Rudds giftigste Ausbrüche veröffentlichte.

Ein Foto zeigte nicht meinen Vater, sondern mich selbst, in Rennkleidung.

Die überdimensionale Schlagzeile hieß: Drogen! Darunter stand: »Der Rennen reitende Sohn unseres selbstherrlichen Ernährungsministers George Juliard wurde wegen Kokainkonsums von seinem Trainer gefeuert.«

Ungläubig las ich, wie es weiterging.

»>Er mußte weg<, sagt Sir Vivian Durridge. >Ich durfte nicht zulassen, daß ein fauler Apfel, ein Leimschnüffler und Rauschgiftesser, meinen geliebten Rennstall in Verruf bringt. Der Junge taugt nichts. Sein Vater tut mir leid.<«

Sein Vater, hob das Magazin hervor, sei einer der Kontrahenten in dem Machtkampf, der gegenwärtig die Regierungspartei spalte. Wie könne George Juliard sich als Ausbund an Tugend und sozialer Gesinnung hinstellen, wenn er als Familienvater versagt habe, da sein einziger Sproß drogenabhängig sei?

Mir war zumute wie bei Vivian Durridge an jenem Morgen vor fünf Jahren; ich spürte den Boden unter meinen Füßen nicht. Nach wie vor galt, daß ich niemals Leim geschnüffelt, gekokst oder andere Drogen konsumiert hatte, bloß war ich nicht mehr so naiv anzunehmen, daß alle Welt mir glauben würde.

Ich schnappte mir das Blatt und ging, Schritt für Schritt von aufmerksamen Blicken verfolgt, zum Büro des geschäftsführenden Direktors von Weatherbys. Er saß an seinem Schreibtisch. Ich trat vor ihn hin.

Das Magazin hätte ich nicht mitzubringen brauchen. Er hatte es bereits vor sich liegen.

»Das stimmt nicht«, sagte ich ohne Umschweife.

»Wenn es nicht stimmt«, erwiderte der Geschäftsführer, »warum sollte es ein Vivian Durridge dann behaupten? Vivian Durrid-ge gehört zu den angesehensten Leuten im Galopprennsport.«

»Wenn Sie mir einen Tag frei geben, gehe ich ihn fragen.«

Er sah mich nachdenklich an.

»Ich glaube«, sagte ich, »es handelt sich hier eher um einen Angriff gegen meinen Vater als gegen mich. Der Artikel stammt von einem Zeitungsschreiber namens Usher Rudd, der meinen Vater schon einmal zu diskreditieren versucht hat, und zwar vor fünf Jahren, als er sich um einen Abgeordnetensitz bemühte.

Mein Vater hat sich bei der Redaktion der Zeitung beschwert, und Usher Rudd mußte gehen. Das hier sieht mir nach Rache aus. In dem Artikel heißt es, mein Vater sei in einen innerparteilichen Machtkampf verwickelt, und das stimmt. Der Sieger dieses Kampfes wird der nächste Premierminister sein. Usher Rudd will verhindern, daß er George Juliard heißt.«

Der Direktor sagte noch immer nichts.

»Als ich mich bei Ihnen beworben habe«, sagte ich, »hat Ihnen Sir Vivian eine Empfehlung geschickt, und, ach ja« - ein Glück, daß mir das jetzt einfiel -, »er hat mir einen Brief geschrieben, den kann ich Ihnen zeigen ...« Ich wandte mich zur Tür. »Er ist nämlich hier im Haus, in der Versicherungsabteilung.«

Ohne sein Einverständnis abzuwarten, eilte ich in das lange, schmale Versicherungsbüro und holte den Umzugskarton unter meinem Schreibtisch hervor. Ich hatte ihn noch nicht in meine renovierte Wohnung zurückgeschafft, die sonst gleich wieder so vollgestopft wie vorher gewesen wäre. Irgendwo in dem Karton lagen die Hochzeitsfotos meines Vaters mit Gattin eins und zwei.

