5

Am frühen Abend, nachdem die Tagesarbeit getan ist und er sich seiner hippokratischen Pflichten entledigt hat, geht es ab nach Karakorum, dem Vergnügungspark des Volkes, der jedoch längst zum Amüsierzentrum für privilegierte Funktionäre aus Regierung und Partei geworden ist.

Schadrach holt Nicki Crowfoot drei Stunden nach der Operation in ihrem Laboratorium ab, das in einem Anbau eines Regierungspalastes untergebracht ist. Es ist ein weitläufiger Raum mit grün gestrichenen Wänden und voller Käfige mit unglücklichen Versuchstieren, der Alptraum eines Zoo, mit verrückt gewordenen Tieren, krähenden Bussarden, miauenden Hunden und schwanzwedelnden Katzen. Wo keine Käfige sind, breiten sich Labortische, Regale mit Unmengen von Reagenzgläsern und Flaschen aus, elektronische Geräte und Speichereinheiten. Es riecht nach Tieren, Lysol, Formaldehyd, Äthylalkohol, Mäusedreck und den Dämpfen von Bunsenbrennern. Die meisten Mitarbeiter des Avatara-Projekts sind für den Tag nach Haus gegangen, aber Crowfoot, angetan mit einem grauen Laborkittel und ausgetretenen Sandalen, arbeitet noch an einer fünf Meter langen Anhäufung von Rechnereinheiten, Eingabestationen, Bildschirmen und Tonbandgeräten, als er hereinkommt. Sie steht mit dem Rücken zur Tür und beobachtet pyrotechnische Ausbrüche von Grün, Blau und Rot auf dem Schaubild eines großen Oszilloskops. Schadrach nähert sich leise von hinten, schiebt die Hände unter ihren Armen durch und faßt ihre Brüste durch den Kittel. Bei der ersten Berührung fährt sie erschrocken zusammen, und er fühlt, wie ihr Rücken sich versteift, doch dann entspannt sie sich und dreht nicht einmal den Kopf.

»Idiot«, sagt sie, doch in ihrer Stimme ist nur Zärtlichkeit. »Lenk mich nicht ab. Ich habe hier eine dreifache Simulation. Das grüne Band ist das Persönlichkeitsbild des Vorsitzenden, und das blaue darüber ist unser Persönlichkeitskonstrukt vom April, und…«

»Das kannst du alles wegschmeißen. Der Vorsitzende ist auf dem Operationstisch gestorben, als wir ihm die Leber herausholten. Seit einer Stunde toben die Kämpfe um seine Nachfolge. Die Stadt…«

Sie windet sich in seiner Umarmung, dreht sich um und starrt ihn entsetzt an.

»… steht in Flammen, und wenn du genau hinhörst, kannst du die Explosionen hören, wo die Statuen in die Luft gesprengt werden…«

Sie sieht seinen Gesichtsausdruck und fängt an zu lachen. »Du bist wirklich verrückt! Mich so zu erschrecken!«

»Tatsächlich geht es ihm ausgezeichnet, obwohl Warhaftig die neue Leber mit der Oberseite nach unten hineingetan hat.«

»Hör auf, Schadrach.«

»Also gut. Er ist wirklich in guter Verfassung. Er hat sich zehn Minuten zur Erholung ausgebeten, und nun ist er im Tagungsraum des Revolutionsrates und vollführt mit den übrigen Mitgliedern einen mongolischen Säbeltanz.«

»Schadrach!«

»Ich kann nichts dafür. Ich bin in einer postoperativen manischen Phase.«

»Ich aber nicht. Ich habe einen schlechten Tag hinter mir.« Tatsächlich ist ihre Niedergeschlagenheit offenkundig, sobald er lange genug zur Ruhe kommt, um es wahrzunehmen: ihre Augen wirken überanstrengt, das Gesicht ist gespannt, die Schultern wirken eingefallen.

