Kapitel 5

Das Streitgespräch im Rathaus hatte sich mittlerweile so weit zugespitzt, daß die Hände beider Protagonisten Hackgesten vollführten.

Ein als Schiedsrichter eingesetzter Schachmeister vom Ort war mit einem Kurzzeitwecker zum Gefecht erschienen und hatte die Spielregel aufgestellt, daß beide Kandidaten im Wechsel auf bestimmte Fragen eingehen sollten und nach fünf Minuten, wenn die Uhr ertönte, das Wort abgeben mußten.

Mit dem Fünf-Minuten-Turnus kamen die Kontrahenten offenbar gut zurecht, weil sie beide reden konnten. Wie mein Vater die Leute aufzurütteln, zu unterhalten und zu überzeugen verstand, wunderte mich nicht mehr, aber von Paul Bethune hatte ich irgendwie einen selbstherrlichen, kalten Auftritt erwartet, der dazu paßte, wie er seine Frau behandelt hatte. Statt dessen ging er fundiert und mit trockenem Witz auf die Fragen ein, und erst nachher kam mir der Gedanke, er könnte seine klügsten Sprüche vielleicht erprobt und auswendig gelernt haben.

Das Rathaus war voll. Auf den Plätzen, die Polly mir und Isobel Bethune zugewiesen hatte, saß jetzt der Bürgermeister mit Gattin, und froh, nicht mehr so exponiert zu sein, blieb ich an der Tür stehen, sah zu, wie der Eifer, die Zustimmung oder auch die Empörung in Wellen durchs Publikum gingen, und dachte bei mir, daß dieses Publikum aufjeden Fall zuhörte und Anteil nahm.

An diesem Abend konnte es keinen Sieger geben. Beide gewannen. Alle klatschten Beifall und diskutierten weiter im Fortgehen.

Orinda hatte mehrmals Bethune applaudiert. Leonard Kitchens behielt die Hände fest in den Hosentaschen. Die liebe Polly strahlte gutmütig und glücklich über ihr langes, schmales Gesicht, und der sommersprossige Basil sah, wenn er lächelte, seinem widerlichen Cousin noch viel ähnlicher.

Niemand kam mit einem Gewehr daher.

Mein Vater und Paul Bethune gaben sich die Hand.

Wie Superstars gingen sie als letzte von der Bühne und waren beide sofort von schnatternden Satelliten umringt, die dies und das zu sagen, zu fragen oder sie auf etwas hinzuweisen hatten. Mein Vater sonnte sich darin, und wieder schwebte er auf Wolken, als wir zu unserem Quartier zurückkehrten.

»Über den Platz geht’s doch schneller«, wandte er ein, als ich ihm vorschlug, den Wandelgang zu nehmen. »Warum willst ausgerechnet du als Mathematiker an zwei Dreiecks seiten entlanglaufen, wenn’s mit einer getan ist?«

»Falls geschossen wird«, sagte ich.

»Mein Gott.« Er blieb jäh stehen. »Aber noch mal macht das doch keiner!«

»Du dachtest bestimmt, das macht sowieso keiner, aber jemand hat es versucht.«

»Das wissen wir nicht genau.«

»Und die Ablaßschraube?«

Er schüttelte zwar ungläubig den Kopf, hatte aber nichts mehr dagegen, daß wir den Wandelgang nahmen, und merkte anscheinend auch nicht, daß ich auf der dem beleuchteten Platz zugewandten Seite ging.

Er wollte über das Streitgespräch reden. Und er wollte wissen, wieso ich die Hälfte davon verpaßt hatte und wo ich gewesen sei. Ich erzählte ihm von Isobels Kummer, merkte aber, daß er kaum zuhörte; in Gedanken war er immer noch bei den Argumenten, mit denen er sich gegen den ungetreuen Ehemann der Dame durchgesetzt hatte oder auch nicht.

»Er ist engagiert, weißt du. Aber ich finde sein Programm miserabel.«

Ich sagte: »Deine Ansichten werfen mich auch nicht um, aber ich kämpfe mit dem Leben dafür, daß du sie äußern darfst.«

»Gut so. Ganz verschwendet war das Schulgeld also doch nicht.«

»Komm wieder runter«, bat ich. »Du schwebst noch in den Wolken.«

Wieder blieb er kurz stehen. Inzwischen hatten wir den Wandelgang hinter uns gelassen und gingen an schwach beleuchteten Ladenfronten vorbei auf die Erkerfenster erst des Trödelladens und dann des Wahlkampfbüros zu.

»Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man ein Publikum in den Händen hält.«

»Nein.« Außenseiter bekamen selten Beifall, und auf einem Favoriten hatte ich nie gesiegt.

Wir kamen zur Eingangstür.

Die liebe Polly empfing uns verwundert. »Wo waren Sie denn? Sie sind doch vor mir weg.«

»Der Junge«, sagte mein Vater und zeigte mit dem Finger auf mich, obwohl herzlich wenig andere Jungen zu sehen waren. »Mein Sohn Benedict hat die fixe Idee, daß jemand darauf aus ist, meinen Wahlfeldzug, wenn nicht mein Leben, gewaltsam zu beenden. Machen Sie, liebe Polly, ihm doch bitte klar, daß ich es darauf ankommen lasse und daß er gefälligst nicht noch einmal seinen Hals riskieren soll, um meinen zu retten.«

»Liebe Polly«, sagte ich - und sie lächelte auch wirklich lieb -, »ich habe nur diesen einen Vater. Bringen Sie ihn doch bitte dazu, daß er mir eine richtige Aufgabe bei diesen Wahlen gibt. Überzeugen Sie ihn, daß er rund um die Uhr einen Leibwächter braucht. Daß es nichts schaden kann, wenn er sich von mir beschützen läßt.«