Im Rahmen hinter der Aufnahme von ihm und Polly steckte der Brief von Vivian Durridge, frisch und sauber wie am Tag seiner Ankunft. Vorsichtshalber machte ich gleich mehrere Kopien davon, die ich in einer von vielen hundert Akten versteckte, und ging mit dem Original zum Direktor.

Fair, wie er war, hatte er die Empfehlung, die Sir Vivian ihnen spontan geschickt hatte, schon herausgesucht. Sie lag auf dem aufgeschlagenen Magazin.

Ich gab ihm den Brief, den er zweimal durchlas.

»Setzen Sie sich«, sagte er und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Erzählen Sie mir, was an dem Tag los war, als Sir Vivian Durridge Sie beschuldigt hat, Drogen zu nehmen.«

»Vor fünf Jahren« - es schien eine Ewigkeit her - »wollte mein Vater, wie es in dem Brief steht, mich zu der Einsicht bringen, daß aus mir nie ein Spitzenjockey wird.«

Ich erzählte dem Direktor von der Limousine mit Chauffeur und dem Strandhotel in Brighton. Ich erzählte ihm, daß mein Vater mich gebeten hatte, auf Familie zu machen, um ihn im Wahlkampf zu unterstützen.

Der Direktor hörte zu und fragte schließlich: »Wer hat außer Ihnen und Ihrem Vater noch von Vivian Durridges Drogenvorwurf gewußt?«

»Das ist es ja gerade«, sagte ich langsam. »Ich habe es bestimmt keinem erzählt, und daß mein Vater es erzählt hat, glaube ich auch nicht. Geben Sie mir Gelegenheit, es herauszufinden?«

Er schaute noch einmal auf den Brief, auf die Empfehlung, auf den bösartigen, verleumderischen Magazinartikel und kam zu einem Entschluß. »Ich gebe Ihnen eine Woche«, sagte er. »Zehn Tage. Solange es eben dauert. Bevor Sie kamen, war Evan hier der Stellvertreter eines Versicherungsfachmanns, der jetzt im Vorstand sitzt. Er wird Ihre Aufgaben übernehmen, bis Sie wieder da sind.«

Ich war dankbar und sprachlos angesichts seiner Großzügigkeit. Er entließ mich mit einer Handbewegung zur Tür hin, und als ich mich im Hinausgehen noch einmal umdrehte, sah ich, wie er das Magazin, den Brief und die Empfehlung in eine Schreibtischlade einschloß.

Bei mir im Büro klingelte das Telefon. »Was zum Teufel ist da los?« sagte die Stimme meines Vaters. »Hat Vivian Durridge den Verstand verloren? Ich kriege ihn nicht ans Telefon.«

Er konnte ihn nicht ans Telefon kriegen, weil Vivian Durridge, wie ich drei Stunden später herausfand, nicht zu Hause war.

Der Kies in der Zufahrt war sauber geharkt. Der säulengetragene Vorbau der Villa deutete wie früher auf Wohlstand, aber auf mein Klingeln kam niemand zur Tür.

In seinem Stallhof standen keine Pferde, doch der Futtermeister, der in einer Kate nebenan wohnte, werkelte draußen herum.

Er erkannte mich auf Anhieb, obwohl ich vor über fünf Jahren fortgegangen war.

»Tja, Ben«, er kratzte sich am Kopf, »hätte ich nicht gedacht, daß Sie Drogen nehmen.«

Er war klein, alt und säbelbeinig und hatte die ihm anvertrauten großen Tiere ebenso geliebt wie sie ihn. Er war ganz für sie dagewesen, und jetzt, ohne sie, fehlte seinem Leben der Halt, der Sinn, hatte er nichts mehr als die verblassende Erinnerung an vergangene Siege.

