20

Schadrach erfährt, daß an diesem Tag keine Flüge nach Jerusalem, Istanbul, Rom oder sonstigen Zwischenlandeplätzen zu diesen Zielorten abgehen. Im Laufe des Tages gehen Flüge nach Peking und San Francisco, aber Peking ist Ulan Bator zu nahe, und er braucht jetzt einen totalen Szenenwechsel. San Francisco liegt im Hinblick auf den Rest seiner Reiseroute ungünstig. Aber es gibt noch am Morgen einen Flug nach Nairobi. Irgendwie hatte Schadrach nicht daran gedacht, Nairobi oder eine andere schwarzafrikanische Stadt zu besuchen, trotz der vage empfundenen Bande zur Urheimat. Aber Spontaneität, so sagt er sich, ist gut für die Seele. Die Vorstellung, nach Nairobi zu fliegen, erscheint ihm auf einmal reizvoll, und da noch Plätze frei sind, folgt er dem Impuls und geht ohne Zögern an Bord.

Er hat die Mongolei seit zweieinhalb Jahren nicht verlassen. Damals hatte der Vorsitzende ziemlich unerwartet beschlossen, einen groß aufgezogenen Kongreß der nationalen Revolutionsräte zu präsidieren, der im heruntergekommenen alten Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York stattgefunden hatte. Schadrach war damals noch nicht der Leibarzt des Vorsitzenden gewesen — ein schlauer, diplomatischer portugiesischer Internist namens Teixeira hatte diesen Posten gehabt —, aber eben dieser Teixeira war an Leukämie erkrankt, und in den Monaten bis zu seinem mit Fassung erwarteten Tode hatte er Schadrach als seinen Nachfolger eingearbeitet. Der Kongreß aber — und die weite Flugreise — hatten den betagten Vorsitzenden so sehr angestrengt und erschöpft, daß er Ulan Bator mit seiner gesunden, trockenen Höhenluft seither nicht verlassen hat. Gleiches galt bis zum heutigen Tag für Schadrach; aber nun blickt er durch das runde Fenster des spartanisch eingerichteten Passagierabteils einer Transportmaschine und sieht die Eintönigkeit der frühlingsgrünen mongolischen Steppe in der Tiefe versinken. Noch heute wird er in Afrika sein.

Afrika! Schon verschwimmen und verblassen die telemetrischen Signale vom Vorsitzenden, als Schadrach sich der Tausend-Kilometer-Grenze nähert. Er fängt noch immer Daten auf, schwächliche Signale der eingepflanzten Empfänger, aber es wird immer schwieriger, sie in verständliche Analogien der Stoffwechselprozesse des Vorsitzenden umzusetzen. Dschingis Khan II. Mao, seine Nieren, seine Leber und Bauchspeicheldrüse, sein Herz, seine Arterien und Eingeweide sind weit entfernt und werden zunehmend unwirklich. Und bald darauf hören die Signale ganz auf, sinken unter die Wahrnehmbarkeitsschwelle und lassen Schadrach plötzlich mit seinem eigenen Körper allein. Diese Stille! Diese Abwesenheit aller Signale und Impulse! Er hatte vergessen, wie es ohne diesen ununterbrochenen Informationsfluß durch sein Bewußtsein ist, und anfangs fühlte er sich beinahe beraubt, als ob er eines seiner wichtigsten Sinnesorgane verloren hätte. Dann beginnt die innere Stille normal zu erscheinen, und er entspannt sich.

Das Flugzeug ist breit und hat eine geräumige Passagierkabine, deren einfach ausgestattete Sitze nicht nach ökonomisch raumsparenden Gesichtspunkten eingebaut wurden und daher viel Beinfreiheit lassen. Es ist kein neues Flugzeug; Schadrach schätzt sein Alter auf zwanzig Jahre. Viele Industrien sind seit dem großen Krieg verschwunden, und die Flugzeugindustrie gehört dazu. Die enorm reduzierte Bevölkerung der Nachkriegszeit und die radikal veränderten Lebensbedingungen haben den privaten Reiseverkehr auf längeren Strecken praktisch zum Erliegen gebracht. Ein einziges Kombinat kann jetzt den Weltbedarf an Flugzeugen dekken. Doch obwohl ein Vergleich mit der überfüllten und hektischen Welt der 1980er Jahre, als das alte Industriesystem — schon von ernsten Verknappungen und Umwälzungen bedroht — seine letzte Periode konvulsivischer Expansion erlebte, kaum mö glich ist, haben der Krieg und die Organzersetzung den technologischen Fortschritt nicht auf allen Gebieten zum Erliegen gebracht: in Schadrachs Zeit gibt es bemerkenswerte Vervollkommnungen auf den Gebieten des öffentlichen Nahverkehrs, des Kommunikationswesens und der sozialen Dienstleistungen. Daß gegenüber den alten Tagen ein totaler Bruch stattgefunden hat, ist freilich nicht zu übersehen. Zwei Drittel der früheren Erdbevölkerung sind umgekommen, und der Rest lebt unter einer neuen, vereinheitlichten politischen Struktur. Hinzu kommt, daß es eine schrumpfende Gesellschaft ist, weiter dezimiert von der Seuche der Organzersetzung und bedrückt von einem Gefühl der Stagnation und Vergeblichkeit, das zu zerstreuen der Regierung trotz aller Bemühungen nicht gelingen will.


