24

Zwei in lange Gewänder gehüllte Kultdiener bringen Roger Buckmaster aus den Tiefen des Zelts der Transtemporalisten in Karakorum. Auch Buckmaster trägt ein Gewand, aber nicht aus dem derben schwarzen Roßhaarstoff der Transtemporalisten. Er steckt in einer Art Kutte mit Kapuze, fein gewebt aus dicker brauner Wolle. Er geht barfuß in offenen Sandalen, und auf seiner Brust baumelt ein Kreuz. Beim Zurückstreifen der Kapuze enthüllt er eine Tonsur. Buckmaster ist eine Art Mönch geworden.

Seine neue asketische Erscheinung ist nicht die einzige Veränderung. Früher war er ein aufbrausender, ungeduldiger Choleriker, in dem ständig eine wütende Energie zu zirkulieren schien, immer auf der Suche nach irgendeinem Ventil. Jetzt ist er von einer unheimlich anmutenden Ruhe und Insichgekehrtheit, wie ein Mann, der sich in eine unerreichbare Einsiedelei inneren Friedens zurückgezogen hat. Er ist blaß, sehr dünn, beinahe durchsichtig. Er bleibt stumm und bewegungslos wartend vor Schadrach stehen.

»Ich hatte nicht erwartet, Sie lebend wiederzusehen«, sagt Schadrach nach einem Augenblick unbehaglichen Schweigens.

»Das Leben birgt viele Überraschungen, Doktor Mordechai.« Buckmasters Stimme scheint sich mit seinem Äußeren verändert zu haben, ist tiefer und hohler geworden, gereinigt von aller Ungeduld und Gereiztheit.

»Ich hatte gedacht, Sie lägen in der Organfarm.«

»Der Herr beschloß, mich zu verschonen«, sagt Buckmaster fromm.

Schadrach findet das frömmelnde Getue schwer erträglich. »Sie meinen, Ihre Freunde haben dafür gesorgt, daß Sie mit heiler Haut davongekommen sind«, erwidert er, aber sofort bedauert er seine Unverblümtheit. Es ist nicht klug, so zu jemandem zu sprechen, dessen Hilfe man braucht.

Aber Buckmaster scheint nicht beleidigt.

»Meine Freunde sind Seine Werkzeuge. Wie wir alle, Doktor Mordechai.«

»Sind Sie die ganze Zeit hier gewesen?«

»Ja. Seit dem Tag nach dem Verhör, dessen Zeuge Sie waren.«

»Und die Miliz hat nicht nach Ihnen gesucht?«

»Ich bin offiziell und aktenkundig tot, Doktor. Nach den amtlichen Unterlagen ist mein Körper zerlegt worden. Kranken Bürgern der Hauptstadt zugute gekommen. Die Miliz sucht nicht nach Toten. Für die Behörden bin ich nichts weiter als ein erledigter Fall. Vergessen. Wenn Sie hingingen und ihnen sagten, ich sei hier am Leben, so würde Ihnen keiner glauben.«

»Und was haben Sie während dieser Zeit getan?« fragt Schadrach.

»Die Transtemporalisten betrachten mich als einen heiligen Mann. Jeden Tag trinke ich aus ihrer Schale. Jeden Tag kehre ich in die Zeit zurück, da unser Herr auf Erden wandelte. Ich habe Seiner Leidensgeschichte viele Male beigewohnt, Doktor. Ich bin unter den Aposteln gewandelt. Ich habe den Saum von Marias Kleid berührt. Ich habe die Wundertaten gesehen: Kanaa, Kapernaum, die Erwekkung des Lazarus. Ich habe den Verrat in Gethsemane gesehen, war Augenzeuge, als der Herr vor Pilatus geführt wurde. Ich habe alles gesehen, Doktor Mordechai, alles, wovon die Heilige Schrift berichtet. Es ist alles wahr. Es ist buchstäblich die Wahrheit. Meine Augen haben es gesehen.«

Das unerwartete Feuer der Überzeugung in Buckmasters Augen, die fromme Begeisterung seiner Stimme machen Schadrach sprachlos. Er kann nicht umhin, zu glauben, daß dieser schäbige kleine Mann mit Jesus, Petrus und Johannes durch Galiläa gewandert ist, daß er die Predigten Johannes des Täufers und die Klagen der Magdalena gehört hat. Illusion, Halluzination, Selbsttäuschung, Schwindel: egal. Buckmaster ist verwandelt. Er ist verklärt.

Schadrach fragt ihn mit absichtlicher Direktheit: »Können Sie noch mikroelektronische Geräte bauen?«

Die Irrelevanz der Frage bringt Buckmaster aus dem Gleichgewicht. Er ist versunken in heiligmäßige Betrachtungen, eingehüllt in mystische Entrücktheit und transzendentale Freude, und so kommt es, daß er verblüfft nach Luft schnappt, als hätte er einen Rippenstoß bekommen. Er hüstelt, runzelt die Stirn und sagt verdutzt: »Ich denke, daß ich es könnte. Es ist mir nie in den Sinn gekommen…«

»Ich habe Arbeit für Sie.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich, Doktor!«

»Ich meine es ganz ernst. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil es Arbeit gibt, die nur Sie richtig und gut machen können. Sie sind der einzige, dem ich sie anvertrauen kann.«

»Die Welt hat mich ausgestoßen, Doktor. Ich habe ihr entsagt. Ich wohne hier. Die Angelegenheiten der Welt sind nicht länger die meinen.«

»Sie waren einmal entrüstet über die Anmaßungen und Ungerechtigkeiten des Vorsitzenden.«

»Ich bin jetzt jenseits von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Doktor Mordechai.«

»Sagen Sie das nicht. Es klingt eindrucksvoll, Buckmaster, aber es ist gefährlicher Unsinn. Die Sünde des Hochmuts, nicht wahr? Sie wurden von Ihren Mitmenschen gerettet. Ihnen verdanken Sie Ihr Leben. Diese Mitmenschen haben viel für Sie riskiert. Sie haben ihnen gegenüber Verpflichtungen.«

»Ich bete täglich für sie.«

»Es gibt etwas Nützlicheres, was Sie tun können.«

»Gebet ist das höchste Gut, das ich kenne«, sagt Buckmaster. »Ich stelle es in jedem Fall über die Mikroelektronik. Ich sehe nicht ein, wie irgendeine Arbeit auf diesem Gebiet meinen Mitmenschen helfen sollte.«

»Die Arbeit, die ich für Sie habe, vermag das.«

»Ich wüßte nicht, wie…«

»Der Vorsitzende muß sich bald einer weiteren Operation unterziehen.«

»Was ist mir der Vorsitzende? Er hat mich vergessen, ich habe ihn vergessen.«

»Einer Operation des Gehirns«, fährt Schadrach fort. »In seinem Schädel sammelt sich Flüssigkeit an. Wenn sie nicht abgeleitet werden kann, wird sie ihn wahrscheinlich töten. Während des chirurgischen Eingriffs werden wir ein Drainagesystem mit einem Ventil installieren, durch welches die Flüssigkeit abgeleitet werden kann. Gleichzeitig wird mir ein weiteres telemetrisches Übertragungsgerät eingepflanzt. Ich möchte, daß Sie es für mich entwickeln, Buckmaster.«

»Wozu soll es dienen?«

»Es soll mir erlauben, diese Ventilfunktion zu steuern«, sagt Schadrach.


