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27. Mai 2012

Unruhige Träume. Der Mund voll von Spinnweben, die Finger schlagen Wurzeln. Vorahnungen des Todes. Nähert sich das Ende? Krankhafte Gedanken? Aufzuwachen und nicht dazusein. Das gewaltige Hallen der Stille. Es quält mich. Zu erwachen und nicht mehr dazusein. Anderswo zu sein. Oder nirgendwo zu sein, das große schwarze Loch. Je länger man lebt, desto verzweifelter klammert man sich ans Leben: das Leben wird zu einer Gewohnheit, die man sich schwer abgewöhnt. Wie leer würde die Welt sein, wenn ich sie verließe. Paff, kein Vorsitzender mehr. Welch ein Vakuum! Aus allen Weltteilen würden die Winde hereinströmen, um meinen Platz auszufüllen. Von Sturmesstärke.

Ach ja, ich denke gern über den Tod nach.

Sterben kann lehrreich sein. Das Sterben kann einem sehr viel über sein wahres Selbst sagen. Ich denke mir, daß Sterben sogar angenehm sein kann. Sterben als Heilserfahrung, ja: der zerschlagene und kranke alte Körper, der mit Freuden seinen Geist aufgibt! Ich kann mir denken, daß es für manche Leute die größte Ekstase ist, die sie je gekannt haben.

Aber ach! Ich fürchte es.

Wie werde ich sterben, von welcher Art wird mein Tod sein? Ich glaube, am meisten von allen fürchte ich Meuchelmörder. Die Welt der Lebenden verlassen, ist eine Sache, es ist natürlich und unausweichlich; aus ihr vertrieben zu werden, ist etwas völlig anderes, eine Beleidigung des Selbst. Ich wäre nicht imstande, das Bewußtsein einer solchen Vertreibung zu ertragen. Oder das Gefühl des Übergangs in den Augenblicken vor dem Tode, die Konfrontation mit dem Mörder, die Erkenntnis des Todes, wenn er mit dem Messer oder der Schußwaffe auf mich zukommt. Möge es eine Bombe sein, wenn es kommt. Möge es ein sofort wirkendes Gift in meiner Suppe sein. Aber es wird keine Attentäter geben. Nur noch selten verlasse ich den Palast, und hier bin ich zu gut bewacht. Der Fehler war, daß Mangu nicht den gleichen Schutz genoß. Andererseits war er nicht ich, nur der Stellvertreter; sein Verlust war für ihn nicht, was mein Verlust für mich sein wird. Der Gedanke an das Sterben ist mir fremd. Mein Geist ist zu groß, ich nehme im Bewußtsein der Menschheit einen zu großen Platz ein; die Subtraktion meiner Person von der Welt ist mehr, als die Welt hinnehmen kann. Ganz gewiß mehr, als ich hinnehmen kann.

Aber warum all diese krankhaften Gedanken? Seltsam, bedenkt man, wie gesund ich mich fühle. Eine gewaltige Aufwallung von Vitalität seit der Aortaverpflanzung. Während andere von chirurgischen Eingriffen geschwächt werden, gedeihe ich daran. Ich sollte mich jede Woche operieren lassen. Ja. Doch trotz dieses Wohlbefindens spielt der Tod mit meiner Seele, wenn ich schlafe. Manchmal denke ich, daß das Spiel mit Todesfantasien eine Unterhaltung sei, ein köstlich-schauriger Sport. Wir brauchen Spannung in unserem Leben, um dieses unerträgliche Vorrücken der Existenz zu Verfall und Tod zu ertragen. Tag folgt auf Tag, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang, Dunkelheit: es kann einen erdrücken, es kann einen zur Verzweiflung treiben. Daher die freudige Erleichterung, wenn man am Ende aller Wahrnehmung angelangt ist, das heißt, am Ende aller Dinge. Es kann Freude bereiten, über das Traurige nachzudenken. Besonders aber nicht ausschließlich dann, wenn es andere betrifft. Welch eine große Rolle spielt im Leben der Menschen das Vergnügen, das aus der Betrachtung fremden Unglücks bezogen wird! Man geht nicht fehl, wenn man das verflossene traurige Jahrhundert das goldene Zeitalter der Schadenfreude nennt. Wir haben die düstere Ekstase des Lebens am Ende einer Ära kennen gelernt, die rauschhafte Begeisterung an Krieg, Untergang und Zusammenbruch. Die Beschießung der Kathedralen 1914, die vielen hunderttausend Soldaten, die vor Verdun und im Schlamm von Flandern starben, die Massaker der russischen Revolution, die erste große Wirtschaftskrise, der darauffolgende Krieg, Auschwitz, Hiroshima, die Zeit der Attentate und politischen Morde, der Befreiungskriege und der sozialen Umwälzungen, der bakteriologische Krieg, die Organzersetzung… So viel gibt es, worüber man sich die Augen ausweinen möchte, obgleich es aus der Sicht des Überlebenden immer andere waren, die mehr gelitten haben als man selbst, was die Tränen ein wenig versüßt. Neun dunkle Jahrzehnte, und ich habe sie alle durchlebt und warum nicht Distanz gewinnen und das Prinzip nach innen kehren? Warum nicht über den Tod Dschingis Khans II. Mao weinen? Trauern ist genußreicher als Sterben. Laßt mich in der Fantasie mein eigenes beklagenswertes Dahinscheiden genießen! Wie sehr bedauere ich meinen Hingang! Ich bin mein eigener zutiefst betroffener Trauergast. Ich liebe diese Fantasien; sie erlauben mir eine außerordentlich intensive Form des Selbstmitleids. Aber sterbe ich tatsächlich? Ich rufe meinen Leibarzt. Er erläutert mir meine morgendlichen Ablesungen. Alles normal, alles gesund. Ich bin ein Phänomen. Ich werde heute nicht aus dieser Welt gehen. Lang lebe der Vorsitzende! Ein langes Leben dem Vater der Revolution!