2. Juni, Fortsetzung

Wenn der Vorsitzende — den man mit einigem Recht Weltherrscher nennen kann — eine schizoide Persönlichkeit entwickelt, liegt der Gedanke nahe, daß dies ernste Folgen für die Masse der Bevölkerung hat. Mein eingehendes Studium der Geschichte hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß die Völker zu allen Zeiten die Herrscher bekamen, die sie verdienten. Ein Herrscher spiegelt den Geist seiner Zeit wider und verkörpert so die Wünsche und Hoffnungen seines Volkes. Hitler, Napoleon, Attila, Augustus, Chin Shi Huang Ti, Dschingis Khan, Robespierre: keiner von ihnen war ein Unfall oder eine Anomalie, alle waren organische Auswüchse der Bedürfnisse der Zeit. Selbst wenn ein Herrscher seinen Willen einem Volk durch Eroberung aufzwingt, wie ich es nicht getan habe, drückt sich darin der historische Imperativ aus: das betreffende Volk wollte erobert sein, bedurfte der Eroberung, sonst wäre es ihm nicht zugefallen. Und wie in jenen Zeiten, so auch jetzt. Schizoide Zeiten verlangen nach einer schizoiden Regierung. Die Völker der Welt leiden und sterben an der Seuche der Organzersetzung; ein Gegenmittel existiert, kommt aber aus diesem oder jenem Grund nicht zur allgemeinen Verteilung; die Weltbevölkerung findet sich mit dieser Situation ab. Ich definiere das als Wahnsinn. Natürlich reicht die Produktion nicht aus, um das Gegenmittel auf breiter Front einzusetzen, und es ist wahr, daß die Herstellung umständlich und teuer ist, und daß alle Versuche, billigere Produktionsverfahren zu entwickeln, bisher erfolglos geblieben sind. Aber wer ehrlich ist, muß sich eingestehen, daß mehr hätte getan werden können. Wir bieten den Leuten Hoffnung, aber keine Injektionen, und dies scheint ihnen gegen alle Erwartung irgendwie Kraft zu geben. Wahnsinn. Eine Menschheit, die sich selbst mit tödlichen Viren zerstört, ist wahnsinnig; da ist es dann nur passend, daß auch ihr oberster Führer wahnsinnig ist.

Aber bin ich es? Ich habe mich heute eingehender mit den Symptomen der Schizophrenie beschäftigt und zu diesem Zweck Doktor Mordechais medizinische Bibliothek konsultiert. Ich habe darin einen Text gefunden, der sagt, zwei der häufigsten Symptome seien Selbsttäuschungen und Halluzinationen. »Eine Selbsttäuschung«, heißt es da, »ist ein beharrlich verteidigter Glaube, der im Gegensatz zu der Wirklichkeit steht, wie sie von den meisten Menschen wahrgenommen wird, und von logischen Argumenten nicht entkräftet werden kann. In der Schizophrenie kommen Selbsttäuschungen häufig als Größenwahn oder Verfolgungswahn vor: der Schizophrene kann beispielsweise der Überzeugung sein, er sei Jesus Christus, oder er sieht sich als das Objekt der weltweiten Suche einer geheimen Organisation.« Ich habe niemals geglaubt, daß ich Jesus Christus sei. Ich glaube aber mit großer Überzeugung, daß ich Dschingis Khan II. Mao bin. Ist dieser Glaube Selbsttäuschung? Ich glaube vielmehr, daß dieser Glaube mit der Wirklichkeit übereinstimmt, wie sie von den meisten Menschen wahrgenommen wird. Ich glaube, daß mein Glaube auf realen Voraussetzungen beruht. Ich glaube, daß ich wirklich von Dschingis Khan II. Mao bin, oder zumindest geworden bin, und daß dieser Glaube daher nicht schizophren ist und keine Selbsttäuschung darstellt. Andererseits glaube ich auch, daß ich in unmi ttelbarer Gefahr der Ermordung schwebe, daß es eine weltweite Verschwörung gegen mein Leben gibt. Schizoide Selbsttäuschung? Aber Mangu ist wirklich und wahrhaftig tot. Sie haben ihn aus einem Fenster gestoßen. Bilde ich mir Mangus Tod ein? Nein. Er ist zweifelsfrei tot. Deute ich seinen Tod falsch? Ich weiß, daß es in meiner Umgebung Menschen gibt, die glauben, er habe Selbstmord verübt. Dies ist Selbsttäuschung. Mangu wurde ermordet. Seine Mörder können jederzeit kommen, um mir das gleiche Schicksal zu bereiten. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Ist das Selbsttäuschung? Dann akzeptiere ich meine Selbsttäuschung, wie es meiner Stellung in der Geschichte zukommt. Und wenn die Gefahr real ist, wie klug ist es dann von mir, mich hinter den elektronisch gesteuerten Sperren zu verbarrikadieren!

Aber fahren wir fort. Halluzinationen. »Eine Halluzination ist eine Sinneswahrnehmung, die nicht ›real‹ ist. In der Schizophrenie nehmen Halluzinationen am häufigsten die Form von Stimmen an.« Aha! »So mag ein Patient von Stimmen gequält werden, die ihm befehlen, aus einem Fenster zu springen, oder ihn gräßlicher springen, oder ihn gräßlicher Verbrechen beschuldigen.« Was soll das heißen? Könnte Mangu auch Schizoid gewesen sein? Nein, nein. Das ist auf ihn nicht anwendbar. Mangu war nicht intelligent genug, um Schizoid zu sein. Ich bin derjenige, der Stimmen hört, und meine Stimmen raten mir nicht zu Verrücktheiten. »Zuweilen besteht die Halluzination lediglich aus Geräuschen oder einzelnen Wörtern, oder der Patient glaubt seine Gedanken zu hören. Andere Formen der Halluzination schließen furchterregende Visionen, seltsame Gerüche und unerklärliche körperliche Empfindungen mit ein.«

Ich denke, das ist auf mich anwendbar. Ist es so, dann akzeptiere ich es bereitwillig. Aber da steht noch mehr. »Selbsttäuschungen und Halluzinationen sind nicht auf die Schizophrenie beschränkt«, heißt es da. »Sie können in einem weiten Bereich organisch bedingter Zustände vorkommen (z. B. bei Gehirnhautentzündungen, Infektionen des Gehirns oder verminderter Blutzufuhr im Gehirn infolge arteriosklerotischer Veränderungen).« Ist das die Erklärung? Wenn Vater Dschingis mir etwas zuflüstert, sollte das nichts weiter sein, als ein Defekt in meinem Gehirn? Sollte am Ende gar eine verstopfte Arterie bewirken, daß Mao mir ins Ohr wispert? Es wäre ratsam, mit Mordechai darüber zu sprechen, wenn er zurückkehrt. Er sorgt sich um meine Arterien. Vielleicht wird er eine weitere Verpflanzung empfehlen. Schließlich habe ich noch immer die meisten meiner ursprünglichen Adern, und die werden alt und brüchig. Was bin ich jetzt, siebenundachtzig? Neunundachtzig, dreiundneunzig? Ja, vielleicht dreiundneunzig. Es ist schwierig, die Zahlen richtig zu behalten. Jedenfalls alt, sehr alt.

Großer Vater Dschingis, bin ich alt.


