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»Wenn Sie es wünschen, werde ich Sie mit unserem Brauch bekannt machen«, sagt der Transtemporalist mit tiefer, undeutlicher Stimme. Er ist ein Mongole mit unbewegtem, monolitisch erscheinendem Gesicht, das nur aus Nase und Backenknochen zu bestehen scheint; die Augen sind in den Schatten ihrer Höhlen verborgen.

»Nicht nötig«, antwortet Mordechai. »Ich bin schon hier gewesen.«

»Ja, natürlich.« Der Mann zeigt ein kaum merkliches Lächeln. »Ich war mir dessen nicht sicher, Doktor Mordechai.«

Schadrach ist es gewohnt, erkannt zu werden. Die Mongolei wimmelt von Fremden, aber es sind sehr wenige Schwarze darunter. Darum ist er kaum überrascht, als er seinen Namen aus dem Mund des Mongolen hört. Gleichwohl hätte er hier in Karakorum mehr Anonymität begrüßt. Der Transtemporalist kniet nieder und bedeutet ihm, das gleiche zu tun. Sie sind in einem kleinen, von Teppichen, die im Innern des großen, halbdunklen Zelts über gespannte Seile gehängt sind, eingefaßten Abteil. Zwischen ihnen flackert das Licht einer dicken gelben Kerze, die in einem zinnernen Halter auf dem irdenen Boden steht, und schickt eine Spirale schwarzen, säuerlich riechenden Rauchs zum ansteigenden Zeltdach empor. Andere, urtümliche Gerüche dringen Schadrach in die Nase, der durchdringende Geruch der zottigen Ziegenfelle, aus denen die Außenwand besteht, und der stechende, bittere Gestank eines mit Kuh- oder Kameldung genährten Feuers irgendwo in seiner Nähe. Der Boden ist mit Sägemehl bestreut, ein Luxus in diesem Land weniger Bäume. Der Transtemporalist beschäftigt sich mit der Chemie seines Berufs und mischt Flüssigkeiten in einem großen Zinnbecher, eine ölige blaue und eine dünne rosafarbene, die er mit einem elfenbeinernen Stab umrührt, um schließlich Prisen eines grünen und eines gelblichen Pulvers hinzuzufügen. Schadrach argwöhnt, daß das meiste davon Hokuspokus ist, daß nur eine dieser Substanzen die wahre Droge ist, während die anderen bloße Dekoration sind. Aber Rituale gleich welcher Art verlangen nach Geheimnis und Farbe, und diese ernsten, herben Priester ihres Gewerbes, die in einer uralten schamanistischen Tradition wurzeln und von sich behaupten, in allen Bereichen des Raumes und der Zeit zu Hause zu sein, müssen ihre Effekte nach bestem Vermögen erhöhen. Schadrach fragt sich, wie weit Nicki in diesen Augenblicken von ihm entfernt ist. Sie wurden am Eingang zum Zelt getrennt und jeder von schweigsamen Türhütern durch das Halbdunkel zu einem anderen Abteil geführt. Die Reise in Zeit und Raum muß jeder allein antreten.

Der Mongole beschließt seine Vorbereitungen, hebt den Zinnbecher behutsam mit beiden Händen empor und reicht ihn über die zuckende Kerzenflamme hinweg Schadrach Mordechai.

»Trinken Sie«, sagt er, und Schadrach, der sich ein wenig wie Tristan vorkommt, trinkt. Er gibt den Becher zurück, bleibt wie sein Gegenüber auf den Fersen niedergekauert sitzen und wartet.

»Geben Sie mir Ihre Hände«, murmelt der Transtemporalist.

