22

In Istanbul, einige Tage später, hat er keinen Führer, und er durchwandert allein diese Stadt mit den vielen Gesichtern, verwirrt und niedergeschlagen von den Verzwicktheiten des öffentlichen Stadtverkehrs, die es mühsam machen, von einer Sehenswürdigkeit zur anderen zu gelangen. Sehnsüchtig hoffend, daß irgendein Mischach Jakov ihn hier entdecken werde, irgendein freundlicher Bhischma Das. Aber niemand nimmt sich seiner an. Der Stadtplan, den er im Hotel bekommt, ist nutzlos, denn es gibt nur wenige Straßenschilder, und wann immer er eine der Hauptverkehrsadern verläßt, verläuft er sich in einem Labyrinth name nloser Gassen und Höfe. Es gibt Taxis, doch seit der Viruskrieg und seine Folgen dem Fremdenverkehr ein Ende gemacht haben, scheinen alle Fahrer nur noch türkisch zu sprechen; sie können unmißverständliche Instruktionen wie zum Beispiel ›Hagia Sophia‹ oder ›Topkapi Serail‹ befolgen, aber als er die alten byzantinischen Stadtmauern sehen will, gelingt es ihm nicht, sich verständlich zu machen, und schließlich muß er zu einem Notbehelf Zuflucht nehmen und läßt sich zur Kariya-Moschee in den Außenbezirken der Stadt bringen, um von dort aus zu Fuß die nahe Landmauer zu erreichen.

Istanbul ist schmutzig, archaisch, fremdartig und unübersichtlich. Schadrach ist fasziniert von der Verschiedenartigkeit der Architektur, von den prächtigen osmanischen Palästen und den eleganten Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, den malerischen Holzhäusern des achtzehnten Jahrhunderts und den Fragmenten des alten Konstantinopel, die wie zerbrochene Zähne aus der Erde ragen, Bruchstücke von Aquädukten und Zisternen, Basiliken und Stadien. Aber die Stadt ist ihm zu chaotisch. Trotz ihrer herrlichen Lage und des Reizes ihrer wechselvollen Geschichte deprimiert sie ihn. Auch jetzt leben noch mehr als eine Million Menschen hier, und Schadrach findet eine solche Bevölkerungsdichte schwer erträglich, zumal es den Anschein hat, als verbrächten die Bewohner der Stadt ihre Zeit ausschließlich auf der Straße. Er sieht die schon vertrauten Tragödien der Seuchenopfer, und auch hier durchziehen Horden von Halbwüchsigen jagenden Raubtieren gleich die Straßen. Und wohin er sich auch wendet, sieht er wachsame Doppelstreifen von Milizionären. Bald ist er überzeugt, daß sie ihn beobachten. Ist es bloß eine Wahnidee? Er glaubt es nicht. Er glaubt, daß der Vorsitzende, unglücklich über die Abwesenheit seines Leibarztes, ihn ständig beschatten läßt, damit er im Bedarfsfall jederzeit nach Ulan Bator zurückgebracht werden könne. Schadrach hatte keinen Augenblick erwartet, daß es ihm möglich sein würde, völlig unterzutauchen — die Rückkehr nach Ulan Bator ist sogar ein zentraler Punkt seines allmählich Gestalt annehmenden Aktionsplans, obgleich er noch nicht weiß, wann der rechte Augenblick zur Rückkehr kommen wird —, aber die Vorstellung, bespitzelt zu werden, mißfällt ihm.

Nach zwei Tagen in Istanbul, die den üblichen Touristenattraktionen gewidmet sind, fliegt er einem plötzlichen Entschluß folgend nach Rom.