In Nairobi ist die Luft klar, trocken und kühl, ganz und gar nicht tropisch, obwohl die Stadt beinahe am Äquator liegt, ungefähr auf einer Breite mit dem feuerspeienden Cotopaxi und dem verwüsteten Quito. Auch Quito, hoch im gebirgigen Andenvorland gelegen, war angenehm kühl, aber das ist nur eine Traumerinnerung, eine transtemporale Illusion. Während Schadrach jetzt tatsächlich und wirklich in Nairobi ist. »Wir sind hier hoch über dem Meeresspiegel«, erklärt der Taxifahrer. »Hier wird es nie zu heiß.« Der Mann ist freundlich und gesprächig, ein Kikuyu, wie er seinem Fahrgast unaufgefordert mitteilt. Er trägt eine Sonnenbrille und eine blaue Uniform, die aussieht, als ob er sie von seinem Vater geerbt hätte. Er scheint gesund zu sein, was Schadrach ein wenig überrascht, der halb erwartet hatte, alle Bewohner der Welt außerhalb von Ulan Bator mit Organzersetzung behaftet zu sehen. »Ich spreche sechs Sprachen«, verkündet der Fahrer. »Kikuyu, Massai, Suaheli, Deutsch, Französisch, Englisch. Sie sind Engländer?«

»Amerikaner«, sagt Schadrach, obwohl diese Etikettierung sich in seinen eigenen Ohren merkwürdig ausnimmt. Aber was soll er sonst antworten? Mongole?

»Amerikaner? Ah! New York? Los Angeles? Früher, vor meiner Zeit, kamen viele Amerikaner hierher. Vor dem Großen Krieg, wissen Sie. Dieses Flugzeug, mit dem Sie kamen, war riesengroß und immer voll — all diese Amerikaner! Die kamen, um die Tiere zu sehen, müssen Sie wissen. Draußen im Busch. Mit Kameras. Aber das gibt es nicht mehr. Amerikaner kommen schon lange nicht mehr hierher. Niemand kommt her.« Er lacht. »Andere Zeiten, jetzt. Schwere Zeiten. Aber nicht für die Tiere. Für die Tiere sind es gute Zeiten. Sehen Sie dort, neben der Straße? Eine Hyäne. Direkt am Straßenrand!«

Ja, Schadrach sieht ein struppiges, bedrohlich aussehendes Tier am Straßenrand auf den Keulen sitzen. Es erinnert ihn an einen plumpen, kleinen Bären. Der Taxifahrer erzählt ihm, daß es überall wilde Tiere gebe, wie ganz früher. Strauße wanderten durch Nairobis Hauptstraßen, Löwen und Geparde machten die halb ausgestorbenen Vororte unsicher, Gazellenherden verirrten sich auf das Universitätsgelände am Stadtrand. »Weil es nicht mehr viel Menschen gibt«, sagt er. »Und die meisten von ihnen sind krank. Es wird nicht mehr viel gejagt. Letzte Woche kam ein großer Elefant bis zum ehemaligen Stanley-Hotel und riß Äste von dem alten Dornbaum, der davor steht. Sehr alter Dornbaum, sehr berühmt. Sehr großer Elefant.« Natürlich. Nun, da die Weltbevölkerung auf den Wert des frühen neunzehnten Jahrhunderts zurückgegangen ist, beginnt sich die verwüstete Natur allmählich zu erholen, und die Tiere fangen an, sich wieder auszubreiten. Der Viruskrieg hat sie unbehelligt gelassen, sogar die dem Menschen am nächsten verwandten Primaten: der todbringende Virus war für den Menschen maßgeschneidert.

Auf der Fahrt in die Stadt sieht er weitere Tiere, zwei atemberaubend schöne Zebras, ein paar Warzenschweine und ein Rudel buckliger Antilopen; das sind Wildebeeste, klärt ihn der Fahrer auf. Dieses Wiederaufleben der Natur erfreut Schadrach, aber Traurigkeit mischt sich in die Freude; wenn Wildebeeste in den verfallenden Vorstädten grasen und auf den halb verödeten Straßen der Innenstadt Gras wächst, ist das so, weil die Zeit des Menschen sich ihrem Ende zuneigt, und damit kann Schadrach sich noch nicht abfinden.

Tatsächlich wächst auf den Straßen Nairobis nicht allzu viel Gras, wenigstens nicht auf dem breiten, großzügigen Boulevard, auf dem sie in die Stadt rollen. Die flammende Pracht blühender Stauden und Büsche auf allen Seiten. Nach dem herben, einfarbigen Ulan Bator ist Nairobi eine Augenweide. Rote, purpurne und orangefarbene Bougainvilleen ergießen sich in Kaskaden über jede Mauer; niedrige Sträucher mit lavendelfarbenen Blüten überwuchern die Verkehrsinseln, und an Straßenecken stehen dicke, vielarmige Aloebäume. Schadrach identifiziert Hibiskus und Jacaranda, aber die meisten Büsche und Bäume, die Straßen und Gärten mit den bunten Farben ihrer Blüten überschütten, sind ihm unbekannt. Die Wirkung ist fröhlich und unerwartet bewegend: wer kann in einer Welt, die soviel Schönheit bietet, Verzweiflung fühlen? Aber in diesen Augenblicken staunender Freude über die Fülle des blühenden Grüns kommt sofort ihre Negation, denn Schadrach muß sich die Frage vorlegen, wie wir, in diese schöne Welt entlassen, es fertig bringen konnten, soviel davon zu ruinieren und unter Schmutz und Häßlichkeit zu begraben. Nichtsdestoweniger weckt diese heitere und ruhige Stadt mehr freudige als traurige Empfindungen in ihm.

Das altersschwache Taxi rollt durch wenig belebte, baumbestandene Straßen zum einzigen Hotel, dem früheren Hilton, einem bejahrten, höhlenartigen Bau, wo er der einzige Gast zu sein scheint. Das Hotelpersonal behandelt ihn mit außerordentlicher Ehrerbietung, als wäre er ein Minister. Sie wissen, daß er in der Hauptstadt lebt und einen Regierungsausweis hat; wahrscheinlich schließen sie daraus, daß er ein Mitarbeiter und Vertrauter des Vorsitzenden sein müsse, was in einer Weise zutrifft, obwohl er mit Regierungsgeschäften überhaupt nichts zu tun hat. Es ist offensichtlich, daß sich selten eine Person mit Regierungspaß nach Nairobi verirrt. Im Korridor und im Foyer des Hotels halten die Bediensteten in ihrer Arbeit inne, wenn er vorbeigeht, drehen die Köpfe und blicken ihm nach. Sie flüstern untereinander, nicken und zeigen auf ihn. Lebt man jahraus, jahrein im Schatten des Vorsitzenden, seinen Launen und Einfällen unterworfen, so ist es überraschend zu bemerken, daß man selbst auch eine Person ist, eine Persönlichkeit sogar, und nicht bloß ein Anhängsel des Vorsitzenden.

