Robert Silverberg Schadrach im Feuerofen

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In Ulan Bator, der Hauptstadt der geeinten Welt, ist es kurz vor Sonnenaufgang. Dr. Schadrach Mordechai liegt schon seit einiger Zeit in seiner Hängematte wach, unruhig und angespannt. Die rot leuchtenden Buchstaben im grünen Kalenderfeld an der Wand verkünden den neuen Tag:


MONTAG 14. Mai 2012

Wie gewöhnlich ist es ihm unmöglich gewesen, mehr als ein paar Stunden Schlaf zu finden. Das ganze Jahr schon ist er von Schlaflosigkeit geplagt; sie muß irgendeine Botschaft seiner Großhirnrinde sein, doch ist es ihm bisher nicht gelungen, sie zu entziffern. Wenigstens hat er heute eine Entschuldigung für das Frühaufstehen, denn ernste Herausforderungen erwarten ihn. Dr. Mordechai ist Leibarzt Dschingis Khans II. Mao, des Vorsitzenden der Vorsitzenden — mit anderen Worten, des Herrn über die Erde —, und an diesem Tag soll der alte Mann sich einer Leberverpflanzung unterziehen, der dritten in sieben Jahren.

Der erleuchtete Führer der Menschheit schläft weniger als zwanzig Meter entfernt in einer Suite, die an Mordechais Räume grenzt. Beide wohnen im Regierungspalast. Dieser glanzvolle Bau erinnert ein wenig an chinesische Pagoden und an die Lamaklöster Zentralasiens, übertrifft sie jedoch bei weitem an Größe, Höhe und Aufwand: die marmorverkleideten Wände, verziert mit kunstvollen Einlegearbeiten aus schwarzem Onyx und gegliedert von Gesimsen und gestuften Giebeln, erhebt sich wie eine prächtige Fata Morgana aus dem staubigen, gelbbraunen mongolischen Tafelland. Der Vorsitzende schläft ruhig und beneidenswert entspannt. Die Augen unter den schweren Lidern sind still, die Atmung geht langsam und gleichmäßig, Puls und Hormonspiegel sind normal. Schadrach Mordechai weiß das, weil er chirurgisch an verschiedenen Stellen seiner Arme, der Beine und des Rumpfes eingepflanzte Miniaturempfänger mit sich trägt, die zur Übertragung von Wahrnehmungen dienen und ihn ständig mit telemetrischer Information über das Befinden des Vorsitzenden versorgen. Es hatte Schadrach ein volles Jahr anstrengenden Trainings gekostet, um die Signale richtig zu deuten: das leise Zittern, die winzigen Zuckungen, Juckreize und Stiche, welche die wichtigsten Körperfunktionen des Vorsitzenden wiedergeben; doch ist es ihm mittlerweile zur zweiten Natur geworden, diese eingehenden Daten wahrzunehmen und zu verstehen. Ein Kitzeln hier bedeutet Verdauungsstörungen, ein Pochen dort deutet auf Funktionsstörungen der Gallenblase hin, ein Stechen anderswo zeigt ein Ansteigen des Zuckerspiegels an. Für Schadrach ist es, als lebe er in zwei Körpern zugleich, aber er hat sich daran gewöhnt. Seine Wachsamkeit beschützt das kostbare Leben des großen Führers. Offiziell wird das Alter des Vorsitzenden mit siebenundachtzig Jahren angegeben, wahrscheinlich aber ist er noch älter. Dennoch ist sein Körper, ein Flickwerk aus künstlichen und verpflanzten Organen, so kräftig und reaktionsschnell wie der eines Fünfzigjährigen. Es ist der Wunsch des Vorsitzenden, den Tod aufzuschieben, bis er seine Ziele erreicht und sein Werk vollendet hat; mit anderen Worten, er wünscht sich Unsterblichkeit.

Wie ruhig er schläft! Schadrach überprüft mechanisch die ständig eingehenden Signale: Atmung, Verdauung, Sekretion, Kreislauf — alle autonomen Systeme arbeiten einwandfrei. In seinem traumlosen Schlaf liegt der Vorsitzende wie gewohnt auf der linken Seite (schwacher Druck auf die Aorta), läßt ein sanftes Schnarchen hören (Widerhall im Brustkorb) und scheint angesichts des bevorstehenden Eingriffs keinerlei nervöse Spannung zu verspüren. Schadrach beneidet ihn um seine Ruhe. Freilich sind Organverpflanzungen für den alten Mann nichts Neues.