»Ich brauche keinen Leibwächter.« Er beharrte darauf. »Ich brauche dich als Begleitperson. Isobel Bethune ist ihrem Mann keine Hilfe, aber du hast - zu meiner Überraschung, muß ich gestehen - ein seltenes Talent, die Leute zum Reden zu bringen. Siehe Isobel Bethune! Siehe Crystal Harley! Aus der habe ich noch keine Silbe herausgekriegt, und mit dir schwatzt sie dauernd. Siehe auch Mrs. Leonard Kitchens, die dich mit Neuigkeiten vollstopft.«

Polly nickte lächelnd. »Sie sind so jung, daß man Sie nicht als Bedrohung ansieht. Jeder braucht einen, mit dem er reden kann, und Sie sind harmlos.«

Ich sagte nachdenklich: »Was ist mit Orinda? Die hat mir bei dem Diner den Rücken gekehrt und keinen Ton gesagt.«

Polly klatschte lachend in die Hände. »Sie bekommen Orinda. Das kriege ich schon noch mal hin.«

»Aber allein«, sagte ich. »Ich könnte mich mit ihr unterhalten, wenn sie allein wäre, aber der Anonyme Liebhaber weicht nicht von ihrer Seite.«

»Wer?«

»A. L. Wyvern.«

»Anonymer Liebhaber!« rief Polly aus. »Bezaubernd. Eigentlich heißt er Alderney, glaube ich. Er spielt Golf. Er hat auch mit Dennis Golf gespielt.«

Schon rauschte sie in eine andere Ecke des Büros, um Becher herauszuholen und Kaffee zu machen. Ich konnte ihr Alter höchstens auf zehn Jahre genau schätzen: zwischen vierzig und fünfzig, aber sicher war ich mir auch damit nicht. Sie trug wieder den unpassend roten Lippenstift, dazu diesmal eine grüne Jacke und einen langen bräunlichen Tweedrock - warm für August. Von den blickdichten Strümpfen und den »vernünftigen« Schuhen hätte man auf eine gewisse Schwerfälligkeit bei ihr schließen können, doch sie bewegte sich im Gegenteil sehr elegant, wie eine gelernte Tänzerin. Sie hatte keine Ringe an den flinken Fingern und trug als Schmuck nur eine schlichte Perlenkette.

Auf den ersten Blick hätte Polly einem leid tun können, aber dazu bestand überhaupt kein Anlaß. Ihre Freundlichkeit verband sich mit innerer Stärke. Sie trug die schrecklichen Kleider unbefangen. Sie war - ich mußte nach den passenden Worten suchen - ein heiteres Gemüt.

Während sie Wasser auf den Pulverkaffee goß, sagte sie: »Es ist doch nichts dabei, wenn Benedict offiziell die Aufgabe übernimmt, auf Sie aufzupassen. Bis jetzt hat er das immerhin ganz gut gemacht. Mervyn hat sich heute abend im Rathaus dauernd darüber beklagt, daß er wegen Benedict eine Garage mieten mußte. Er läßt sich ungern von Benedict Anweisungen geben, meint er.«

»Das war ein Vorschlag, keine Anweisung«, sagte mein Vater.

»Da Mervyn es als Anweisung empfunden hat, war es für ihn eine. Ihm hat Benedict zuviel Einfluß auf Sie. Mervyn bestimmt gern selbst.«

»Ben ist doch erst zwei Tage hier«, wandte mein Vater ein.

Polly lächelte. »Zehn Minuten hätten wahrscheinlich genügt. Sie verstehen sich glänzend auf die große Politik, George, aber Ihr Sohn sieht den Leuten ins Herz.«

Mein Vater betrachtete mich nachdenklich.

»Das kann er jetzt schon«, sagte Polly, »und er ist noch keine achtzehn. Warten Sie mal zehn Jahre. Sie haben ihn mitgebracht, um auf Familie zu machen, um zu beweisen, daß Sie kein Junggeselle sind, schon gar kein eingefleischter, und da er sich als ein ungeahntes Plus erwiesen hat, sollten Sie seine Vorzüge nutzen, George.«

Sie rührte den Kaffee um und gab ihn uns schwarz. Mein Vater nahm abwesend eine kleine Dose aus der Tasche und klickte ein Süßstoffdragee in seinen Becher.

»George?« hakte Polly nach.

Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, klingelte das Telefon, und da ich am nächsten saß, nahm ich den Hörer ab.

»Juliard?« sagte eine Stimme.

»Benedict. Möchten Sie meinen Vater sprechen? Er ist hier.«

»Nein, Moment noch. Wissen Sie, mit wem Sie reden?«

»Foster Fordham.«

»Genau. Und haben Sie rausgekriegt, womit Ihre Ölwanne verstopft war?«

»Mit etwas, das bei stark erhitztem Öl schmilzt.«

Er lachte. »Ich habe das Öl gekühlt und gefiltert. Die Wachskügelchen darin hätten für einen Pfropfen allemal gereicht. Ich fand auch Baumwollfasern, die von einem Docht sein könnten. Jetzt geben Sie mir mal Ihren Vater.«

Ich gab den Hörer weiter und lauschte einem längeren Hin und Her, bei dem es offenbar darum ging, ob die Sabotage angezeigt werden solle oder nicht. Wegen des Schusses hatte die Polizei, soweit mein Vater wußte, zwar nichts mehr unternommen, doch er überredete seinen Freund Foster, einen schriftlichen Bericht über die Ölprobe abzufassen, damit er den Ordnungshütern vorsichtshalber eine Kopie davon zukommen lassen könne.