Zwei Stunden später ist Schadrach in der großen Zimmermannswerkstatt am anderen Ende dieses Vergnügungsparks von Karakorum, umgeben von Stemmeisen und Schlegeln, Hobeln und Sägen, und versucht in das meditative Eingangsstadium einzutreten. Er hat nicht viel Glück damit. Hin und wieder spürt er einen Anflug, die Anfänge eines richtigen Maßes von Konzentration, doch gelingt es ihm nicht, diese Stimmung länger als einen Augenblick festzuhalten. Immer dann, wenn er sich beglückwünscht, daß er endlich den ersehnten Zustand erreicht habe, verliert er ihn wieder. Es ist Buckmasters Schuld. Buckmaster läßt sich nicht aus dem Vordergrund seines Bewußtseins verdrängen.

Ginge es nach Buckmaster, so würde Schadrach jetzt überhaupt nicht in der Zimmermannswerkstatt stehen, sondern schlaff und im Drogenrausch im Zelt der Transtemporalisten liegen, während seine Seele durch die Jahrtausende zurückreiste, um an dem blutigen Ritual auf dem Kalvarienberg teilzunehmen. »Nehmen Sie den Trank mit mir«, bedrängte ihn Buckmaster. »Wir werden gemeinsam die Leidensgeschichte durchleben.« Aber Schadrach wollte nicht. Ein anderes Mal, vertröstete er Buckmaster freundlich. Die transtemporalen Erfahrungen verzehren zuviel Energie; er benötigt seine ganze Kraft für das bevorstehende schwierige Unternehmen. Nachdem er sich bemüht hatte, Buckmaster den Sachverhalt klarzumachen, verstand dieser oder war zumindest bereit, ihm zu verzeihen, daß er die Reise nicht gleich antreten wollte. Und Schadrach verließ das Zelt mit Buckmasters Versprechen, daß er den Entwurf für das neue telemetrische System am nächsten Tag ausarbeiten werde. Und trotz dieses guten Ergebnisses verfolgt Buckmaster ihn noch immer.

Wie verblüffend es war, Buckmasters mönchisches Gehabe von ihm abfallen zu sehen, als er die Implikationen von Schadrachs Vorhaben begriff: sein Atem beschleunigte sich, Farbe stieg ihm in die Wangen, die Augen blitzten in ungeduldigem Interesse. Er stellte hundert Fragen, verlangte Spezifikationen und Leistungsschwellen, Größenangaben und bevorzugte Platzierung im Körper. Es kostete ihm kaum eine halbe Stunde, um das Funktionsschema in großen Zügen zu entwerfen. Für die Ausarbeitung benötige er einen Datenanschluß, sagte er, aber das sei kein Problem: Cifolia könne ihm eine Direktschaltung per Telefon herstellen. Er war Feuer und Flamme, lachte wiederholt laut und durchdringend auf, wenn er sich die Wirkungsweise des neuen Systems vorstellte. Und dann ergriff ebenso unvermittelt eine neue Verwandlung von ihm Besitz. Die weltentrückte Heiterkeit kehrte zurück. Die Probleme der Mikroelektronik waren vergessen; er war wieder ein Mönch, gelassen, in sich gekehrt, erfüllt von frommen Visionen. Und er lud Schadrach ein, mit ihm die Passion Christi zu erleben.

Der arme verrückte Buckmaster.

Bemüht, seinen eigenen inneren Frieden wiederzufinden, nimmt Schadrach einen Hobel auf, legt ihn weg, fährt mit den Fingern über die gekrümmte Klinge eines Schnitzmessers, drückt sich eine Raspel gegen die Stirn. Besser. Ein wenig besser. Die Berührung des kalten Metalls beruhigt ihn. Der arme verrückte Buckmaster wird inzwischen den Trank genommen haben. Und wird auf den Flügeln des Traums davongeschwebt sein, um zu sehen, wie sie die Dornenkrone anbringen, die Nägel einschlagen und die Lanze in den Leib des Gekreuzigten stoßen. Verrückt? Buckmaster ist ein glücklicher Mensch. Er hat einen Platz jenseits allen Schmerzes gefunden, hat die Häscher des Vorsitzenden überlistet. Er ist aus seiner Qual zur Heiligkeit gelangt, und jeden Tag wandelt er mit den Aposteln und dem Erlöser. Für ihn ist das Palästina der Bibel realer als die Gegenwart, aus der er geflohen ist, und wer kann es ihm verdenken? Mehr noch, wer kann daran etwas aussetzen? Schadrach wäre imstande, die gleiche Wahl zu treffen, wenn er könnte. Natürlich wird die Realität früher oder später in Buckmasters Fantasie eindringen: eine Zeit wird kommen — und das schon bald —, da Buckmasters letzte Immunisierung ihre Wirksamkeit verliert, und es wird ihm wahrscheinlich nicht gelingen, eine weitere Dosis aufzutreiben. Aber das bereitet ihm offensichtlich keine Sorgen.

Das Nachdenken über Buckmasters neu gefundenen Seelenfrieden läßt Schadrach selbst einen Abglanz davon zuteil werden. Diesmal gelingt es ihm, die meditative Konzentration zu erhalten und jenen klaren, lichten Ort im Innern zu erreichen, der von keinem Sturm erreicht wird. Buckmaster verschwindet, der Vorsitzende verschwindet, Schadrach verschwindet. Stundenlang arbeitet er ruhig und erfüllt an seiner Werkbank, völlig eins mit seinem Werkzeug, seinem Holz. Als er spät am Tag die Werkstatt verläßt, ist er in einem Zustand, der an Ekstase grenzt.