Der Arzt verläßt seine Hängematte, reckt sich, tappt über den kühlen Fliesenboden des Schlafraums zum Balkon und tritt hinaus. Die im Osten von den orangeroten und graublauen Tönen des frühen Morgens gesättigte Luft ist rein und kalt. Ein frischer Südostwind bläst über die Ebenen, um sich irgendwo zwischen den Gebirgszügen südlich des Baikalsees zu verlieren. Er knattert in den schwarzroten Fahnen über dem Sukhe Bator-Platz, dem Paradeplatz der Hauptstadt, und fährt unbarmherzig in die rosablühenden Zweige der Tamarisken. Schadrach atmet tief ein und läßt den Blick zum fernen Horizont hinausgehen, als halte er Ausschau nach bedeutungsvollen Rauchsignalen aus China. Keine Signale kommen; nur die leisen Impulse der eingepflanzten Empfänger, die das Lied von der guten Gesundheit des Vorsitzenden singen.

Alles ist still. Die ganze Stadt schläft, ausgenommen jene, die um diese Stunde arbeiten müssen; die Mongolen scheinen nicht unter Schlaflosigkeit zu leiden. Schadrach aber ist kein Mongole. Er ist ein Schwarzer, dunkelhäutig wie ein Nilote, obwohl er kein gebürtiger Afrikaner ist; schlank und langbeinig, mit dichtem Kraushaar, weit auseinanderstehenden Augen, mäßig ausgeprägten Wulstlippen und breiter, doch geradrückiger Nase, ist er unter den mongolischen und chinesischen Bewohnern dieses Landes eine auffallende Erscheinung, vielleicht auffallender, als er gern sein würde.

Er macht eine Anzahl Kniebeugen, wie er es jeden Morgen auf dem schmalen Balkon zu tun pflegt: er ist sechsunddreißig Jahre alt, und obwohl ihm seine Sonderstellung im Regierungsdienst Zugang zur Ronkevic-Immunisierung garantiert und er frei von der immerwährenden Furcht vor der Organzersetzung leben kann, die die meisten der zwei Milliarden Einwohner der Erde verfolgt, ist sechsunddreißig nichtsdestoweniger ein Alter, in dem man gewissenhaft damit beginnen muß, den Körper gegen die normalen Verfallserscheinungen der Zeit zu schützen. Mens sana in corpore sarto. Ja, er ist bei ausgezeichneter Gesundheit, und seine inneren Organe sind noch dieselben, mit denen er eines frostigen Wintermorgens 1976 geboren wurde. Auf, nieder, auf, nieder, bis er außer Atem kommt. Manchmal erscheint es ihm seltsam, daß seine energische Morgengymnastik den alten Mann nicht aus dem Schlaf reißt, doch der Strom telemetrischer Daten fließt natürlich nur in einer Richtung, und während Schadrach sich auf dem Balkon in Schweiß arbeitet, schnarcht der Vorsitzende ruhig und nichtsahnend weiter.

Schwitzend und schnaufend vor Anstrengung beschließt er endlich, daß er genug getan hat. Er fühlt sich frisch und aufgeschlossen, macht sich kaum Sorgen wegen des bevorstehenden chirurgischen Eingriffs. Er wäscht sich, kleidet sich an, läßt sich das gewohnte leichte Frühstück bringen und wendet sich seinen täglichen Pflichten zu.

Als erstes tritt er vor Sperre drei, durch die er jeden Tag in die Wohnräume des Vorsitzenden gelangt. Die Sperre ist eine breite und hohe Bronzetür, die neben den in Relief ausgeführten Symbolen von Partei und Staat ein Dutzend warzenähnlicher Kegel zwischen drei und neun Zentimetern Höhe aufweist. Einige dieser Gebilde beherbergen audiovisuelle Überwachungsgeräte, hinter anderen verbergen sich Waffen von unentrinnbarer Tödlichkeit; und Schadrach hat keine Ahnung, welche dieser Warzen was darstellen. Wahrscheinlich kann morgen eine Laserkanone sein, was heute noch ein verborgenes Fernsehauge mit Mikrofon ist; mit solchen scheinbar willkürlichen Funktionsänderungen gelingt es für den die Sicherheit des Vorsitzenden Verantwortlichen, mögliche Attentäter zu verwirren.

