Am nächsten Tag verlautet, daß dreizehn Verschwörer in die Organfarmen geschafft worden seien, darunter Roger Buckmaster. Solche Gerüchte pflegen im allgemeinen zutreffend zu sein, aber Schadrach Mordechai, der sich mit der Vorstellung noch immer nicht abfinden kann, nimmt die Mühe auf sich, über seinen Datenanschluß das zentrale Personenregister anzuzapfen, um in Erfahrung zu bringen, wo Buckmaster ist. Er erhält die Auskunft, daß Buckmaster der Abteilung an überstellt worden sei. Schadrach versucht es als nächstes mit dieser Kodenummer, obwohl er sich denken kann, was wahrscheinlich dahintersteckt, und tatsächlich, Abteilung 111 ist der Euphemismus für die Organfarmen. Buckmaster ist ins menschliche Ersatzteillager eingegangen.
Spieker durch das Foramen magnum.
Zack.
Der arme Dummkopf.
Schadrach beschließt das Thema Buckmaster während seiner morgendlichen Visite beim Vorsitzenden nicht anzuschneiden. Eine Intervention zugunsten Buckmasters wäre jetzt abwegig.
»Die Verschwörung ist zerschmettert!« erklärt Dschingis Khan II. Mao triumphierend, als Schadrach eintritt. »Die Schuldigen sind bestraft worden. Die Bedrohung von Ruhe und Ordnung ist abgewendet.« Seine Augen blitzen befriedigt, der alte, zusammengeflickte Körper scheint von gesunder Energie erfüllt.
Schadrach nimmt eine Blutprobe, verabreicht Medikamente, prüft Reflexe. Der alte Mann beachtet ihn nicht mehr als einen Diener, der beauftragt ist, die Bettwäsche zu wechseln. Er beschäftigt sich mit Akten, darunter auch einigen Plänen für Monumente zu Ehren des toten Nachfolgers. Der Vorsitzende betrachtet sie mit kritischem Interesse, nickt, kritzelt Bemerkungen an die Ränder, murmelt schwer verständliche Kommentare, die für keinen anderen als für ihn selbst bestimmt sind.
»Ha! Das gefällt mir!« sagt er auf einmal. »Ein Mausoleum nach dem Vorbild griechischer Tempel, mit Statuen statt Säulen. Was halten Sie davon, Doktor?« Er schiebt die Blaupause über die Bettdecke Schadrach zu. »Natürlich Ionigylakis’ Idee. Er macht Anleihen bei den Alten und glaubt es besser zu können als sie. Wie finden Sie es, Mordechai?«
»Die Statuen stören mich«, sagt Schadrach nach längerer Betrachtung. »Ich finde, sie bringen zuviel Unruhe in die Front und die seitlichen Säulenreihen. Man kann ein Erechtheion nicht ohne weiteres ins Monumentale übertragen. Eine solche Lösung bedarf eines sehr feinen ästhetischen Empfindens. Außerdem lastet der mächtige Giebel viel zu schwer auf diesen Gestalten, meinen Sie nicht?«
Der alte Mann nimmt die Blaupause mit verdrießlicher Miene zurück und legt sie beiseite.
»Sagen Sie mir, Doktor: glauben Sie, daß Mangu große Schmerzen erduldete?«
»Er muß augenblicklich tot gewesen sein. Dürfte ich Ihren Arm haben…«
»Und hier, ja, das gefällt mir wirklich!« sagt der Vorsitzende, ohne sich um ihn zu kümmern. »Ein Alabastersarkophag, verziert mit Halbreliefs, die Szenen aus dem Leben des Toten zeigen… ja, warum nicht? — sagen Sie, Doktor, kennen Sie Chin Shi Huang Ti?«
»Wie bitte?«
»Chin Shi Huang Ti.«
»Ich fürchte, ich habe diesen Namen nie gehört.«
»Das ist eine ernste Bildungslücke, mein lieber Doktor, beinahe unverzeihlich! Chin Shi Huang Ti war der erste Herrscher Chinas, der Mann, der das ganze Land unter seiner Herrschaft einte und die Große Mauer errichtete. Wissen Sie, wie man ihn bestattete?« Der alte Mann sucht zwischen den Papieren und Akten auf seinem Bett, nimmt sich eine Mappe mit Dokumenten vor und beginnt zu unterzeichnen, während er weiterspricht. »Als der Kaiser starb, wurde er in einem Palast beigesetzt, zusammen mit Hunderten von Sklaven, Kriegern und Pferdegespannen, die ihm ins Jenseits folgten. Darauf wurde der Palast zugeschüttet und unter einem mächtigen Sandhügel begraben. Das nenne ich Größe!« Der alte Mann blickt auf, runzelt die Stirn, befeuchtet sich die Lippen. »Natürlich kann man so etwas heute nicht mehr machen. Aber es bringt mich auf Überlegungen, wie ich mein eigenes Leichenbegängnis ausrichten könnte. Ich denke, ich verdiene etwas an Größe und Aufwand Vergleichbares. Aber was?« Dschingis Khan II. Mao blickt sinnend auf seine Akten, dann verzieht er die ledernen Lippen zu einem belustigten Lächeln. »Nun, es ist noch Zeit, etwas zu planen! Zwanzig, dreißig Jahre! In der Tat, warum sollte ich jetzt an ein Grabmal für mich selbst denken! Mangu ist derjenige, den wir beerdigen. Er soll ein hübsches Mausoleum bekommen!« Er schiebt die Blaupausen zusammen und wirft sie auf den Boden neben das Bett. »Bisher haben wir einundvierzig schuldige Verschwörer in die Organfarmen geschickt, Doktor.«