»Ich habe nie Drogen genommen.«

»Wäre ich auch nicht drauf gekommen, aber wenn Sir Vivian es sagt ...«

»Wo steckt er?« fragte ich. »Wissen Sie das?«

»Er ist doch krank.«

»Krank?«

»Er ist nicht mehr bei sich, der Ärmste. Eines Abends war er mit mir auf Stallkontrolle wie sonst auch, da greift er sich auf einmal an den Kopf und fällt um, und ich hab den Tierarzt gerufen -«

»Den Tierarzt?«

»In der Sattelkammer war ein Telefon, und vom Tierarzt wußte ich die Nummer.« Der Futtermeister schüttelte sein altes Haupt. »Jedenfalls kam der Tierarzt und mit ihm der Arzt, und sie meinten, Sir Vivian hätte einen Schlag bekommen oder so was. Ein Krankenwagen hat ihn abgeholt, und seine Familie wollte nicht, daß man ihm einen Dachschaden nachsagt, dem Ärmsten, aber trainieren konnte er nicht mehr, deshalb haben sie allen erzählt, er hätte sich zur Ruhe gesetzt.«

Ich ging mit dem großartigen Futtermeister von einst durch den Hof und ließ mir erzählen, was für tolle Sieger in den jetzt verlassenen Boxen gestanden hatten.

Alle Besitzer seien gebeten worden, ihre Pferde abzuholen und vorübergehend woanders trainieren zu lassen, sagte er, aber Wochen seien vergangen, und jetzt stehe fest, daß der Alte doch nicht wiederkomme, und nichts werde mehr so sein wie früher.

»Aber«, fragte ich sanft, »wo ist denn Sir Vivian im Augenblick?«

»Im Pflegeheim«, sagte er einfach.

Ich fand das Pflegeheim. Auf einem Schild davor stand: »Haven House«. Sir Vivian saß im Rollstuhl; glatte Haut, leerer Blick, wärmende Decke über den Knien.

»Er ist verwirrt. Er erkennt niemanden«, warnten mich die Schwestern; aber mochte er mich auch nicht erkennen, er schwätzte drauflos.

»Du liebe Zeit, ja«, sagte er mit einer hohen Stimme, die von seinem vertrauten Geknatter weit entfernt war. »Klar erinnere ich mich an Benedict Juliard. Er wollte Jockey werden, aber nicht mit mir, bitte schön! Ich konnte keinen gebrauchen, der Leim schnüffelt.«

Sir Vivians Augen waren weit geöffnet und ohne Falsch. Ich sah ihm an, daß er jetzt die Geschichte glaubte, die er meinem Vater zuliebe erfunden hatte. Mir war klar, daß er künftig bei dieser Version meiner Kündigung bleiben würde, weil er sie wirklich für wahr hielt.

»Haben Sie selbst gesehen«, fragte ich, »daß Benedict Juliard Leim geschnüffelt, gekokst oder sonst etwas genommen hat?«

»Ich weiß das aus zuverlässiger Quelle«, sagte er.

Mit fünf Jahren Verspätung fragte ich ihn: »Von wem denn?«

»Hm? Wie, von wem? Von mir natürlich.«

Ich versuchte es noch einmal. »Hat Ihnen jemand erzählt, Benedict Juliard sei drogensüchtig? Und wenn ja, wer hat es Ihnen erzählt?«

Die Intelligenz, die Durridge einmal ausgezeichnet hatte, die Weltklugheit, für die er im Rennsport seit jeher bekannt war, der

Durchblick und das klare Urteil waren ausgelöscht durch eine verhängnisvolle Blutung irgendwo in einem Winkel dieses brillanten Kopfes. Sir Vivian Durridge gab es nicht mehr. Ich sprach mit der leeren Hülle, dem Chaos. Es war nicht zu hoffen, daß er sich je wieder genau an etwas erinnerte, aber man würde ihm alles mögliche einreden können.

Ich blieb eine Weile bei ihm sitzen, da er anscheinend gern Gesellschaft hatte, und obwohl er nicht wußte, wer ich war, wollte er nicht, daß ich ging.

Die Schwester meinte: »Es beruhigt ihn, wenn jemand bei ihm ist. Er war mal sehr bekannt. Und Sie sind schon der zweite außerhalb der Familie, der ihn in letzter Zeit besucht hat. Über Besuch freut er sich immer.«

»Wer war denn noch da?« fragte ich.