Schadrach streckt sie ihm hin, die Handflächen nach oben. Der Mongole bedeckt sie mit den breiten, kurzfingrigen Händen und beginnt irgendwelche Gebete oder Zaubersprüche zu murmeln, die Schadrach unverständlich bleiben. Dieser beginnt nun ein leichtes Schwindelgefühl zu verspüren. Dies wird seine dritte transtemporale Erfahrung sein, die erste in fast in einem Jahr. Einmal besuchte er in der Verkleidung eines schwarzen Prinzen aus Äthiopien den Hof Balduins von Flandern, des Kreuzfahrerkönigs von Jerusalem, ein christlicher Mohr als Teilnehmer an den höfischen, großtuerischen Festlichkeiten der Kreuzritter; und einmal fand er sich auf einer Steinpyramide in Mexiko, in weiße Gewänder gehüllt, um mit einem Obsidianmesser die Brust eines rücklings über den Opferaltar Huitzilopochtlis gezogenen, an Armen und Beinen festgehaltenen und in Todesangst sich windenden Spaniers zu öffnen und mit der anderen Hand das lebende Herz herauszureißen. Und jetzt? Er kann sich Zeit und Ort seines Aufenthalts nicht aussuchen. Der Transtemporalist wählt sie für ihn aus, geleitet von unergründlichen Prinzipien oder Launen, gibt ihm mit ein paar Worten, einer geschickten Suggestion die Richtung an, wenn er durch die Droge von seiner Verankerung losgetrennt wird und in die lebende Vergangenheit davontreibt. Seine eigene Fantasie und sein historisches Wissen, vielleicht verbunden mit geflüsterten Stichworten vom Transtemporalisten, während sein von der Droge benebelter Körper am Boden des Zeltabteils liegt, werden den Rest besorgen. Schadrach schwankt jetzt. Alles dreht sich vor seinen Augen. Der Transtemporalist beugt sich näher und spricht, und Schadrach strengt sich an, ist bestrebt, die Worte zu verstehen, er muß hören, was der Mann sagt…

»Es ist die Nacht des Cotopaxi«, raunt ihm der Mongole zu. »Eine rote Sonne, gelber Himmel.«

Das Zeltabteil verschwindet, und Schadrach ist allein.

Wo ist er? In einer Stadt. Nicht in Karakorum. Dieser Ort ist ihm unvertraut, subtropisch, mit schmalen Straßen und Gassen, die sich steile Hügel hinaufziehen, schmiedeeiserne Gitter an Türen und Fenstern, rotblühende Rankengewächse, kühle, klare Luft, Springbrunnen auf geräumigen Plätzen, weißgetünchte Häuser mit Arkadengängen und schmiedeeisernen Baikonen.

Eine lateinamerikanische Stadt, in der die Kolonialzeit fortzuleben scheint, geschäftiges Leben und Treiben.

— Barato aqui!

— Tengo un hambre canina.

Bellende Hunde, Fahrradgeklingel, die Huptöne einzelner Taxis, Lastwagen und Busse, Kindergeschrei, die durchdringenden Rufe von Straßenverkäufern. Frauen rösten kleine Fleischstücke über offenen Holzkohlenfeuern auf den gepflasterten Straßen. Lärmende Geschäftigkeit, und doch keine Hektik. Wo gibt es eine Stadt von so kerniger, natürlich anmutender Lebenskraft? Wo sind die sonst allgegenwärtigen Mahnmale der Zivilisation, die kaum noch bewohnbaren, von Nässe und Verwahrlosung dunkelgestreiften Betongebirge mit den Schutt- und Unrathaufen in den verödeten Durchfahrten? Warum zeigt niemand Anzeichen der Organzersetzung? Die Leute hier sind alle so gesund, sogar die Bettler und die Armen. Eine solche Stadt gibt es nicht. Nicht mehr. Ah. Natürlich. Er träumt eine Stadt, die nicht mehr existiert. Dies ist eine Stadt der Vergangenheit.

— Le telefoneare uno de estos dias.

— Hasta la semana que viene.

Er hat nie Spanisch gesprochen. Und doch versteht er die Worte, als hätte er seit Jahren nichts anderes gehört.

— Donde esta el telefono?

— Vaya de prisa! Tenga cuidado!

— Maricön!

— No es verdad.

