13

Er fährt mit Katja Lindman nach Karakorum. Gewöhnlich verbringt er seine freien Abende mit Nicki Crowfoot; aber sie sind nicht verheiratet, es gibt kein monogamisches Verhältnis zwischen ihnen. Er liebt Nicki oder bildet es sich ein, was für ihn auf das gleiche hinausläuft. Aber es ist ihm noch nie gelungen, sich Katja Lindman für längere Zeit zu entziehen. Jetzt ist sie im Aufsteigen, wie der unheilvolle Saturn, der dem Sternbild Wassermann ins Haus steht. Diese Nacht wird ihr gehören. Nicki ist sowieso nicht da, ist ausgegangen, er weiß nicht, wohin. »Möchtest du heute Abend die Träume versuchen?«

»Warum nicht?« Ihre Energie, ihre raue Altstimme haben seinen Willen unterjocht. Er ergibt sich in sein Schicksal, ist endlich bereit, sich in den Mysterien des Traumtodes unterweisen zu lassen. Als er sein Einverständnis nickt, funkeln ihre dunklen Augen mit einem Ausdruck, der ihm wie boshafte Freude vorkommt.

Der Traumtod-Pavillon ist ein großes Zelt mit mehreren Masten, bespannt mit schwarzem, orangerot gesäumtem Stoff. Über dem Eingang ist die Wiedergabe eines Widderkopfes befestigt, der in seiner Aggressivität entschlossen scheint, die kalte Frühjahrsnacht auf die mächtigen, gewundenen Hörner zu nehmen. Schadrach weiß, daß der Widderkopf Amon Re versinnbildlicht, den Herrn der Furcht, König der Sonne, Schutzherr des Traumtodes; denn dieser Kult soll aus dem alten Ägypten stammen, ein geheimer Ritus, der über die Generationen hin weitervermittelt wurde, seit er in der Zeit der Fünften Dynastie an den Ufern des trägen, fruchtbaren Nils ausgeübt wurde. Im Innern des Zeltes ist zu Schadrachs Überraschung alles licht. Eine Unzahl von Lampen verbreitet blendende Helligkeit, so daß die Luft von betäubendem, bläulich weißem Licht zu brennen scheint und alle Schatten ausgelöscht sind. Schadrach ist von dieser grellen Beleuchtung unangenehm berührt und wünscht sich in die schummrige Atmosphäre des Transtemporalistenzelts. Aber im Reiche Amon Res muß das strahlende Licht der Sonne herrschen.

Eine kostümierte Gestalt nähert sich ihnen, eine schlanke orientalische Frau in einem weißen Lendenschurz und einer mächtigen vergoldeten Löwenmaske, die schwer auf ihren schmächtigen Schultern ruht. Um den Hals trägt sie ein goldenes Amulett. Sie spricht nicht, aber ihre ausdrucksvollen Gebärden geleiten Schadrach und Katja Lindman durch das gut besuchte Zelt, vorüber an Dutzenden von Schläfern, die auf weichen, weißen Matratzen liegen, durch symbolische Unterteilungen aus goldfarbenen Kordeln, die zwischen Pfosten aus Ebenholz gespannt sind, voneinander getrennt. In dem leeren Abteil, das ihnen zugedacht ist, liegen zwei solcher Matratzen nebeneinander, auf jeder ein sauber zusammengefaltetes Traumkleid. Neben dem Eingang steht eine mit reichem Schnitzwerk verzierte hölzerne Truhe, die zur Aufnahme ihrer Straßenkleidung bestimmt ist. Katja beginnt sich sofort zu entkleiden, und Schadrach folgt nach kurzem Zögern ihrem Beispiel. Die Wärterin bleibt am Eingang stehen, zeigt kein Interesse an der Nacktheit der Besucher. Schadrach kommt sich in seinem Kostüm albern vor. Es besteht aus einem Lendenschurz, der Hüften und Schenkel bedeckt, einem Gürtel aus einer Schnur mit aufgereihten Glasperlen, und zwei schmalen grünen und blauen Stoffstreifen, die ihm von der Wärterin kreuzweise um den Oberkörper befestigt werden.