Bela Horthy nimmt ihn auf dem Korridor beiseite und sagt mit gedämpfter Stimme: »Cifolia sagt mir, daß Sie bleiben wollen.«

»Einstweilen«, antwortet Schadrach. »Ich muß denken.«

»Denken ist nützlich, ja. Aber warum das Denken in Ulan Bator besorgen?«

»Ich lebe nun mal hier.«

»Einstweilen«, sagt Horthy. Er wendet sich Schadrach voll zu und blickt ihm offen in die Augen. Seine vorquellenden Augen blicken besorgt. Er muß zu den Verschwörern gehören, denkt Schadrach, und die Erkenntnis überrascht ihn kaum noch. »Laufen Sie, Mordechai«, raunt Horthy ihm zu.

»Was nützt es? Man wird mich fangen.«

»Nur wenn Sie leichtfertig sind. Buckmaster ist nach wie vor auf freiem Fuß.«

»Haben Sie keine Angst, so etwas zu sagen? Wo hier hinter jeder Tapete…«

»Abhörwanzen stecken können?«

»Ja.«

»Alles wird überwacht. Alles wird auf Band genommen. Na und? Wer kann alle die Bänder abhören? Der Sicherheitsdienst geht in der Masse des Materials unter. Er beschränkt sich seit langem auf Stichproben.« Horthy zwinkert ihm zu. »Gehen Sie. Wie Buckmaster gegangen ist.«

»Es wäre nutzlos.«

»Der Meinung bin ich nicht. Ich rate Ihnen, davonzulaufen. Ich rate es Ihnen ernstlich. Sie müssen wissen, manche Leute denken besser, wenn sie auf der Flucht sind.«

Horthy lächelt. Er drückt ihm die Hand, ehe er sich zum Gehen wendet.

Als er sich entfernt, ruft Schadrach ihm nach: »Sagen Sie, gehören Sie auch dazu?«

»Wozu?« fragt Horthy zurück und lacht.


28. Mai 2012

Weitere dunkle Träume. Ich ging hinunter zum Platz Sukhe Bators und fand, daß man in der Mitte eine Statue von mir errichtet hatte, eine kolossale Bronzestatue, die bereits grüne Patina ansetzte. Meine Arme waren wie die eines segnenden Priesters ausgebreitet. Mein Gesicht sah schrecklich aus: runzlig, eingefallen, grauenhaft, das Gesicht eines Zweihundertjährigen. Und die Statue hatte keine Beine. Sie endete bei den Hüften, schwebte frei in der Luft, als ob die Beine einmal dagewesen, dann aber weggehauen worden wären. Die Statue aber hatte ihre ursprüngliche Höhe behalten. Ein alter Arbeiter fegte verwelkte Blumen zusammen, und ich sagte zu ihm: »Ist der Vorsitzende tot?« und er sagte: »Tot und fort, die Stücke wurden nach Dalan-Dsadagad zurückgeschickt. Gut, daß wir sie los sind.« Die Stücke. Man hatte die Stücke zurückgeschickt. Das gefällt mir nicht. In meinem Kopf spukt dieser Tage zuviel Tod. Das Spiel hat seinen Reiz verloren. Ich muß etwas dagegen tun.

Nach dem Frühstück beschloß ich einen Inspektionsgang durch die Laboratorien zu machen, wo meine Forschungsprojekte bearbeitet werden. Wenn einen der Gedanke an den Tod drückt, tut es gut, jene zu besuchen, die einem das Leben verlängern helfen.

Ein kluger Einfall. Fühlte mich sofort besser. Der erste persönliche Besuch in Monaten. Sollte öfter hingehen.

Der erste Besuch galt Phönix. Die Leiterin Sarafrazi ist ein hübsches, zierliches Frauenzimmer, wunderbare Augen, ein schönes Gesicht. Mein unerwarteter Anblick erschreckte sie. Sie zeigte mir ihre Affen, ihre blubbernden Chemikalienbehälter, die eingelegten Gehirne. Optimistische Prognosen, abgegeben mit gepreßter, kehliger Stimme. Sie wird mich wieder jung machen, behauptet sie. Bin dessen nicht so sicher, sagte ihr aber, sie solle fleißig dranbleiben. Sie war vor Ehrfurcht wie gelähmt. Als ich ging, dachte ich, sie werde gleich auf die Knie fallen.

Von dort direkt zum Talos-Laboratorium. Kam auch hier unangemeldet, aber die Lindman ist eine eiskalte Person. Nach dem letzten Klatsch soll sie Mordechais neue Geliebte sein. Kann nicht verstehen, was er an ihr findet. Etwas an ihrem Mund gefällt mir nicht, es verdirbt ihr Gesicht. Sieht aus wie der Mund irgendeines wilden Nagetiers. Sie hat einen mechanischen Vorsitzenden mit lebensechter Plastikhaut in ihrem Labor stehen, sehr groß und dem äußeren Anschein nach nicht übel gemacht, aber unterhalb der Mitte noch unfertig, einfach ein Gerüst ohne Beine. Ohne Beine: Das Denkmal des Vorsitzenden. »Machen Sie die Beine fertig«, sagte ich zu ihr, worauf sie mir einen sonderbaren Blick zuwarf. Dann sagte sie, die Beine kämen als letztes, wichtiger sei es, die inneren Steuerkreise fertig zu bauen. Die Frau weiß, was sie will, läßt sich von mir keinen Unsinn einreden. Auch dann nicht, wenn ich Vorsitzender des Revolutionsrates bin. Ihr Roboter kann zwinkern, lächeln, die Arme bewegen. Gonchigdorge begleitete mich und sagte: »Es ist genau wie Sie, eine bemerkenswerte Ähnlichkeit«, aber ich kann dem nur bedingt zustimmen. Raffiniert und einfallsreich, aber mechanisch. Einen solchen Nachfolger möchte ich nicht. Ich würde das Talos-Projekt nicht abblasen, jedenfalls jetzt noch nicht, aber es wird mit Sicherheit nicht hervorbringen, was ich brauche.