Eine Stunde nach Dunkelwerden trifft er in Ulan Bator ein. Als erstes ruft er Katja Lindman an.

»Ich möchte dich sprechen«, sagt er.

»Ich hoffte, du würdest anrufen. Ich hatte von deiner Rückkehr gehört.«

Sie treffen sich im Kasino, einem Gemeinschaftsraum im Kantinenbetrieb, der von Regierungsangestellten der mittleren Kategorie bevorzugt wird. Es gibt Tische mit Bedienung, und der allgemeine Lärm ist gewöhnlich so, daß man ohne Furcht vor Abhörgeräten sprechen kann. Die Decke des Saals ist mit lang herabhängenden Schriftbändern aus goldglänzender Metallfolie dekoriert, die sich sanft in den Luftströmungen bewegen. Ein riesiges Porträt des Vorsitzenden beherrscht die Ostwand, während die Wand gegenüber den etwas kleineren Konterfeis berühmter Revolutionshelden der Vergangenheit vorbehalten ist.

Das erste, was sie sagt, nachdem sie einen freien Tisch gefunden und sich gesetzt haben, ist: »Ich habe nicht geglaubt, daß du jemals zurückkommen würdest.«

»Ich hatte nie die Absicht, unterzutauchen. Ich wollte nur für eine Weile aus allem herauskommen und Zeit haben, mir eine Strategie auszudenken.«

»Und ist dir das gelungen?«

»Ich hoffe es. Bald werde ich es genauer wissen.«

»Ich werde dich nicht mit Fragen behelligen.«

»Dafür bin ich dir dankbar.«

Sie lächelt. »Es freut mich, daß du wieder da bist. Nur mache ich nur Sorgen wegen der Gefahr, in der du schwebst.«

»Wenn ich mir keine Sorgen mache, warum solltest du?«

»Das brauche ich nicht zu beantworten.« Sie beugt sich vor und blickt ihm forschend in die Augen. »Ich habe dich vermißt, Schadrach. Es erstaunte mich, wie sehr ich dich vermißte. Aber du hast es nicht gern, wenn ich so etwas sage, nicht wahr?«

»Wie kommst du auf die Idee?«

»Deine Miene. Du machst ein so unbehagliches Gesicht. Aus meinem Mund magst du keine sanften Worte hören. Du meinst, zu einem forschen, scharfen Typ wie mir paßt das nicht.«

»Ich bin es einfach nicht gewohnt, dich von der Seite zu sehen. Sie ist mir nicht vertraut.«

»Wahrscheinlich gefällt es dir nicht einmal, daß ich in einem Kleid gekommen bin. Aber wenn du willst, kann ich wieder die andere Katja sein und mir den Labormantel überziehen.«

Es hört sich beinahe an, als meine sie es ernst.

Er nimmt ihre Hand. »Hör auf damit«, sagt er. »Du siehst gut aus.«

»Danke.«

Sie entzieht ihm die Hand.

»Wirklich. Ich hätte es gleich sagen sollen, nicht wahr? So geht das Spiel. Und nun mußt du sagen…«

»Wir sollten einander nichts vorspielen, Schadrach. Einverstanden?«

»Einverstanden. Hast du dieses ausgeschnittene Kleid für mich angezogen, oder für dich?«

»Für uns beide.«

»Ah. Einfach, weil es dir Spaß machte, nicht? Weil dir danach war, als femme fatale zu erscheinen. Richtig?«

»Richtig«, sagt sie. »Was dagegen?«

»Nein, warum?«

»Ist es erlaubt, dir zu sagen, daß ich dich vermißt habe? Du solltest mich nicht zwingen, eine Art von Maschine zu sein, Schadrach. Erwarte nicht, daß ich immer dem Bild gleiche, das du dir von mir machst. Ich verlange nicht, daß du mir sagst, du hättest mich vermißt. Aber gib mir das Recht, auszudrücken, was ich empfinde. Gib mir das Recht, gelegentlich albern zu sein, sentimental oder inkonsequent, wenn mir danach ist. Ohne dir gleich Gedanken zu machen, welches nun die richtige Katja sei. Ich bin immer die richtige Katja, wer immer ich im Moment sein mag. War?«

»Klar«, sagt er und ergreift wieder ihre Hand, und diesmal läßt sie ihn gewähren.

Nach einer kleinen Weile sagt er: »Was ist hier passiert, während ich fort war?«

»Ich nehme an, du bist über die Kopfschmerzen des Vorsitzenden im Bilde.«

Er nickt. »Deshalb kam ich vorzeitig zurück. Sowie ich in Peking die ersten telemetrischen Impulse von ihm empfing.«

»Ist es was Ernstes?«

»Wir werden operieren müssen«, sagt er. »Sobald eine Spezialanfertigung zur Verfügung steht, die ich bestellt habe.«

»Ist Gehirnchirurgie besonders riskant?«

»Nicht so riskant, wie du vielleicht meinst. Aber dem Alten gefällt die Vorstellung ganz und gar nicht: Laser, die in seinem Gehirn herumstochern und so weiter. Ich habe ihn vor einer Operation nie so besorgt und ängstlich gesehen. Aber er wird keinen Schaden nehmen. War sonst noch was los?«

»Das Begräbnis.«

»Ja, ich weiß. Ich war gerade in Jerusalem oder in Istanbul. Später sah ich einige Fotos.«

»Es war monströs«, erzählt Katja. »Die Veranstaltungen und Feierlichkeiten zogen sich über Tage hin. Der Himmel weiß, wie viel das Ganze gekostet hat. Alles kam praktisch zum Stillstand, während die Reden, die Paraden, die militärischen Schaustellungen abliefen, das ganze feierliche Gepränge. Und der alte Mann saß die ganze Zeit in der Ehrenloge auf der Tribüne und hatte seine Freude daran.«

»Was für ein Jammer, daß es mir entgangen ist.«

»Ich kann mir vorstellen, wie gebrochen du warst.«

»Ja, schrecklich.« Sie lachen. »Was gab es sonst?« fragt er. »Wie geht es mit deinem Projekt voran?«

»Sehr gut. In den letzten drei Wochen haben wir größere Fortschritte gemacht als in den drei Monaten zuvor.«

»Gut. Ich möchte, daß dein Projekt als erstes fertig wird.«

»Hast du nach deiner Rückkehr mit Nicki Crowfoot gesprochen?«

»Nein«, sagt er. »Noch nicht.«

»Wie ich höre, geht es bei Avatara auch rasch vorwärts. Sie sagen, sie wären mit der Umorientierung von Mangus Parametern auf… auf diejenigen des neuen Spenders praktisch fertig. Wochen vor dem Zeitplan. Es macht mir Angst, Schadrach.«