Er steht in der Mitte einer belebten Straße, die sich vor ihm einen breiten Hang hinabzieht, und ist vom Panorama überwältigt. Berge! Sie rahmen die Stadt ein, gewaltige, schneebedeckte Kegel, die in der Mittagssonne gleißen. Er hat zu lange auf der mongolischen Hochebene gelebt; Berge wie diese sind ihm unvertraut und fremd geworden. In ehrfürchtiger Bewunderung blickt er zu den gewaltigen, vergletscherten Gipfeln auf, die so riesenhaft sind, daß sie ihm kopflastig erscheinen, im Begriff, herabzustürzen und die geschäftige alte Stadt unter sich zu begraben. Und erhebt sich dort nicht eine Rauchwolke über dem mächtigsten der umgebenden Berge? Er vermag es nicht mit Gewißheit zu sagen. Ist es aus einer so weiten Entfernung — wenigstens fünfzig Kilometer — möglich, eine Rauchwolke zu sehen? Doch, ja. Es ist zweifellos Rauch. Er erinnert sich der letzten Worte, die er gehört hat, ehe der Schwindel ihn übermannte: »Es ist die Nacht des Cotopaxi. Eine rote Sonne, gelber Himmel.« Der mächtige Vulkan — ist es das? Ein gigantischer Kegel, eingehüllt in Schnee und Rauch, die Flanken von Wolken umgrenzt, der Gipfel in benommen machender Majestät vom dunkelnden Himmel abgehoben. Er hat nie einen solchen Berg gesehen.

Er hält einen Jungen an, der an ihm vorbeirennt.

— Por favor.

Der Junge starrt ihn mit großen, erschrockenen Augen an, bleibt aber stehen.

— Si, senor?

— Como se llama esta montana?

Schadrach zeigt auf den kolossalen, schneebedeckten Vulkan.

Der Junge lächelt und scheint beruhigt. Seine Angst ist verflogen; offenbar befriedigt ihn die Vorstellung, etwas zu wissen, was dieser große, dunkelhäutige Fremde nicht weiß. Er sagt:

— Cotopaxi.

Cotopaxi. Natürlich. Der Transtemporalist hat ihm einen Parkettplatz bei der großen Katastrophe gegeben. Dann ist dies die Stadt Quito in Ekuador, und der mächtige Bergkegel im Südosten, von dem die Rauchfahne emporsteigt, ist der Cotopaxi, höchster aktiver Vulkan der Erde, und dieser Tag muß der 19. August 1991 sein, ein Tag, an den sich jeder erinnert, und Schadrach Mordechai weiß, daß die Erde noch vor Sonnenuntergang erschüttert werden wird, wie sie in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals erschüttert worden ist, und daß mit diesem Ereignis ein Zeitalter enden und eine Epoche der Umwälzungen über die Zivilisation hereinbrechen wird. Und er ist der einzige Mensch auf Erden, der das weiß, und hier steht er zu Füßen des großen Cotopaxi und kann nichts tun. Nichts. Nichts als zusehen und zittern und vielleicht mit der halben Million Menschen zugrunde gehen, die umkommen wird, ehe die Sonne im Pazifik versinkt. Kann man sterben, fragt er sich, während man auf diese Weise reist? Ist es nicht bloß ein Traum, und können Träume töten? Kann er unversehrt bleiben, wenn er von einer Eruption träumt, wenn er träumt, daß Tonnen von Lavabrokken und Bimsstein auf seinen zerschmetterten Körper herabregnen?

Der Junge steht immer noch da und starrt ihn an.

— Gracias, amigo.

— De nada, Senor.

Der Junge wartet, vielleicht auf eine Münze, aber Schadrach hat nichts, was er ihm geben könnte, und nach einer kleinen Weile läuft der Junge fort, um nach zehn Schritten innezuhalten, sich umzusehen und die Zunge auszustrecken. Dann rennt er weiter und verschwindet in einer Seitengasse.

Und Augenblicke später grollt und rumpelt es in den Eingeweiden der Erde, und aus einem sekundären Schlot in der Flanke des Vulkans schießt eine weißlichgraue Säule von wenigstens hundert Metern Stärke hoch in die Luft.