Wir gingen weiter zu Nicki Crowfoots Laboratorium. Avatara. Eine schöne Frau, aber ungewohnt nervös, deprimiert und geistesabwesend. Schuldgefühle wegen Mordechai, vermute ich. Die sollte sie auch haben. Aber sie bleibt eine loyale Dienerin. »Wann werden Sie bereit sein, die Übertragung durchzuführen?« fragte ich sie, und sie sagte: »Es ist nur noch eine Frage von Monaten.« Die Auskunft bewirkte eine so starke Aufwallung von freudiger Erregung, daß Mordechai anrief, um zu hören, wie es mir gehe. Sagte ihm, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Aber ich bin seine eigene Angelegenheit. Jedenfalls gibt mir Avatara Hoffnung. Bald werde ich in einem neuen, gesunden Körper stecken. Ehe der erste Schnee fällt, werde ich mit Mordechais Lippen zur Welt sprechen und die Luft mit seinen Lungen atmen.


Als er im Laufe des Nachmittags unangemeldet das Laboratorium des Avatara-Projekts betritt, wird Schadrach sofort von Manfred Eis gestoppt, Nicki Crowfoots Stellvertreter, der aus einem Labyrinth von Elektronik zum Vorschein kommt und ihm wie der Blitze schleudernde Thor den Weg vertritt.

»Wir sind im Moment sehr beschäftigt«, sagt er im Ton einer Herausforderung.

»Freut mich, das zu hören.«

»Was verschafft uns die Ehre?«

»Nur ein Routinebesuch«, antwortet Schadrach freundlich. »Ich wollte sehen, welche Fortschritte Sie gemacht haben. Bin einige Zeit nicht hier gewesen.«

Tatsächlich sind mehrere Wochen vergangen, seit er das Laboratorium zuletzt aufsuchte, und nach seinem ›Fahrplan‹ stattet er jedem Projekt wenigstens einmal im Monat einen Informationsbesuch ab. Aber Eis läßt ihn spüren, daß er jetzt nicht willkommen ist. Er ist ein kühler, humorloser Mann, der auf Distanz hält, ein Klischee-Teutone, steif und breitschultrig, mit kantigen Kinnladen und sehr nordisch, mit frostigen blauen Augen, ebenmäßigen Zähnen und weichem Blondhaar. Nur die Schmisse fehlen. Schadrach ist die arische Schroffheit des Doktor Eis längst gewohnt, aber heute ist etwas Neues in seinem Verhalten, etwas halb Gönnerhaftes und halb Geringschätziges, was Schadrach beunruhigt, weil er vermutet, daß es mit seiner persönlichen Beteiligung am Projekt Avatara zu tun hat.

Eis scheint über Schadrachs Wahl Genugtuung zu empfinden. Anscheinend findet er es nicht mehr als recht und billig, daß Schadrach seinen Geist aufgeben soll. Das muß es sein. Vielleicht war Eis überhaupt derjenige, der den alten Mann auf die Idee brachte, Schadrach auszuwählen. Nein, das ist wenig wahrscheinlich; da nicht einmal die Projektleiterinnen beim Vorsitzenden freien Zutritt haben, würde ein Untergebener wie Eis nur in Ausnahmefällen vorgelassen. Trotzdem wird Schadrach das Gefühl nicht los, daß Eis sich an seinem Schicksal weidet. Und weil er sich nicht gern als Gegenstand heimlicher Schadenfreude sieht, überlegt er, ob es nicht möglich ist, für Eis’ feinen nordischen Körper eine passende experimentelle Verwendung zu finden.

Wie auch immer, Schadrach hat hier nominell die Oberleitung, und Eis muß nachgeben. Trotz aller Geschäftigkeit kann er Schadrach den Inspektionsrundgang nicht verwehren. Übrigens hat er den Mund nicht zu voll genommen, im Laboratorium herrscht tatsächlich eine an Hektik grenzende Geschäftigkeit, alle möglichen Experimente mit den verschiedensten Tieren sind im Gange, während schwitzende, fluchende Techniker elektronische Ausrüstungen von Raum zu Raum schleppen und Männer und Frauen in weißen Mänteln wildblikkend umhereilen und Bündel von Computerausdrucken schwenken — ein richtiger Zirkus, ebenso manisch wie komisch, verrückte Wissenschaftler am Werk, verzweifelt bemüht, die Quadratur des Kreises zu finden, ehe der rasch näherrückende Endtermin da ist.