Polly und ich schnappten die Brocken auf. »Für Polizeischutz haben die nicht genug Leute ... das machen die nicht ... gegen entschlossene Attentäter gibt es keinen Schutz ... ja, schon ...«, mein Vater blickte zu mir, »... aber der ist zu jung ... alles klar dann ... verbleiben wir so.« Er legte behutsam den Hörer auf, seufzte und sagte mit Bedacht: »Foster Fordham schreibt einen Bericht für die Polizei. Ben paßt weiter auf mich auf, so gut er kann, und Mervyn muß sich damit abfinden. Und jetzt, liebste Polly, streichen wir die Stimmenwerbung für morgen, denn da habe ich etwas ganz Außerplanmäßiges vor.«

An einem Haken an der Wand hing ein großer Terminkalender mit einem Rechteck für jeden Tag. Crystal hatte darin die Marschroute meines Vaters festgehalten, so daß der jeweilige Tagesablauf auf einen Blick zu übersehen war.

Begonnen hatte das Programm am vorangegangenen Dienstag: »Kandidat kommt. Bekannt machen mit Büro und Team.« Die für Mittwoch vorgesehene »Fahrt durch den Wahlkreis« war ausgestrichen und ersetzt worden durch: »Sohn in Brighton abholen«; darunter hieß es: »Diner im Schlafenden Drachen.« Von Schüssen auf dem Heimweg stand da nichts.

Die Auftritte in Quindle und der Abend in der Vorschule füllten den Donnerstag aus, den Freitag die Stimmenwerbung von Tür zu Tür und das Streitgespräch im Rathaus.

Mehr desselben stand bevor. Hätte ich nicht die zusätzliche Aufgabe bekommen, gefährliche Anschläge auf besagten Kandidaten zu vereiteln, wären meine unter Lächelzwang gestellten Gesichtsmuskeln sicher lange vor dem Wahltag überstrapaziert worden.

Wie packt er das nur? fragte ich mich. Wie kommt es, daß ihm das ganz offensichtlich sogar Spaß macht?

»Morgen«, sagte er, von seinem Einfall angetan, »fahren wir nach Dorset auf die Rennbahn. Der Tag gehört Ben. Wir gehen zum Pferderennen.«

Meine erste Reaktion war Freude, was ihm nicht entging. Der Freude auf dem Fuß folgte eine tiefe Traurigkeit darüber, daß es mir nicht möglich war, dort selbst zu reiten, daß ich den Nachmittag als Ausgeschlossener zubringen würde, neidisch auf meines Nächsten Ochs, Esel und Rennsattel, wenn die Amateure an den Start gingen; aber ich glaube, ich ließ mir nur die Freude anmerken.

»Wir nehmen den Range Rover«, bestimmte mein Vater zufrieden. »Und Polly kommt mit, nicht wahr?«

»Liebend gern«, sagte Polly.

Ob Polly jemals log?

Wir tranken geruhsam den Kaffee, und mein Vater war wieder so entspannt wie die ganze merkwürdige Woche über. Polly verließ das Büro durch den Ausgang zum Parkplatz, um heim zu ihrem Haus in den Wäldern vor der Stadt zu fahren, und mein Vater und ich sperrten sorgfältig alles ab, gingen die schmale, steile Treppe hinauf und schliefen ungestört bis Samstag früh.

Mervyn klingelte am Morgen Sturm und zeigte sich über die Umdisponierung denkbar verärgert. Wie wollte George jemals diesen kritischen Wahlkreis für sich gewinnen, wenn er die Stimmenwerbung von Haus zu Haus vernachlässigte, die von »äußerster« Wichtigkeit war? Obendrein lag die Rennbahn von Dorset auch noch außerhalb des Hoopwesterner Einzugsbereichs.

Und wenn schon, beschwichtigte ihn mein Vater, die vielen Wähler aus Hoopwestern, die zum Pferderennen gingen, würden vielleicht günstig gestimmt.

Mervyn, keineswegs überzeugt, schwieg eine halbe Stunde lang verbissen im Gedanken an die beste Wochenendgelegenheit zum Stimmenfang, die hier vertan wurde, beschloß dann aber doch noch zu retten, was zu retten war, hängte sich ans Telefon und besorgte uns eine Einladung zum Mittagessen mit der Rennleitung sowie einen Schwung nützlicher Eintrittskarten. Als alter Hase kannte er alle einflußreichen Leute in der Grafschaft.

Natürlich machte er mich für die Umstellung verantwortlich, und vielleicht zu Recht. Er wäre sowieso lieber um Orinda herumgetanzt und hätte ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Was er mit A. L. angefangen hätte, ahnte ich nicht, aber sicher kannte er den geheimnisvollen Schatten, da der Anonyme Liebhaber auch des verstorbenen Dennis Nagles bester Freund gewesen war. Sie hatten miteinander Golf gespielt.

Von Mervyns schlechter Laune unbeeindruckt, dachte ich, er mußte selber sehen, wie er mit seinem Frust zu Rande kam. Für ihn galt es, dafür zu sorgen, daß ein Kandidat entweder gewählt wurde oder so knapp wie möglich unterlag. Er würde seinen Ruf als Agent nicht aufs Spiel setzen, weil er sich mit dem alten oder dem jungen Juliard schwertat.

Die frostige Atmosphäre im Büro wurde durch einen Überraschungsbesuch der Frau vom Trödelladen nebenan ein wenig aufgelockert. Sie und Mervyn kannten sich gut, aber sie wollte zu gern den neuen Kandidaten kennenlernen; sie sehe uns immer ein und aus gehen, sagte sie, nun wolle sie George auch die Hand drücken; sie habe gehört, sein Sohn sei ein Prachtkerl, und ob wir vielleicht Lust auf ein Stück selbstgebackenen Apfelkuchen hätten?

Sie stellte ihr Geschenk meinem Vater auf den Schreibtisch.

»Nett von Ihnen, Amy«, meinte Mervyn, und aus der Art, wie er es sagte, schloß ich, daß er die Nachbarin seit langem kannte, sie wahrscheinlich aber immer schon geringgeachtet hatte.