In der Stadt kommt alle Bewegung zum Stillstand. Alles steht wie erstarrt; alle Blicke richten sich auf den schneebedeckten Giganten. Die Rauchsäule der Eruption, die mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Schlot schießt, überragt den Gipfel des Cotopaxi bereits um wenigstens tausend Meter, beginnt sich jetzt auszubreiten und den Himmel wie ein breiter Federbusch auszufüllen. Wieder hört Schadrach ein Geräusch, ein tiefes Dröhnen und Rumpeln, als rolle eine Untergrundbahn durch die Tiefen der Stadt, aber eine Bahn für Riesen, eine titanische Untergrundbahn, die Laternen zum Schwanken bringt und Blumentöpfe von Baikonen wirft. Die von weißem Dampf durchschossene Wolke verfärbt sich grauschwarz, mit rötlichen und schwefelgelben Säumen.

— Ai! El fin del mundo!

— Madre de Dios! La montana!

— Ayuda! Ayuda!

Und die Flucht aus Quito beginnt. Noch ist nichts geschehen, nichts als das unheimliche Rumpeln und Dröhnen im Untergrund und ein leichtes Schwanken des Erdbodens, wenn man vom dumpfen Brüllen und Donnern des Cotopaxi absieht, über dem eine ungeheure und stetig weiterwachsende grauschwarze Wolke steht. Doch die Bewohner der Stadt verlassen ihre Häuser, drängen auf die Straßen und Plätze und beginnen aus der Stadt zu ziehen — nordwärts, fort von der schrecklichen, mit rot und gelb durchschossenen Wolke, die sich über das Land auszubreiten beginnt, fort von dem Tod, der bald über Quito kommen wird. Die meisten haben alles zurückgelassen, tragen nur ein Bündel Kleider oder vielleicht ein Kruzifix bei sich. Es sind Menschen, die sich mit Vulkanen auskennen, und sie bleiben nicht, um sich das Schauspiel anzusehen. Schadrach Mordechai wird vom Menschenstrom mitgerissen. Er überragt die meist untersetzten Gestalten der Mestizen und Indios, die ihm mißtrauische, aber auch seltsam erwartungsvolle Blicke zuwerfen, als hielten sie ihn für einen Magier oder eine schwarze Gottheit, gekommen, sie in Sicherheit zu führen. Aber er führt niemanden. Er folgt dem Zug der Flüchtlinge, ist hilflos wie alle anderen. Manchmal, wenn der Druck der Nachdrängenden es ihm erlaubt, macht er halt und blickt zurück. Der Vulkan speit jetzt Bimsstein und Asche, pulveriges Material, das die Luft gelb färbt und die Sonne zu einem stumpfen Orangerot verblassen läßt. Wieder rumpelt und grollt es tief im Erdinnern. Die ganze Stadt erbebt; Dachziegel und erste Mauerbrocken prasseln auf die Straßen herab. Automobile mit gutgekleideten Bürgern der Oberklassen kriechen unablässig hupend durch die Straßen, außerstande, im Strom der Fußgänger voranzukommen; es kommt zu Auseinandersetzungen, Geschrei, Tätlichkeiten. Wagen werden umgeworfen, einer geht in Flammen auf. Die nachfolgenden Fahrzeuge kommen nun nicht mehr weiter und müssen von ihren Passagieren aufgegeben werden. Schadrach marschiert mechanisch im Zug der Flüchtlinge dahin. Die Luft ist diesig geworden und hat einen beißenden, bitteren Geruch, der einen husten macht. Schadrach ist noch nicht aus der Stadt, als es Asche zu regnen beginnt, und als er die Vorstadt erreicht, liegt der schwarze Schnee bereits knöcheltief auf den Straßen. In der Ferne dauert das dumpfe Donnern der Eruptionen an, und die Leute mühen sich durch den Aschenregen weiter, so gut sie können, halten sich Kopftücher und Lappen vor Mund und Nase. Schadrach weiß, was bald geschehen wird. Mit der unheimlichen, zweischneidigen Sicht des Zeitreisenden blickt er vorwärts und rückwärts zugleich, erinnert sich der Zukunft. Nicht lange, und eine noch in tausend Kilometern Entfernung gehörte Explosion wird den Cotopaxi zerreißen. Erdbeben, Aschenregen und erstickende Gaswolken werden weite Landstriche verwüsten. Er hat diese Nacht schon einmal durchlebt, aber nicht mit dem Wissen, das er jetzt besitzt. Irgendwo in weiter Ferne ist in diesem Augenblick der fünfzehnjährige Schadrach, ganz Arme und Beine und große Augen, macht zu Hause in Philadelphia seine Hausaufgaben und träumt vom Medizinstudium. Er wird in den Abendnachrichten von der Katastrophe erfahren und sich darunter nicht allzu viel vorstellen können, aber am nächsten Morgen wird er den Himmel gelbgetönt sehen, mit einer stumpfroten, bedrohlich wirkenden Sonne, und dann wird tagelang der feine Staub fallen und den Sommertagen frühe Dämmerung bringen. Und aus Südamerika werden immer neue Schreckensnachrichten über die furchtbare Eruption und den Verlust von Hunderttausenden von Menschenleben bekannt. Was jener junge Schadrach nicht weiß, was bis auf den Fremden, der im Aschenregen durch die nördlichen Vororte von Quito stapft, niemand weiß, ist, daß die Explosion des Cotopaxi mehr als ein Naturereignis darstellt: sie signalisiert eine politische Apokalypse, den endgültigen Zusammenbruch der versteinerten alten Herr Schafts Strukturen des Subkontinents, und von hier ausgehend, in anderen Teilen der Welt.