Die Erkenntnis, daß er selbst der Kreis ist, dessen Quadratur sie finden müssen, verursacht Schadrach Unbehagen. Er ist der arme Schlucker, das Opfer, dessen Leben eines Tages von diesen Geräten geschluckt werden soll, und die Hektik der gegenwärtigen Aktivitäten ist ausschließlich die Folge der Notwendigkeit, die gesamte Elektronik schnellstens von Mangu-Parametern auf Schadrach-Parameter umzustellen. Wahrscheinlich gibt es hier ein Dutzend Menschen, die mindestens genauso viel über seinen Körper, seine enzephalographischen Muster, seine neuralen Verbindungen und seinen Serotoninspiegel wissen, wie er selbst. Sehr wahrscheinlich steht er seit Tagen unter heimlicher Beobachtung und Kontrolle. (Dringen sie während seiner Abwesenheit in seine Wohnung ein, um Fingernägelabschnitte und Haare zu stehlen?) Schadrach fragt sich, wie viele von diesen Technikern und Laboranten über die Identität des neuen Körperspenders Bescheid wissen. Er stellt sich vor, daß sie alle unterrichtet sind und ihn mit heimlicher Faszination beobachten, während sie hin und her eilen — daß sie ihn verstohlen mustern und den authentischen Schadrach Mordechai mit den abstrakten und synthetischen Mordechai-Simulationsimpulsen vergleichen, mit denen sie gearbeitet haben. Aber vielleicht nicht. Offenbar wußten nur wenige von den Avatara-Leuten, daß Mangu der Körperspender sein sollte, und vieles spricht dafür, daß die Zahl derer, die von der Identität des Ersatzmannes erfahren durften, noch darunter liegt.

Nicki läßt sich von der allgemeinen Geschäftigkeit jedenfalls nicht anstecken. Von Eis herbeigerufen, begrüßt sie Schadrach ganz ruhig. Das Projekt, so berichtet sie, mache stetige Fortschritte. Ihr Blick ist fest, ihre Stimme sachlich und gelassen. ›Fortschritt‹ kann in diesem Laboratorium nur den täglichen Prozeß bedeuten, der Schadrach der Auslöschung näher bringt, und ihr ist zweifellos bewußt, daß er ihn so interpretieren wird; doch scheint es, daß sie beschlossen hat, sich weder von Schuldgefühlen plagen zu lassen, noch ein ausweichendes Verhalten zu zeigen. Sie haben ihren Zusammenstoß bereits hinter sich; sie hat zugegeben, daß sie bereit war, ihren Liebhaber um des Vorsitzenden und ihrer eigenen Karriere willen zu verraten; nun geht das Leben weiter — für wie lange auch immer —, und sie hat ihre Arbeit zu tun. Alles das geht innerhalb weniger Sekunden zwischen ihnen hin und her, und nichts davon ist in Worte gefaßt: nur im Tonfall und im Ausdruck der Augen wird es deutlich. Schadrach ist enttäuscht und erleichtert zugleich. Einerseits hätte er es gern zugleich. Einerseits hätte er es gern gesehen, wenn sie Reue und Zerknirschung zeigen würde, andererseits erfreut es ihn nicht, andere Menschen schuldbewußt zu machen.

»Ich sollte mich ein wenig umsehen«, sagt Schadrach.

»Komm.«

Sie führt ihn auf einen Rundgang durch das Laboratorium. Es scheint ihr nichts auszumachen. Sie zeigt ihm den Zoo der metem-psychotisierten Tiere, wo es die neuesten Triumphe elektronischer Seelenwanderung zu besichtigen gibt: da ist ein Hund mit dem Verhalten eines Waschbären, der sein Futter ungeschickt zwischen den Vorderpfoten hält und immer wieder in eine Schüssel mit Wasser taucht. Dort ein Mäusebussard, dessen Raubvogelpersönlichkeit derjenigen eines Hahns weichen mußte und der nun in seinem Käfig umherstolziert, zu krähen versucht und im Sand nach Eßbarem scharrt. Dort haben sie die friedlich-dümmliche Lebensart eines Schafs auf eine junge Löwin übertragen, die nun friedlich an einer Futterraufe steht und Heu in sich hineinstopft, wahrscheinlich zum Schaden ihres Verdauungssystems. All diese wiedergeborenen Tiere haben einen gefangenen, verschreckten Blick, als nagte tief in ihrem Inneren ein unersättlicher Parasit, und Schadrach fragt Nicki, ob dies auch für menschliche Persönlichkeitsempfänger charakteristisch sein werde, ob nicht die ausgetriebene Seele des Körperspenders wie ein drückender Alp zurückbleibe, um seinem Nachfolger das Leben schwer zu machen.

»Das glauben wir nicht«, sagt Nicki. »Diese Tiere hier sind über ihre artenspezifischen Grenzen hinweg umprogrammiert worden. Ein Pfau wird sich im Körper eines Raubvogels niemals wohlfühlen, genauso wenig wie ein Schaf in dem eines Löwen. Mit der Zeit lernt das Tier mit dem neuen Körper umzugehen, aber es wird immer dazu neigen, den alten Verhaltensmustern zu folgen.«

»Warum dann überhaupt Persönlichkeitsverpflanzungen über die artenspezifischen Grenzen hinweg? Worin liegt der Sinn, abgesehen von der Möglichkeit, den Leuten zu zeigen, wie schlau ihr seid?«

»Weil die Disparitäten zwischen dem verpflanzten Wesen und dem Wirtskörper so schreiend sind, können wir Erfolg oder Mißerfolg der Verpflanzung sofort feststellen. Das ist der Zweck dieser Experimente. Wenn wir die Persönlichkeit eines Spaniels auf den Körper eines anderen Spaniels übertragen, wenn wir einen Schimpansen auf einen Schimpansenkörper übertragen und so fort, ist es schwierig festzustellen, ob eine Verpflanzung überhaupt stattgefunden hat, nicht wahr? Der Spaniel kann es uns nicht sagen. Auch nicht der Schimpanse.«