Beim Durchschlendern der Stadt macht er eine weitere Entdeckung des Offensichtlichen: alle sind hier schwarz. Oder doch beinahe alle. Er bemerkt einige Chinesen und Inder, offensichtlich Nachkommen der in früheren Zeiten zahlreich Vertretenen asiatischen Händler, dazu einige wenige ältere Weiße, aber sie sind Ausnahmen und fallen hier ebenso auf, wie er in Ulan Bator. Warum sollte ihn das Vorherrschen der schwarzen Hautfarbe hier überraschen? Dies ist Afrika, die Heimat des schwarzen Mannes. Übrigens war es in seiner Kindheit in Philadelphia ähnlich — Weiße wagten sich selten in seine Nachbarschaft, und zumindest in seiner frühen Kindheit schien es ihm selbstverständlich, daß das Getto die Welt sei, daß Schwarz die Norm sei, und daß jene gelegentlich auftauchenden Gestalten mit rosigen Gesichtern, hellen Augen und glattem, lose herabhängendem Haar abnorme Raritäten seien, ähnlich wie die Giraffen in seinem Bilderbuch. Aber dies ist kein Getto. Es ist eine Welt der Schwarzen, wo Polizisten und Lehrer, Delegierte und Feuerwehrleute, Ingenieure und Arbeiter, Ärzte und Bürgermeister schwarz sind, durch und durch schwarz. Brüder und Schwestern überall, und doch ist er von ihnen getrennt, empfindet er nicht Verwandtschaft, sondern Erstaunen über die Universalität der schwarzen Rasse. Er hat sein Leben in der Diaspora verbracht, ist immer Angehöriger einer Minderheit gewesen, der sich anpassen mußte, und hat so einen Teil seiner rassischen Identität verloren. Er ist hier ein Fremder unter Menschen seiner Art, und die innere Entfremdung geht so weit, daß er zweifelt, ob diese Suaheli sprechenden Leute, deren Abstammungslinien unverdünnt von Sklavenhaltergenen sind, als Menschen seiner Art angesehen werden können.

Er macht noch eine Erfahrung des Offensichtlichen: daß Nairobi nicht nur aus schönen, baumbestandenen Boulevards und klarer, erfrischender Luft besteht, nicht nur aus Kaskaden von Bougainvilleen und Hibiskus. Diese Stadt ist, so schön sie sich in ihrer reduzierten neuen Gestalt als stille, ein wenig verschlafene Provinzhauptstadt ausnehmen mag, nichtsdestoweniger ein Teil der großen Traumastation, und Schadrach braucht von seinem Hotel nicht weit zu gehen, um die Leidenden zu finden. Sie schleppen sich durch die Straßen, manche nur fahlgesichtig und träge in den Bewegungen, neue Opfer der Infektion, andere gekrümmt und unsicher gehend, mit glasig benommenem Blick, und einige, die bereits Blut husten, mit Beulen und Geschwüren bedeckte schwankende Gestalten, die Gesichter glänzend von Schweiß. Diese im Endstadium der Seuche dahinsiechenden Menschen schlurfen allein durch die Straßen, Gott allein weiß, warum; gemieden von Leidensgenossen wie von Gesunden, vorwärtsgetrieben von unbegreiflicher Beharrlichkeit, scheinen sie irgendeinem unerreichbaren Ziel nachzutaumeln, bis der endgültige Zusammenbruch ihrem Leiden ein Ende macht. Zuweilen macht ein Seuchenopfer halt und starrt Schadrach an, als ob ihm anzusehen wäre, daß er immun ist, aber die Blicke haben nichts Vorwurfsvolles oder Neidisches: es sind die ruhigen, gleichmütigen Blicke, mit denen man gelegentlich von weidendem Vieh bedacht wird, undeutbar, aber nicht bedrohlich, ohne eine Andeutung, daß sie einen für das Schlachthaus verantwortlich machen.

Anfangs kann Schadrach diesem Blick nicht standhalten. Vor langer Zeit hat man ihn gelehrt, ein Arzt müsse imstande sein, einen Patienten anzusehen, ohne seiner eigenen guten Gesundheit wegen Gewissensbisse zu verspüren, aber dies ist etwas anderes. Sie sind nicht seine Patienten, und er ist nur gesund, weil seine politischen Verbindungen ihm Schutz gewährleisten, der ihnen verwehrt bleibt. Die Organzersetzung interessiert ihn — sie ist das große medizinische Phänomen des Zeitalters, der Schwarze Tod der Neuzeit, die schrecklichste Seuche in der Menschheitsgeschichte, und er studiert ihre Auswirkungen, wo immer er sie antrifft —, aber weder sein Interesse noch seine sachliche medizinische Betrachtungsweise gibt ihm die Kraft, diesen Leuten in die Augen zu sehen. Er wirft ihnen nur schnelle Seitenblicke zu, bis er begreift, daß seine Schuldgefühle irrelevant sind. Es ist den Kranken gleich, ob er sie ansieht oder nicht. Sie sind längst über den Punkt hinaus, wo etwas sie in Wallung bringen kann. Sie erwarten den Tod, ob in ihren Wohnungen oder hier auf der Straße; ihre Leiber sind von der Krankheit wie von Flammen zerfressen, ihr Geist ist umnebelt; was macht es ihnen aus, ob irgendein Fremder stehen bleibt und starrt? Sie sehen ihn an, er sieht sie an. Unsichtbare Barrieren schirmen ihn gegen sie ab.

Dann werden sie plötzlich durchbrochen. Schadrach wendet sich von der immerwährenden Prozession der Verdammten ab, um die Auslage eines staatlichen Kunstgewerbeladens zu betrachten — grotesk anmutende Holzschnitzereien, mit Zebrafellen bespannte Trommeln, präparierte Elefantenfüße als Schirmständer und Papierkörbe, Speere und Schilde der Massai, alle möglichen Gegenstände der Volkskunst und des Folklorekitsches, in einer anderen Zeit massenproduziert für Touristen, die nicht mehr kommen —, und jemand stößt ihn von der Seite an. Er fährt herum, sofort auf der Hut und abwehrbereit. Aber die einzige Person in seiner Nähe ist ein kleiner alter Mann mit welker, kalkig aussehender Haut, in Lumpen gehüllt, weißhaarig und abgezehrt, der wie betrunken schwankt und dazu rasselnde, röchelnde Geräusche von sich gibt.