— El fin del mundo!

Ja. Das Ende einer Welt.

Und nun kommt die Explosion.

Sie ereignet sich in Etappen. Zuerst vernimmt man fünf deutlich unterschiedene, dumpf krachende Explosionen wie von Geschützfeuer; darauf folgt eine sekundenlange völlige Stille, während der sogar das anhaltende Grollen und Rumoren im Erdinnern verstummt; dann erfolgt ein heftiger Erdstoß, begleitet von einem einzigen monströsen Schlag, dem lautesten Geräusch, das Schadrach je gehört hat, einem ohrenbetäubenden Donnerschlag, der Fenster eindrückt und Mauern spaltet; dann abermals Stille; dann wieder das Grollen und Rumoren; dann neuerliches Geschützfeuer, eine Folge rascher, harter Schläge; darauf wieder Stille, eine unheilverkündende, drohende, nervenaufreibende Stille; und schließlich das Geräusch aller Geräusche, viel lauter noch als das erste, eine nichtendenwollende, furchtbare Geräuschlawine, die Menschen zu Boden wirft, ihnen die Trommelfelle sprengt und die Augen aus den Höhlen treibt, ein Ton, der wie der Schrei eines zornigen Gottes über das Land hinrollt. Und der Himmel wird schwarz, und rotes Feuer ergießt sich aus dem Berg, der nun in einen niedrigen, breiten Krater verwandelt scheint. Schadrach sieht Brocken des verschwundenen Gipfels herabregnen, die aus fünfzig Kilometern Entfernung klar vor dem brennenden Horizont zu erkennen sind und die Abmessungen großer Gebäude haben müssen. Der vollkommene Kegel, einst so anmutig wie der Fudschijama, ist eine Ruine, trübe sichtbar durch Aschenwolken und Bimssteinregen, ein unregelmäßiger, furchterregender Stumpf. Die Luft wird heißer, bis sie zu brennen scheint. Die Flüchtlinge schleppen sich weiter, einer Rettung entgegen, die sie nie erreichen werden. Die Luft ist kaum noch zu atmen; die Menschen erbrechen, keuchen und husten, sie würgen, fassen sich an die Kehlen, brechen zusammen.

Ayuda! Ayuda!

Aber es gibt keine Hilfe. Sie sterben hier am Nachmittag dieses Tages, der so strahlend begonnen hatte.

Schadrach, verzweifelt in einer Atmosphäre keuchend, die zur Hälfte Asche und zur anderen Hälfte Kohlenmonoxid ist, kann sich selbst kaum noch auf den Beinen halten. Als neben ihm eine junge Frau hinstürzt, die ein kleines Kind auf dem Rücken trägt, erinnert er sich, daß er Arzt ist, und kniet neben ihr nieder. Das Gesicht der Frau ist verzerrt und vom Sauerstoffmangel violett verfärbt.