»Ein netter junger Mann. Rote Haare. Sommersprossen. So freundlich wie Sie. Ein Journalist, sagte er. Er hat Sir Vivian nach einem Benedict Juliard gefragt, der mal für ihn geritten war. Ach du meine Güte!« - überrascht hielt sich die Schwester den Mund zu. »Haben Sie nicht gesagt, Sie sind Benedict Juli-ard?«

»Doch. Was könnte man Sir Vivian denn schenken, was er noch nicht hat?«

Die Schwester meinte kichernd: »Schokoladenkekse und Gin hätte er gern, aber eigentlich ist ihm beides verboten.«

»Gönnen Sie’s ihm.«

Ich gab ihr Geld. Vivian Durridge saß in seinem Rollstuhl und wußte nicht, um was es ging.

Ich rief meinen Vater an.

»Die Leute glauben, was sie glauben wollen«, sagte ich. »Hudson Hurst wird glauben wollen, daß dein Sohn drogensüchtig ist, und er wird herumlaufen und deinen Kollegen verbraten, daß du deshalb nicht zum Premierminister taugst. Weißt du noch, wie ich unseren Pakt damals gefaßt habe ... daß ich alles tun will, um dich vor Angriffen zu schützen?«

»Natürlich.«

»Jetzt ist die Zeit gekommen.«

»Aber Ben ... was willst du denn tun?«

»Ich verklage ihn wegen Verleumdung.«

»Wen? Hurst? Usher Rudd? Vivian Durridge?«

»Nein. Den Redakteur der Shout!«

Nach einer Pause sagte mein Vater: »Dafür brauchst du einen Anwalt.«

»Anwälte sind teuer. Ich versuche es erst mal so.«

»Ben, das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht. Aber wenn ich Shout! Verleumdung nachweisen kann, muß Hudson Hurst den Mund halten, und wir dürfen auch keine Zeit verlieren, oder soll die Wahl des neuen Parteichefs nicht kommende Woche schon in die erste Runde gehen?«

»Doch. Am Montag.«

»Dann kümmere dich weiter um Fisch und Fritten, und ich sage Usher Rudd den Kampf an.«

Von Durridge in Kent fuhr ich quer durch Südengland nach Exeter und zu dem Rennstall, der noch wie ein Zuhause für mich war: Spencer Stallworthys Reich.

Ich kam gegen halb sieben an, als er gerade die Stallkontrolle abschloß.

»Tag«, sagte er überrascht. »Mit Ihnen habe ich aber nicht gerechnet.«

»Nein .« Ich sah zu, wie er den letzten Pferden Mohrrüben zu naschen gab, und warf einen Blick in die Box, in der drei herrliche Jahre lang Sarah’s Future gestanden hatte. Sie gehörte jetzt einem langhalsigen Schimmel, und ich trauerte der Sorglosigkeit vergangener Tage nach.

Jim war noch dort, sah nach, ob die Heunetze gefüllt, die Trinkeimer bereitgestellt waren und verschloß die Boxen zur Nacht; alles so vertraut, so lange vermißt.

Nach der Stallkontrolle fragte ich, ob sie ein wenig Zeit hätten, sich mit mir zu unterhalten, und schon waren wir mit dem Auto unterwegs zu Stallworthys Wohnung und seinem unvergessenen Sherry.

Sie wußten, daß mein Vater dem Kabinett angehörte, und ich erzählte von dem Machtkampf. Ich zeigte ihnen den Mittelteil von Shout!, der sie so schockte, daß sie von neuem zur Flasche griffen. Jim blinzelte heftig mit den weißen Wimpern, immer ein Zeichen von Beunruhigung, und Stallworthy sagte: »Das stimmt doch nicht, oder? Sie haben nie Drogen genommen. Das hätte ich gemerkt.«

»Genau«, sagte ich dankbar, »und das hätte ich gern schriftlich von Ihnen. Eine Erklärung, daß ich drei Jahre lang mit Erfolg für Ihren Stall geritten bin und nie das geringste Interesse für Drogen gezeigt habe. Je mehr schriftliche Erklärungen ich beibringen kann, aus denen hervorgeht, daß ich kein Drogensüchtiger bin und nach dem Wissen der Unterzeichner auch nie einer war, desto besser. Ich will das Blatt wegen Verleumdung verklagen.«

Sowohl Stallworthy wie auch Jim machten ihrer Empörung Luft und setzten sich mit heftigeren Worten für mich ein, als ich es hätte verlangen können.