Amy gehörte zu den Leuten, die man leicht geringschätzt, eine (laut Polly) bescheidene, zu allen aufschauende Witwe mittleren Alters, die ungeliebten Plunder sammelte, ihn zum Verkauf ein wenig aufmöbelte und niemals die gemeinnützige Einrichtung, die den Laden unterhielt, um einen Penny betrogen hätte. Amy war flatterig, ehrlich und etwas unbedarft; sie meinte es gut und schwätzte viel. Ein Tag Amy pur, dachte ich, reicht fürs Leben.

Man konnte unschwer Teile des Redestroms ausblenden, doch an einem Punkt fesselte sie unsere Aufmerksamkeit.

»Am Mittwoch abend hat mir jemand eine Fensterscheibe kaputtgemacht, und da erst mal einen zu finden, der eine neue einsetzt!« Sie erzählte uns viel zu ausführlich, wie sie das angestellt hatte. »Dann kam auch noch ein Polizist und wollte wissen, ob die Scheibe von einer Kugel zerschmettert worden war, und ich habe gesagt, natürlich nicht, denn ich putze ja jeden Morgen, wenn ich komme, erst mal alles durch, ich wohne ja nicht über dem Laden. Da ist nicht so viel Platz wie hier, nur ein Klo und ein kleines Zimmer, das ich als Lager benutze, aber im Notfall kann da auch mal ein Obdachloser übernachten. Jedenfalls hatte ich keine Kugel gefunden. Das sagte ich dem Polizisten, dem Joe - seine Mutter fährt hier einen Schulbus -, und er kam rein und hat sich umgesehen und ein paar Notizen gemacht. Ich hab in der Zeitung von dem Schuß gelesen und daß da vielleicht jemand Mr. Juliard im Visier gehabt hat; man ist aber auch wirklich nirgends mehr sicher, nicht wahr? Und wie ich heute dann so ein altes Wandgestell abstaube, das kein Mensch haben will, bleibe ich an was hängen und pule das raus, und jetzt frage ich mich, ob Joe vielleicht danach gesucht hat ... ob ich ihm das vielleicht sagen müßte?«

Sie griff in eine Tasche ihrer ausgeleierten graubraunen Strickjacke und legte ein unförmiges Stück Metall, das sicherlich aus einem 22er Gewehr abgefeuert worden war, neben den Apfelkuchen.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte mein Vater mit Bedacht, »sollten Sie Ihrem Freund Joe, dessen Mutter den Schulbus fährt, erzählen, wo Sie das Stückchen Metall da gefunden haben.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Ja.«

Amy nahm die Kugel in die Hand, betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und rieb sie an ihrer Strickjacke ein wenig blank. Restliche Fingerspuren beseitigt, dachte ich.

»Also gut«, sagte Amy vergnügt, indem sie ihren Fund wieder einsteckte. »Ich habe mir gleich gedacht, daß es am besten ist, wenn ich Sie frage.«

Sie lud ihn ein, sich ihr Geschäft anzusehen, aber das überließ der Feigling mir, und so bekam ich auch das unansehnliche, zwei Meter hohe Rohrgestell zu Gesicht, das dicht beim Fenster die Kugel aufgefangen hatte.

»Jetzt biete ich das schon als Etagere an«, sagte Amy traurig, »und trotzdem mag es keiner. Hätten Sie vielleicht ...?«:

»Nein«, sagte ich. Und auch an den Silberlöffeln, dem Kinderspielzeug und den Secondhandkleidern, die fein säuberlich darauf warteten, ihren guten Zweck zu erfüllen, war ich nicht interessiert.

Ich holte den Range Rover aus seinem sicheren Hafen und fuhr mit meinem Vater Mervyns mißmutiger Wegbeschreibung nach zu Pollys unerwartet großem Haus im Wald. Sie saß dann auf der Fahrt zur Rennbahn hinten und erzählte uns mit diebischer Freude von ein paar Telefongesprächen, bei denen sie Süßholz geraspelt und Köder ausgeworfen hatte.

»Mr. Wyvern, der Anonyme Liebhaber«, sagte sie, »hat kurzfristig eine Einladung zum begehrtesten Golfturnier im Land erhalten; um da nein zu sagen, hätte er aus Stein sein müssen. Jetzt wird er mit seinen kostbaren Schlägern auf dem Platz erwartet, und damit ist er aus dem Weg.«

»Wie haben Sie das denn hingekriegt?« fragte mein Vater bewundernd.

»Mit bewährten Mitteln«, sagte sie dunkel. »Und kurz darauf wurde Orinda von der Rennleitung in Dorset eingeladen .«

»Da fahren wir doch hin!« rief mein Vater aus.

»Was Sie nicht sagen!« neckte ihn Polly. »Benedict«, ermahnte sie mich, »Sie bekommen Orinda ohne Liebhaber, also nutzen Sie den Tag.«

»Ja, was soll er denn machen?« warf mein Vater ein.

»Das weiß er schon«, erwiderte Polly. »Wie er es anstellt, kann ich Ihnen auch nicht sagen, aber verlassen Sie sich auf Ihren Sohn.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Orinda versteht vom Pferderennen nicht die Bohne. Sie kommt heute nur, weil sie dort Gelegenheit hat, in Gegenwart eines Dukes zu glänzen, der zur Rennleitung gehört. Da müssen Sie sich reinhängen. Können Sie das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich ein wenig hilflos. Pollys Direktheit brachte mich immer wieder aus der Fassung, dagegen ging doch das derbste Stallgerede an meinen Ohren vorbei.

»Reißen Sie sich am Riemen«, sagte sie.

Orinda saß bereits bei Hummermousse mit Gurkenstückchen, als wir in den Speiseraum der Rennleitung kamen, und obwohl sie unangenehm überrascht schien, blieb ihr doch kaum etwas anderes übrig, als zu hüsteln und ihren Unmut mit ein paar Schlückchen Wein hinunterzuspülen, während ihr Tischherr, der Duke, ihr sanft auf den Rücken klopfte.