»Sind deine Versuche mißlungen?«

Sie nickt. »Wir haben sie ganz und gar verpfuscht. Ich verwechselte ein paar Spulen und löschte drei wichtige Bänder, bevor einer von uns merkte, was geschah. Nun versuche ich zu retten, was noch übrigblieb. Das wirft uns einen, eineinhalb Monate zurück.«

»Arme Nicki. Kann ich irgendwie helfen?«

»Ja, du kannst mich ablenken und erheitern«, sagt sie. »Komische Gesichter schneiden. Wie verlief die Operation wirklich?«

»Glatt und fehlerlos. Warhaftig ist ein Zauberer. Er könnte einer Amöbe mit den bloßen Händen einen neuen Zellkern einpflanzen.«

»Und der Vorsitzende ruht?«

»Er schlummert wie ein Kind«, sagt Mardechai. »Es ist beinahe unanständig, wie ein siebenundachtzigjähriger Mann alle paar Monate irgendwo operiert wird und jedes Mal im Nu wieder auf den Beinen ist.«

»Ist er wirklich siebenundachtzig?«

Schadrach zuckt die Achseln. »Das ist die offizielle Angabe. Es gibt Geschichten, daß er älter sei, neunzig, fünfundneunzig, sogar über hundert. Gerüchte wollen wissen, er habe im Zweiten Weltkrieg gedient. Ob es stimmt, kann ich nicht sagen. Die Altersangaben gelten ohnehin nur für das Gehirn, das Skelett und die Haut mit dem Fleisch darunter. Der Rest ist aus neueren Teilen zusamme ngestückelt. Eine Lunge hier, eine Niere dort, Arterien aus Dacron, Hüftgelenke aus Keramik, eine Schulter aus Molybdänstahl, alle paar Jahre eine neue Leber… ich weiß selbst nicht, wie das alles zusammenwirkt. Aber er scheint die ganze Zeit jünger und kräftiger und schlauer zu werden. Du solltest hören, wie seine Lebensfunktionen hier in mir dahinticken.«

Sie legt die Hand an Schadrachs Hüfte, als wolle sie die eingepflanzten Empfänger fühlen. »Tatsächlich; für sein Alter geht es ihm ausgezeichnet. Im Augenblick schläft er mit einer Krankenschwester. Warte, ich glaube, er kommt! Nein, es war nur ein Niesen. Und nun kann ich sogar hören! Gesundheit, sagte sie gerade. Übrigens, wie sieht es mit seinem Geschlechtsleben aus?«

»Ich versuche nicht zu fragen.«

»Sagen dir die Signalgeber nichts darüber?«

»Honi soit qui mal y pense«, sagt Schadrach. »Bestimmt hat er ein beneidenswertes Geschlechtsleben; wahrscheinlich ein aktiveres als ich.«

»Du hättest letzte Nacht nicht allein zu schlafen brauchen.«

»Mein Berufsethos verlangte es von mir.« Er zeigt zur Tür. »Karakorum?«

»Ja, einverstanden. Aber zuerst muß ich mich waschen und umziehen.«

Sie gehen in ihre Wohnung, die im vierten Stock des Gebäudeflügels ist. Der persönliche Mitarbeiterstab des Vorsitzenden, zu dem auch die Leiter der von ihm ins Leben gerufenen Forschungsprojekte gehören, hat Wohnungen im Regierungspalast. Nicki Crowfoots Quartier besteht aus zwei kleinen, einfach möblierten Zimmern mit Küche und Bad. Die Böden sind aus gewöhnlichen Holzdielen, es gibt keinen Balkon, und die Aussicht ist beschränkt. Schadrach läßt sich in einem Korbsessel nieder, während Nicki sich auszieht und zum Duschbad geht. Ihr nackter Körper ist von starker sinnlicher Schönheit, und beim Anblick ihrer schweren Brüste und den kräftigen Schenkeln regt sich Verlangen in ihm. Sie ist groß gewachsen und schlank, mit kräftigen Schultern, einer schmalen Taille und ausladenden Hüften. Eine Fülle dichten schwarzen Haares hängt ihr bis in Höhe der Ellbogen über den Rücken. Unbekleidet verliert sie die Ausstrahlung arbeitsamer Sachlichkeit, die im Laboratorium charakteristisch für sie ist, und wird zu etwas Primitivem, Barbarischem, Naturhaftem — Pocahontas oder die mondgezeugte Nokomis. Einmal, als sie zusammen im Bett waren und er solche fiebrigen Vergleiche anstellte, wurde sie verlegen und versuchte sich zu revanchieren, indem sie ihn Othello und Ras Tafari nannte; danach hat er ihre indianische Herkunft nie wieder offen romantisiert, denn er hat es seinerseits nicht gern, wenn man ihn mit seinen Ahnen aus dem afrikanischen Busch aufzieht, aber wann immer sie sich vor ihm entblößt, stellt sich das Gefühl ein, daß sie die Prinzessin eines untergegangenen Königreichs sei, eine Hohepriesterin der Felsengebirge, eine rote Amazone aus heidnischer Nacht.