Stallworthy gab mir ein Bett für die Nacht und früh am Morgen ein Pferd zum Reiten, und nach dem Frühstück verabschiedete ich mich und fuhr über die vertraute Landstraße zur Universität.

Die zwei Jahre seit meinem Abschluß schienen sich in Luft aufzulösen. Ich parkte am Straßenrand vor dem Streatham Campus und ging den steilen Weg zum Laver Building hinauf, das die mathematische Abteilung beherbergte. Dort fand ich nach einigem Hin und Her meinen Tutor - denjenigen, der mir die von Weatherbys verlangte Referenz geschrieben hatte - und erklärte ihm wie zuvor Stallworthy und Jim, was ich von ihm wollte.

»Drogen? Klar probieren viele Studenten mal was aus, und die es gar nicht lassen können, entfernen wir nach Möglichkeit, wie Sie wissen, aber Sie wären so ungefähr der letzte, bei dem ich Angst gehabt hätte, daß er darauf abfährt. Schon weil Drogen und Mathematik schlecht zusammenpassen, und gerade Ihre Arbeit war immer sehr nüchtern. Der Artikel ist Blödsinn.«

Ich bat ihn, mir seine Auffassung schriftlich zu geben, und er erledigte das prompt.

»Viel Glück«, wünschte er mir zum Abschied. »Diese Zeitungsleute können sich doch wirklich alles erlauben.«

Ich kehrte zu meinem Wagen zurück und fuhr übers Land zu meiner alten Schule in Malvern.

Dort auf dem Campus am Berghang, steil wie das Unigelände in Exeter, nur nicht so groß, stöberte ich den Mann auf, bei dem ich Mathematik gelernt hatte. Er verwies mich an meinen damaligen Hauptlehrer, und der hörte mir zu und schickte mich zum Rektor.

Der Rektor ging mit mir über den Steinboden des vertrauten, breiten Ganges im Hauptgebäude und die Steintreppe hinauf in sein Arbeitszimmer, wo ich ihm die Shout! und eine Kopie des Briefs von Vivian Durridge zeigte.

»Natürlich unterstütze ich Sie«, sagte er ohne Zögern, schrieb von Hand etwas auf ein Blatt Papier und gab mir das Geschriebene zu lesen.

Da stand:

Benedict Juliard hat Malvern College fünf Jahre lang besucht. In den beiden letzten Jahren, als er für das Abitur und die Zulassung zum Studium lernte, hat er seine Freizeit damit verbracht, entweder Rennpferde zu reiten - er gewann drei Jagdrennen - oder Ski zu laufen - er gewann eine JugendEuropameisterschaft im Abfahrtslauf.

Darüber hinaus war er ein hervorragender Sportschütze: mit der Schulmannschaft errang er den begehrten Ashburton Shield.

Bei all diesen Aktivitäten hat er einen klaren Kopf, angeborenen Mut und eine hohe Konzentrationsfähigkeit bewiesen. Ihm eine Neigung zum Rauschmittelgenuß zu unterstellen ist absurd.

Ich blickte auf, und mir fehlten die Worte.

»Ich bewundere Ihren Vater«, sagte der Rektor. »Das soll nicht heißen, daß ich politisch immer mit ihm übereinstimme, aber England könnte es allemal schlechter treffen.«

»Vielen Dank«, sagte ich etwas schwach, und er gab mir lächelnd die Hand.