— Soy medico.

— Gracias, senor. Gracias.

Sie keucht die Worte, daß er sie kaum versteht. Sie blickt in verzweifelt aufflackernder Hoffnung zu ihm auf, erwartet Hilfe, Medizin, einen Trunk Wasser, irgend etwas. Wie kann er ihr helfen? Er ist Arzt, ja, aber kann er die Sterbende lehren, vergiftete Luft zu atmen? Er sieht, daß das Kleinkind auf ihrem Rücken bereits tot ist. Sie würgt und windet sich, dann geht ein Schauer durch ihren Körper, und plötzlich gähnt sie unerwartet. Sie scheint in seinen Armen einzuschlafen. Aber es ist eine tödliche Schläfrigkeit, aus der sie nicht wieder erwachen wird. Er läßt sie sanft zu Boden gleiten, erhebt sich taumelnd, das Taschentuch vor Mund und Nase gedrückt, aber es hat keinen Zweck. Er strauchelt und fällt wieder und kommt nicht mehr hoch, liegt inmitten schluchzender, würgender, stöhnender Opfer, selbst eines von ihnen.

So also war der Tag der Katastrophe. Dunkelheit und Asche, Flucht und Tod. Der freche kleine Junge, die Frauen, die auf den Straßen Fleisch geröstet hatten, die Ladenbesitzer, die Taxifahrer und Polizisten, die reichen Leute aus den Villenvororten, der hochgewachsene, schwarzhäutige Fremde, alle sterben jetzt gemeinsam. Die Stunden der angstvollen Flucht waren umsonst, und Cotopaxis Aschenauswurf füllt den Himmel, taucht die Welt in blutrotes Zwielicht. Weltuntergang, ja. Schadrach krallt nach der Asche, die ihm in den nach Luft schnappenden Mund gedrungen ist. Mit halbem Bewußtsein nimmt er eine weitere Explosion wahr, eine geringere — denn was könnte jenem, letzten, unvorstellbarem, apokalyptischem Ausbruch gleichkommen? — dann zwei oder drei weitere, und er weiß, daß die Explosionen mit abnehmender Stärke noch viele Stunden andauern werden. Heute nacht wird in Ekuador niemand schlafen; der Donner vom Cotopaxi wird von Patagonien bis Mexiko widerhallen und über beide Ozeane hinausreichen. Der neue Tag mit seinem stauberfüllten graugelben Himmel aber wird bereits einer neuen Ära angehören, in der eine alte Welt zu Grabe getragen wird und eine neue entsteht. Aufruhr und Revolution in Brasilien, Argentinien und Kolumbien, von dort übergreifend nach Mittelamerika, Afrika, Indonesien: ein Blutbad liefert das Stichwort für das nächste, und hinter allem steht, bewußt oder unbewußt wahrgenommen, der Cotopaxi als Fanal und Symbol für den Umsturz des Bestehenden. Die wirtschaftlichen Krisen der siebziger Jahre, die Knappheit und die Repressionen der verarmenden achtziger Jahre mußten unausweichlich zum weltweiten Chaos, zur globalen Revolution einer langen Walpurgisnacht führen; die gewaltige Eruption des Cotopaxi wurde auf eine unberechenbare Art und Weise zum auslösenden Signal.

So also war es am Abend der Katastrophe. Die zornigen Götter erschütterten die Welt und brachten Tod und Zerstörung über Gerechte und Ungerechte. Schadrach läßt den Kopf sinken, schließt die Augen und ergibt sich der weichen, warmen Flugasche, die sich friedevoll auf ihn herabsenkt. Dies ist die Nacht des Todes, ja, das Ende einer Welt, der Posaunenschall des Jüngsten Gerichts, das Erbrechen des siebten Siegels, und er ist ein Teil davon gewesen, er hat von der Asche des Vulkans gekostet. Und nun schläft er.

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