Er verbringt dort eine Woche, nimmt Quartier in einem alten, freundlichen Hotel in der Nähe der Diokletiansthermen. Auch Rom ist dicht bevölkert, und obwohl Automobile selten geworden sind und die Straßen wie in früheren Zeiten von Fuhrwerken und Fahrrädern beherrscht werden, scheint die Stadt von Leben und Geschäftigkeit überzuquellen. Auch scheinen die Narben des Viruskriegs und seiner Folgen hier weniger augenfällig als anderswo, und Schadrach beginnt sich zu entspannen, einem angenehmen mediterranen Lebensrhythmus anheimzufallen: er schlendert durch die prächtigen und die weniger prächtigen, aber immer reizvollen Straßen, schlürft an Kaffeehaustischen Aperitifs, schlägt sich in obskuren Trattorias mit Pasten und jungem Weißwein voll, und alle Ängste und Befürchtungen werden gegenstandslos. Dies ist wahrhaft die Ewige Stadt, fähig, die schwersten Schläge der Zeit hinzunehmen, ohne ihre Widerstandskraft und Geschmeidigkeit einzubüßen. Natürlich besichtigt er die antiken Monumente, den Titusbogen, der an die Eroberung und Plünderung Jerusalems durch die Römer erinnert, die Tempel und Paläste auf dem Kapitol und dem Palatin, das großartige Trümmerfeld des Forums, das geisterhafte Wrack des Colosseums. Er besucht St. Peter und sinnt im Angesicht des Vatikans über das spöttische, scherzhafte Angebot des Vorsitzenden nach, ihn zum Papst zu machen. Er bewundert die Sixtinische Kapelle, die etruskischen Sammlungen in der Villa Giulia, die Borghese-Galerie und ein Dutzend der schönsten Kirchen. Seine Energie scheint zu wachsen, statt zu erschlaffen, während er den unendlich reichen Kunstschätzen Roms nachspürt. Seltsamerweise berühren ihn die schmalbrüstigen, altersgrauen Häuser und das urwüchsige Volksleben in Trastevere mehr als die gefeierten klassischen Monumente. Manche dieser Häuser mögen noch aus römischer Zeit stammen, alle paar Jahrhunderte umgebaut, aufgestockt und renoviert, doch im Kern immer noch so, wie sie schon zur Zeit der römischen Kaiser gewesen sind, und Schadrach erschauert angenehm bei der Vorstellung, daß durch die Torbogen und Gewölbe dieser grauen Türme einst die Untertanen der Tiberius und Caligula ein- und ausgegangen sein mögen. Bei näherer Betrachtung muß er sich jedoch eingestehen, daß seine roma ntische Hypothese wahrscheinlich nicht zutreffend ist. Diese Gebäude stammen eher aus dem zwölften bis vierzehnten, zum Teil wohl erst aus dem siebzehnten Jahrhundert. Alt genug, aber nicht uralt.

Er wünscht, er könne für immer in Rom bleiben. Ein Jammer, denkt er, daß der alte Mann nur scherzte, als er ihm die Papstwürde antrug. Aber nach einer Woche beschließt Schadrach, seine Reise fortzusetzen. Es ist hier zu angenehm, zu bequem; außerdem bemerkt er eines Abends, als er vor seinem Lieblingscafe sitzt, die Wärme genießt und das junge Volk vorbeiflanieren läßt, daß vor dem benachbarten Cafe zwei Milizionäre an einem Tisch sitzen, die weder trinken noch sprechen, sondern ihre ganze Aufmerksamkeit ihm zuwenden. Zieht sich das Netz um ihn zu? Werden sie ihn morgen oder am Tag danach ansprechen und ihm mitteilen, er müsse zu seinem Herrn nach Ulan Bator zurückkehren? Er bucht einen Flug nach London, storniert ihn im letzten Moment und verschafft sich mit Hilfe seines Regierungsausweises einen Platz in einer Maschine, die über den Pol nach Kalifornien fliegt.

Und auf einmal ist er in San Francisco. Eine Spielzeugstadt, weiß und kostbar, die sich auf beachtlichen Hügeln erhebt, umgürtet von einer im Sonnenlicht funkelnden Bucht. Er ist nie zuvor hier gewesen. Komisch, wie er erwartet, daß berühmte Städte gigantisch sein müßten. Diese ist, ähnlich wie Jerusalem, überraschend klein. Würde man sie in Rom niedersetzen oder im weit über Meeresarme und Hügel ausgreifenden Istanbul, so würde sie völlig verschwinden. Eine weitere Überraschung ist das kühle Klima. Kalifornien war für ihn immer mit Vorstellungen von Schwimmbecken und Palmen und immerwährendem Sonnenschein verbunden, aber dieses Kalifornien muß irgendwo anders sein, wahrscheinlich unten bei Los Angeles; San Francisco im Juni zeigt ihm eine seltsame Vorfrühlingsstimmung, mit scharfem, schneidendem Wind und klammen grauen Nebelfeldern, die sich von der See heranschieben und die Stadt einhüllen. Selbst wenn die Sonne den Nebel am Nachmittag auflöst und die Stadt im brillanten Licht unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel glitzert, bleibt die Kälte des Seewinds in der Luft, und Schadrach zieht in seinem unzureichenden Sommeranzug fröstelnd die Schultern ein.