»Schadrach Mordechai zur Arztvisite beim Vorsitzenden«, sagt er mit klarer, fester Stimme zu der Öffnung, hinter der er das Mikrofon vermutet.

Sperre drei läßt ein sanftes Summen hören und unterzieht Schadrachs Erklärung einer Analyse durch Stimmenvergleich. Zugleich werden Größe, Gewicht, Haltung, Aussehen, Wärmeabgabe und vieles mehr von unsichtbaren Sensoren überprüft. Entsprechen eine oder mehrere dieser Einzeldaten nicht der gespeicherten Norm, so wird automatisch die Wache alarmiert, um den Besucher einer genaueren Kontrolle zu unterziehen. Fünf solcher Sperren schützen die fünf Zugänge zum Wohntrakt des Vorsitzenden; es sind die ausgeklügeltsten Türen, die je entwickelt wurden. Selbst Daidalos hätte für König Minos keine bessere Barriere schmieden können.

Schadrach wird im Handumdrehen identifiziert; die Tür öffnet sich mit einem sanften hydraulischen Seufzen und gleitet auf Kugellagern zurück. Der Arzt betritt eine innere Kammer, die kaum Raum genug bietet, um darin zu stehen. Hier muß er abermals warten, während der gesamte Überprüfungsvorgang wiederholt wird, und erst nachdem er diese zweite Probe bestanden hat, darf er die Wohnräume des Vorsitzenden betreten. »Umsicht«, hat der Vorsitzende einmal erklärt, »ist der Weg zum Überleben.« Schadrach stimmt ihm zu. Das Durchschreiten dieser Sperren ist eine Kleinigkeit für ihn, Teil der gewohnten Tagesordnung und kaum lästiger als die Notwendigkeit, einen Schlüssel ins Schloß zu stecken und umzudrehen.

Jenseits der Sperre betritt Schadrach — die Repräsentationsräume liegen auf der anderen Seite der Suite — einen ovalen kleinen Saal, der als Kontrollraum 1 bekannt ist und im buchstäblichen Sinne das Fenster des Vorsitzenden zur Welt darstellt. Große Bildschirme bedecken ringsum die Wände vom Boden bis zur Decke und bieten ein sich ständig veränderndes Panorama von Fernsehbildern, übertragen von Tausenden von verborgenen Kameras in allen Teilen der Erde. Kein großes öffentliches Gebäude ist ohne Fernsehkameras; sie blicken auf die Hauptstraßen aller Großstädte herab, überwachen alle Plätze und Bahnhöfe. Zahlreiche Ingenieure und Techniker im Dienst der Sicherheitspolizei sind ständig damit beschäftigt, die Kameras in neue Aufnahmepositionen zu bringen und an bisher nicht überwachten Orten zu installieren. Auch sind nicht alle Fernsehkameras in festen Positionen; viele Spionagesatelliten aus Vorkriegszeiten ziehen noch immer ihre Bahnen am Himmel und liefern Informationen, die in das Netz der Übertragungen eingegliedert werden können. In der Mitte des Kontrollraums 1 steht ein großes Steuerpult an dem durch die Wahl von Zahlen- und Buchstabenkombinationen in Sekundenschnelle die Bildübertragung jeder beliebigen Aufnahmekamera eingeschaltet werden kann, so daß der Vorsitzende nach seinem Dafürhalten einzelne Aspekte Tokios oder Bangkoks oder New Yorks oder Moskaus überblikken oder aber ganze Bildfolgen aus sämtlichen Aufnahmekameras einer Stadt abrufen kann.