Schadrach runzelt die Stirn. »Sicherlich unterscheidet sich die elektrische Struktur eines Spanielgehirns von der eines anderen Spanielgehirns, und sicherlich kann dieser Unterschied leicht festgestellt werden. Wenn die Muster von Gehirnwellen nicht bei jedem Individuum einzigartig sind, wozu soll dann das ganze Projekt gut sein?«

»Natürlich sind diese Muster individuell verschieden«, sagt Crowfoot. »Aber wir brauchen die Bestätigung auf einer offensichtlichen Ebene des Verhaltens. Wir haben eine ganze Menge Umprogrammierungen und Persönlichkeitsübertragungen innerhalb einer Spezies ausgeführt, aber die Verhaltensunterschiede sind zu gering, um große Beweiskraft zu besitzen. Angenommen, wir verpflanzten die Persönlichkeit eines Schimpansen in den Körper eines anderen, und die Veränderungen im Enzephalogramm zeigen an, daß etwas geschehen ist. Wie sollen wir wissen, ob die Veränderung Ergebnis unserer geglückten Persönlichkeitsübertragung ist, oder ob es sich bloß um eine Reaktion auf unseren Eingriff handelt? Wenn wir aber die Persönlichkeit eines Schafs auf einen Löwenkörper übertragen, und der Löwe zeigt daraufhin die Verhaltensweise eines Pflanzenfressers, dann haben wir eine sehr dramatische Bestätigung dafür, daß die Persönlichkeitsübertragung gelungen ist.«

»Natürlich würde es noch dramatischer sein, wenn es menschliche Persönlichkeiten wären. Und es wäre viel einfacher, festzustellen, ob eine Übertragung erfolgreich stattgefunden hat.«

»Gewiß.«

»Aber so was habt ihr nicht gemacht.«

»Noch nicht«, sagt Nicki. »Ich denke, nächste Woche werden wir soweit sein, daß wir unsere erste menschliche Persönlichkeitsübertragung in Angriff nehmen können.«

Schadrach fühlt sich von einem Frösteln überlaufen. Bisher ist es ihm gelungen, eine bewundernswerte Unpersönlichkeit zur Schau zu stellen; er hat das Gespräch genauso geführt, als ob sein Interesse am Objekt Avatara rein professioneller Natur wäre. Aber nun, da sie angefangen haben, über die Verpflanzung menschlicher Persönlichkeiten von einem Körper zum anderen zu sprechen, ist es nicht so einfach, über die Ziele und Konsequenzen all dieser sorgfältigen Forschungsarbeit hinwegzusehen. Er sieht sich außerstande, das Endziel des Projekts, die Verpflanzung eines Tigers in eine Gazelle, zu ignorieren: der Vorsitzende ist der Tiger und er selbst die glücklose Gazelle. Was wird aus der Gazelle, wenn die Tigerpersönlichkeit eindringt? Schadrach kommt ein Fluchtweg in den Sinn, den er bisher nicht bedacht hatte: wenn sie eine Schafspersönlichkeit in einem Löwenkörper und die Persönlichkeit des Vorsitzenden in seinen eigenen Körper verpflanzen können, dann können sie genauso leicht die Schadrach-Mordechai-Persönlichkeit in irgendeinen anderen Körper verpflanzen und dort weitermachen lassen. Aber der Gedanke überlebt seine Geburt nicht lange. Schadrach will nicht in einen anderen Körper umziehen. Er will seinen eigenen behalten. Wie sehr dies alles einem Traum gleicht! Bloß gibt es aus ihm kein Erwachen.

»Wie lange werdet ihr mit menschlichen Persönlichkeitsübertragungen experimentieren«, fragt er, »bevor ihr bereit sein werdet…«

»Die Persönlichkeit des Vorsitzenden zu übertragen?«

»Ja.«

»Das ist schwierig zu beantworten«, sagt Nicki achselzuckend. »Es hängt von den Problemen ab, denen wir bei den ersten menschlichen Persönlichkeitsübertragungen begegnen. Wenn es unerwartete schwierige Probleme mit der psychologischen Anpassung gibt, wenn die Verpflanzung zu psychotischen Persönlichkeitsveränderungen, Gehirnschäden, Identitätsverlusten oder dergleichen führt, dann kann es Monate oder gar Jahre dauern, ehe wir wagen dürfen, den Vorsitzenden in einen neuen Körper zu verpflanzen. Unsere Tierexperimente haben keine Hinweise ergeben, daß solche Probleme auftauchen werden, aber die menschliche Persönlichkeitsstruktur ist komplizierter, und wir müssen die Möglichkeit berücksichtigen, daß komplizierte Strukturen in entsprechend komplizierter Weise auf eine so traumatische Erfahrung wie den Wechsel von einem Körper zum anderen reagieren werden. Also werden wir behutsam vorgehen. Es sei denn, der unmittelbar bevorstehende körperliche Tod des Vorsitzenden macht eine Notübertragung der Persönlichkeit erforderlich, in welchem Fall wir uns einfach in das Abenteuer stürzen und sehen müßten, was dabei herauskommt. Natürlich wären wir nicht begierig, das zu tun.«

»Natürlich nicht«, sagt Schadrach ironisch.