Hier gibt es keine alten Paläste zu sehen, keine frei herumlaufenden Gazellen und Strauße, keine mittelalterlichen Stadtmauern oder Barockkirchen. Aber es gibt elegante Straßen mit viktorianischen Häusern, reich geschmückt mit Stuckarbeiten, Schnörkeln und Erkern, und die meisten dieser Gebäude sind wohlerhalten, Veteranen, die Erdbeben, Brände, Aufstände, die biochemische Kriegführung und sogar den Zusammenbruch der Vereinigten Staaten überdauert haben. Überall gibt es Büsche und Bäume, viele davon in voller Blüte; diese Stadt, so windig und kühl sie sich zeigt, ist beinahe so blütenreich wie Nairobi, und Schadrach genießt den Anblick von Bäumen, die in gewaltigen Massen roter Blüten flammen, von mächtigen Baumfarnen und windzerzausten Zypressen, von Hängen, die mit dunklen, duftenden Eukalyptushainen bestanden sind. An einem Tag geht er von der Bucht durch die ganze Stadt zum Ozean, tritt aus einem üppigen, traumhaften Park an die Brüstung einer Promenade und steht am Rand des Pazifik, starrt über ihn hinaus in die Richtung, wo die Mongolei liegen muß. Irgendwo dort erwacht Dschingis Khan II. Mao jetzt aus dem leichten Schlaf des Alters und beginnt mit seinen morgendlichen Übungen. Schadrach fragt sich, wie es um die Nierenfunktionen des alten Mannes bestellt sein mag, seinen Blutdruck, den KalziumphosphatSpiegel und die innere Sekretion. Er gesteht sich ein, daß er die Signale aus dem Körper des Vorsitzenden zu vermissen beginnt. Er vermißt die tägliche Herausforderung, die darin besteht, den unglaublich lebenskräftigen, aber zunehmend anfälligen und verwundbaren Körper des Vorsitzenden funktionsfähig zu erhalten. Möglich, daß er sogar den alten Mann selbst vermißt. Wie seltsam, dunkel und geheimnisvoll sind die menschlichen Empfindungen! Ach, die hippokratischen Zwänge!

Wie geht es dem Vorsitzenden? Er lebt und ist wohlauf, nach der Zeitung zu urteilen, die Schadrach kauft. Es ist die erste, in die er seit Antritt seiner Reise einen Blick geworfen hat, und die Seiten sind übersät mit Aufnahmen von Mangus Staatsbegräbnis, das vergangene Woche mit allem Pomp und dem Zeremoniell von Massenaufmärschen und Spektakeln aller Art begangen wurde. Da ist Dschingis Khan II. Mao selbst, wie er auf der Tribüne steht und einen Vorbeimarsch abnimmt. Da ist er wieder, im Trauerzug hinter der Lafette mit dem Sarg des Toten. Und hier winkt er den Zigtausenden zu, die sich auf dem Sukhe Bator-Platz drängen. Schadrach liest, daß Ulan Bator in Altan Mangu umbenannt werden soll, was soviel wie ›Goldener Mangu‹ bedeutet. Schadrach findet es übertrieben und eher komisch, doch mit der Zeit wird auch er sich an den neuen Namen gewöhnen; der alte, der ›Roter Held‹ bedeutet, war dem Vorsitzenden ohnedies ein Dorn im Auge, weil er einen anderen als ihn bezeichnete.

Die Berichterstattung über das Staatsbegräbnis nimmt mehrere Zeitungsseiten in Anspruch. Kein Präsident der Vereinigten Staaten hätte jemals soviel Publizität erhalten. Zudem hat das Staatsbegräbnis bereits vergangene Woche stattgefunden; haben die Zeitungen seitdem jeden Tag so ausgesehen wie diese? Wahrscheinlich. Das Staatsbegräbnis ist das große Ereignis des Monats, größer als die Nachricht von Mangus Tod, der zu schnell geschah und dem die lineare Ausdehnung in der Zeit fehlte, die wahrhaft bedeutende Nachrichten auszeichnet. Was gibt es auch sonst schon? Daß Menschen an Organzersetzung sterben? Daß der Revolutionsrat verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung und Produktionssteigerung der RonkevicImmunisierung ankündigt? Daß der Leibarzt des Vorsitzenden zur Zeit eine ziellose Reise um die Welt macht und dabei in einem Winkel seines wolligen Schädels auf Mittel und Wege sinnt, die Pläne des Vorsitzenden zur Enteignung seines Körpers zu durchkreuzen? Fotos vom Staatsbegräbnis sind viel interessanter als alles das. Soviel Aufhebens von einem Staatsbegräbnis in der Mongolei, und das in einer amerikanischen Zeitung! Schadrach denkt unwillkürlich an den letzten Präsidenten der Vereinigten Staaten zurück — einen Mann namens Williams, wie ihm scheint, oder vielleicht Richards —, und wie sein Begräbnis ausgesehen haben mag. Wahrscheinlich sieben Trauergäste und ein schlammiges Grab an einem regnerischen Tag. (Roberts? Edwards? Der Name ist ihm entfallen und nicht wiederzufinden.) In Schadrachs Kindheit gab es noch Präsidenten der Vereinigten Staaten, sogar einen oder zwei lebende Expräsidenten. Er versucht sich zu erinnern, wer zur Zeit seiner Geburt Präsident war. Ein Mann namens Ford, nicht wahr? Ja, Ford. Schadrach erinnert sich, daß die meisten Leute Ford gern hatten, weil er eine ehrliche Haut war. Vor ihm gab es einen namens Nixon, den die Leute nicht mochten, und einen namens Kennedy, der erschossen wurde, und es gab Leute wie Truman, Eisenhower, Johnson und Roosevelt. Die Führer der Nation, ihre großen Männer. Im letzten Jahr vor der Machtübernahme durch den Permanenten Revolutionsrat hatte es sieben Präsidenten gegeben, davon einige gleichzeitig. Nun, auch im alten Rom hatte es mächtige Kaiser gegeben, und große Männer wie Augustus oder Hadrian wären wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, hätten sie die Qualität und Herkunft von einigen ihrer Nachfolger gegen Ende des Kaiserreichs gekannt: die primitiven Haudegen, die Minderjährigen, die Barbarenhäuptlinge, die Wahnsinnigen und diejenigen, die nach sechs Tagen Regierungszeit von der angewiderten eigenen Palastwache erdrosselt worden waren.