Der Duke erhob sich und küßte Polly komplizenhaft auf die Wange, und mir dämmerte, wie das Netz für Orinda hier gesponnen worden war.

Orinda trug ein weißes Leinenkostüm, und ein grüner Seidenschal war lose um den Griff einer schwarzen Eidechstasche geschlungen, die über der Lehne ihres Stuhls hing. Schlank und braungebrannt, stach sie mühelos die anderen anwesenden Frauen aus, insbesondere Polly, die wieder einmal angezogen war, als wüßte sie nicht, was Anlaß und Jahreszeit erforderten.

Mein Vater drückte reihum Hände, und seine unverkennbare innere Kraft führte dazu, daß selbst in einem Raum voll einflußreicher Männer sich alle nach ihm umdrehten. Orinda haßte ihn.

»Mein Sohn Benedict«, stellte er mich vor, doch er allein stand im Blickpunkt.

Der Duke meinte zögernd zu mir: »Haben wir uns nicht schon mal gesehen? Sind Sie nicht gegen meinen Sohn Edward geritten?«

»Doch, Sir. An Ostern in Towcester. Er hat gewonnen.«

Der Duke erinnerte sich lächelnd. »Sie wurden Dritter. Es war Eddies Geburtstag. Wir haben spontan eine Party gefeiert. Sie waren mit dabei.«

»Ja, Sir.«

»Geht doch nichts über Pferderennen, hm? Das Beste auf der Welt, meint Eddie.«

Mein Vater sah mir scharf ins Gesicht.

»Das Beste«, sagte ich.

»Wohlgemerkt«, wandte sich der Duke an ihn, »das ist ja nur ein Hobby für die jungen Leute. Leben muß ein Amateur von etwas anderem. Früher sind die besten Amateure immer Jockeys geworden, aber aus irgendeinem Grund passiert das heute kaum noch. Eddie braucht einen Beruf. Man kann nicht auf Dauer als Amateur reiten. Das weiß Benedict ja wohl auch. Ganz in Ordnung, Ihr Benedict, meint Eddie. Setzen Sie sich, Mr. Juliard. Das Essen ist ausgezeichnet.«

Er plazierte meinen Vater zu seiner Rechten, womit Orinda, zu seiner Linken, endgültig der Tag verdorben war, obwohl draußen hell die Sonne schien. Sie ließ ihre halbverzehrte Mousse stehen, als schmecke sie ihr nicht mehr, und lächelte bemüht, mit starren Gesichtszügen, ihren Gastgeber an.

Der Duke, ein untersetzter Mann um die Sechzig, wirkte eher bodenständig als blaublütig, hatte mehr von einem weltklugen Geschäftsmann und Manager als von einer Vorstands-Gallionsfigur. Sein Sohn Eddie, selber ganz in Ordnung, hatte einmal gesagt, er beneide mich um die viele Zeit, die ich dem Rennsport widmen könne; sein Vater bestehe darauf, daß er seinen Lebensunterhalt verdiene. Tja, dachte ich kläglich, inzwischen hatte ich dank Vivian Durridge und meinem Vater den Vorsprung auf Eddie eingebüßt. Zudem besaß sein Vater im Gegensatz zu meinem Pferde, mit denen der Sohn Rennen reiten konnte.

Polly und ich wurden schräg gegenüber der angespannten Orinda am weiß gedeckten Tisch plaziert und aßen friedlich unsere Mousse mit Gurke, die wirklich ausgezeichnet schmeckte, auch wenn ich jetzt, wo ich nicht mehr zu hungern brauchte, eine große Pizza mit Salami vorgezogen hätte.

Danach gab es Curryhuhn. Als das erste Rennen näherrückte, erklärte der Duke meinem Vater, indem er auf die Uhr sah, er müsse nun leider die Tafel verlassen, um seinen Verpflichtungen als Rennleiter nachzukommen. Wie zufällig registrierte er den beinah panischen Gesichtsausdruck Orindas, die plötzlich ohne Pufferzone direkt neben ihrem scheußlichen Verdränger saß, und fand eine unwiderstehliche und scheinbar ganz spontane Lösung.

Mit einem kurzen Blick zu Polly, die ausdruckslos vor sich hin schaute, sagte der Duke freundlich zu Orinda: »Mir liegt sehr daran, daß Sie unseren trefflichen Hindernissport ein wenig kennen und schätzen lernen, Mrs. Nagle, und da ich selbst verhindert bin, kann ich Sie, glaube ich, keinem Besseren anvertrauen als dem jungen Benedict dort. Er kennt sich trotz seiner Jugend mit Pferderennen aus und kann Sie herumführen und Ihnen alles zeigen, und nach dem zweiten Rennen, denke ich mal, kommen wir hier oben alle wieder zusammen. Also Benedict«, sagte er laut über den Tisch hinweg zu mir, »seien Sie so gut und begleiten Sie Mrs. Nagle zum Führring, damit sie sich die Pferde ansehen kann. Und verfolgen Sie das Rennen mit ihr zusammen. Erklären Sie ihr, was sie wissen will.«

»Ja, Sir«, sagte ich schwach, und gutmütig nickend stieß er Orinda mehr oder weniger an meine Brust. Ich merkte, wie sie erstarrte und sich sträubte, doch der Duke drängte uns mit forschen Armschwüngen zur Tür, als gäbe es keine andere Möglichkeit, und während ich dem weißen Leinenkostüm hinaus auf den Gang folgte, sah ich aus dem Augenwinkel die erstaunte Miene meines Vaters und Pollys breites Grinsen.

Orinda marschierte durch den Gang und die Treppe hinunter ins Freie; dort blieb sie stehen und sagte: »Das ist einfach lächerlich.«

»Ja«, sagte ich.