»Ich hörte von dreizehn.«
»Einundvierzig, und wir sind längst noch nicht fertig. Ich habe Avogadro gesagt, daß er mindestens einhundert zusammenfangen soll. Stellen Sie sich vor, was da an Lebern auf Lager genommen wird! Die Kilometer von Gedärmen! Eine nützliche Sache, die Organfarmen. Ich hasse Verschwendung gleich welcher Art. Und mit der Auffüllung der Organvorräte verbindet sich ein wuchtiger Schlag gegen Feinde des Staates und unserer Gesellschaftsordnung. Darin liegt eine Art von Poesie, finden Sie nicht, Doktor?«
»Sollten Sie jetzt nicht ein wenig ruhen?« sagt Schadrach.
»Ruhen? Ich bin doch im Bett. Ich brauche nicht auszuruhen. Ich könnte jetzt aufstehen und zu Fuß nach Karakorum gehen. Wozu Ruhe? Sind Sie meinetwegen besorgt, Doktor?« Der Vorsitzende kräht sein Altmännerlachen. »Ich fühle mich großartig. Es ging mir nie besser. Hören Sie auf, wie eine alte Glucke zu tun. Was sind Sie doch für ein altes Weib, Doktor! Sind Sie eigentlich Christ?« Schadrach blickt verdutzt auf.
»Ein Christ. Das müssen Sie doch wissen. Betrachten Sie den Sohn Gottes als Ihren Erlöser? Was? Können Sie nicht hören? Werden die Ohren schon schlecht? Ich werde Warhaftig beauftragen, Ihnen neue Trommelfelle einzupflanzen. Ich habe Sie gefragt, ob Sie Christ sind.«
»Nun…«
»Sie wissen, was ich meine, Doktor. Vater unser, der du bist im Himmel. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken von den Toten, spricht der Herr. Ja? Kommt Ihnen das bekannt vor? Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt. Ite missa est. Na?«
»Also meine Eltern nahmen mich manchmal mit in die Kirche, aber ich kann wirklich nicht sagen, daß ich…«
»Zu dumm. Sie sind nicht gläubig?«
»Dem Buchstaben nach vielleicht, denn meine Eltern ließen mich taufen, aber…«
»Mir scheint, auf die Frage kann es nur eine Antwort geben.«
»Dann bin ich nicht gläubig.«
»Nun, geheiligt werde dein Name… Trotzdem, würden Sie gern Papst sein?«
»Wie bitte?«
»Ist das alles, was Sie sagen können? Wie bitte? Wie bitte?« Der alte Mann imitiert seine unterwürfige Haltung mit vernichtender Lächerlichkeit. Sein Puls beschleunigt sich, das Gesicht ist von Röte überzogen. »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, sagt der Herr; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Diese manische Unbeständigkeit beunruhigt Schadrach, und er läßt dem alten Mann durch Betätigung des Pedals wieder eine Dosis Pordenone 9 zukommen, damit er sich beruhigt. Aber der Greis sitzt aufrecht im Bett, fuchtelt schwächlich mit beiden Händen und krächzt: »Antworten Sie, ja oder nein, aber nicht mehr mit ›Wie bitte‹! Papst! Ich fragte Sie, möchten Sie Papst sein? Sicher haben Sie es gehört, der Papst in Rom ist gestorben, der alte Benedikt. Die Kardinale haben den Revolutionsrat um Erlaubnis ersucht, in diesem Sommer zur Wahl eines Nachfolgers zusammentreten zu dürfen. Der Revolutionsrat wurde eingeladen, einen Kandidaten seines Vertrauens zu benennen. Und wissen Sie, was ich machen werde? Ich werde ihnen den Namen meines Leibarztes schicken, meines schönen schwarzen Doktors, verstehen Sie? II Papa negro. Es soll schwarze Heilige gegeben haben, warum also nicht einen schwarzen Papst? Suchen Sie sich einen geeigneten Papstnamen. Das gehört zu den Privilegien, die Ihnen als Papst geblieben sind. Was sagen Sie zu Papst Fridolin? Eh?« Der Vorsitzende klatscht erfreut in die Hände. »Papst Fridolin! Papst Fridolin!«
Die neue Leber, denkt Schadrach. Kann es die Leber eines Verrückten gewesen sein?