San Francisco ist eine Stadt wie geschaffen zum Spazieren gehen. Die Größenordnung ist bescheiden und menschlich, so daß man ohne sonderliche Anstrengung von einem Stadtviertel zum anderen gehen kann, von den herrschaftlichen Villen der Pacific Heights zur sonnigen, an mediterrane Gestade erinnernden Marina, vom sogenannten Russenhügel zu den Hafenkais oder von der alten Mission zur Haight, begleitet von einer ständig wechselnden und immer angenehmen Abfolge urbaner Bilder. Weder Wind noch Nebel oder die Steilheit mancher Hügel ist in einer solch liebenswürdigen Umgebung ein ernsthaftes Hindernis. Und die Stadt ist lebendig. Es gibt noch immer eine Menge Läden, Restaurants und Cafehäuser. Von den zahlreichen Kirchen und Bethäusern, die im Hafenviertel von konkurrierenden Sekten unterhalten wurden, dient nur noch ein halbes Dutzend dem ursprünglichen Zweck; die übrigen sind geschlossen oder anderen Zwecken zugeführt worden. So gibt es jetzt ein großes Haus, wo man sich dem Traumtod hingeben kann, und auch die Transtemporalisten haben ein Etablissement, welches sich regen Zuspruchs erfreut. Die Menschen auf den Straßen verbreiten die Illusion von Gesundheit und guter Laune, und obgleich Schadrach weiß, daß es nur eine Illusion sein kann, läßt er sich gern von ihr täuschen. Das einzige, was ihm an San Francisco mißfällt, ist die Menge von Milizionären.

Es gibt hier mehr Uniformierte, als er jemals an irgendeinem Ort gesehen hat, mehr sogar als in der Hauptstadt. Es scheint, als sei jeder neunte Bewohner der Stadt Mitglied der Miliz. Vielleicht ist es nur eine Sinnestäuschung seines von Verfolgungswahn bedrängten Bewußtseins, oder vielleicht erfordert die ungewöhnliche Vitalität dieser Stadt ein entsprechend ungewöhnliches Maß an polizeilicher Aufsicht; jedenfalls sind die graublauen Uniformen überall. Meistens sieht man sie in Paaren, nicht selten auch in Gruppen von drei, vier oder fünf Mann. Die meisten haben diesen mechanischkalten, insektenhaften Ausdruck, der vermutlich ein Ergebnis polizeilicher Machtbefugnisse und der Gewalt über andere ist. Und alle beobachten ihn. Es kann nicht bloßer Verfolgungswahn sein. Oder? Diese stahlgrauen wachsamen Augen, hart, dumm, zielbewußt, die ihn von allen Seiten mustern, wenn er die Stadt durchwandert? Warum starren sie ihn so aufmerksam an? Was wollen sie wissen?

Bald werden sie mich verhaften, sagt er sich.