»Das sollte es nicht.«

»Ich kann nicht umhin, daran zu denken… Was, wenn sie jemals wirklich die… Übertragung…«

»Das werden sie nicht tun«, sagt er. »Sie wird nicht dazu kommen. Der Alte kann mich nicht entbehren, so wie ich bin.«

»Niemand ist unersetzlich, vergiß das nicht. Wie viele andere Ärzte, meinst du, hat er schon in Bereitschaft? Komplett mit eingebauten Signalgebern und allem?«

»Keinen einzigen.«

»Weißt du das bestimmt?«

»Buckmaster würde es wissen, wenn jemals ein Duplikatsatz von seinem telemetrischen System gebaut worden wäre. Er hat nie etwas davon gehört.«

»Buckmaster ist tot.«

Er läßt sie in dem Glauben. »Ich weiß, daß es keinen Nachfolger gibt, der irgendwo bereitsteht und darauf wartet, daß ich aus dem Verkehr gezogen werde. Der Vorsitzende ist von mir abhängig. Und ich habe das Gefühl, daß ich ihm in naher Zukunft noch viel unentbehrlicher sein werde. Ich mache mir Avatares wegen keine Sorgen, Katja.«

»Ich hoffe, du weißt, was du tust.«

»Das hoffe ich auch«, sagt er.


Der Vorsitzende liegt bäuchlings auf dem Operationstisch, wach und bei vollem Bewußtsein. Gelegentlich wendet er den Kopf zur Seite, um verdrießlich die um ihn versammelten Ärzte anzustarren — Schadrach, Warhaftig und einen chinesischen Neurochirurgen namens Ma’lin. In den kleinen schwarzen Augen, hinter den faltigen Lidern fast verborgen, ist ein unverkennbarer Ausdruck von Angst. In zehn Minuten wird der chirurgische Laser in seine Schädeldecke bohren, und die Aussicht darauf versetzt ihn in gelinde Panik. Wären nicht die unerträglichen Kopfschmerzen, die mit schmerzbetäubenden Mitteln nur vorübergehend und unvollkommen gelindert werden können, dann würde dies alles nicht geschehen.

Der Kopf des Vorsitzenden ist rasiert, und ohne Haar sieht er seltsamerweise viel jünger und energischer aus. Die Eintrittswinkel für den Laser sind mit Leuchtfarbe auf der Kopfhaut markiert.

Nach eingehender Besprechung mit Doktor Ma’lin trifft Warhaftig die Vorbereitungen für den ersten Einschnitt. Die Strategie der Operation ist in dreitägigen Vorbesprechungen festgelegt worden. Sie werden die wichtigen Gehirnzentren unberührt lassen. Der Schädel wird oben an der Okzipitalkurve geöffnet, worauf das Drainagegerät unter dem vierten Ventrikel nahe der Me-dulla oblongata in den Hirnstamm eingeschoben wird. Dies ist nach einhelliger Meinung der beteiligten Ärzte der optimale Platz für das Ventil, der überdies den Vorteil hat, daß das Laserskalpell vom Sitz der Vernunft ferngehalten wird. Freilich könnte jeder chirurgische Ausrutscher der Medulla Schaden zufügen, die vasomotorische und kardiale Funktionen sowie andere lebenswichtige autonome Reaktionen steuert. Aber Warhaftig ist kein Chirurg, der sich Ausrutscher leistet.

Er wirft Schadrach einen Blick zu. »Ist alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung. Wenn Sie soweit sind, kann es losgehen.« Ma’lin berührt das Genick des Vorsitzenden, der nicht darauf reagiert. Auch ein scharfes Zwicken in den Hinterhauptansatz bringt keine Reaktion. Er ist unter örtlicher Betäubung, die durch Sonipunktur erzeugt wurde. Er nickt Warhaftig zu.

Warhaftig nickt zurück. »Fangen wir an.«

Er macht den ersten Schnitt.

Der Patient schließt die Augen, aber Schadrachs innere Monitore verraten ihm, daß der alte Mann noch immer bei vollem Bewußtsein ist, gespannt und konzentriert wie ein sprungbereiter Leopard auf einem Ast. Die Kopfhaut wird zurückgezogen und von Klammern festgehalten. Warhaftig tritt zur Seite und läßt Ma’lin den Schädeleinschnitt machen. Der Chinese hat seit dreißig Jahren Gehirnoperationen ausgeführt und weiß besser als Warhaftig, wie viel Spielraum seine Schnitte haben dürfen. Innerhalb weniger Minuten ist ein Fenster ins Schädeldach geschnitten und der Hinterhauptteil des Gehirns freigelegt.

Nun beginnt die Suche nach dem geeigneten Ort zur Unterbringung des Ableitungsventils. Statt eines Lasers gebraucht der Neurochirurg jetzt eine Hohlnadel, die mit flüssigem Stickstoff gefüllt und auf eine Temperatur von –160°C abgekühlt ist. Die Nadel gleitet in die Tiefen des Hirnstamms, gefriert die Gehirnzellen und tötet sie bei längerem Kontakt ab. Während Warhaftig Instrumentenablesungen abruft und Schadrach telemetrische Daten über den Zustand der autonomen Systeme des Vorsitzenden beisteuert, öffnet der Neurochirurg einen Raum für das Einsetzen des Ableitungsventils. Alles verläuft reibungslos. Der Patient fährt fort zu atmen, Blut zu pumpen und die normale Anordnung elektroenzephalographischer Wellen zu erzeugen. An ihm befindet sich jetzt ein Schlauch, der überschüssige cerebrospinale Flüssigkeit in seinen Kreislauf ableitet, ausgestattet mit einem Ventil, durch das die Flüssigkeitsableitung gesteuert werden kann, und einer telemetrischen Sonde, die den Leibarzt ständig über das Funktionieren des Ventils und den Flüssigkeitsspiegel in den Ventrikeln berichtet. Knochen und Haut werden wieder angebracht; der Patient, erschöpft und bleich, aber erleichtert lächelnd, wird aus dem Operationsraum gerollt.