Ein Kranker im Endstadium. Die Augen fleckig und trüb, Arme und Beine mit Beulen und aufgebrochenen Geschwüren bedeckt. Die Krankheit frißt sich langsam von innen nach außen durch das Körpergewebe, welches in schwärende Zersetzung übergeht; im allgemeinen wird innerhalb relativ kurzer Zeit ein lebenswichtiges Organ befallen, worauf der Tod eintritt, aber es gibt auch Fälle mehrjährigen Siechtums. Achtzehnjahre sind vergangen, seit der Viruskrieg die Seuche über die Menschheit brachte; Schadrach hat gelesen, daß Fälle bekanntgeworden sind, in denen zwischen Infektion und Tod zehn bis zwölf Jahre verstrichen sind. Dieser Mann sieht wie einer von diesen Fällen aus, aber er kann jetzt nicht mehr lange zu warten haben. Er ist nichts als eine Masse von schwärenden Löchern, zusammengehalten von schwächlichen Strängen lebenden Gewebes.

Er scheint Schadrachs Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, ist aber unfähig, vor ihm stehenzubleiben. Wie ein schwer Betrunkener schwankt er mit schlaff hängenden Armen vor und zurück, taumelt seitwärts davon, wendet schwerfällig und kommt wieder. Endlich gelingt es ihm, Schadrach am Arm zu fassen und sich an ihm festzuhalten, immer noch schwankend wie ein Schilfrohr im Wind.

Schadrach macht sich nicht los. Wenn er dem Bedauernswerten schon nicht helfen kann, dann will er ihm wenigstens einen Halt geben.

In einem krächzenden, schrillen Flüsterton sagt der alte Mann etwas, was ihm von größter Wichtigkeit zu sein scheint.

»Es tut mir leid«, murmelt Schadrach, trotz besten Willens unangenehm berührt. »Ich kann Sie nicht verstehen.«

Der alte Mann beugt sich näher, reckt das ausgemergelte Gesicht zu Schadrach empor und wiederholt die Worte mit noch größerer Dringlichkeit.

»Ich spreche nicht Suaheli«, sagt Schadrach bekümmert. »Ist das Suaheli? Ich verstehe nicht.«

Der Alte sucht nach einem Wort; die runzligen Lippen bewegen sich, Konzentration spannt das Gesicht. Ein süßlicher, trockener Geruch geht von dem Mann aus, wie der Geruch von welken Blumen; der Geruch ist weniger unangenehm, als Schadrach erwartet hatte. Ein brandig aussehendes Geschwür in der rechten Wange scheint diese bereits durchfressen zu haben; wahrscheinlich könnte er die Zungenspitze durchstecken.

»Tot«, sagt der alte Mann schließlich in Englisch, und er bringt das Wort wie ein schweres Gewicht hervor, das er Schadrach vor die Füße wirft.

»Tot?«

»Tot. Du mich — machen tot…«

Schadrach starrt den alten Mann entsetzt an. Will er ihm die Schuld an seiner Krankheit geben? Oder bittet er um Euthanasie?

»Du — mich machen tot!« Dann mehr Suaheli, gefolgt von einem angestrengten Husten. Plötzlich kommen dem Alten die Tränen und strömen unvermutet reichlich in tiefen Kanälen zu beiden Seiten der Nase herab. Die Hand an Schadrachs Unterarm löst ihren Griff; der alte Mann steht schwankend, macht eine Anzahl heiser schnalzender Geräusche und wendet sich taumelnd zum Gehen. Schon nach einem Schritt strauchelt er und fällt zu Boden. Schadrach springt geistesgegenwärtig hinzu, kann ihn auffangen und läßt ihn behutsam auf das Pflaster nieder. Der Alte kann nicht mehr als vierzig Kilo wiegen, vermutet er, und hat eine halluzinatorische Vision von einem Schädel und losen Knochen in den zerlumpten Kleidern.

Was nun? Soll er die Behörden verständigen? Wer ist zuständig? Schadrach hält nach Milizionären Ausschau, aber die ohnehin wenig belebte Straße scheint auf einmal wie ausgestorben. Weiter unten spielen ein paar Kinder, da und dort sitzen Gestalten auf den Stufen vor Hauseingängen, aber sie achten nicht auf ihn, und im näheren Umkreis ist niemand. Schadrach fühlt sich für den Sterbenden verantwortlich. Er kann ihn nicht einfach liegen lassen. Auf der Suche nach einem Telefon betritt er den Kunsthandwerkladen.

Der Laden wird von einem dicken alten Inder geleitet, vielleicht dem früheren Besitzer, einem Mann mit großen, melancholischen Augen und dichtem Silberhaar. Anscheinend hat er das Drama beobachtet, denn er kommt Schadrach schon entgegen, schlägt die Hände zusammen und stellt einen Ausdruck tiefsten Bedauerns zur Schau. »Wie unangenehm!« erklärt er. »Einen Besucher unserer Stadt so zu belästigen! Sie sind doch ein Besucher, nicht wahr? Diese Leute haben keinen Anstand, kein Gefühl für…«

»Es war keine Belästigung«, sagt Schadrach ruhig. »Der Mann liegt im Sterben. Er hat keine Zeit, über Anstand nachzudenken.«

»Trotzdem. Einen Fremden zu behelligen, einen Besucher unserer…«

Schadrach schüttelt den Kopf. »Das hat nichts zu sagen. Was immer er von mir wollte, ich konnte es ihm nicht geben, und nun geht es mit ihm zu Ende. Er kann nicht mehr aufstehen. Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können. Ich bin nämlich Arzt«, vertraut er dem Mann mit der Hoffnung an, daß die Enthüllung die richtige Wirkung ausüben wird.

Sie tut es. »Ah!« ruft der andere. »Dann verstehen Sie sich auf diese Dinge.« Die Empfindlichkeiten von Ärzten sind nicht wie jene gewöhnlicher Menschen. Der Leiter des Ladens empfindet es nicht länger als peinlich, daß einer seiner schäbigen Landsleute die Geschmacklosigkeit zeigte, seinen Zustand einem Fremden aufzudrängen.

»Was soll mit dem Mann geschehen?« fragt Schadrach.