Weiter ging es nach Wellingborough, wo ich im Büro vorbeischaute, um dem Direktor zu sagen, was ich bis jetzt getan hatte und was ich noch tun wollte. Dann nahm ich ein paar Kopien von Vivian Durridges Brief und seiner Empfehlung aus dem Aktenschrank, kopierte die neu hinzugekommenen Briefe, fuhr damit zum Bahnhof Wellingborough und setzte mich, da ich die Straßen leid war, in den Zug nach London.

Die Shout! wurde, wie ich herausfand, in einem kleinen, verwahrlosten Gebäude südlich der Themse produziert. Ihr Redakteur legte sicher keinen Wert darauf, mich zu empfangen, aber am späten Nachmittag marschierte ich zwischen wie Bugwellen weichenden Sekretärinnen hindurch geradewegs in sein Büro. Er saß im Sweatshirt hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch an der Tastatur eines Computers.

Natürlich kannte er mich nicht. Als ich ihm sagte, wer ich war, bat er mich zu gehen.

»Ich werde Sie wegen Verleumdung verklagen«, sagte ich und schlug meine Shout! in der Mitte auf. »Dem Impressum vorne entnehme ich, daß der Chefredakteur Rufus Crossmead heißt. Falls Sie das also sind - ich verklage Rufus Crossmead persönlich.«

Er war ein kleiner, aggressiver Mann, der die Brust herausstreckte und das Kinn einzog wie ein Boxer. Flüchtig kam mir der Gedanke, daß der Umgang mit wütenden Opfern seines rücksichtslosen Treibens für ihn zum Alltag gehörte.

Ich wußte noch, wie mein Vater vor fünf Jahren den Redakteur der Hoopwestern Gazette niedergemacht hatte, aber einen so bedrohlich ruhigen Auftritt bekam ich nicht hin. Dazu fehlte es mir an Ausstrahlung und Autorität. Dennoch ließ ich Rufus Crossmead nicht über meine Absichten im unklaren.

Ich legte die kopierten Fürsprachen von Spencer Stallworthy, Jim, meinem Tutor in Exeter und dem Rektor des Malvern College vor ihn hin und gab ihm schließlich eine Kopie des Briefs von Vivian Durridge.

»Um eine Verleumdungsklage abzuschmettern«, sagte ich, »muß man schon nachweisen, daß man die Wahrheit geschrieben hat. Das geht bei Ihnen nicht, weil Sie Lügen verbreitet haben. Ich kann unschwer beweisen, daß Sir Vivian Durridge infolge eines Schlaganfalls hoffnungslos verwirrt ist und nicht mehr weiß, was er sagt. Usher Rudd war sich darüber mit Sicherheit im klaren. Er wollte meinem Vater heimzahlen, daß ihn die Hoopwestern Gazette seinetwegen gefeuert hat. Seitdem kommt er bei keiner achtbaren Zeitung mehr unter. Ihnen paßt er ins Konzept, aber auch Sie hat er jetzt in Bedrängnis gebracht.«

Düster las Rufus Crossmead die verschiedenen Schreiben.

»Wir schließen einen Vergleich ab«, sagte er.

Es klang, als hätte er das schon oft gesagt, und es kam für mich völlig unerwartet. Ich wußte gar nicht, ob es mir recht war.

Langsam sagte ich: »Wir wollen erst mal sehen ...«

»Das entscheidet der Verlag«, unterbrach mich Crossmead. »Die machen Ihnen ein Angebot.«

»Läuft das immer so?« fragte ich.

Er nickte nicht gerade, aber es lag in der Luft.

»Dann richten Sie dem Verlag aus«, sagte ich, »daß ich einen Widerruf verlange und eine förmliche Entschuldigung, in der Sie klarstellen, daß die in Ihrem Magazin aufgestellten Behauptungen auf Falschinformationen beruhen. Sagen Sie Ihrem Verlag, daß der Widerruf gut sichtbar in der Shout! vom kommenden Dienstag stehen muß. Außerdem schicken Sie bitte unverzüglich eine eigenhändig unterschriebene Kopie des Widerrufs und der Entschuldigung an jeden der rund sechshundertfünfzig Abgeordneten des Parlaments.«

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