Warhaftig wendet sich zu Schadrach. »Da wir schon alles vorbereitet haben, können wir gleich zur nächsten Operation übergehen. Einverstanden?« Er ergreift Schadrachs linke Hand. »Sie möchten den Signalgeber hier eingepflanzt haben? Ist das richtig? Aber nicht an der Daumenbasis, wie? Hier, würde ich sagen, mehr zur Mitte der Handfläche. Gut so? Schön. Dann wollen wir sie jetzt desinfizieren und eine örtliche Betäubung machen.«

Als Schadrach und Nicki zum ersten Mal seit seiner Rückkehr zusammentreffen, sind beide befangen. Er versucht zu lächeln, doch es will ihm nicht gut gelingen, und auch ihre Herzlichkeit wirkt gezwungen.

»Wie geht es dem Vorsitzenden?« fragt sie schließlich.

»Er geht der Genesung entgegen«, sagt Schadrach. »Wie gewöhnlich.«

Sie blickt auf seine verbundene linke Hand. »Und wie sieht es bei dir aus?«

»Es schmerzt noch. Dieses Implantat war größer und komplizierter als die anderen, aber in ein, zwei Tagen werde ich nichts mehr spüren.«

»Ich bin froh, daß alles gutgegangen ist.«

»Ja. Danke.«

Wieder unterziehen sie sich dem Ritual des gezwungenen Lächelns.

»Es ist gut, dich wiederzusehen«, sagt er.

»Ja. Ich freue mich auch.«

Sie schweigen. Aber obwohl die Konversation ins Stocken geraten ist, bevor sie richtig anheben konnte, macht keiner der beiden Anstalten zu gehen. Er ist überrascht, wie wenig ihre Schönheit ihn heute anrührt. Sie ist prachtvoll wie eh und je, aber er empfindet nichts, ausgenommen eine Art von abstrakter Bewunderung, wie man sie für eine Marmorstatue oder einen prächtigen Sonnenuntergang empfinden mag. Er versucht Erinnerungen zu Hilfe zu nehmen. Die Kühle ihrer Haut unter seinen Lippen, die Festigkeit ihrer Brüste in seinen Händen, der Duft ihres elektrisierenden langen Haares. Nichts. Die nächtelangen Gespräche, als sie einander soviel zu erzählen hatten. Nichts. Nichts. So wird Liebe vom Verrat versteinert. Aber sie ist immer noch schön.

»Schadrach…«

Er wartet. Sie sucht nach Worten. Er glaubt zu wissen, was sie sagen will: ihm noch einmal sagen, daß sie es bedaure, daß sie keine andere Wahl gehabt habe, daß sie ihn nur aus dem Bewußtsein der Unausweichlichkeit heraus verraten habe. Es ist ein endloser, peinlicher Augenblick.

Schließlich sagt sie: »Wir kommen mit dem Projekt gut voran.«

»Das habe ich gehört.«

»Ich muß daran weiterarbeiten, weißt du. Es gibt keinen anderen Weg für mich. Aber ich hoffe, daß es nie zur Verwirklichung des Projekts kommen wird; das möchte ich dir begreiflich machen. Ich meine, es ist wertvolle Forschung, ein enormer wissenschaftlicher Durchbruch, aber ich möchte, daß es eine nur wissenschaftliche Leistung bleibt, einfach eine… eine…«

Sie bricht ab.

»Das ist schon gut«, sagt er zu ihr und hört eine seltsame Zärtlichkeit in seiner Stimme anklingen. »Quäl dich deswegen nicht, Nicki. Tu deine Arbeit und tu sie gut. Das ist alles, worüber du dir Gedanken zu machen brauchst. Tu deine Arbeit.« Für die Dauer eines Augenblicks fühlt er einen Funken dessen, was er einst für sie empfand. »Mach dir um meinetwillen keine Sorgen«, sagt er sanft. »Ich werde schon zurechtkommen.«

Am dritten Tag wird der Verband von seiner Hand abgenommen. Nur eine rosige Linie markiert die Stelle, wo das Implantat eingesetzt wurde, eine unauffällige Narbe im Innern der Handfläche. Er bewegt die Hand, krümmt und streckt die Finger — ein leichter Schmerz ist noch spürbar —, vermeidet es jedoch sorgsam, sie zur Faust zu ballen. Der Zeitpunkt zur Erprobung des neuen Geräts ist noch nicht gekommen.