»Wieso ja?«

»Weil Sie aus Aversion gegen meinen Vater nichts mit mir zu tun haben wollen, obwohl das bei Licht besehen eigentlich kein Grund ist, aber umgekehrt ginge es mir wahrscheinlich genauso. Wenn Sie also möchten, trennen wir uns hier; die Pferde schaue ich mir auf jeden Fall an.«

Ohne darauf einzugehen, meinte sie gereizt: »Ich bin alt genug, um Ihre Mutter zu sein.«

»Allerdings«, sagte ich. Nicht gerade taktvoll.

Trotz ihres Ärgers lachte sie beinahe. »Sie hätten das jetzt eigentlich bestreiten müssen.«

»Entschuldigung.«

»Mervyn sagt, Sie sind erst siebzehn.«

»In zwei Wochen werde ich achtzehn.«

»Was mache ich denn, wenn Sie mich hier einfach stehenlassen?«

»Das habe ich ja gar nicht vor«, sagte ich. »Aber wenn ich mich verziehen soll - um die nächste Ecke ist der Führring, wo die Pferde vor dem Rennen paradieren, damit man sehen kann, worauf man sein Geld setzt.«

»Und wenn ich wetten möchte?«

»Buchmacher oder Toto?«

»Wer macht denn das Rennen?«

Ich lächelte sie mit ungespielt guter Laune an. »Wenn ich das wüßte - wenn man das wissen könnte -, wäre ich reich.«

»Und wenn Sie reich wären?«

»Dann würde ich mir Rennpferde anschaffen und Rennen reiten.«

Ich war auf die Frage nicht gefaßt gewesen und hatte sie offen und ehrlich wie ein Kind beantwortet. Ans Erwachsensein mußte ich mich erst noch gewöhnen. Mein Verstand wie auch meine Körperbewegungen konnten beunruhigenderweise manchmal um zwei, im Traum sogar um fünf Jahre zurückfallen. An manchen Tagen wedelte ich behende auf Skiern die Hänge hinunter, an anderen brachte ich keinen Bogen zustande. Manchmal bewegte ich mich ganz im Einklang mit dem Galopp eines Pferdes, dann wieder hampelte ich mit Armen und Beinen. Nur im Schießen war ich - bis jetzt - so sicher, daß ich jederzeit ins Schwarze treffen konnte, einen Fünfzentimeterpunkt auf hundert Meter.

Orinda sagte förmlich: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zum Führring begleiten würden.«

Ich nickte nur, als habe sie keinerlei Zugeständnis gemacht, und geleitete sie mit einem Minimum an Körpersignalen zu den im Kreis gehenden Pferden, denen die Sonne im Fell glänzte und die zu riechen und zu hören mir nach den letzten vier Tagen einen solchen Stich gab, daß ich überall lieber gewesen wäre als auf der Rennbahn.

»Was haben Sie?« fragte Orinda.

»Nichts.«

»Das ist nicht wahr.«

»Es spielt keine Rolle.«

Sie hatte mir eine wunderbare Eröffnung geboten für das, was ich loswerden wollte, aber ich scheute unglücklich davor zurück. Daß ich mich so elend fühlen würde, hatte ich nicht erwartet: ein Ausgeschlossener, der durch dickes Glas ein Leben sieht, das ihm verwehrt ist.

Ich suchte uns einen Platz direkt am Führring und gab ihr mein Rennprogramm, da sie ihres in der Loge vergessen hatte.

Sie nahm eine Brille, ohne die sie die kleine Schrift nicht lesen konnte, aus ihrer Handtasche, und ich half ihr, die Pferde anhand der Nummerndecken zu bestimmen.

»Was bedeuten denn all diese Zahlen?« fragte sie und wies flüchtig auf das Programm. »Die sagen mir überhaupt nichts.«

»Die sagen Ihnen, wie alt das Pferd ist und mit welchem Gewicht es ins Rennen geht. An dem Kleingedruckten sehen Sie, wie es zuletzt abgeschnitten hat. >Gef.< heißt gefallen, und >agh.< heißt angehalten und nicht ins Ziel gekommen.«

»Aha.« Sie studierte das Programm und las laut die Zulassungsbestimmungen für das erste Rennen vor, ein Viertausend-meter-Sieglosenrennen über die Hürden.

»Für Pferde ab vier Jahren, die bis Saisonbeginn noch in keinem Hürdenrennen gesiegt haben ... Waren sie nach Saisonbeginn über die Hürden erfolgreich, müssen sie 7 Pfund Aufgewicht tragen.« Sie sah mich ohne Sympathie an. »Was heißt 7 Pfund Aufgewicht?«

»Zusätzliches Gewicht. In der Regel ist das eine Decke mit dünnen, flachen Bleischeiben, die das Pferd mit der Nummerndecke unterm Sattel trägt.« Ich erklärte, daß sich Rennreiter mit dem ihrem Pferd zugeteilten Gewicht wiegen lassen mußten. »Man wird vor und nach dem Rennen gewogen.«

»Jaja, ich lebe doch nicht völlig hinterm Mond.«

»Entschuldigung.«

Sie schaute ins Programmheft. »Im ersten Rennen tritt nur ein Pferd mit sieben Pfund mehr an«, sagte sie. »Kann es damit siegen?«

»Wenn es wirklich gut ist.«

Sie blätterte das Programm durch. »In fast allen Rennen läuft ein Pferd mit, das wegen eines Saisonsiegs Aufgewicht trägt.«

»Mhm.«

»Wieviel Aufgewicht kann man denn bekommen?«

»Ich glaube nicht, daß da eine Grenze festgesetzt ist, aber mehr als zehn Pfund werden einem Pferd in der Regel nicht zugemutet. Sonst hätte es in einem Ausgleichsrennen kaum noch Chancen, und der Trainer würde es nicht laufen lassen.«

»Aber mit zehn Pfund Aufgewicht ist ein Sieg drin?« »So gerade noch.«

»Nicht zuviel verlangt?«

»Es kommt darauf an, wie stark das Pferd ist.«

Sie steckte ihre Brille ein und ließ sich von mir zum Toto bringen, wo sie auf das Pferd wettete, das am ersten Tag der Saison gesiegt und sich sieben Pfund Blei damit eingehandelt hatte. »Er muß der Beste sein«, meinte sie.