Wenn der Vorsitzende oder seine Sicherheitsbeauftragten vom Kontrollraum 1 keinen Gebrauch machen, dauert die Übertragung in der jeweils zuletzt gewählten Einstellung ohne Unterbrechung an, teils von stationären Aufnahmepunkten aus, teils in Form unablässig ablaufender Sequenzen wechselnder Standorte. Schadrach, der auf dem Weg zu seinem Herrn jeden Morgen durch diesen Raum gehen muß, hat die Gewohnheit angenommen, ein paar Minuten hier zu verweilen und den schwindelerregenden Strom bunter Bilder zu betrachten. In seinem persönlichen Sprachgebrauch bezeichnet er dieses tägliche Zwischenspiel als ›Blick in die Traumastation‹, wobei die Traumastation Schadrachs Geheimbezeichnung für die Welt im allgemeinen ist, dieses große Tal der Tränen und des körperlichen Verfalls.

Er bleibt mitten im Raum stehen und betrachtet die Kümmernisse der Welt.

Ein schäbiger, offensichtlich herrenloser Hund bewegt sich langsam und hinkend durch eine mit Unrat verstopfte Straße. Ein großäugiges Negerkind mit auf getriebenem Bauch steht nackt auf einem staubigen Platz zwischen Bretter- und Wellblechhütten, lutscht am Daumen und weint. Eine alte Frau mit hängenden Schultern, die eben noch sorgfältig eingewickelte Bündel über das Kopfsteinpflaster irgendeiner freundlichen alten europäischen Stadt getragen hat, bleibt keuchend stehen und greift sich ans Herz, läßt die Pakete fallen und bricht zwischen ihnen zusammen. Ein ausgedörrter, orientalisch aussehender Mann mit einem silberweißen Bart tritt aus einem Laden, hustet und spuckt Blut. Eine Menschenmenge — Mexikaner? Japaner? — hat sich um zwei Jungen versammelt, die sich mit Taschenmessern duellieren; ihre Oberkörper und Arme sind voll von Schnittwunden und glänzen rot. Hunderte von Menschen leisten auf der Suche nach brauchbaren Materialien Ausgräberarbeit in einer zugeschütteten Mülldeponie früherer Zeiten. Eine dunkelhaarige junge Frau krümmt sich in einem Rinnstein, während zwei kleine Jungen gleichgültig zusehen. Eines der selten gewordenen Automobile kommt von der Straße ab und verschwindet über die verwachsene Böschung. Kontrollraum 1 ist wie ein riesiger Gobelin mit hundert fragmentarischen Szenen, quälenden, sich dem Verstehen entziehenden Bildern. Dort draußen in der Welt, in der großen Traumastation, gehen trotz der enormen Anstrengungen des Permanenten Revolutionsrates zwei Milliarden Menschen allmä hlich zugrunde. Das ist an und für sich nichts Neues — jedermann, der jemals gelebt hat, ist während seines Lebens allmählich gestorben —, aber in den Jahren nach dem Viruskrieg sind die Todesarten andere geworden. Der Tod erscheint sehr viel bedrohlicher und unmittelbarer, wenn so viele Menschen an der Zersetzung ihrer inneren Organe dahinsiechen; und der allgemeine Zerfall dort draußen wird um so schmerzlicher empfunden, als er hier wie von einer ungeheuren Linse gebündelt in seiner Totalität sichtbar wird. Die Fernsehaugen fangen alles ein, aber sie geben keinen Kommentar und urteilen nicht, sondern beschränken sich darauf, die Wände mit einem bestürzenden und erschreckenden Porträt der Menschheitssituation in der Nachkriegszeit des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts zu versehen.

Der Raum ist auch ein Prüfstein des Charakters, der jedem Betrachter aufschlußreiche Reaktionen entlockt. Für Schadrach ist die nichtendenwollende Szenenfolge faszinierend und abstoßend zugleich, ein irres Mosaik aus Zerfall und Niederlage, Mut und Ausdauer; er liebt und bemitleidet die Dulder, die so flüchtig über die Bildschirme huschen, und wenn er es könnte, er würde sie alle umarmen — würde der alten Frau aufhelfen, dem Bettler Geld in die abgemagerte Hand drücken, dem hungernden Kind Unterkunft und Nahrung geben. Aber er ist Arzt, aus Neigung und von Berufs wegen.