Er sagt höflich: »Ich bin nicht römisch-katholisch getauft, wissen Sie.«
»Das läßt sich nachholen, lieber Doktor! Ist das so schwierig? Ein paar Wochen Unterweisung, und Sie wissen die richtigen Worte zu murmeln. Kyrie eleison. Credo in unum Deo. Om mani padme hum.«
Hinter all diesem verrückten Gerede lauert etwas Unheilverkündendes. Die abrupten Themenwechsel, die Hektik der Fantasien, die übersprudelnde Redseligkeit sind nicht dazu angetan, das Zutrauen in die geistige Stabilität des Vorsitzenden zu stärken. Wären die übrigen Mitglieder des Revolutionsrates nicht uneins und eifersüchtig aufeinander, denkt Schadrach, so hätten sie ihren Vorsitzenden längst abgesetzt. Aber sie paralysieren sich gegenseitig, und der Nutznießer davon ist dieser Greis: der mächtigste Mann der Welt.
Schadrach sagt: »Wenn ich Papst würde, wer würde dann Ihr Leibarzt sein?«
»Wieso, Sie natürlich.«
»Von Rom aus?«
»Wir würden den Sitz der Kirche nach Ulan Bator verlegen.«
»Trotzdem, ich glaube nicht, daß ich beiden Berufen gerecht werden könnte.«
»Ein junger Mann wie Sie! Natürlich könnten Sie. Wie alt sind Sie, fünfunddreißig, achtunddreißig, etwa in der Gegend? Sie würden einen großartigen Papst abgeben. Ich würde selbst katholisch, und Sie könnten mir die Beichte abnehmen. Weisen Sie das Angebot nicht zurück, Doktor. Wie die Dinge jetzt liegen, haben Sie ohnehin nicht genug zu tun. Sie brauchen Ablenkungen. Sie verbringen zuviel Zeit damit, mich zu behandeln, weil Sie Ihre Tage in Müßiggang verbringen müßten, wenn Sie es nicht täten. Sie pumpen mich mit unnötigen Medizinen voll. Warum starren Sie mich so an?«
»Ich würde es vorziehen, nicht Papst zu werden.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes.«
»In Ordnung. Dann werde ich Avogadro vorschlagen.«
»Er ist wenigstens Italiener.«
»Sie halten mich für verrückt, Doktor, geben Sie es zu.«
»Ich denke, Sie überanstrengen sich. Ich verschreibe Ihnen zwei Stunden absoluter Ruhe. Darf ich Ihnen ein Schlafmittel geben?«
»Sie dürfen nicht. Sie können gehen und sich in Karakorum amüsieren. Gonchigdorge wird Papst sein, ja, ein Mongole, was sagen Sie dazu? Das gefällt mir. Ihr da oben, heiliger alter Vater Dschingis, alter Timur, gefällt euch das? Lassen Sie mich allein, Doktor. Sie gehen mir heute auf die Nerven. Ich bin nicht verrückt, und ich überanstrenge mich nicht. Mangus Tod bekümmert mich. Ich betrauere ihn. Nichtsdestoweniger werde ich die Gelegenheit nutzen und meinen Feinden einen Denkzettel geben.
Einundvierzig in den Farmen, und das nach einem Tag! Gehen Sie nach Karakorum, dann bin ich Sie bis morgen früh los.«
Die metabolischen Pegelstände steigen auf breiter Front. Schadrach ist alarmiert. Wieder tritt er auf das Pedal. Der alte Mann ist inzwischen mit Pordenone 9 vollgepumpt, aber irgendwie läßt sein none 9 vollgepumpt, aber irgendwie läßt sein aufgeputschtes Temperament die Droge nicht zur Wirkung kommen, und er bleibt noch eine gute Weile in seiner manischen Erregtheit. Endlich sieht Schadrach die ersten Zeichen von Beruhigung. Der alte Mann legt sich zurück und schließt die Augen. Schadrach geht leise hinaus, in Sorge, aber zuversichtlich, daß das Beruhigungsmittel die Stimmungslage des Patienten für einige Stunden stabilisieren wird. Als er die Tür schließen will, hört er ein kicherndes Lachen, und der Greis ruft ihm mit fistelnder Stimme nach: »Oder König von England! Was sagen Sie dazu? Wir führen das Königtum wieder ein, und Sie residieren in Windsor!«