Orinda war fast so groß wie ich und ging immer einen Schritt vor mir her, als fände sie es ganz natürlich, ihren Begleiter im Rücken zu haben. Sie war es gewohnt, Blicke auf sich zu ziehen, und ihre Aufmachung wurde zu Recht bewundert, auch wenn sie mehr zu Ascot paßte als zu einem unbedeutenden Renntag auf dem flachen Land in Dorset.

Wir schauten von der Tribüne aus dem Rennen zu. Orindas Kandidat wurde Vierter.

»Und jetzt?« fragte sie.

»Das gleiche noch mal.«

»Wird Ihnen das nicht langweilig?«

»Nein.«

Sie zerriß ihren Wettschein und ließ die Schnipsel fallen wie ein hartgesottener Verlierer.

»Für mich gibt es Schöneres auf der Welt.« Sie sah auf die vielen Leute ringsum, die ihre Programmhefte studierten. »Was ist, wenn es regnet?«

Die Antwort darauf war schlicht, »dann wird man naß«, aber daran hätte sie sich wahrscheinlich gestoßen.

»Die Leute kommen nicht nur hierher, um zu wetten«, sagte ich, »sondern auch, um die Pferde zu sehen. Ich meine, Pferde sind fabelhaft.«

Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu und sagte, nach dem nächsten Rennen werde sie in die Loge der Rennleitung zurück-kehren, dem Duke für seine Gastfreundschaft danken und nach Hause fahren. Sie könne die Faszination, die der Rennsport allgemein ausübe, nicht nachvollziehen.

»So geht es mir mit der Faszination, die für meinen Vater die Politik hat«, sagte ich, »aber er hängt mit Leib und Seele daran.«

Wir waren unterwegs zum Führring, wo sich bereits die Pferde für das nächste Rennen einfanden. Sie blieb abrupt stehen und sah mich unverhohlen feindselig an.

»Ihr Vater«, sagte sie gehässig, als würde sie am liebsten jedes Wort zu Glassplittern zerbeißen, »hat mich um mein Lebensziel gebracht. Ich bin es, die Hoopwestern im Parlament vertreten sollte. Ich war als Kandidatin vorgesehen, und ich hätte die Wahl gewonnen, was Ihrem Vater bei all seinem Männlichkeitswahn nicht gelingen wird.«

»Er wußte doch gar nicht, daß es Sie gibt«, sagte ich. »Die Parteizentrale in Westminster hat ihm gesagt, er soll in die Nachwahl gehen, wenn er aufgestellt wird. Er hatte nicht vor, Sie auszustechen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte sie.

»Von ihm. Er gibt mir einen Intensivkurs in Politik, seit er mich vorigen Mittwoch zur Dekoration hierhergeschleppt hat. Er versteht Ihre Gefühle. Und überhaupt, wenn Sie auf seiner Seite wären und er dadurch gewählt würde, könnten Sie mit ihm vielleicht genausogut zusammenarbeiten wie mit Ihrem Mann.«

»Sie reden wie ein Kind«, sagte sie.

»Ja ... Verzeihung. Aber Ihre Arbeit für den Wahlkreis wird hier von allen gelobt.«

Statt verärgert oder sonstwie darauf einzugehen, lehnte sie sich an den Führringzaun, als wäre sie das schon gewohnt, und studierte wieder ihr Rennprogramm.

Nach einer Weile sagte sie: »Ihr Vater ist auf Macht aus.«

»Ja.« Ich schwieg. »Sie nicht auch?«

Die muskulösen Leiber ausgewachsener Steepler zogen an uns vorbei; Tiere, die über siebentausendzweihundert Meter -die Distanz des Grand National - eine Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern halten konnten. Kein Tier auf Erden übertraf ein Rennpferd an Tempo und Ausdauer. Darin lag für mich Stärke. Das war die Macht, an der ich teilhaben, die ich lenken und die ich nutzen wollte. Lieber Gott, dachte ich, hilf mir auf diesem Weg.

»Usher Rudd«, sagte Orinda, »wissen Sie, wen ich damit meine?«

»Ja.«

»Usher Rudd hat meinem Freund Alderney Wyvern gesagt -ehm, wer Alderney Wyvern ist, wissen Sie auch?«

»Ja.«

»Usher Rudd behauptet, daß George Juliard Sie nicht nur zu Unrecht als seinen ehelichen Sohn ausgibt, sondern daß Sie sein Buhlknabe sind.«

»Bitte?« Vielleicht war meine Verwunderung mir anzuhören. »Was ist denn ein Boule-Knabe?«

»Buhlknabe. Kennen Sie den Ausdruck nicht?«

»Nein.«

»Das ist ein Stricher ... ein junger Prostituierter.«

Ich war weniger empört als perplex. Ich mußte sogar lachen.

»Usher Rudd«, sagte Orinda warnend, »gräbt, bis er was hat. Nehmen Sie ihn nicht auf die leichte Schulter.«

»Aber ich dachte, er hätte es auf Paul Bethune abgesehen.«

»Ihm ist jeder recht«, sagte Orinda. »Und er lügt, wie er’s braucht. Es macht ihm Spaß, anderen das Leben zu ruinieren. Wenn er Geld dafür bekommt, um so besser, aber er tut’s auch umsonst. Ein Kind, das Schmetterlingen die Flügel ausreißt. Sind Sie George Juliards leiblicher Sohn?« »Ich sehe ihm schon ein bißchen ähnlich.«

Sie nickte.