»Es ist uns lieber, in geordneter Weise nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen. Eine Experimentierphase mit menschlichen Versuchspersonen und dann, wenn alles glatt geht, werden wir nach Möglichkeit zwei oder drei vorläufige Verpflanzungen des Vorsitzenden durchführen, bevor wir…«

»Was?«

»Ja. Wir wollen die Aufzeichnung seiner Persönlichkeitsstruktur zunächst auf mehrere provisorische Wirtskörper übertragen, um herauszukriegen, wie der Vorsitzende nach der Verpflanzung reagiert, welche Anpassungen erforderlich sein mögen, um…«

»Und was sollt ihr mit diesen zusätzlichen Vorsitzenden machen?« fragt Schadrach. »Sicherlich ist es praktisch und nützlich, einen Vorrat von ihnen zu haben, aber wenn sie alle zugleich anfangen, Befehle zu erteilen, könnten wir…«

»Ach nein«, sagt Crowfoot abwehrend. »Wir haben nicht vor, diesen experimentellen Wirtskörpern die übertragene Persönlichkeitsstruktur zu belassen. Diese Art von Vorsorge oder Vorratshaltung, oder wie immer man es nennen will, ist hier absolut nicht erwünscht. Wir werden die Versuchspersonen nach dem Experiment einer vollständigen Persönlichkeitstilgung unterziehen.«

»Ich verstehe. Ja. Vorausgesetzt, die Versuchsperson wird euch lassen.«

»Wie meinst du das?«

»Vergiß nicht, ihr werdet nicht mit hilflosen Lakaien oder Anstaltsinsassen zu tun haben, sobald ihr eure Übertragung gemacht habt; ihr werdet es mit Dschingis Khan II. Mao zu tun haben, der in einem neuen Körper stecken wird. Ihr werdet euch gegen den beherrschenden Geist dieses Zeitalters durchsetzen müssen, wenn er auch alt und paranoid geworden ist. Das könnte euch Schwierigkeiten machen.«

»Das glaube ich kaum«, erwidert Nicki. »Wir werden Vorsichtsmaßnahmen treffen. Hier entlang.«

Sie führt ihn weiter zu dem breiten Bedienungspult einer großen EDV-Anlage. Schadrach sieht graugrüne Metallschränke, davor einen mit Knöpfen, Kontrollleuchten, Skalen, Bildschirmen, Eingabetastaturen und allerlei unverständlichen Vorrichtungen übersäten Bedienungsstand. Hier, so erklärt sie, sei die kodierte Persönlichkeit des Vorsitzenden gespeichert, alles, was bisher aufgezeichnet worden sei, eine nahezu vollständige Rekonstruktion, die auf Reize und Herausforderungen genauso reagieren kann, wie der lebendige Vorsitzende es tun würde, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von sieben oder acht Dezimalstellen. Sie macht sich erbötig, die persönlichkeitstypische Art der Rekonstruktion anhand eines schnellen Durchlaufs zu demonstrieren, aber Schadrach, plötzlich entmutigt, zeigt wenig Interesse; sie führt ihn weiter zu einem der anderen Wunderdinge, auf das er nicht enthusiastischer reagiert, und als ob sie endlich bemerkt hätte, daß er aufgehört hat, Begeisterung für ihre technologischen Wunder zu heucheln, geleitet sie ihn in ihr Privatbüro und sperrt die Tür ab.

Sie stehen einander gegenüber, weniger als einen Meter auseinander, und er verspürt jähe überraschende Erregung. Die Intensität verblüfft ihn. Als er entdeckte, wie sie ihn verraten hatte, glaubte er, alles Verlangen nach ihr sei für immer von ihm gewichen. Aber nein. Es ist noch da, so stark wie eh und je. Die Verlockung ihres schlanken, lohfarbenen Körpers, die Erinnerung an ihren Duft, das Glitzern ihrer großen dunklen Augen… Seine Indianerprinzessin. Selbst jetzt fühlt er sich zu ihr hingezogen, selbst nachdem er weiß, daß sie ihn ohne ein Wimpernzucken opfern und auslöschen wird. Er hört auf, die nüchterne Wissenschaft in ihr zu sehen, die mit Erfindungsreichtum und Fleiß sein Verderben betreibt; er sieht nur die schöne, leidenschaftliche, unwiderstehliche Frau. Er fühlt die Anziehung ihres Körpers und merkt, daß sie die Anziehung des seinigen fühlt.

Nun, eine so große Überraschung sollte es nicht sein. Schließlich sind sie vier Monate lang Liebende gewesen; überdies sind sie allein, die Tür ist abgesperrt. Warum sollte des Verlangen nicht trotz allem über sie kommen? Dennoch erscheint ihm der unvermittelte Übergang zur Erotik vor diesem Hintergrund von Verrat, Niedergeschlagenheit und drohendem Verhängnis einigermaßen grotesk und unpassend.

Er gibt vor, nichts zu empfinden. Er rührt sich nicht von der Stelle.

»Wie kommst du zurecht, Schadrach?« fragt sie nach einer kleinen Weile in zärtlichem Ton. »Ist es sehr schlimm?«

»Ich halte durch.«

»Hast du Angst?«

»Ein wenig. Mehr Zorn als Angst, denke ich.«

»Heißt du mich?«

»Ich hasse niemanden. Ich bin kein Hasser.«

»Ich liebe dich noch immer, weißt du.«

»Hör bloß damit auf.«

»Wirklich. Das ist es ja, was mich seit Wochen quält.«

»Ich will nichts davon hören«, sagt er.

»Du haßt mich doch.«

»Nein. Ich bin bloß nicht an deiner unechten Rolle interessiert.«

»Oder an meiner Liebe?«

»Wenn sie sich so äußert, wie ich es erlebt habe, kann ich darauf verzichten.«

Sie schweigt einen Moment lang, dann nimmt sie einen neuen Anlauf und sagt: »Was hast du vor, Schadrach?«

»Wie meinst du das? Was soll ich vorhaben?«

»Du wirst nicht in Ulan Bator bleiben?«

»Alle raten mir zur Flucht.«

»Ja.«

»Es würde nichts nützen.«

»Du könntest dich retten«, sagt sie.