Am Ende der Woche, während die Genesung des Vorsitzenden rasche Fortschritte macht, erlaubt Schadrach sich einen Abend in Karakorum. Er geht allein, an einem milden Sommerabend, der erfüllt ist vom Duft frischer Blüten und dem Geruch bevorstehenden Regens, und bezahlt eine Kabine im Traumtod-Pavillon. Dort legt er den Lendenschurz und die Brustbänder an, nimmt den Talisman von der löwenköpfigen Führerin, betrachtet das Muster der spiraligen Linien und versinkt in der Halluzination. Abermals stirbt er. Er gibt alles auf, Hoffnung und Angst, Ehrgeiz und Zorn, Atem und Leben; er stirbt und wird an einem anderen Ort wiedergeboren, erhebt sich aus seiner hohlen, abgenützten Hülle, blickt auf sie herab, diese lange, braune und leere Gestalt mit den nutzlos hängenden, spinnenartigen Armen und Beinen, und schwebt hinaus in die duftende Leere, wo Raum und Zeit von ihren Verankerungen losgeschnitten sind. Alles ist ihm zugänglich, denn er ist tot. Er betritt eine Stadt voller Ochsenkarren und niedrigen Holzhäusern und labyrinthischen, ungepflasterten Gassen, mit einem Marktplatz pittoresker Armut und mittelalterlichem Schmutz und sieht die vornehmen Herren und Damen in ihren grünen und scharlachroten bestickten Gewändern durch die verkoteten Straßen taumeln, schluchzen und jammern und den Herrgott anrufen, die Hände an den schmerzenden geschwollenen Stellen unter den Armen und an den Leisten. Ja, ja, der Schwarze Tod, und Schadrach geht mit ihnen und sagt, ich bin Schadrach der Heiler, komme aus dem Land der Toten, euch zu retten, und er berührt die entzündeten Anschwellungen und hebt die Sterbenden auf und schickt sie ins Leben zurück, und sie singen Hymnen auf seinen Namen. Und er geht weiter in eine andere Stadt, einen Ort von Bambus und Seide, einen Ort von Gärten, wo Chrysanthemen blühen und verkrümmte Zwergkiefern und Wacholder zwischen sorgsam angeordneten Steinen wachsen, und in der Stille des Tages zerplatzt ein Feuerball am Himmel, eine riesenhafte Pilzwolke brodelt zum Dach des Himmels empor, Häuser stehen urplötzlich in Flammen, Menschen stürzen auf die glühenden Straßen hinaus, kleine, mandeläugige, gelbhäutige Menschen, und Schadrach, der wie ein Turm aus Ebenholz zwischen ihnen steht, sagt ihnen mit sanfter Stimme, sie sollten sich nicht fürchten, es sei nur ein Traum, der sie beunruhige, und man könne Schmerzen und sogar den Tod zurückweisen, und er breitet die Hände aus, besänftigt sie, hält das Feuer von ihnen fern. Die Luft füllt sich mit Asche und Ruß und Bimsstein, und es ist wieder die Nacht des Cotopaxi, der Vulkan grollt und donnert und droht, die Luft wird zu Gift, und der junge schwarze Arzt kniet auf der Straße, atmet in die Münder der Gestürzten, hilft ihnen auf, tröstet sie. Und er zieht weiter. Die heulenden assyrischen Kriegshorden ziehen plündernd und sengend durch die Straßen Jerusalems, metzeln gnadenlos nieder, was ihnen in den Weg kommt, und Schadrach näht geduldig die verstümmelten Körper der Gefallenen zusammen und sagt, steh auf, geh, ich bin der Heiler. Das Mammut flieht mit den Herden der wilden Rentiere, als das Gletschereis unter der plötzlich brennendheißen Sonne dahinschmilzt, und die Bewohner der Höhlen werden dünn und schwächlich, und Schadrach lehrt sie Gräser und Samen zu essen, die Beeren der neu gewachsenen Dickichte, er zeigt ihnen, wie man die gewandten und schnellen Fische fängt, und sie verehren ihn und malen sein Ebenbild auf die Wände der heiligen Höhle. Er nimmt Jesus vom Kreuz, als die römischen Soldaten zur Taverne gehen, legt sich den schlaffen Körper über die Schulter und eilt in eine dunkle Hütte, wo er das Blut von den zerfetzten Händen und Füßen wischt, Salben und Tinkturen aufträgt, ein belebendes Gebräu aus Krautern und Säften mischt und es Ihm zu trinken gibt und sagt, geh, lebe, predige. Er fischt die Bruchstücke des Osiris aus dem Nil, fügt sie zusammen, haucht dem Götterbild Leben ein und ruft Isis herbei. Hier ist Osiris, sagt er, ich, Schadrach, gebe ihn dir zurück. Seltsame Wolkenbrüche verfärben den Himmel grün, und der Viruskrieg bricht über die Städte der Menschheit herein, und die Fäulnis dringt in die Körper, und als die Leute ächzen und fallen, richtet Schadrach sie auf und sagt, fürchtet nichts, der Tod ist nur ein Übergang. Leben erwartet euch. Und aus dem Himmel blickt das lächelnde Gesicht des Vorsitzenden. Schadrach treibt durch die Jahrhunderte, freizügig in Raum und Zeit, und allmählich wird ihm bewußt, daß er nicht länger allein ist, daß eine Frau neben ihm ist, die ihn am Ärmel zupft und versucht, ihm etwas zu sagen. Er beachtet sie nicht. Er hört himmlische Chöre seinen Namen singen: Schadrach! Schadrach!

Er erwacht. Er setzt sich auf.

Er ballt wie im Krampf die Fäuste und hält sie so, fest geschlossen.

Aus Ulan Bator, vierhundert Kilometer im Osten, kommt der lautlose Schrei der Sensoren, die den anschwellenden Schmerz im Kopf des alten Mannes melden.

Es geht auf Mitternacht. Die Sperre läßt Schadrach durch, und er begibt sich sofort zum Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber dieser ist nicht da. Schadrach runzelt die Stirn. Der alte Mann ist seit mehreren Tagen soweit wiederhergestellt, daß er das Bett verlassen kann, aber es ist komisch, daß er zu so später Stunde umherwandern sollte. Schadrach findet einen Diener, der ihm verrät, daß der Vorsitzende den Abend in seinem persönlichen Arbeitszimmer verbracht habe und wahrscheinlich noch jetzt dort sei, wenn er nicht schlafe.

Also weiter. Durch das leere Speisezimmer in die Diele, und von dort in sein eigenes Arbeitszimmer, wo er ein wenig verweilt, um sich zu sammeln, umgeben von seinen vertrauten und geliebten Besitztümern, den Sphygnomanometern und Skalpellen, seinen Schröpfköpfen und Trepaniersägen. Hier ist die authentische Bauchschlagader des Vorsitzenden, verwahrt in Spiritus. Sicherlich ein Schatz der medizinischen Geschichte. Und hier, die neueste Erwerbung seines Privatmuseums: eine Strähne des dicken, fettigen und noch immer von schwarzen Fäden durchzogenen Haars, ein Ausstellungsstück, das vielleicht besser in ein Museum der Zauberkunst und des Wodu-Kults paßt als in ein solches der Medizin, aber dennoch angemessen ist, weil es im Zuge der Vorbereitungen für einen neurochirurgischen Eingriff entfernt wurde, dem der berühmte Patient sich im neunzigsten (oder fünfundachtzigsten oder fünfundneunzigsten) Jahr seines Lebens unterzog. Aber weiter. Sekunden später präsentiert er sich den Überwachungsanlagen in der gesicherten Tür zum privaten Arbeitszimmer seines Schutzbefohlenen und bittet um Einlaß.

Die Tür rollt zurück.

Das private Arbeitszimmer des Vorsitzenden liegt abseits und ist gegen alle äußeren Störungsquellen abgeschirmt. Es hat eine niedrige, nachträglich eingezogene Balkendecke, und eine Stehlampe verbreitet gedämpftes Licht. Das Mobiliar ist alt und kostbar, reich verziert mit chinesischem Schnitzwerk, und zu den feinen chinesischen Seidenteppichen gesellen sich orientalische Wandbehänge aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Der alte Mann liegt auf einem Diwan an der linken Wand. Sein rasierter Schädel ist schon wieder mit dünnen Stoppeln bedeckt. Der Mann ist wirklich nicht umzubringen. Aber er sieht verstört aus.

»Doktor«, sagt er mit seiner krächzenden Altmännerstimme. »Ich wußte, daß Sie kommen würden. Sie spürten es, nicht wahr? Vor ungefähr eineinhalb Stunden. Ich dachte, mein Schädel werde zerspringen.«

»Ich spürte es, ja.«

»Sie sagten, Sie würden mir ein Ventil einbauen. Um die Flüssigkeit abzuleiten, sagten Sie.«

»Das ist auch geschehen.«

»Funktioniert das Ding nicht richtig?«

»Es funktioniert ausgezeichnet«, antwortet Schadrach mit sanfter Stimme und undurchdringlicher Miene.