Sie kommt wieder zum Vorschein und schmückt sich mit einem langen, leichten Gewand und einem Überwurf aus weitmaschiger Goldimitation. Bei jeder Bewegung zeichnen sich Hüften und schokoladefarbene Brustwarzen durch das Gewebe ab, und er würde am liebsten in diesem Augenblick mit ihr schlafen, doch er weiß, daß sie müde und hungrig ist, noch mit den Enttäuschungen des Tages beschäftigt und ganz und gar nicht in der geeigneten Stimmung. Außerdem sind ihr Nachmittagspaarungen zuwider und sie zieht es vor, erotische Spannungen während eines Abends anwachsen zu lassen. Daher begnügt er sich mit einem flüchtigen Kuß und einem anerkennenden Lächeln, dann gehen sie hinaus, verlassen das Gebäude und lenken ihre Schritte zur U-Bahn-Station.

Karakorum liegt vierhundert Kilometer westlich von Ulan Bator. Vor Jahren, noch in der Euphorie der nachrevolutionären Phase, beschloß man, beide Städte durch eine unterirdische Schnellbahn zu verbinden. Der Tunnel wurde mit einer nuklear betriebenen Bohrausrüstung aus dem gewachsenen Fels tief unter der mittleren Gobi herausgeschmolzen, so daß kein Abraummaterial anfiel und eine absolut wasserundurchlässige Tunnelröhre aus glasig erstarrtem Gestein entstand. Jetzt verkehren Hochgeschwindigkeits-Magnetkissenzüge zwischen der alten und der neuen Hauptstadt und legen die Entfernung in weniger als einer Stunde zurück. Zwar hat man inzwischen erkannt, daß der Betrieb wegen des hohen Energieverbrauchs unwirtschaftlich ist, und daß der Bau der unterirdischen Schnellbahn von Anfang an eine reine Prestigeangelegenheit ohne echte Notwendigkeit gewesen ist, aber die immer wieder auftauchenden Pläne zur Stillegung scheitern regelmäßig am Widerstand einer breiten Phalanx von Funktionären und Regierungsbeamten, die in den Ausflügen von Karakorum die einzige Abwechslung vom eintönigen Leben in der nüchternen, reizlos gelegenen Hauptstadt erblicken.

Schadrach Mordechai und Nicki Crowfoot schließen sich der vergnügungshungrigen Menge auf dem Bahnsteig an; der nächste Zug ist in wenigen Minuten fällig. Mehrere Leute grüßen sie, aber niemand kommt zu ihnen. Von einem exotischen und wirklich eindrucksvollen Paar geht etwas Einschüchterndes und Unnahbares aus, und Schadrach weiß, daß er und Nicki eindrucksvoll und exotisch sind. Aber es ist ein weiterer isolierender Faktor mit im Spiel — Schadrach Mordechais berufliche Nähe zum Vorsitzenden. Diese Leute sind sich bewußt, daß er zu den wenigen gehört, die persönlichen Umgang mit Dschingis Kahn II. Mao haben, und etwas vom Nimbus des Vorsitzenden ist auf ihn übergegangen und bewirkt, daß man sich nicht unbefangen an ihn wendet. Er bedauert das, vermag aber wenig dagegen.

Der Magnetkissenzug fährt ein. Schadrach und Nicki sind unterwegs nach Karakorum.