»Die Miliz wird ihn abholen und in ein Siechenheim bringen.«

»Ich dachte, wir sollten jemanden anrufen.«

Der Inder zuckt die Achseln. »Die Miliz wird vorbeikommen. Im Krankenhaus anzurufen, hätte keinen Sinn, weil solche Opfer dort nicht aufgenommen werden.« Er nickt zur Tür hinaus. »Der kann ruhig noch eine Weile liegen bleiben. Die Krankheit ist ja nicht ansteckend, oder? Das heißt, wer noch gesund ist, hat keine Ansteckung zu befürchten, solange er einen solchen Kranken und dessen Kleider nicht berührt; das ist jedenfalls, was ich gehört habe. Stimmt es nicht?«

»Doch, es stimmt«, sagt Schadrach. Er blickt unbehaglich zu dem Alten hinaus, der wie ein Bündel schmutziger Kleider auf dem Gehsteig liegt. »Vielleicht sollten wir trotzdem anrufen.«

»Die Milizionäre werden bald kommen«, sagt der Inder wieder, und damit scheint der Fall für ihn erledigt zu sein. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Die Gelegenheit, einen Ausländer zu empfangen, bietet sich nur selten. Ich bin Bhischma Das. Sie sind Amerikaner?«

»Ich bin dort geboren, ja. Ich lebe seit langem im Ausland.«

»Ich verstehe.«

Das eilt in den kleinen rückwärtigen Raum hinter der Kasse, wo er eine Kochplatte und einige Teebeutel hat. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterbenden auf der Straße bekümmert Schadrach weiterhin, aber Das scheint kein unintelligenter oder gefühlloser Mensch zu sein. Vielleicht ist es hier in der Außenwelt Brauch, diesen Erinnerungen an die universale Sterblichkeit so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken.

Wie dem auch sein mag, die Prophezeiung des Inders bewahrheitet sich: tatsächlich treffen schon nach wenigen Minuten drei dunkelhäutige Milizionäre mit einem klapprigen Transportwagen ein. Zwei von ihnen legen den alten Mann auf eine Bahre und schieben ihn durch die Hecktüren in das Fahrzeug; der Dritte späht durch das Ladenfenster, starrt Schadrach lange und aufmerksam an und nickt in einer unergründlichen, seltsam beunruhigenden Art und Weise, dann wendet er sich um, klettert zu seinem Kameraden ins Fahrerhaus, und der Wagen rollt davon.

»Früher oder später werden wir alle an der Organzersetzung sterben, nicht wahr?« sagt Bhischma Das. »Wir und unsere Kinder. Es heißt, alle seien infiziert. Ist das wahr?«

»Wahr, ja«, antwortet Schadrach. Auch er trägt die Mörder-DNS in seinen Genen. Sogar der Vorsitzende. »Natürlich gibt es die Immunisierung…«

»Die Immunisierung. Ja. Sagen Sie, Doktor, glauben Sie, daß es die wirklich gibt?«

Schadrach blickt ihn erstaunt an. »Sie zweifeln daran?«

»Ich habe keine genaue Kenntnis von diesen Dingen. Der Vorsitzende sagt, es gebe ein Gegenmittel, das der Bevölkerung bald zugänglich gemacht werde, aber Näheres weiß man nicht, und die Menschen sterben weiter. Ah, der Tee ist fertig! Sagen Sie, gibt es wirklich ein Gegenmittel? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«

»Es gibt eins«, sagt Schadrach und nimmt dankbar eine Tasse Tee an. »Ja, das ist wirklich wahr. Und eines Tages wird es an die gesamte Bevölkerung ausgegeben werden.«

»Das wissen Sie ganz sicher?«

»Ich weiß es, ja.«

»Nun, Sie sind Arzt; Sie müssen es wissen.«

»Ja.«

Bhischma Das nickt vor sich hin und schlürft seinen Tee. Nach einer langen Pause sagt er: »Natürlich werden viele von uns an der inneren Fäulnis sterben, ehe das Gegenmittel ausgegeben wird. Nicht nur solche Leute, die wie ich die Kriegszeit überlebt haben, sondern auch unsere Kinder. Wie ist das möglich? Ich habe es nie verstanden. Meine Gesundheit ist zufriedenstellend, meine Kinder sind gesund und kräftig — und doch tragen wir die Seuche in uns? Sie schläft in unseren Körpern und wartet auf den passenden Augenblick? Ist das wirklich so — daß sie in jedem schläft?«

»In jedem«, sagt Schadrach. Wie soll er es erklären? Wenn er von den strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Organzersetzung verursachenden Virus und dem normalen genetischen Material des Menschen spricht, wenn er beschreibt, wie der während des Krieges als Massenvernichtungsmittel eingesetzte Virus — das Ergebnis langwieriger, aufwendiger wissenschaftlicher Forschung — die Fähigkeit besitzt, sich in die Nukleinsäure einzulagern, in das Keimplasma selbst, und so derart eng mit dem menschlichen Erbgut verschmolzen wird, daß er mit normalen zellularen Genen von Generation zu Generation weitergegeben wird, ein mörderisches Paket DNS, das jederzeit tödlich werden kann, wie viel davon wird Bhischma Das verstehen? Kann Schadrach von der Unauflöslichkeit des tödlichen genetischen Materials sprechen, von der grausamen Unausweichlichkeit, mit der es in die genetische Ausstattung jedes seit dem Viruskrieg empfangenen Kindes eingehen muß, und die Bedeutung dieser Tatsache einsichtig machen? Das die Organzersetzung hervorrufende, viral veränderte Gen ist ein so intimer Bestandteil des menschlichen Erbgutes geworden wie das Gen, das für Haarwuchs sorgt, oder jenes, das die Ablagerung von Kalk in den Knochen steuert: das menschliche Körpergewebe ist jetzt von Geburt an automatisch programmiert, sich in bösartige Wucherungen aufzulösen, wenn irgendein unbekanntes inneres Signal gegeben wird. Aber für Bhischma Das mag dies so unverständlich sein wie die Träume Brahmas. Nach kurzer Überlegung sagt er: »Jeder, der am Leben war, als der Virus ausgestreut war, nahm ihn unwissentlich in seinen Körper auf, in jenen Teil seines Körpers, der festlegt, welche Merkmale und Eigenschaften er an seine Kinder weitergibt. Sobald der Virus in diesen Teil eingedrungen ist, kann er nicht mehr herausgelöst werden. Und so geben wir den Virus an unsere Söhne und Töchter weiter, ebenso wie wir unsere Hautfarbe, die Beschaffenheit unseres Haars und alles übrige weitergeben.«

»Ein schreckliches Ende. Wie traurig. Und das Gegenmittel, Doktor? Kann das Gegenmittel uns von diesem Erbe befreien?«