Der alte Mann blickt unzufrieden und verwirrt zu ihm auf.

»Was verursachte mir dann vor einer Weile so schlimme Kopfschmerzen?«

»Dies«, sagt Schadrach. Er lächelt, streckt die linke Hand aus und ballt sie zur Faust.

Eine Weile geschieht nichts. Dann weiten sich die Augen des alten Mannes vor Schreck und Bestürzung. Er ächzt und hebt die Hände an die Schläfen. Er beißt sich auf die Lippe, neigt den kahlen Kopf und murmelt gequälte, gutturale Flüche. Die eingepflanzten Signalgeber verraten Schadrach einiges über die starken Reaktionen in seinem Gegenüber: Pulsschlag und Atmung steigen besorgniserregend, der Blutdruck sinkt, der Druck im Innern des Schädels hat stark zugenommen. Der alte Mann krümmt sich und stöhnt. Schadrach öffnet die Finger. Allmählich weicht der Schmerz, der angespannte krampfhaft zusammengezogene Körper streckt sich, und Schadrach empfängt keine Schocksymptome mehr.

Dschingis Khan II. Mao blickt auf. Lang starrt er Schadrach ins Gesicht.

»Was haben Sie mir angetan?« fragt er mit heiser flüsternder Stimme.

»Wir installierten ein Ventil in Ihrem Hirnstamm, um die gefährlichen Ansammlungen cerebrospinaler Flüssigkeit abzuleiten. Ich sollte Ihnen jedoch nicht verheimlichen, daß die Arbeitsweise des Ventils umkehrbar ist. Auf ein telemetrisch gegebenes Signal hin kann es Flüssigkeit in die Ventrikel pumpen, statt sie aus ihnen abzuleiten. Ich steuere die Arbeitsweise des Ventils mittels eines piezoelektrischen Kristalls, das hier in meine Handfläche eingepflanzt ist. Ein Druck, und das Ventil schließt sich. Ein stärkerer Druck, und es öffnet sich in der Gegenrichtung und pumpt Flüssigkeit in die Ve ntrikel zurück. Ich kann Ihre Lebensprozesse unterbrechen. Ich kann Ihnen innerhalb von Sekunden Schmerzen von der Art verursachen, die Sie eben kennen gelernt haben. Auf dieselbe Weise könnte ich in kurzer Zeit Ihren Tod herbeiführen.«

Der alte Mann hat sich schon gefaßt. Sein Gesichtsausdruck ist völlig undurchdringlich. Schweigend überdenkt er Schadrachs Erklärung.

Nach einer langen Pause räuspert er sich und sagt: »Warum haben Sie mir das angetan, Mordechai?«

»Um mich zu schützen, Herr.«

Der andere zeigt die Andeutung eines kalten Lächelns. »Sie dachten, ich würde Ihren Körper für das Projekt Avatara verwenden?«

»Ich war dessen sicher.«

»Falsch. Es wäre nie dazu gekommen. Sie sind mir zu wichtig, so wie Sie sind, Doktor.«

Schadrach verneigt sich. »Ich danke Ihnen, das ist gut zu hören.«

»Sie denken, ich lüge. Aber ich sage Ihnen, daß wir das Projekt Avatara niemals mit Ihnen als dem Spender verwirklicht haben würden. Mißverstehen Sie mich nicht, Mordechai. Ich versuche nicht, Sie um etwas zu bitten. Ich sage Ihnen einfach, wie die Dinge wirklich stehen.«

»Ich verstehe, ja. Aber ich weiß, was Sie über die Entbehrlichkeit des einzelnen gesagt und geschrieben haben. Ich fürchtete, daß man im Begriff war, mich entbehrlich zu machen. Darum habe ich mich unentbehrlich gemacht.«

»Würden Sie mich töten?« fragt der alte Mann.

»Wenn ich spürte, daß mein Leben in Gefahr ist, ja.«

»Was würde Hippokrates dazu sagen?«

»Auch Ärzte haben das Recht zur Selbstverteidigung, Herr.«

Der alte Mann lächelt. Er scheint Spaß an diesem Gespräch zu finden. Sein lederiges Gesicht zeigt keine Spur von Zorn oder Enttäuschung. »Angenommen«, sagt er in dem nachdenklichen Ton eines Mannes, der eine nur spekulative Hypothese zur Sprache bringt, »angenommen, ich ließe Sie von Sicherheitsbeamten unerwartet überwältigen, bewegungsunfähig machen, ehe Sie die Hand zur Faust ballen können, und zu Tode bringen?«

Schadrach schüttelt den Kopf. »Das Gerät in meiner Hand ist an die elektrische Ausgangsspannung meines Gehirns gebunden. Wenn ich sterbe, wenn mein Bewußtsein in irgendeiner Weise künstlich gelöscht oder verändert wird, wenn es zu einer nennenswerten Unterbrechung meiner Gehirnwellen kommt, dann beginnt das Ventil automatisch cerebrospinale Flüssigkeit in Ihre Ventrikel zu pumpen. Der Augenblick meines Todes ist demnach das automatische Vorspiel zu Ihrem eigenen. Unsere Geschicke sind miteinander verknüpft. Schützen Sie mein Leben in Ihrem eigenen Interesse.«

»Und wenn ich das Ventil aus meinem Kopf entfernen und durch eins ersetzen lasse, das nicht ganz so… ah… vielseitig ist?«

Schadrach schüttelt den Kopf. »Sie könnten sich keinem chirurgischen Eingriff unterziehen, ohne daß mein Signalsystem mich davon unterrichten würde. Natürlich wurde ich sofort Abwehrmaßnahmen ergreifen. Nein. Wir sind eine Einheit in zwei Körpern geworden, und dabei wird es bleiben.«

»Sehr schlau. Wer hat dieses mechanische Wunderding für Sie gebaut?«

»Buckmaster.«

»Buckmaster? Aber der ist seit Mai tot. Damals konnten Sie nicht gewußt haben…«

»Buckmaster ist noch am Leben, Herr«, sagt Schadrach leise.

Der Vorsitzende denkt darüber nach. Er wird sehr nachdenklich. Lange verharrt er in Stillschweigen.

»Noch am Leben. Seltsam.«

»Ja.«

»Ich verstehe das nicht.«

Schadrach antwortet nicht.