Karakorum. Vor achthundert Jahren von Dschingis Khan gegründet. Von seinem Sohn Ügödei aus einer Nomadensiedlung zu einer glänzenden Hauptstadt gemacht. Eine Generation später von Dschingis Khans Enkel Kublai Khan aufgegeben, der es vorzog, in Peking zu residieren. Später von Kublai Khan zerstört, als sein rebellischer jüngerer Bruder versuchte, die alte Mongolenhauptstadt zum Zentrum seines Auf Stands zu machen. Nach einiger Zeit wieder aufgebaut, abermals verlassen und dem Verfall preisgegeben, schließlich gänzlich in Vergessenheit geraten, erst im zwanzigsten Jahrhundert von Archäologen aus der Sowjetunion und der Mongolischen Volksrepublik wiederentdeckt und zur Jahrtausendwende auf Veranlassung Dschingis Khan II. Mao um ein — nach Meinung von Kulturhistorikern freilich geschmackloses und fragwürdiges — neues Karakorum bereichert, das die Welt an die Größe Dschingis Khans erinnern und die Jahrhunderte der Bedeutungslosigkeit vergessen machen soll, die auf den Niedergang der mongolischen Großreiche folgte.

Nachts glitzert und funkelt das neue Karakorum wie einer der alten Rummelplätze längst versunkener Zeiten. Beim Verlassen der unterirdischen Station erblicken Schadrach und Nicki zur Linken die ausgegrabenen Ruinen des alten Karakorum: eine einsame Schildkrötenplastik aus Stein im gelben Steppengras, die niedrigen Umrisse einiger Ziegelmauern, eine geborstene Säule. In der Nähe erheben sich graue Stupas, Erinnerungsmonumente an heilige Lamapriester, errichtet im sechzehnten Jahrhundert. Vor den dürren Hügeln in der Ferne liegen die mit schneeweißem Stuck verkleideten Gebäude der Karakorum-Staatsfarm, einer grandiosen Schöpfung der alten Mongolischen Volksrepublik, zu der eine halbe Million Hektar Grasland gehören. Zwischen den Farmgebäuden und den alten Stupas liegt das Karakorum des Vorsitzenden, eine talmihafte und fantastische Rekonstruktion der ursprünglichen Stadt mit dem ausgedehnten Palast des Ügödei, nach der Vorstellung seiner Neuerbauer voller Säulenarkaden, dem exotisch anmutenden, vieltürmigen Observatorium, den Moscheen und Kirchen, den prächtig eingerichteten Jurten und Seidenzelten des mongolischen Adels, den mit geschweiften Dächern und Drachenköpfen verzierten Ziegelhäusern der chinesischen Kaufleute, dem kuppelreichen, weitläufigen Lehmgebäude einer turkestanischen Karawanserei — alles zur Erinnerung an vergangene Größe, als passender Rahmen für Zerstreuungen und Vergnügungen und schließlich zum größeren Ruhm des Vorsitzenden der Vorsitzenden, Dschingis Khan II. Mao, der dem Vernehmen nach mit einem sehr viel bescheideneren mongolischen Namen zur Welt gekommen war, nämlich als Choijamtse oder Ochirbal, je nach der bevorzugten Version, und ein ziemlich unbedeutender Parteifunktionär in der Hierarchie der alten Mongolischen Volksrepublik gewesen war, bevor die Welt von den Flammen des Krieges verheert worden war und der spätere Vorsitzende, inzwischen zum Marschall und Volkshelden aufgestiegen, mit beispielloser Härte und Energie die Weltrevolution vorangetrieben hatte.

Heute ist das — ursprünglich als Gedenkstätte konzipierte — neuerstandene Karakorum ein Vergnügungspark, ein Ort der Lustbarkeit und des Genusses, erfüllt von hektischem Leben. In den Palastgebäuden und Prunkzelten kann man essen und trinken und sogar dem verpönten Glücksspiel frönen. Hier kann man bereitwillige Geschlechtspartner aller Arten finden, und der in einer arm und trist gewordenen Welt verbreiteten Neigung zur Realitätsflucht kommt ein reichhaltiges Angebot von Einrichtungen entgegen, die verschiedene Formen von Halluzinationen bieten — Traumtod, Transtemporalismus und Bewußtseinserweiterung. Schadrach ist ein Anhänger der letzteren; Nicki Crowfoot ist mehr für Transtemporalismus, womit auch er sich schon beschäftigt hat, wenn auch nicht in letzter Zeit. Einmal war er mit Katja Lindman in Karakorum, und diese ungestüme, energische Frau drängte ihn, mit ihr Traumtod zu versuchen, doch er weigerte sich, und noch Tage danach ließ sie ihn ihre Geringschätzung spüren. Nicht mit Worten, aber mit kurzen, abschätzigen Blicken, einem Zukken der eleganten Nasenflügel, einem spöttischen Verziehen der Mundwinkel.