»Das jetzt verwendete Mittel«, sagt Schadrach, »hindert den Virus daran, aktiv zu werden und sein genetisches Programm auf die Körperzellen zu übertragen. Mit anderen Worten, es verhindert den Ausbruch der Krankheit, neutralisiert den Virus und bewahrt ihn in einem Zustand von Latenz. Können Sie mir folgen?«

»Ja, ja, ich verstehe. Es ist wie mit Tiefkühlung, nicht wahr?«

»Sozusagen. Gegenwärtig ist es so, daß die Dosis zur Immunisierung alle sechs Monate erneuert werden muß. Das ist notwendig, um den Virus in Schach zu halten und ein Ausbrechen der Organzersetzung zu verhindern. Diese Notwendigkeit halbjährlicher Nachimmunisierung ist natürlich ein Hindernis für die weltweite Verteilung des Mittels. Weitere Hindernisse sind die jetzt noch sehr kostspielige und schwierige Herstellung, sowie die unbefriedigende Haltbarkeit.«

»Eine Tasse Tee, Doktor?«

»Bitte.«

»Sie haben dieses Gegenmittel selbst bekommen?«

Nach kurzem Zögern sagt Schadrach unbehaglich: »Ja, ich bin immunisiert.«

»Ich verstehe. Weil Sie ein Arzt sind. Weil es wichtig ist, die Ärzte am Leben zu erhalten. Ganz klar. Sie werden es komisch finden, aber ich hatte gleich das Gefühl, daß Sie immunisiert seien. Sie haben so etwas an sich… Sie sind anders als wir. Sie wachen nicht jeden Morgen mit dem Gedanken auf, ob dies der Tag sein mag, da die Seuche in Ihnen zu fressen beginnt. Nun, eines Tages werden auch wir an der Immunisierung teilhaben.«

»Ja. Eines Tages. Die Regierung arbeitet an der Vereinfachung und Verbesserung der Herstellungsverfahren, um die zur Versorgung der Allgemeinheit benötigten Mengen bereitzustellen.« Wenn er an die fehlenden Mittel und den schleppenden Fortgang dieses Programms denkt und mit den Anstrengungen vergleicht, die für die Projekte zur Lebensverlängerung des Vorsitzenden unternommen werden, muß er sich wie ein Lügner vorkommen. »Ich wünschte, Sie könnten heute Ihre erste Injektion bekommen«, fügt er lahm hinzu.

»Für mich ist das nicht wichtig«, erwidert Bhischma Das ruhig. »Ich bin alt und habe mich bis jetzt einer guten Gesundheit erfreut, und selbst in den schwersten und unruhigsten Zeiten ist mein Leben glücklich gewesen. Sollte die Seuche morgen in mir ausbrechen, so werde ich darauf vorbereitet sein. Aber meinen Kindern und Enkeln wünsche ich, daß sie verschont bleiben mögen. Was bedeuten ihnen die alten Kriege? Warum sollten sie für Nationen und Interessen, die zur Zeit ihrer Geburt bereits vergessen waren, eines schrecklichen Todes sterben? Ich möchte, daß sie leben. Meine Familie ist seit einhundertfünfzig Jahren in Kenia ansässig, seit meine Vorfahren aus Bombay einwanderten, und wir sind hier zufrieden und glücklich gewesen. Warum sollten wir jetzt zugrunde gehen? Traurig, Doktor, sehr traurig ist dieser Fluch, der auf der Menschheit liegt. Werden wir uns jemals von dem reinigen, was wir uns selbst angetan haben?«

Schadrach zuckt die Achseln. Es gibt keine Möglichkeit, das mörderische neue Gen aus dem genetischen Paket auszukämmen; aber in der Theorie ist ein permanent wirkendes Gegenmittel denkbar, eine hybride DNS-Form, die in die infizierten Gene integriert werden kann, um das tödliche genetische Material zu absorbieren oder zu entgiften. Schadrach weiß von einem Mitglied des Revolutionsrates, dem die Ministerien für Gesundheit und Forschung unterstehen, daß an der Entwicklung eines solchen Stoffs gearbeitet wird. Aber ob und mit welchem Erfolg, das ist ihm unbekannt. Das permanente Gegenmittel mag ein Mythos sein, der niemals Wirklichkeit werden kann.

Er sagt: »Ich denke, diese letzten zwanzig Jahre sind eine Reinigung gewesen, der die Menschheit unterzogen werden mußte. Vielleicht als Strafe für unerträglich angehäufte Dummheiten, Nachlässigkeiten und Sünden. Die ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist wie ein Pfeil, der direkt auf den Viruskrieg und seine Folgen weist. Aber ich glaube, wir werden die Prüfung überleben.«

»Und alles wird wieder sein, wie es einst war?«

Schadrach lächelt. »Ich hoffe nicht. Wenn wir dahin zurückkehrten, wo wir vor Ausbruch des Viruskriegs standen, so würden wir eines Tages nur wieder zu dem Punkt gelangen, den wir jetzt erreicht haben. Und die nächste Version des Viruskriegs werden wir womöglich nicht überleben. Nein, ich denke, wir werden auf den Ruinen eine bessere Welt errichten, eine stillere, weniger gierige Welt. Es wird Zeit erfordern, aber der Anfang ist gemacht. Die Schwierigkeiten sind sehr groß, und es kann noch viel Leid über die Menschheit kommen, ehe es besser wird. Millionen werden unnötig eines qualvollen Todes sterben. Aber irgendwann wird das Leiden ein Ende haben, und die Überlebenden werden auf ein glückliches Leben hoffen dürfen.«

»Wie erfrischend, solchen Optimismus zu hören.«

»Bin ich ein Optimist? Ich habe mich selbst nie als einen gesehen. Ich halte mich für einen Realisten, aber ein Optimist bin ich nicht. Wie seltsam, daß ich mich auf einmal als ein Apostel der Hoffnung und des Zukunftsglaubens wiederfinde!«

»Ihre Augen leuchteten, als Sie von Ihrer Zukunftserwartung sprachen. Sie lebten bereits in jener besseren Welt, als Sie mir davon sprachen. Bitte, ziehen Sie Ihre Prophezeiung nicht zurück. Sie, ein Arzt, glauben, daß wir auf dem rechten Weg sind, der uns in eine glücklichere Zukunft führen wird. Ihre Zuversicht gibt auch mir neue Hoffnung für meine Kinder und Enkel.«