Er zweifelt nicht daran, daß er seit seiner Abreise unter Beobachtung steht. Er ist überzeugt, daß Avogadro über jede seiner Bewegungen informiert ist und dem Vorsitzenden täglich Situationsberichte vorlegt; und — ist es seine eigene wachsende Spannung, die den Anschein erweckt, oder ist es die zunehmende Ungeduld des alten Mannes? — die Intensität der Überwachung scheint zugenommen zu haben, von Nairobi bis Jerusalem, von Jerusalem bis Istanbul, von Istanbul bis Rom, zuerst ein zufällig vorbeischlendernder Milizionär, der ihm einen flüchtigen Blick zuwirft, dann unverhülltere Aufmerksamkeit, dann Doppelstreifen, die ihm folgen, die in seiner Nähe stehen bleiben, die ihn anstarren, beraten, seine Bewegungen aufzeichnen, bis sie — vielleicht in San Francisco, vielleicht erst in Peking — Anweisung aus der Hauptstadt erhalten und ihn festnehmen: Na also, Doktor Mordechai, kommen Sie freiwillig mit, und es geschieht Ihnen nichts…

Und dann, als er an der Ecke Broadway und Grant steht, eben im Begriff, sich nach rechts zu wenden und in das menschenwimmelnde Chinesenviertel hinunterzuschlendern, beschäftigt mit tausend Spekulationen über die drei Milizionäre, die gegenüber am orientalischen Lebensmittelladen beisammen stehen, ruft jemand von der anderen Seite des Broadway seinen Namen:

»Mordechai? He, Schadrach Mordechai!«

Beim Klang seines Namens erstarrt Schadrach, aufgespießt inmitten seiner Verfolgungsfantasie, wissend, daß das Spiel aus ist, daß der gefürchtete Augenblick gekommen ist.

Aber der Mann, der auf ihn zukommt, der sich mit schleppendem Schritt leicht schwankend durch den Verkehr nähert, ist kein Milizionär. Es ist ein stämmiger Mann mit schütterem Haar, müdem, gefurchtem Gesicht und ungepflegtem graumeliertem Bart, der in einem dicken Flanellhemd und einem ausgebeulten grünen Overall steckt. Bei Schadrach angelangt, legt er ihm die Hand auf den Arm, als wolle er damit nicht nur die Aufmerksamkeit des anderen auf sich lenken, sondern zugleich auch Halt suchen. Dabei schiebt er sein Gesicht in einer unverschämten Anmaßung von Intimität so nahe an Schadrachs heran, daß dieser vor Überraschung jede Abwehr vergißt. Die Augen des Mannes sind wäßrig und geschwollen: eines der Symptome von Organzersetzung. Aber er kann noch lächeln. »Doktor«, sagt er. Seine Stimme ist verquollen und einschmeichelnd. »Hallo, Doktor, wie geht’s?«

Ein Betrunkener. Wahrscheinlich nicht gefährlich, obwohl er in Schadrach ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung erzeugt.

»Ich wußte nicht, daß ich hier so berühmt bin.«

»Berühmt, was heißt berühmt? Ja, Sie sind eine verdammte Berühmtheit; wenigstens für mich. Ich sah Sie schon von weitem. Habe Sie gleich wiedererkannt. Nicht, daß Sie sich sehr verändert hätten.« Der Mann ist offensichtlich betrunken. Er hat diese schwerfällige, anbiedernde Freundlichkeit; inzwischen stützt er sich so schwer auf Schadrachs Arm, daß er praktisch daran hängt. »Sie erkennen mich wohl nicht, wie?«

»Sollte ich?«

»Kommt darauf an. Sie kannten mich mal recht gut.«

Schadrach sucht in dem fleischigen, verwüsteten Gesicht. Es kommt ihm irgendwie bekannt vor, aber er kann es nicht mit einem Namen verbinden. »Harvard«, mutmaßt er. »Es muß Harvard gewesen sein. Richtig?«

»Zwei Punkte. Wir kommen der Sache schon näher.«

»Medizinische Fakultät?«

»Wie wär’s mit der Collegestufe?«

»Das ist schwieriger. Das liegt fünfzehn, sechzehn Jahre zurück.«

»Genau. Ich glaube, wir können ruhig Du zueinander sagen. Früher taten wir es.«

Schadrach starrt den Mann mit gerunzelter Stirn an. Er kann dieses Gesicht in seinem Gedächtnis nicht finden. »Also, ich weiß wirklich nicht…«

»Zieh fünfzehn Jahre von mir ab. Und ungefähr zwanzig Kilo.