Wie sie jetzt am Traumtod-Pavillon vorbeigehen, ohne ihm mehr als flüchtige Beachtung zu schenken, und während Schadrach noch bemüht ist, das Vorstellungsbild von Katja Lindmans entblößtem Körper aus seinen Gedanken zu vertreiben, sagt Nicki: »Ist es nicht riskant, daß du ein paar Stunden nach einer schweren Operation so weit von Ulan Bator fortgehst?«

»Nicht besonders. Tatsächlich gehe ich am Abend nach einer Transplantation immer aus. Das ist eine kleine Entschädigung, die ich mir nach einem schweren Tag gönne. Übrigens ist es eine sehr günstige und passende Gelegenheit für einen Ausflug nach Karakorum.«

»Wieso?«

»Er liegt in der Intensivstation. Sollten irgendwelche Komplikationen auftreten, so geben die Überwachungsgeräte augenblicklich Alarm, und der diensttuende Arzt ist zur Stelle. Schließlich verlangt meine Stellung nicht von mir, daß ich dem alten Mann vierundzwanzig Stunden am Tag die Hand halte. Das ist nicht erforderlich, und er will es auch gar nicht.«

Über dem Palast wird plötzlich ein Feuerwerk abgebrannt. Raketen steigen in den Sternhimmel, zerplatzen zu grünen, roten und goldenen Rosetten und Rädern, die sekundenlang herabstrahlen, bevor sie verblassen und von neuen Rädern und Lichtgarben abgelöst werden. Schadrach bildet sich ein, das Gesicht des Vorsitzenden herabblicken zu sehen, aber nein, bloß Selbsttäuschung. Das Muster der Feuerwerksexplosionen ist ganz zufällig und abstrakt.

»Wenn eine Notsituation entsteht, wird man dich rufen, nicht wahr?« fragt Nicki.

»Das wird nicht nötig sein«, antwortet Mordechai. Aus dem Traumtod-Pavillon dringt unheimliche, dissonante Musik. Er erschauert und klopft leicht auf seinen Oberschenkel, wo ein paar der eingepflanzten Signalgeber sind. »Erstens werde ich bei einem postoperativen Kollaps nicht gebraucht, weil die Intensivstation über alle Möglichkeiten verfügt, und zweitens bin ich über sein Befinden auf dem laufenden.«

»Selbst hier draußen?«

Er nickt. »Die Grenze liegt bei etwa tausend Kilometern. Ich empfange ihn klar: Er scheint zu schlafen, ruht jedenfalls aus, seine Temperatur liegt ungefähr ein Grad über normal, der Puls ist ein wenig beschleunigt, die neue Leber integriert sich recht ordentlich und wirkt sich bereits günstig auf sein allgemeines Stoffwechselsystem aus. Bei einer Verschlimmerung seines Zustandes bin ich sofort im Bilde und kann in eineinhalb Stunden bei ihm sein, sollte das nötig werden. Einstweilen bleibe ich unterrichtet und genieße die Freiheit, mich zu amüsieren.«

»Immer mit dem Bewußtsein seines Gesundheitszustands.«

»Ja, immer. Selbst wenn ich schlafe, ticken die Impulse in mir weiter.«

»Deine eingepflanzten Signalgeber interessieren mich psychologisch«, sagt Nicki. Sie bleiben vor einem Süßigkeitenstand stehen, um Erfrischungen zu kaufen. Der Verkäufer, ein gedrungener, breitnasiger Mongole, bietet ihnen Airag an, das alte mongolische Nationalgetränk aus vergorener Pferdemilch. Schadrach nimmt zwei Becher, einen für sich und einen für Nicki. Sie macht ein Gesicht, trinkt aber und findet es erfrischend. »Ich meine, wenn ich dich und den Vorsitzenden unter strikt kybernetischen Gesichtspunkten betrachte, ist es schwierig zu entscheiden, wo deine Individualität aufhört und seine anfängt. Du und er, ihr bildet eine einzige, sich selbst korrigierende, Informationen verarbeitende Einheit, praktisch ein einziges Lebenssystem.«