Nach einiger Zeit sagt der Vorsitzende: »Sie haben in mir eine Bombe gelegt.«

»So könnte man sagen, ja.«

»Meine Macht erstreckt sich über die ganze Menschheit. Und Sie haben Macht über mich, Mordechai, Sie haben mich buchstäblich in der Hand. Begreifen Sie, was das bedeutet? Sie sind jetzt der wahre Vorsitzende!« Er lacht rau auf. »Verstehen Sie? Ist Ihnen klar, was Sie erreicht haben?«

»Der Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen, ja«, gibt Schadrach zu.

»Sie könnten meinen Rücktritt erzwingen. Sie könnten mich veranlassen, Sie als meinen Nachfolger vorzuschlagen. So könnten Sie auf völlig legitime Weise meine Nachfolge antreten. Sehen Sie das? Natürlich sehen Sie das. Haben Sie so etwas vor?«

»Nein, wirklich nicht. Vorsitzender wäre das letzte auf der Welt, was ich sein möchte.«

»Nur zu, Mordechai! Inszenieren Sie einen Staatsstreich, ergreifen Sie die Macht. Ich bin alt und müde, bin dieses Lebens überdrüssig. Ich bin bereit, mich stürzen zu lassen. Ich bewundere Ihre Schläue. Ihre Tat fasziniert mich. Niemand hat mich jemals so gründlich getäuscht, wissen Sie das? Ihnen ist es gelungen, was Tausende von Feinden nicht erreicht haben. Der ruhige, loyale, zuverlässige Doktor Mordechai! Sie haben mich geschlagen. Sie beherrschen mich. Ich bin jetzt Ihre Marionette, sehen Sie das? Nur zu, machen Sie sich zum Vorsitzenden. Sie haben es verdient.«

»Das ist nicht, was ich will.«

»Was wollen Sie dann?«

»Als Ihr Leibarzt weiterarbeiten. Ihre Gesundheit schützen und um die Verlängerung Ihres Lebens bemüht sein. Ihnen zur Seite stehen und dienen, wie mein Eid es von mir verlangt.«

»Ist das alles?«

»Das ist alles. Nein, da gibt es noch etwas.«

»Lassen Sie hören.«

»Ich möchte, daß Sie meine Aufnahme in den Revolutionsrat vorschlagen und unterstützen.«

»Ah.«

»Insbesondere möchte ich Verantwortung auf dem Sektor der öffentlichen Gesundheit übernehmen. Die Gesundheitspolitik der Regierung steuern.«

»Ah. Ja.«

»Ich will die Verteilung des Gegenmittels nach anderen Gesichtspunkten vornehmen. Am wichtigsten ist mir die Entwicklung eines Programms zur weltweiten Behandlung der gesunden Bevölkerung«, sagt Schadrach. »Das bedeutet die Ausdehnung und Intensivierung der gegenwärtigen Forschungsprogramme und verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung neuer und besserer Heilmittel. Das wird selbstverständlich die Bereitstellung wesentlich größerer Mittel als bisher erforderlich machen.«

»Verstehe.« Der alte Mann beginnt zu schmunzeln. »Jetzt kommt es heraus! Sie wollen also doch Vorsitzender sein! Ich behalte den nominellen Vorsitz, aber Sie geben den Takt an. Ist es das, Mordechai? Nun, meinetwegen. Sie haben mich. Ich bin Ihnen ausgeliefert, Doktor. Bei der nächsten Sitzung des Revolutionsrates werde ich Ihre Aufnahme in dieses Gremium vorschlagen. Bringen Sie Ihre gesundheitspolitischen Ziele zu Papier, um sie dem Revolutionsrat vorzutragen.« Er blickte düster zu Schadrachs linker Hand. »Der König ist tot«, krächzt er dann. »Es lebe der König!«

Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung geht Schadrach durch den Sitzungssaal des Revolutionsrates und den Kontrollraum 1, wo er gewohnheitsmäßig verweilt, um das kaleidoskopische Weltgeschehen auf den Bildschirmen zu betrachten. Im Regierungspalast ist alles still; Mitternacht ist längst vorbei, ganz Asien schläft. Aber anderswo geht das Leben weiter, und auch das Sterben. Schadrach beobachtet den scheinbar wahllosen Strom der Bildinformationen, sieht das Leiden, das Sichabmühen, das Sterben. Die Prozession der Verdammten und Verlorenen, die sich durch die Straßen der Städte schleppen. Irgendwo dort draußen ist Bhischma Das. Irgendwo sind Mischach Jakov und Jim Ehrenreich. Schadrach wünscht ihnen Glück und Gesundheit für den Teil ihres Lebens, der ihnen noch beschieden ist. Glück und Gesundheit euch allen dort draußen! denkt er.

Die Reaktionen des Vorsitzenden wollen ihm nicht aus dem Kopf. Wie erheitert schien der alte Mann über sein Schicksal! Beinahe erleichtert, daß jemand ihm die höchste Autorität genommen hat. Aber der alte Mann ist unbegreiflich; sein Charakter und sein Denken werden Schadrach immer ein Geheimnis bleiben, fremdartig, unergründlich, undurchschaubar. Schadrach weiß wirklich nicht, was jetzt geschehen wird. Er kann sich nicht vorstellen, welche Gegenstrategie der Vorsitzende bereits ersonnen haben mag, welche Fallen er jetzt aufbauen wird. Schadrach wird sich wachsam und vorsichtig bewegen und das Beste hoffen. Er hat im Vorsitzenden eine Bombe gelegt, ja, aber er hat auch einen Tiger beim Schwanz gepackt, und nun heißt es die Nerven behalten, daß er nicht über die Metaphern stolpere und zerstört werde.

Er steht wie gebannt vor dem verwirrenden Tanz der Bilder im Kontrollraum. Es ist der 4. Juni 2012, ein Mittwoch. Leichter Regen fällt auf Ulan Bator, das nach einem wackeren Mann benannt werden soll, der bei der Hälfte der Menschheit schon in Vergessenheit geraten ist. In dieser Nacht wird der Tod um den Erdball wandern und seine Ernte einbringen; aber am Morgen, so gelobt Schadrach Mordechai, wird er beginnen, die Gewichte zugunsten des Lebens zu verteilen. Er hebt die linke Hand und betrachtet sie, als ob sie ein Kunstwerk aus kostbarem Material wäre, aus seltenem Ebenholz. Behutsam schließt er die Finger, ohne sie jedoch zur Faust zu ballen. Er lächelt. Er führt die Fingerspitzen an die Lippen und wirft der Welt eine Kußhand zu.

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