Und den Bart. Mann, du hast dich überhaupt nicht verändert! Natürlich hast du auch ein leichtes Leben. Ich weiß, was du die letzten Jahre getrieben hast.« Der Mann scharrt unsicher mit den Füßen, dann wendet er sich zur Seite, ohne Schadrachs Arm loszulassen, hustet und spuckt aus. Die Spukke ist blutig. Er grinst. »Wieder ein Stück Lunge. Ich sehe, du erkennst mich wirklich nicht. Warum auch, wir weißen Jungen sehen alle gleich aus.«

»Können — kannst du mir noch einen Tipp geben?«

»Klar. Wir waren zusammen in der Leichtathletikmannschaft.«

»Kugelstoßen!« sagt Schadrach sofort. Er fühlt förmlich, wie sein Gedächtnis die Information aus Gott weiß was für einem verborgenen Fach freigibt, und weiß, daß sie richtig ist.

»Zwei Punkte. Nun den Namen.«

»Noch nicht. Gleich habe ich ihn.« Er stellt sich diese Ruine als einen jungen Mann vor, bartlos, mit Muskeln, wo er heute Fett hat, in Turnhemd und Turnhose, die schimmernde Eisenkugel in der rechten Hand, wie er den bizarren kleinen Tanz des Kugelstoßers ausführt, der in Wahrheit ein sorgfältig ausgefeilter Bewegungsablauf zur Verstärkung der Stoßkraft ist…

»Die Leichtathletikmeisterschaften in Boston, 1995. Du gewannst den Sechzigmeterlauf in sechs Sekunden, und ich stieß die Kugel einundzwanzig Meter. Unsere Bilder waren in der Zeitung. Weißt du noch? Du warst ein höllisch guter Sprinter, Schadrach. Ich wette, du bist es immer noch. Nun, was mich angeht, ich könnte die Kugel nicht mal aufheben. Weißt du jetzt, wer ich bin?«

»Ehrenreich«, sagt Schadrach sofort. »Jim Ehrenreich.«

»Sechs Punkte! Und heute bist du der Leibarzt des großen Mannes. Du sagtest damals, du wolltest der Menschheit nützlich sein, du wolltest nicht Medizin studieren, um an das große Geld zu kommen. Und du hast dein Ziel erreicht. Im Dienst der Menschheit, erhältst unseren glorreichen Führer am Leben. Warum macht du ein so erstauntes Gesicht? Glaubst du, niemand hätte eine Ahnung, wer der Leibarzt des Vorsitzenden ist?«

»Ich bemühe mich nicht um Publizität«, sagt Schadrach.

»Mag sein. Aber wir wissen ziemlich genau über alles Bescheid, was in Ulan Bator vor sich geht. Erstens sind die Zeitungen voll davon, und zweitens war ich selbst Mitglied im Revolutionsrat von San Francisco. Bis vor einem Jahr. Wohin gehst du? Chinesenviertel? Dann können wir zusammen gehen. Dieses Herumstehen ist schlecht für meine Beine, weißt du, die Krampfadern. Ja, ich war im Revolutionsrat von Nordkalifornien, der dritte Mann in der Rangfolge, überprüfter Geheimnisträger. Jetzt bin ich nichts mehr, nicht mal Parteimitglied. Aber keine Sorge: du kriegst keinen Ärger, wenn du mit mir sprichst. Nicht mal mit den Milizleuten, die da drüben stehen und herüberschauen. Ich bin kein Paria oder was, weißt du. Bloß ein ehemaliges Mitglied des Revolutionsrates. Ich kann mit allen reden.«

»Was ist passiert?«

»Ich war dumm. Ich hatte eine Freundin, verstehst du, die war auch in der Partei und hatte eine Funktion in der Stadtorganisation von San Francisco. Nun, ihr Bruder kriegte die Fäulnis. Sie sagte zu mir, kannst du nicht ein bißchen am Computer drehen, eine größere Lieferung vom Gegenmittel anfordern und meinem Bruder helfen? Klar, sagte ich, wird gemacht, für dich tue ich alles. Ich kannte den Programmierer. So ein kleiner Trick mit den Zahlen war für ihn eine Kleinigkeit. Also fragte ich ihn, und er machte es, jedenfalls glaubte ich, daß er es machte, aber das Schwein ließ mich reinsausen und verpfiff mich. Am nächsten Tag kam einer vom Sicherheitsdienst und forderte mich auf, Rechenschaft über die Sonderzuteilung vom Gegenmittel abzulegen, die ich angefordert hatte…« Ehrenreich hebt die Schultern und zwinkert fröhlich. »Sie wurde als Anstifterin zur Organfarm geschickt. Ihr Bruder starb ein paar Jahre später. Mich stießen sie aus dem Rat und der Partei aus, aber das war alles, keine weitere Bestrafung. Ich konnte von Glück sagen. Mildernde Umstände, wegen meiner langjährigen Verdienste für die Sache der Revolution. Ich kriege sogar eine kleine Rente, genug für meine Bedürfnisse. Wenn mir danach ist, kann ich mich vollaufen lassen. Aber es war ein Jammer, Schadrach, eine Verschwendung. Sie hätten mich auch zur Organfarm schicken sollen, solange ich noch gesund und ganz war. Denn jetzt geht es mit mir zu Ende. Du hast es ja gesehen.«