Anderen dient das brutale Theater im Kontrollraum 1 lediglich als eine Erinnerung und Bestätigung ihres eigenen Glücks: wie klug von ihnen, eine ranghohe Position in Verwaltung oder Regierung erlangt zu haben, und damit das Anrecht auf regelmäßige Zuteilungen der RonkevicImmunisierung! Wie angenehm, frei von Schmerzen, Hunger und Organzersetzung zu leben, abgeschirmt vom Alptraum der gewöhnlichen Existenz! Wieder andere finden die Bildschirme unerträglich, weil sie in ihnen nicht ein Gefühl selbstzufriedener Überlegenheit wachrufen, sondern Empfindungen eines bedrückenden Schuldbewußtseins angesichts der Tatsache, daß sie selbst sich eines sicheren Daseins in Amt und Würden erfreuen sollten, während die große Mehrheit dort draußen dahinvegetiert, einem unbarmherzigen Schicksal ausgeliefert. Und schließlich gibt es die Abgebrühten, die beim Betrachten der Bildschirme lediglich Langeweile verspüren. Ihnen zeigen die Bilder Rahmen ohne Handlung, sinnloses Hin und Her, Tragödien ohne moralische Bedeutung, willkürliche Schnappschüsse aus der Dürftigkeit des Lebens.

Was dem Vorsitzenden durch den Kopf gehen mag, wenn er im Kontrollraum 1 ist, weiß niemand zu sagen, denn der alte Mann zeigt hier wie in den meisten Situationen die undurchdringliche Maske asiatischer Selbstzucht. Aber er verbringt Stunden in diesem Raum. Die Bilder müssen ihm etwas sagen, ihr Eindruck muß in dieser oder jener Form in seine Entscheidungen eingehen.

Schadrach Mordechai läßt sich Zeit, verweilt fünf, acht, volle zehn Minuten im Kontrollraum. Der Vorsitzende schläft noch immer, verraten ihm die eingepflanzten Monitore. In dieser Welt entgeht niemand der Überwachung; während die ungezählten Augen des Staates den gesamten Erdkreis durchmustern, wird das schlummernde Staatsoberhaupt seinerseits vom Leibarzt überwacht. Der bewegungslos in der Mitte des Kontrollraums stehende Schadrach empfängt in diesen Augenblicken eine Flut von äußeren und inneren Informationen. Die Stoffwechselvorgänge im Vorsitzenden erscheinen im Körper des Arztes als zwickende und kitzelnde Signale, nicht weniger real als das ineinanderfließende Flimmern der zahlreichen Bildschirme vor seinen Augen. Er wendet sich zum Gehen, doch in diesem Augenblick erblickt er auf einem Bildschirm weit oben zu seiner Linken eine Ansicht, die aus Philadelphia stammen muß, unverkennbar, und bleibt wie angewurzelt stehen. Seine Heimatstadt: er ist im Jahr der großen Zweihundertjahrfeier geboren, in Benjamin Franklins Stadt, hoch oben in der Hahnemann-Klinik, als die Vereinigten Staaten vier Monate vor ihrem zweihundertsten Geburtstag standen, und da ist Philadelphia jetzt, wie es sich vom jenseitigen Ufer des Delaware ausnimmt: die vertrauten Baukörper des Rathauses, des Unabhängigkeitstempels, des PennCenters und der Christuskriche. Es ist Jahre her, seit er zuletzt dort war. Schadrach Mordechai hat die letzten zehn Jahre in der Mongolei verbracht. Früher hatte er kaum glauben können, daß es wirklich ein Land wie die Mongolei gab, die exotische und mystische Heimat eines Dschingis Khan und seiner Nachfahren, aber inzwischen erscheint ihm Philadelphia fremd und unwirklich. Und die Vereinigten Staaten von Amerika? Haben diese Wörter noch eine Bedeutung? Wer hätte in den Jahren seiner Kindheit geglaubt, daß die Verfassung Jeffersons und Madisons noch zu seinen Lebzeiten in Vergessenheit geraten und daß Amerika in eine revolutionierte Welt eingegliedert würde, deren Galionsfigur ausgerechnet ein Mongole sein sollte, ein Mann, der sich bedenkenlos mit den Namen Dschingis Khans und Maos schmückte und in seinem Alter noch zusehends dem Größenwahn zu verfallen schien? Aber das ist überspitzt: Schadrach weiß, daß die Vereinigten Staaten ebenso wie alle anderen Nationen von einer nationalen Unterorganisation des Permanenten Revolutinonsrats regiert werden, und daß der einsiedlerische alte Mann, einst Begründer der radikalrevolutionären Staatspartei, als Vorsitzender des Revolutionsrates längst zu einem den Alltagsgeschäften entrückten lebenden Mythos geworden ist, der indirekt regiert und für Schadrach Mordechais ehemalige Landsleute lediglich eine Art entfernter Vaterfigur darstellt. Wahrscheinlich denkt kein Amerikaner darüber nach, daß der Vorsitzende die Autorität des Permanenten Revolutionsrates verkörpert und somit die oberste politische Instanz ist. Nicht, daß viele Amerikaner beunruhigt wären, wenn sie erführen, daß sie einem alten Mongolen Loyalität schuldeten. Es ist ihnen ziemlich gleichgültig, wer das politische System repräsentiert, das die Konkursverwaltung der alten Welt übernommen hat. In einer erschöpften, zerbrochenen, an Organzersetzung sterbenden Menschheit herrscht allgemein Erleichterung darüber, daß es den Revolutionsrat und seine straff organisierte Verwaltung überhaupt gibt, eine Instanz, die sich wenigstens um eine gerechte Verteilung des Mangels bemüht.