»Zuversicht ist ein großes Wort«, sagt Schadrach nüchtern. »Begnügen wir uns mit der Hoffnung.«

»Sie wissen, daß bessere Zeiten kommen werden.«

»Ich habe keine solche Gewißheit. Vielleicht klang es zuvor so, aber…« Er schüttelt den Kopf, unternimmt eine entschlossene Anstrengung, den unerwarteten Faden positiven Denkens wiederaufzunehmen, der ihm so überraschend in den Sinn gekommen war. »Ja«, sagt er, »es wird besser werden.« Schon klingt es gezwungen, aber er fährt fort: »Keine Entwicklung führt für immer abwärts. Die Organzersetzung kann besiegt werden. Die soviel kleinere Bevölkerung unserer Tage wird angenehm in einer Welt leben können, die nicht mehr imstande war, die vor dem Krieg lebenden Menschenmassen zu erhalten. Ja. Wir müssen dies alles als eine Reinigung sehen, als eine Feuerprobe, eine notwendige Korrektur alter Mißbräuche, die zu besseren Entwicklungen führt. Als ein Morgengrauen nach langer Dunkelheit.«

»Sie sind doch ein Optimist!«

»Vielleicht bin ich es. Manchmal.«

»Es wäre gut, wenn Männer wie Sie uns in diese neue Welt führen würden«, sagt Bhischma Das, mitgerissen von der Vision.

Schadrach hebt in erschrockener Abwehr die Hände. »Nein, nicht ich. Ich möchte in jener Welt leben, ja. Aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich sie regiere.«

»Wenn der Zeitpunkt kommt, werden Sie anders darüber denken. Man wird Ihnen einen Platz in der Regierung anbieten, Doktor, weil Sie weise und gut sind, und Sie werden annehmen. Weil Sie weise und gut sind.« Bhischma Das gießt frischen Tee in die Tassen. Sein naives Vertrauen ist rührend. Schadrach schlürft bedächtig-; auf einmal geht ihm eine morbide Vision durch den Sinn, wie Bhischma Das in einem oder zwei Jahren aufspringt und begeistert gestikuliert, wenn der neue Vorsitzende des Permanenten Revolutionsrates zum ersten Mal im Fernsehen erscheint, weil das Gesicht des neuen Vorsitzenden das gutgeschnittene dunkelhäutige Gesicht jenes weisen und guten Arztes ist, der einmal in seinem Laden Tee mit ihm getrunken hat. Schadrach hustet und spuckt und verschüttet fast den Tee in seiner Tasse. Das Gesicht wird das Gesicht von Doktor Mordechai sein, ja, aber der Geist hinter den warmen, forschenden Augen wird der kalte, verdüsterte Geist Dschingis Khans II. Mao sein. Beinahe hätte Schadrach das Projekt Avatara vergessen, an diesem Tag in Nairobi. Beinahe. »Ich muß gehen«, sagt er. »Es ist schon spät, und Sie werden schließen wollen.«

»Bleiben Sie noch eine Weile. Ich habe es nicht eilig.« Nach einem Augenblick fügt er hinzu: »Darf ich Sie zum Abendessen in meine Wohnung einladen?«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein…«

»Anderweitige Verpflichtungen? Das ist schade. Wir würden Ihnen zu Ehren ein feines indisches Gericht improvisieren. Wir würden eine Flasche guten Wein auftreiben! Einige gute Freunde von mir — die anregendsten Mitglieder der hiesigen indischen Kolonie — Lehrer, Künstler, Wissenschaftler, intelligente Konversation —, ach ja, ein köstlicher Abend, wenn Sie uns die Ehre geben würden!«

Eine Verlockung. Schadrach wird andernfalls in seinem Hotel essen, allem, ein Fremder in dieser fremden Stadt, einsam und in Gefahr. Aber nein: unmöglich. Einer von diesen anregenden intellektuellen Indern wird ihn sicherlich fragen, wo er lebt, welche Art ärztlicher Praxis er ausübt, und dann muß er entweder lügen, was ihm verhaßt ist, oder er muß mit der ganzen Wahrheit herausrücken — Mitglied der privilegierten Elite, Leibarzt des tyrannischen alten Vorsitzenden etc. etc. und soviel für seinen neuen Ruf als humanitärer Wohltäter: die Wahrheit über ihn wird den Freunden von Bhischma Das widerwärtig sein und den armen Das selbst demütigen: Schadrach murmelt aufrichtig klingende Entschuldigungen und Formeln des Bedauerns. Als er sich verabschiedet, begleitet ihn Das zur Tür und sagt: »Dann nehmen Sie wenigstens ein kleines Geschenk von mir an, eine Erinnerung an diese angenehme Stunde.« Er überblickt hastig seine Regale, sucht zwischen den Speeren, Korallen- und Muschelketten, den hölzernen Statuetten, aber alles ist entweder zu primitiv und dürftig, zu billig oder zu groß und ungefüge, um ein passendes Geschenk für einen solchen vornehmen Gast abzugeben, und einen Augenblick scheint es, daß Schadrach ohne Geschenk hinausgehen wird; doch im letzten Augenblick nimmt Das ein kleines Antilopenhorn auf, in dessen spitz zulaufendes Ende ein Loch gebohrt und mit Wachs verstopft ist. Ein Schröpfhorn, erläutert Das, von einem Stamm nahe der südlichen Grenze verwendet, um Schmerzen und böse Geister aus den Körpern der Kranken zu ziehen: man setzt das Hörn mit der offenen Seite an die Haut, saugt die Luft heraus, bis ein Vakuum entsteht, verstopft das Loch mit dem Wachspropfen. Er drängt es Schadrach auf, sagt, es sei ein passendes Geschenk für einen Arzt, und Schadrach nimmt es, nachdem er sich anstandshalber eine Weile geziert hat, mit Freuden an. Er hat keine medizinischen Instrumente aus Ostafrika in seiner Sammlung. »Diese Schröpfhörner werden noch immer verwendet«, sagt Das. »Gerade in dieser Zeit, um den bösen Geist der Organzersetzung herauszuziehen.« Er geleitet Schadrach mit Verbeugungen aus dem Laden, sagt ihm wieder und wieder, welch eine Ehre sein Besuch gewesen sei, wie gut es ihm getan habe, aus dem Munde eines Arztes so hoffnungsvolle Worte zu vernehmen.

Auf dem Rückweg zum Hotel sieht Schadrach vier Tote und Sterbende auf den Straßen liegen.

Загрузка...