»Ja.«

»Es heißt, daß du sofort die Fäulnis kriegst, wenn du das Gegenmittel immer genommen hast, und auf einmal aufhörst. Es ist, als würde die angestaute Gewalt der Krankheit auf einmal freigesetzt, so daß sie dich sofort überfällt.«

»Das habe ich auch gehört, ja«, sagt Schadrach.

»Wie lang habe ich noch? Du kannst das doch beurteilen, nicht?«

»Nicht ohne dich zu untersuchen. Vielleicht nicht mal dann. Ich bin kein Spezialist für die Organzersetzung, weißt du.«

»Nein, natürlich nicht. Nicht in Ulan Bator. Dort kannst du auf dem Gebiet keine Erfahrungen sammeln. Mich hat’s seit sechs Monaten. Vorher war mein Bart noch schwarz, und ich hatte all mein Haar. Ich werde sterben. Schadrach.«

»Wir werden alle sterben. Ausgenommen vielleicht der Vorsitzende.«

»Du weißt, was ich meine. Ich bin noch keine siebenunddreißig und muß so vor die Hunde gehen. Verfaulen und verrecken. Und warum? Weil ich blind war, weil ich dem Bruder meiner Freundin helfen wollte. Ich hatte es geschafft, war in Sicherheit, kriegte alle sechs Monate meine Spritze in den Arm…«

»Du warst wirklich dumm«, sagt ihm Schadrach, »denn nichts, was du hättest tun können, würde dem Bruder deiner Freundin geholfen haben.«

»Was?«

»Das Gegenmittel heilt nicht. Es immunisiert. Hat die Infektion einmal eingesetzt, so ist nichts mehr zu machen. Die Krankheit kann nicht rückgängig gemacht werden. Wußtest du das nicht? Ich dachte, das wüßte jeder.«

»Nein. Ich nicht.«

»Du hast deine Karriere für nichts kaputt gemacht. Hast dein Leben umsonst weggeworfen.«

»Nein, nein«, murmelt Ehrenreich. Er ist wie vor den Kopf geschlagen. »Das kann nicht wahr sein. Das glaube ich nicht.«

»Du kannst es nachlesen.«

»Nein«, sagt er. »Ich möchte, daß du mir hilfst, Schadrach. Du kannst mir das Gegenmittel verschreiben.«

»Ich sagte dir gerade…«

»Du wußtest, was ich fragen würde. Du wolltest mir nur zuvorkommen und mich abwimmeln.«

»Bitte, Jim…«

»Aber du könntest das Zeug kriegen. Wahrscheinlich hast du hundert Ampullen in deiner kleinen schwarzen Tasche. Hol’s der Teufel, Mann, du bist der Hausarzt vom Vorsitzenden! Du kannst alles erreichen. Das ist was anderes als der dritte Mann im Regionalrat. Hör zu, Mann, wir waren Kumpel, waren in derselben Mannschaft, hätten unsere Fotos in der Zeitung…«

»Es würde nichts nützen, Jim.«

»Du hast Angst, mir zu helfen.«

»Das sollte ich auch, nach dem, was du mir gerade erzählt hast. Du wurdest wegen illegaler Beschaffung und Verteilung des Gegenmittels aus dem Regionalrat und der Partei ausgestoßen, sagst du, und einen Augenblick später verlangst du, daß ich das gleiche tun soll.«

»Das ist was anderes. Du bist Hausarzt beim…«

»Trotzdem. Es hat keinen Sinn, dir das Gegenmittel zu geben, aus den Gründen, die ich gerade erklärt habe. Aber selbst, wenn es dir helfen könnte, wäre es mir nicht möglich, dir davon zu beschaffen. Ich würde nie damit durchkommen.«

»Du willst deinen Arsch nicht riskieren, das ist es. Nicht mal für einen alten Freund.«

»So ist es. Und ich lasse mir keine Schuldgefühle einreden, weil ich mich weigere, etwas zu tun, was sinnlos ist.« Alle Freundlichkeit ist aus Schadrachs Stimme gewichen. »Das Gegenmittel kann dir nicht mehr helfen. Es wäre völlig nutzlos. Mach dir das ein für allemal klar.«