»So sehe ich es eigentlich nicht«, erwidert Mordechai. »Es mag einen ständigen Informationsfluß von seinem Körper zum meinigen geben, und die von ihm empfangenen Informationen haben auch einen Einfluß auf mein und dadurch unter Umständen auch auf sein Handeln, aber er bleibt ein autonomes Wesen, der Vorsitzende des Revolutionsrates, ausgestattet mit aller Macht und allen Privilegien, die das mit sich bringt, während ich bloß…«

»Nein, du mußt es aus einem anderen Blickwinkel sehen«, widerspricht Nicki ungeduldig. »Nehmen wir an, du wärst Michelangelo und versuchtest einen gewaltigen Marmorblock in den David zu verwandeln. Die Gestalt ist im Marmor eingeschlossen; du mußt sie mit Schlegel und Meißel befreien, nicht wahr? Du schlägst auf den Block, und ein Marmorsplitter wird abgespalten. Du schlägst wieder zu, und ein weiterer Marmorsplitter fällt. Nach ein paar Dutzend Schlägen beginnen vielleicht die Umrisse eines Arms Gestalt anzunehmen. Der Winkel, mit dem du den Meißel ansetzt, ist bei jedem Schlag verschieden. Und vielleicht ist auch die Kraft, mit der du den Schlegel handhabst, bei jedem Schlag unterschiedlich. Ständig veränderst und berichtigst du deine Schläge nach den Informationen, die du von der bearbeiteten Oberfläche des Marmorblocks empfängst — von den hervortretenden Umrissen, den richtigen Spaltflächen des Gesteins, und so weiter. Der Prozeß, bei dem Michelangelos David geschaffen wird, besteht keineswegs nur darin, daß du, Michelangelo, auf einen passiven Steinblock einwirkst. Auch der Marmor ist eine aktive Kraft, Teil des Kreises, in gewissem Sinne auch Teil des Denksystems, das Michelangelo der Bildhauer ist. Wenn…«

»Ich sehe nicht…«

»Laß mich ausreden. Jede Veränderung, die den Umriß oder die Oberflächengestaltung des Marmors betrifft, wird von deinem Auge wahrgenommen und von deinem Gehirn eingeschätzt, das darauf Anweisungen an die Muskeln deines Arms aussendet, Anweisungen, welche die Stärke des nächsten Schlages und den Ansatzwinkel des Meißels betreffen. Dies bewirkt eine Veränderung der Reaktion deiner Nerven und Muskeln beim nächsten Schlag und führt zu einer weiteren Veränderung der Marmoroberfläche, die wiederum zu neuer Wahrnehmung und einer weiteren Abwandlung des Programms im Gehirn Anlaß gibt, woraus eine neuerliche Korrektur der neuromuskulären Reaktionen entsteht, und so weiter, bis die Statue fertig ist. Die Bildhauerei ist ein Prozeß der Wahrnehmung und des Reagierens auf Veränderung, und der Marmorblock ist ein wesentlicher Teil des gesamten Systems.«

»Er hat nicht darum gebeten, es zu sein«, sagt Schadrach nachsichtig. »Er weiß nicht, daß er Teil eines Systems ist.«

»Das ist unwichtig. Du mußt das System als ein in sich geschlossenes Universum betrachten. Der Marmor wird verändert, und seine Veränderungen erzeugen Veränderungen in Michelangelo, die zu weiteren Veränderungen des Marmors führen. Innerhalb des geschlossenen Universums von Bildhauer, Werkzeug und Marmor ist es unrichtig, Michelangelo als das ›Selbst‹ zu betrachten, als den Alleinhandelnden, den Marmor aber als ein Ding, auf das eingewirkt wird. Bildhauer, Werkzeug und Marmor ergeben zusammen ein Netzwerk von kausalen Verbindungen, eine einzige denkende, handelnde und sich verändernde Einheit und insofern eine einzige Person. Nun, du und der Vorsitzende…«