Katja lächelt ihm zu. Er verspürt eine Anwandlung von Lust, als sie ihre Kleider ablegt und einen Lendenschurz anlegt, der dem seinigen gleicht. Statt der Stoffstreifen legt sie sich ein Amulett wie jenes der Wärterin um den Hals. Wie immer, bringt ihr Körper ihn aus der Fassung: breithüftig und untersetzt, ist es der Körper einer Bäuerin, mit tiefliegendem Schwerpunkt, einem unter glatten Rollen Bauchspeck verborgenem Nabel, vollen und ziemlich lang herabhängenden Brüsten. Es ist ein kräftiger und wollüstiger Körper, stark, ohne auch nur im mindesten athletisch zu sein, von einer ähnlich übertriebenen Weiblichkeit wie die urzeitlichen Frauenidole aus den Höhlen der Cro-MagnonMenschen. Was Schadrach am meisten stört, ist der Gegensatz zwischen diesem robusten, an Mutter Erde gemahnenden Körper und den bedrohlich spitzen und scharfen kleinen Raubtierzähnen unter, den schmalen Lippen. Katjas Mund steht im Widerspruch zu der archetypischen Erscheinung ihres Körpers, und dieser Widerspruch macht sie für Schadrach zu einem Rätsel. Vielleicht gilt hier das Wort Falsus in uno, Falsus in omnibus.

Die löwenköpfige Wärterin fordert sie auf, auf den Matratzen niederzuknien und reicht jedem von ihnen eine Art Talisman aus poliertem Metall. Zuerst scheint es nichts weiter als die Nachbildung eines alten ägyptischen Handspiegels zu sein, ein verzierter Handgriff, der eine polierte Metallscheibe mit einem Randornament aus fein gravierten ägyptisierenden Motiven trägt, den Horusfalken, Schlangen, Skorpione, Skarabäen, Bienen, den Ibis des Gottes Toth, dazwischen winzige, aber irgendwie unheilvoll aussehende Hieroglyphen; aber wie er hineinblickt, beginnt Schadrach ein schwindelerregendes Muster beinahe unsichtbarer punktierter Linien wahrzunehmen, die in Spiralen um die Mitte der Scheibe angeordnet scheinen; diese Linien sind nur zu sehen, wenn er den Spiegel in einem bestimmten Winkel zu einer grellen Lampe über ihm hält; und indem er den Spiegel ein wenig bewegt, kann er den Linien einen Anschein von Bewegung verleihen, ein Wirbeln gegen den Uhrzeigersinn, einen Strudel…

… der ihn zum Mittelpunkt der Scheibe saugt.

Also arbeiten sie hier mit Hypnose statt mit Drogen, denkt er mit einem selbstgerechten wissenschaftlichen Überlegenheitsgefühl: Schadrach, der Gelehrte, der über den Dingen stehende Beobachter aller menschlichen Phänomene… Aber dann fühlt er einen unwiderstehlichen Sog, der ihn hilflos anzieht, und er ist nur noch ein Staubkorn in den kosmischen Winden, ein Trugbild…

Als er untergeht, stimmt die Priesterin — denn als eine solche sieht er sie jetzt — einen rhythmischen Gesang an, fragmentarisch und unverständlich, eine Mischung von mongolischen, chinesischen und möglicherweise altägyptischen Worten, die vielleicht sinnentleerte Anrufungen von Seth, Hathor, Isis, Anubis und Bast darstellen. Gestalten aus dem Mythos umgeben ihn in dem jäh herabsinkenden Schatten, der falkenköpfige Gott, der große Schakal, der hundsgesichtige Affe, der Skarabäus, ausgetrocknete Gottheiten, die in unverständlichen Zungen wissende Bemerkungen austauschen, nikken und deuten. Hier ist Vater Amon, strahlend wie Sonnenfeuer, und winkt ihm einladend zu. Hier ist die Bestie ohne Gesicht, die Ströme von Sternenlicht verstrahlt. Hier ist der Zwergengott, der Beschützer der Toten, prustet und hüpft und gebärdet sich wie ein Hanswurst. Hier ist die Göttin mit dem Frauenkörper und den drei Schlangenköpfen. Die Götter tanzen, lachen, lassen wassergefüllte Becher die Runde machen, spucken, weinen, klatschen in die Hände. Die Priesterin singt noch immer. Ihre Worte, die einem immerwährenden Kreislauf zu folgen scheinen, ergreifen und beherrschen ihn. Er kann kaum noch irgend etwas erfassen, alle Strukturen lösen sich auf und werden formlos, aber trotz allem bleibt er sich undeutlich bewußt, daß er programmiert wird, daß er von diesem schmächtigen gelben Mädchen, das in einem einförmigen Singsang spricht, auf eine bestimmte Haltung zu Leben und Tod hingeführt wird, die in den kommenden Stunden seine Erfahrungen formen wird.

Er wird auseinandergerissen. Etwas trennt ihn sanft und schmerzlos von ihm selbst. Nie zuvor hat er derartiges gefühlt, nicht im Zelt der Transtemporalisten, nicht nach der Einnahme einer der traditionellen Drogen, nicht im Alkoholrausch: dies ist neu und einzigartig, ein Abstreifen der Körperlichkeit, eine Befreiung zur Schwerelosigkeit. Er weiß, daß er…

… stirbt?