Plötzlich verschwindet Philadelphia vom Bildschirm und wird von einer idyllischen Tropenszene ersetzt, die einen halbmondförmigen weißen Strand, gefiederte Palmwedel und gelb und scharlachrot blühenden Hibiskus zeigt. Menschen sind nicht zu sehen. Nachdem Schadrach die Idylle eine kleine Weile betrachtet hat, geht er weiter.

Durch eine schwere, mit einheimischer Schnitzarbeit verzierte Tür betritt er eine geräumige Diele, die als Empfangszimmer und Warteraum für Besucher dient und mit einfachen chinesischen Möbeln ausgestattet ist. Der einzige Luxus sind die alten Seidentapeten an den Wänden. Von hier gehen mehrere Türen aus. Linker Hand gelangt man ins Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber Schadrach geht nicht hinein. Es ist am besten, den alten Mann heute schlafen zu lassen, bis er von selbst aufwacht. Er geht an den privaten Arbeits- und Wohnräumen des Vorsitzenden vorbei und steigt, einer plötzlichen Eingebung folgend, die innere Wendeltreppe zum Sitzungssaal des Revolutionsrates hinab. In den angrenzenden Zimmerfluchten befinden sich die Arbeitsräume der Ratsmitglieder, die zentrale Nachrichtenabteilung und die Verbindungsbüros zu den Ministerien. Mit einigem Recht kann man dieses Geschoß als das Nervenzentrum der planetarischen Regierung betrachten. Bei Tag und Nacht gehen hier die Meldungen von Parteikadern in allen Städten der Erde ein; und bei Tag und Nacht finden Besprechungen und Anhörungen statt, werden Entscheidungen getroffen und gehen in Form von Direktiven an die Ministerien und die nationalen Organe des Revolutionsrates hinaus. Alle Anträge auf Behandlung mit der kostspieligen RonkevicImmunisierung werden hier geprüft und entweder genehmigt oder abschlägig beschieden. Schadrach Mordechai ist kein politischer Mensch, und was in den Räumen des Revolutionsrates vorgeht, bekümmert ihn wenig. Da aber einige Mitglieder zu seinen Patienten zählen, kommt er des öfteren hierher und hat dann Gelegenheit, das geschäftige Treiben zu beobachten.

Die frühen Morgenstunden sind gewöhnlich am ruhigsten, und auch jetzt scheint nicht viel los zu sein. Von den zwölf Plätzen in der Nachrichtenzentrale sind nur drei besetzt. Schadrach ist sich mit Dankbarkeit bewußt, daß dies eine stille Zeit ist. Die aus seiner Sicht einzige akute Krise in der weiten Welt ist diejenige in des Vorsitzenden Leber, und da wird bald Abhilfe geschaffen.