»Wir sind verschiedene Personen«, beharrt Schadrach. »Der Rückkopplungsprozeß ist nicht der gleiche. Wenn seine Niere versagt, reagiere ich in dem Ausmaß, daß ich die Fehlfunktion wahrnehme, behandle und nötigenfalls Vorbereitungen für eine Nierentransplantation treffe, aber ich werde nicht selbst krank. Und wenn mit meinen Nieren etwas schief geht, dann beeinflußt ihn das in keiner Weise.«

Sie zuckt die Achseln. »Das ist wahr, aber nebensächlich. Siehst du nicht, daß die kausale Verbindung zwischen euch beiden intimer ist? Dein gesamter Tagesablauf wird von den Signalen beherrscht, die du von ihm empfängst; ob du allein schläfst, oder bei mir, ob du nach Karakorum fährst oder in seiner Nähe bleibst, hängt allein von seiner Gesundheit ab. Wenn eines der Signale von ihm eine Verschlechterung seines Zustands meldet, erlebst du somatische Beklemmungen. Ein großer Teil deiner Möglichkeiten und Lebensäußerungen werden beinahe ausschließlich von seinem Stoffwechsel beherrscht. Du bist eine Verlängerung seines Körpers. Und wie steht es mit ihm? Er lebt oder stirbt nach deiner Wahl. Er mag Vorsitzender des Revolutionsrates sein, aber schon nächste Woche wäre er einfach ein toter Mann mehr, wenn du es versäumen würdest, ein wichtiges Symptom zu erkennen und die entsprechende Behandlung einzuleiten. Du bist die Garantie für sein Überleben, und er beherrscht die meisten deiner Entscheidungen und Handlungen. Ihr seid Teile eines Systems, Schadrach, Teile eines geschlossenen Kreislaufs, du und der Vorsitzende, der Vorsitzende und du!«

Schadrach schüttelt wieder den Kopf. »Die Analogie ist treffend, aber nicht treffend genug, um mich zu überzeugen. Es ist wahr, ich bin mit einigen außerordentlichen diagnostischen Geräten ausgestattet, aber so einzigartig sind sie wiederum nicht; sie helfen mir, rascher auf Notfälle zu reagieren, als ein gewöhnlicher Hausarzt auf die Leiden eines gewöhnlichen Patienten reagieren mag, das ist alles. Der Unterschied ist nur quantitativ. Du kannst jede Arzt-Patient-Beziehung als ein einziges, sich selbst berichtigendes, Informationen verarbeitendes System betrachten, aber ich denke nicht, daß die Verbindung zwischen dem Vorsitzenden und mir etwas davon grundsätzlich Verschiedenes ist. Würde ich krank, wenn er das Bett hüten muß, hättest du recht, aber…«

Nicki Crowfoot seufzte. »Laß gut sein. Es ist all dies Palaver nicht wert. Im Laboratorium haben wir ständig mit dem Prinzip zu tun, daß die allgemein gültige Vorstellung vom ›Selbst‹ ziemlich bedeutungslos ist, daß man in Begriffen von größeren Systemen denken muß, aber vielleicht dehne ich das Prinzip auf Gebiete aus, wo es nicht ohne weiteres anwendbar ist. Oder vielleicht klappt es im Moment nicht mit unserer Kommunikation.« Sie schließt einen Moment die Augen, und ihr Gesicht verhärtet sich, als versuche sie einen störenden Gedanken zu unterdrücken, der ihr durch den Sinn geht. Eine neue Salve von Feuerwerkskörpern erhellt den Himmel mit grünen und grellroten Explosionen. Wilde, stachlige Musik, nichts als Knurren und Kreischen, durchdringt die Luft. Nicki entspannt sich, lächelt, nickt zu dem im Licht bunter Lampions schimmernden Zelt der Transtemporalisten hinüber und sagt: »Genug davon. Jetzt etwas Abwechslung.«

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