»Du würdest nicht mal einen Versuch mit mir machen? Bloß als Experiment?«

»Es ist zwecklos. Absolut zwecklos.«

Nach einer langen Pause sagt Ehrenreich: »Weißt du, was ich dir wünsche, alter Kumpel? Daß du dich eines Tages in einer üblen Lage befindest, daß du mit den Fingernägeln am Rand eines Abgrunds hängst. Und daß ein alter Kumpel von dir vorbeikommt, und du schreist, hilf mir, rette mich, ich halte es nicht mehr lange aus! Und daß er dir auf die Finger tritt und weitergeht. Das wünsche ich dir. Damit du lernst, wie es ist. Das wünsche ich dir, ja.«

Schadrach zuckt die Achseln. Über einen Sterbenden kann er sich nicht ärgern. Da er nicht über seine eigenen Probleme sprechen möchte, sagt er einfach: »Wenn ich dich heilen könnte, würde ich es tun. Aber ich kann es nicht.«

»Du willst es nicht mal versuchen.«

»Es gibt nichts, was ich tun könnte. Willst du mir das glauben?«

»Ich war ganz sicher, daß, wenn mir jemand helfen kann, du derjenige sein würdest. Aber du erinnertest dich nicht mal an mich. Willst keinen Finger heben.«

»Hast du schon mal Zimmermannsarbeit gemacht, Jim?« fragt Schadrach.

»Du meinst, zur Meditation? Hat mich nie interessiert.«

»Es könnte dir helfen. Es wird deine Krankheit nicht heilen, aber es könnte dir helfen, damit zu leben. Die meditative Arbeit zeigt dir die Zusammenhänge, die du von selbst nicht ohne weiteres sehen kannst. Sie hilft dir, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.«

»Und du bist einer von denen?«

»Ich gehe hin und wieder. Immer wenn es zu dick kommt und ich nicht weiter weiß. Es gibt solche Werkstätten auch hier; ich habe unten beim Fischereihafen eine gesehen. Würde mir nichts ausmachen, mit dir zu gehen. Es würde dir gut tun.«

»In der Stockton-Street gibt es eine Bar, in die ich oft gehe. Wie wär’s, wenn wir statt dessen dahin gingen? Angenommen, du würdest mir einen ausgeben. Das würde mir besser tun.«

»Zuerst also in die Bar, dann in die Werkstatt?«

»Wir werden sehen«, sagt Ehrenreich.

Die Bar ist ein dunkles, muffig riechendes Loch. Man muß bezahlen, bevor einem eingeschenkt wird. Sie bestellen Martini. Nach dem zweiten Glas legt sich Ehrenreichs Verärgerung; er wird griesgrämig und benebelt, ist aber weniger bitter. »Tut mir leid, daß ich das vorhin sagte, Mann«, murmelt er.

»Ist schon gut.«

»Ich dachte wirklich, du wärst der Mann, der mir helfen kann.«

»Ich wollte, ich könnte es sein.«

»Ich wünsche dir nichts Schlechtes.«

»Ich bin schon in Schwierigkeiten«, sagt Schadrach. »Hänge an den Fingernägeln über dem Abgrund.« Er lacht, bestellt eine neue Runde und hebt sein Glas. »Macht nichts. Prost, Freund.«

»Prost, Mann.«

»Nach diesem gehen wir zur Werkstatt, in Ordnung?«

Ehrenreich schüttelt den Kopf. »Ich nicht. Für mich ist das nichts, weißt du. Nicht jetzt. Nicht gerade jetzt. Geh ohne mich. Dränge mich nicht, geh einfach ohne mich.«

»Ist gut«, sagt Schadrach.

Er leert sein Glas, drückt Ehrenreich zum Abschied flüchtig den Arm — der Mann hängt mit glasigem Blick an der Theke, kaum noch ansprechbar — und geht hinunter zum Fischereihafen. Aber die Zimmermannsarbeit bringt Schadrach heute keine Erleichterung. Seine Hände zittern, er kann sich nicht konzentrieren und ist unfähig, den meditativen Zustand zu erreichen. Nach einer halben Stunde geht er wieder. Auf einem Parkplatz in der Nähe sieht er einen Wagen voller Milizionäre stehen. Sie beobachten ihn noch immer. In dem Wagen ist auch ein bärtiger Mann in Zivilkleidern. Ehrenreich? Ist das möglich? Aus dieser Entfernung kann er die Gesichter nicht erkennen, aber die dicken Schultern sehen ungefähr richtig aus, und auch das dünne Haar würde passen. Schadrach wird sehr nachdenklich. Nach der Rückkehr ins Hotel packt er und fährt zum Flughafen. Stunden später ist er auf dem Weg nach Peking.

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