Er schüttelt den Kopf. »Ich würde nicht entkommen. In Asien gibt es nicht viele Nigger. Ich falle überall auf. Und die Überwachung ist fast vollkommen. Du weißt das selbst. Du hast mir selbst gesagt, daß ein Entkommen unmöglich sei. Außerdem würde es dein Projekt wieder durcheinander bringen, wenn ich verschwände.«

»Ach, Schadrach!«

»Ich meine, schließlich bin ich die Schlüsselfigur, nicht wahr?«

»Sei kein Kind.«

»Ihr würdet einen neuen Wirt für den Vorsitzenden suchen müssen. Und dann müßtet ihr mit dem Kalibrieren wieder von vorn anfangen. Du…«

»Hör auf, bitte.«

»Schon gut«, sagt er. »Jedenfalls wäre jeder Versuch, dem Sicherheitsdienst zu entkommen, zum Scheitern verurteilt.«

»Du willst es nicht mal versuchen?«

»Ich werde es nicht mal versuchen.«

Sie mustert ihn längere Zeit schweigend. Dann schlägt sie den Blick nieder und sagt: »Ich sollte darüber Erleichterung empfinden, nehme ich an.«

»Warum?«

»Wenn du nicht die Verantwortung für eine Rettung übernehmen willst, dann brauche ich nicht die Verantwortung für — für…«

»Für das zu übernehmen, was mit mir geschehen wird, wenn ich bleibe?«

»Ja.«

»Das stimmt. Insofern brauchst du keinerlei Schuldgefühle zu haben. Ich bin gewarnt worden, und trotzdem treffe ich aus freien Stücken die Wahl, dazubleiben und mich den Dingen zu stellen, die auf mich zukommen. Du hast die Absolution, Nicki. Deine Hände sind von meinem Blut gereinigt.«

»Verhöhnst du mich, Schadrach?«

»Das zu beurteilen, überlasse ich dir.«

»Ich weiß nie, wann du höhnisch oder ironisch bist.«

»Nun, diesmal nicht«, sagt Schadrach.

Sie starren einander an. Er fühlt noch immer diese seltsame Anziehungskraft, diese groteske und unangemessene Lust. Er vermutet, daß er sie hier und jetzt im Büro haben könnte, wenn er nur die Hand ausstrecken würde. Dann denkt er an Eis und seine Kollegen, wie sie jenseits der abgesperrten Bürotür umhereilen, geschäftig mit ihren Computerberechnungen und Schimpansen, ja, mit ihren simulierten Persönlichkeitsübertragungen in die körperliche Hülle des armen Schadrach Mordechai, und seine Glut kühlt ein wenig ab. Aber nur ein wenig.

Nicki lacht.

»Was gibt es da zu lachen?« fragt er.

»Erinnerst du dich«, sagt sie, »wie wir über die Vorstellung sprachen, daß du und der alte Mann ein einziges Lebenssystem wärt, eine sich selbst berichtigende Einheit zur Informationsverarbeitung? Das war vor dieser ganzen Geschichte. Mangu lebte noch, glaube ich. Ich sprach darüber, wie der Meißel und der Schlegel und der Stein Teilaspekte des Bildhauers darstellen, oder besser, daß der Bildhauer und seine Werkzeuge und Materialien zusammen eine einzige denkende und handelnde Einheit ergeben, eine einzige Person, und wie du und der Vorsitzende…«

»Ja. Ich erinnere mich.«

»Das trifft nun noch mehr zu, nicht wahr? Im buchstäblichsten Sinne. Es is eine seltsame Ironie, finde ich. Dein Nervensystem und das seinige, ineinander verstrickt, nicht zu unterscheiden. Als wir damals sprachen, sagtest du, es sei keine echte Analogie, der alte Mann könne Daten auf dich übertragen, doch du könntest nicht zurücksenden, so daß der Informationsfluß begrenzt sei. Das wird sich nun ändern. Es wird unmöglich sein, zu bestimmen, wo der eine von euch aufhört und der andere anfängt. Aber schon damals wollte ich dir sagen, daß du die Idee nicht richtig begriffen hättest, daß der Marmor kein Bildhauerwerk entwerfen kann, aber nichtsdestoweniger Teil des gesamten Bildhauerwerks ist; und daß du deinem Patienten keine Daten eingeben kannst, aber nichtsdestoweniger Teil seines Gesamtsystems bist. Es gibt ein Zusammenwirken, eine Rückkopplung, die dich mit ihm und ihn mit dir verbindet, es gibt…« Sie hat sehr schnell gesprochen, doch nun hält sie plötzlich inne und sagt in völlig verändertem Ton: »Schadrach, ich kann nicht verstehen, warum du dich nicht verstecken willst!«

»Ich sagte es dir. Weil es nutzlos ist. Ich sage es allen, die mir diesen Rat geben, aber sie scheinen mir nicht glauben zu wollen.«

Er versucht sich selbst als einen Teil dieses Dschingis Khan II. Mao-Gesamtsystems zu sehen und überdenkt die Analogien. Kein Zweifel, seine Empfänger und Signalgeber verbinden ihn auf eine ganz besondere Art mit dem Vorsitzenden. Aber für das Gesamtsystem des Alten ist er nicht mehr und nicht weniger wichtig, als es der Marmorklotz für das gesamte Bildhauersystem ist. Wenn der Bildhauer denkt, daß ein gegebener Marmorklotz für die Bedürfnisse des Gesamtsystems nicht länger notwendig ist, dann kann er ihn jederzeit wegwerfen und einen anderen in das System einführen.

Nicki blickt ihn beschwörend an.