Als er am Sekretariat vorbeikommt, hört er sich beim Namen gerufen. Er macht halt, wendet sich um und sieht Mangu, den designierten Nachfolger des Vorsitzenden, der eben aus dem Sekretariat tritt.

»Wird der Vorsitzende heute operiert?« fragt Mangu besorgt.

Schadrach nickt. »In ungefähr drei Stunden.«

Mangu nickt geistesabwesend, dann blickt er stirnrunzelnd zu Boden. Er ist ein stattlicher, noch jüngerer Mann von kräftiger Statur und mit dem kantigen Gesicht des Nordchinesen. Sein Blick ist wach und von gewinnender Offenheit. Er hat eine steile Karriere in der Funktionärshierarchie hinter sich, doch hat es den Anschein, als fühle er sich seit seiner Berufung zum Stellvertretenden Vorsitzenden nicht mehr ganz ausgelastet. Im Moment wirkt er angespannt und besorgt.

»Wird es gut ausgehen? Wie hoch ist das Risiko?«

»Seien Sie unbesorgt«, antwortet Schadrach. »Schließlich ist es nur eine Lebertransplantation.«

»Man sollte meinen, das sei bei einem alten Mann gefährlich genug.«

»Der Vorsitzende hat bereits zwei Leberverpflanzungen hinter sich.«

»Aber wie viele chirurgische Eingriffe wird er noch überstehen? Er ist ein Greis und…«

»Das lassen Sie ihn lieber nicht hören!«

Mangu zuckt die Achseln. »Wahrscheinlich hört er sogar zu«, sagte er beiläufig. Etwas von der Spannung scheint von ihm zu weichen. »Er weiß, daß ich es in aufrichtiger Sorge um ihn gesagt habe.«

Schadrach lächelt vorsichtig. Wie schon des öfteren, fragt er sich auch jetzt wieder, ob die Tugend der Offenheit und Geradlinigkeit, die Mangu große Popularität bei der Bevölkerung eingebracht hat, in der Politik, wo allein Klugheit und Verstellungskunst zu zählen scheinen, nicht als ein ernster Mangel anzusehen sei. Er erinnert sich, daß Doktor Crowfoot vom Projekt Avatara, Nicki Crowfoot, seine Nicki, mit der er diese Nacht verbracht hätte, wäre nicht die bevorstehende Operation gewesen, ihm schon vor Wochen unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, welches traurige Schicksal Mangu erwartete, wenn es nach den Vorstellungen des neuen Dschingis Khan ginge. Daher weiß Schadrach, was Mangu mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal ahnt — nämlich, daß der Vorsitzende beabsichtigt, sein eigener Nachfolger zu werden. Im Laufe des vergangenen Jahres scheint sich im Bewußtsein des alten Mannes die fixe Idee festgesetzt zu haben, sich selbst mit Hilfe von Mangus kräftigem, gesunden Körper eine zweite Lebenszeit zu verschaffen. Aus diesem Grund rief er unter dem Vorwand, die medizinische Grundlagenforschung fördern zu wollen, das Projekt Avatara ins Leben. Wenn es erfolgreich abgeschlossen werden kann — und die Aussichten dafür sind nicht schlecht —, dann wird eines Tages wirklich Mangus kraftvoll-jugendliche Erscheinung auf dem Sessel des Vorsitzenden Platz nehmen, bloß wird Mangus selbst nicht dabei sein, um sich des Erfolgs zu erfreuen. Freilich ist kaum zu erwarten, daß die Operation unbemerkt vom Revolutionsrat oder gar mit seiner Billigung durchgeführt werden kann. Nichtsdestoweniger möchte Schadrach nicht in Mangus Haut stecken; und jeder, der so nichtsahnend und unbekümmert der eigenen Vernichtung entgegengeht, wie Mangu es zu tun scheint, ist ein Dummkopf, dem es am nötigen Gespür fehlt.

»Wo werden Sie während der Operation sein?« fragt Schadrach.