»Und er hat meine Mutter geheiratet - vor einer Menge Zeugen.« (Mißbilligender Zeugen, aber sei’s drum.)

Die Auskunft schien sie nicht zu freuen.

»Wäre es Ihnen lieber, Usher Rudd hätte recht?« fragte ich. »Weil Sie dann meinen Vater ausschalten könnten?«

»Alderney Wyvern meint, dazu gehört mehr als ein Lügenmärchen von Usher Rudd. Da muß man schon was in der Hand haben.«

Sie hörte sich völlig verbittert an. So hoch Polly auch mein Einfühlungsvermögen und meine Fähigkeit, die Verkrampfungen anderer zu lösen, einschätzte, Orindas tiefsitzender Groll gegen meinen Vater machte mich hilflos.

»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte ich.

Orinda schüttelte den Kopf. »Auch wieder gelogen.«

»Ich war dabei«, wandte ich ein.

»Alderney auch«, sagte sie. »Er hat alles gesehen. George Juliard ist auf dem Pflaster gestolpert, dann hat irgendwer aus Übermut einen Schuß abgefeuert, und Juliard hat behauptet, der hätte ihm gegolten! Völliger Blödsinn. Für Publicity tut der doch alles.«

Eins war mir klar: Orinda selbst würde sich niemals unter ein Auto legen und eine Ablaßschraube losdrehen. Wie vorsichtig man das auch anfing, man bekam auf jeden Fall Öl ab, bevor man die Öffnung mit einer Kerze verschließen konnte. Selbst wenn sie wußte, wo die Schraube saß und wie man sie losdrehte, Motoröl war mit Orindas Kleidern unter keinen Hut zu bringen.

Orinda brauchte eine Brille zum Lesen des Rennprogramms: wie sollte sie da ein Präzisionsgewehr handhaben können? Möglich, daß sie meinem Vater den Tod wünschte, aber ihn umzubringen, dazu war sie nicht fähig, und sie glaubte nicht, daß jemand anders es versucht hatte.

Orinda, dachte ich, hatte niemanden bezahlt oder beauftragt, ihren Rivalen gewaltsam aus dem Weg zu räumen. Ihr Haß hatte Grenzen.

Ich ging mit ihr über die Bahn, um beim zweiten Rennen nahe bei einem Hindernis zu stehen, damit sie wenigstens einen Eindruck von der Geschwindigkeit bekam. Zu ihrem Verdruß blieb sie mit den hohen Absätzen ihrer Schuhe immer wieder im Rasen stecken. Ein ziemlich mißlungener Nachmittag, sagte ich mir deprimiert.

Dennoch war sie beeindruckt vom Gedonner und von der Energie der zehn Zentner schweren Pferdeleiber, die da durch das schwarze Reisig wischten, und sie hörte die Jockeys mit ihren Kontrahenten und ihren Pferden schreien, sah die gestrafften Muskeln ihrer Beine unter den weißen Hosen, die Rennfarben, die in der Augustsonne leuchteten. Man sah ihr - ob sie das wollte oder nicht - an, daß sie nun auch verstand, was den Duke und alle anderen, die den Weg hierher auf sich genommen hatten, an solchen Rennen faszinierte.

Als die Pferde zum zweiten Mal an uns vorbeigefegt waren und auf die Zielgerade gingen - die Luft vibrierte noch von ihnen -, sagte ich: »Ich kann verstehen, wie nahe es Ihnen geht, daß der Wahlausschuß Sie übergangen hat.«

»Ausgeschlossen«, versetzte Orinda unfreundlich. »Dazu sind Sie viel zu jung.«

Fast verzweifelt sagte ich: »Sie haben nicht bekommen, was Sie sich am meisten gewünscht haben, und das ist ein schwerer Schlag. Sie hatten ein Leben vor sich gesehen, das Ihnen jeden Tag Freude und Erfüllung bringt, das Ihnen die Kraft gibt, Ihre kühnsten Träume zu verwirklichen, und jetzt ist es aus damit. Pustekuchen, hat man Ihnen gesagt. Das tut furchtbar weh. Glauben Sie mir, ich kenne das.«

Sie starrte mich mit ihren großen grünen Augen an.

»Dazu muß man nicht alt sein«, sagte ich. »Den Schmerz kann schon ein Sechsjähriger empfinden, der sich von Herzen ein Pony wünscht, für das kein Platz da ist, so daß ein Kauf gar nicht in Frage kommt. Und ich ...« Ich schluckte. Statt wieder zu schweigen, fand ich den Mut, es auszusprechen. »Ich wollte das hier.« Mit einer Armbewegung umfing ich das dunkle Hindernis, die ganze weite Rennbahn. »Das alles. Ich wollte Jockey werden, seit ich denken kann. Von klein auf war ich überzeugt, daß ich das mal werde. Ich habe darauf vertraut und war mir meiner Zukunft sicher ... Tja, und seit ein paar Tagen ist es aus damit. Man hat mir gesagt, daß das für mich kein Leben ist, weil es mit meiner Reitkunst nicht weit her ist, weil ich nicht das Zeug habe, der Jockey zu werden, der ich gern wäre. Der Trainer, für den ich geritten bin, hat mich weggeschickt. Mein Vater will mich unterstützen, wenn ich studiere, aber nicht, wenn ich meine Zeit mit Pferderennen vertue, ohne zu glänzen. Daran knabbere ich immer noch. Als ich heute herkam, habe ich nicht geahnt, wie schlimm das wird ... aber mir ist zum Schreien, ich möchte aus der Haut fahren, und wenn Sie glauben, so wie Sie könnte nur jemand empfinden, der alt genug ist, um meine Mutter zu sein, dann haben Sie sich geirrt.«

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