»Wenn du nicht versuchen willst, dich zu retten«, sagt sie, »dann kann niemand sonst etwas für dich tun.«

Sobald er und der Vorsitzende einen Körper miteinander teilen, werden sie wahrhaft eine integrierte Einheit zur Informationsverarbeitung sein. Selbstverständlich benötigt eine solche Einheit nur einen Biorechner, ein Gehirn, einen Verstand, ein Selbst. Doch dieses Selbst wird nicht das Selbst von Schadrach Mordechai sein.

»Ich weiß das«, sagt er. »Wir haben bereits darüber diskutiert. Ich übernehme die volle Verantwortung.«

»Ist es dir denn völlig gleich?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht.«

»Schadrach…«

Sie macht eine halb ausgeführte Bewegung, als wolle sie ihn am Arm fassen, eine Art Reflex, um nach einem Ertrinkenden zu greifen. Er weicht zurück. Es ist eine Wand zwischen ihnen, eine undurchlässige Barriere aus Worten und Ängsten, Zweifeln und Schuldgefühlen. Er sucht hinter dieser Wand Zuflucht, aber noch immer ist diese Anziehung zwischen ihnen, diese heiße erotische Spannung. Sie durchbohrt die Barriere, trägt sie ab, durchbricht sie. Die Barriere ist fort, und er liebt sie, haßt sie, begehrt und verabscheut sie. Er macht eine halbe Bewegung auf sie zu und hält inne. Sie sind wie zwei Halbwüchsige, unsicher und ratlos, machen mißlungene Vorstöße und nervöse Rückzüge. Sie scheint wie er die winzigen Veränderungen des Gleichgewichts zu fühlen, die sich in rascher Folge in und zwischen ihnen ereignen. Die Szene hat eine unleugbare Komik, zugleich aber birgt sie eine auf Entladung drängende, wachsende Spannung, die bitterernst, gewalttätig und alles andere als komisch ist.

Und plötzlich kommen sie zusammen, umarmen einander und stehen wie in einem betrunkenen Ringkampf; ihre Lippen finden sich, ihre Finger wühlen sich ins Fleisch. Er ist erschrocken über die Macht des blinden, vernunftlosen Triebs, der in ihm aufbrodelt und keinen rationalen Gedanken neben sich duldet. »Nein«, ächzt er, während er sich schon an sie drängt, an ihren Kleidern zerrt und die Fülle ihrer Brüste unter dem Arbeitsmantel findet. »Nein«, winselt sie, anscheinend genauso bestürzt. Aber keiner von ihnen kann widerstehen. Sie stolpern lächerlich herum, schwanken, fallen schließlich zwischen Schreibtisch und Ablageschrank auf den Teppich.

Sie kleiden sich nicht aus. Runter mit dem Reißverschluß, hoch mit dem Rock; dies ist kein zärtlicher Liebesakt, sondern eine wilde, animalische Paarung, ein triebhaftes Ineinanderkeilen von Fleisch. Seine Hände gleiten über die glatten, festen Säulen ihrer Schenkel, die Finger fühlen den geheimen Spalt dazwischen, schon heiß und feucht, und sie keucht und stößt ihm das Becken entgegen, und blindlings bohrt er sich in sie. Auf dem Boden ist kaum genug Platz für ihre Körper; sie zieht die Beine an, und er greift unter sie, umfaßt ihre Hinterbacken und rammt ihn mit verrückter Energie in sie hinein. Beinahe sofort kommt sie mit ungewohnten kleinen Schauern und kichernden Lauten, und er folgt mit wilden galvanischen Zuckungen, die ihm einen heiseren Aufschrei entreißen, der draußen im Laboratorium wahrscheinlich nicht ungehört bleibt. Dann sinkt er wie ein nasser Sack über sie und schnauft erschöpft in ihrer geduldigen Umarmung, die bereit scheint, ihn noch stunden- und tagelang so festzuhalten, aber nach zwei oder drei Minuten löst er sich von ihr, benommen, bestürzt, kaum glaubend, was eben zwischen ihnen geschehen ist.

Sie sehen einander an, zwinkern, bemühen sich, die Fassung zurückzugewinnen, lächeln in peinlicher Verlegenheit.

Er rafft sich auf, erhebt sich schwankend, stopft sein erschlafftes feuchtes Glied in den Hosenlatz. Nicki liegt da, die Beine noch ausgebreitet, den zerknitterten Rock hochgeschoben, das Gesicht schweißglänzend. Schadrach wendet den Blick ab; der Anblick ihrer Blöße stößt ihn nicht eigentlich ab, aber irgendwie widerstrebt es ihm, hinzusehen. Vielleicht fürchtet er sich vor der Macht, die diese haarige, feuchte Höhle über ihn hat; jedenfalls bringt er seine Kleider in Ordnung, hüstelt verlegen, bückt sich, um Nicki aufzuhelfen. Aber sie erhebt sich ohne seine Hilfe, und sie stehen einander gegenüber. Er weiß nichts zu sagen. Es ist ein unangenehmer Augenblick, aber sie rettet ihn und sich selbst davor, indem sie seine Hand ergreift und ihm ein warmes, liebevolles Lächeln schenkt, indem sie ihn zu einem leichten, flüchtig seine Lippen streifenden Kuß zu sich zieht, der das Geschehene eingesteht und zugleich den Vorhang darüberzieht. Es ist Zeit, daß er geht.

»Rette dich«, murmelt sie zum Abschied. »Niemand kann es für dich tun.«

»Ich muß noch darüber nachdenken.«

»Dann tue das. Aber nimm dir nicht zuviel Zeit dafür. Ich liebe dich, Schadrach.«

Er weiß, was er darauf erwidern sollte, aber die Worte sind unmöglich. Er drückt ihr statt dessen die Hand und geht rasch hinaus.

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