Mangu macht eine weitausholende Geste. »Hier, natürlich.« Er lacht. »Ich werde vorgeben, die Funktionen des Vorsitzenden auszuüben.«

»Vorgeben?«

»Sie wissen, Doktor, daß er nach der Art vieler alter Männer glaubt, nur er könne es richtig machen. Infolgedessen kümmert er sich um jede Kleinigkeit selbst und gewährt niemandem Einblick in seine einsamen Entscheidungen. Ich unterrichte mich über alles, so gut ich kann, aber wenn er heute stürbe, wüßte ich über vieles nicht Bescheid. Darum betrachte ich diese Transplantationen mit einer gewissen Sorge.«

»Wir tun das nicht, um in Übung zu bleiben, glauben Sie mir«, sagt Schadrach. »Die Leber funktioniert schon seit Wochen nicht mehr richtig. Sie muß heraus. Aber Sie können wirklich unbesorgt sein.«

Mangu lächelt ihm zu und nickt. Es ist ein erstaunlich warmes und freundliches Lächeln. »Ich vertraue Ihnen, Doktor. Ihnen und Ihren Kollegen, die den Vorsitzenden am Leben erhalten. Verständigen Sie mich nach der Operation von ihrem Ausgang, ja?«

»Selbstverständlich«, murmelt Schadrach.

Mangu nickt ihm noch einmal zu und geht weiter. Schadrach blickt ihm kopfschüttelnd nach. Mangu ist eine einnehmende Erscheinung, freundlich, ohne Dünkel, offen und verläßlich, und er hat sogar Charisma. In einer düsteren Zeit, die nur von unheilbringenden Blitzen alptraumhaften Lichts erhellt wird, ist Mangu so etwas wie ein Volksheld. In den vergangenen zehn oder zwölf Monaten hat er den Vorsitzenden mit zunehmender Häufigkeit bei offiziellen Feiern, Kongressen und dergleichen vertreten, und obwohl er kein überwältigendes Rednertalent besitzt, ist dieser entwaffnend ehrliche, zugängliche und bescheiden auftretende Mann bei der Bevölkerung beliebt wie kein anderer. Dschingis Khan II. Mao haben seine früheren Taten die ehrfürchtige Bewunderung der Menschen eingebracht, volkstümlich aber ist er nie geworden. Jene, die Mangu längere Zeit aus der Nähe erlebt haben, sind sich bewußt, daß er zwar enorm fleißig und gewissenhaft ist, ein tüchtiger Funktionär und Verwalter, daß es ihm jedoch an schöpferischer Fantasie und Originalität gebricht. Doch mag er auch trivial sein, er ist der beste Mensch im ganzen Revolutionsrat und alles andere als verachtenswert, und Schadrach empfindet echtes Mitgefühl für ihn. Der arme Mangu macht sich Sorgen, er könne eines schönen Tages unvorbereitet auf dem Stuhl des Vorsitzenden landen! Fühlt er nicht, daß er niemals — nicht in einem Jahr, nicht in zehn und nicht in hundert Jahren — ein geeigneter Nachfolger des Vorsitzenden sein wird, daß er aus seinem Wesen heraus unfähig ist, die furchtbare Macht auszuüben, die zu erben er vorgeblich ausersehen ist? Anscheinend nicht. Sonst hätte er, in Kenntnis seiner eigenen Grenzen, sich die Frage vorgelegt, was der Vorsitzende wirklich mit ihm im Sinne haben mag. Ihn zum vollwertigen Nachfolger auszubilden? Nein, gewiß nicht. Um seine Popularität auszunutzen und eines Tages seine Identität herauszureißen und wegzuwerfen, damit sein Körper zur Wohnung für die finstere Seele und den verschlagenen Verstand des alten Mannes werde, wenn der geflickte Greisenkörper nicht mehr repariert werden kann. Der arme Mangu. Schadrach fröstelt.

Eilig kehrt er in sein eigenes Arbeitszimmer zurück, schließt die Tür und sperrt sie ab.

Kaum fünf Minuten später wird in seinem linken Oberschenkel, nahe der Hüfte, wo er die Gehirnaktivität des Vorsitzenden empfängt, ein plötzliches scharfes Zupfen spürbar. Vier Zimmer weiter ist der alte Mann erwacht.

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