Ja, stirbt. Das ist es, was hier geboten wird, Tod, die wirkliche Erfahrung des Abschieds vom Leben, oder der Abschied des Lebens von einem selbst. Er kann seinen Körper nicht länger fühlen. Er ist jenseits aller äußeren Empfindung. Dies ist der wahre Tod, diese endgültige Entzweiung, auf die sein Leben sich all seine Tage hinbewegt hat; keine Simulation, kein hypnotischer Trick, sondern wirklicher und wahrhaftiger Tod, der Abgang des Schadrach Mordechai. Natürlich weiß er auf einer tieferen Bewußtseinsebene, daß es nur ein Traum ist, ein Erlebnis, das er sich zum Vergnügen gegönnt hat; doch unter diesem Bewußtsein liegt die Erkenntnis der Möglichkeit, daß er vielleicht nur träume; daß er den Metallspiegel, das löwenköpfige Mädchen und das Zelt träume und in Wahrheit durch die Illusion einer Illusion gefangen sei und heute Abend hier sterbe. Es spielt keine Rolle.

Wie leicht ist das Sterben! Um ihn her ist ein kühles, feuchtes Grau, darin sich alles auflöst, Anubis und Toth, Katja und die Priesterin, das Zelt, der Spiegel, Schadrach selbst, vom Grau durchdrungen, bis er ein Teil davon ist. Er schwebt zum Mittelpunkt der Leere. Ist dies, was der alte Mann so sehr fürchtet? Ein Ballon zu sein, aller Verantwortung ledig und völlig befreit dem Schweben hingegeben? Der alte Mann ist so schwer. Er hat soviel Gewicht. Es mag schwierig sein, sich dessen zu entledigen, doch Schadrach fällt es leicht. Er geht durch den Mittelpunkt und kommt auf der anderen Seite hinaus, materialisiert sich aus dem Nebel und gewinnt seine menschliche Gestalt zurück. Er ist jetzt völlig nackt, hat nicht einmal den Lendenschurz. Katja, gleichfalls nackt, steht neben ihm. Zu ihren Füßen liegen ihre abgelegten Körper, entspannt und schlaff, offenbar schlafend, denn sie erwecken den Anschein, langsam und rhythmisch zu atmen, aber das ist nicht so: sie sind tatsächlich tot, wirklich und wahrhaftig tot. Schadrach Mordechai betrachtet seinen eigenen Leichnam.

»Wie still es hier ist«, sagt Katja.

»Und rein. Man hat für uns die Welt gewaschen.«

»Wohin sollen wir gehen?«

»Irgendwohin.«

»In den Zirkus? Zum Stierkampf? Auf den Marktplatz?«

»Irgendwohin«, sagt Schadrach. »Ja. Laß uns irgendwohin gehen.«

Mühelos schweben sie in die Welt hinaus. Die Löwenköpfige winkt ihnen nach. Die Luft ist mild und balsamisch. Die Bäume stehen in Blüte, es sind Feuerblumen, kleine Flammenkelche, die an den Spitzen der Zweige sprießen; sie lösen sich und schweben herab, wirbeln durcheinander, kommen näher, berühren sich, sinken in ihre Körper ein. Schadrach beobachtet den Durchgang einer flammenden roten Blüte durch Katjas Oberkörper; sie kommt zwischen ihren Schultern wieder zum Vorschein, sinkt zu Boden, keimt und sprießt. Ein magerer Schößling wächst und geht in flammende Blüten auf. Sie lachen wie Kinder. Zusammen schweben sie über den Kontinent. Die Sandflächen der Gobi glitzern. Vor ihnen erstreckt sich die Große Mauer, eine sich windende steinerne Schlange, die über Berge und durch Täler kriecht.

»Nanu, das sind Nigger Jim und die kleine Nell!« ruft Chin Shi Huang Ti, der auf der Mauer steht. Er vollführt einen kleinen Freudentanz, schwenkt seinen schwarzseidenen Hut, läßt den langen Chinesenzopf herumfliegen.

»Chop-chop«, sagt Schadrach. »Kung po chi ding!«

»Wo ist der Ausgang?« fragt ihn Katja.

»Dort«, sagt der erste Kaiser. »Vorbei an den Ketten, über die Stacheln.«

Sie schweben durch das Tor. Auf der anderen Seite der Großen Mauer glitzern überflutete Reisfelder im rosigen Sonnenlicht. Frauen in schwarzen Pyjamas, ausladende Kulihüte auf den Köpfen, bewegen sich langsam durch knöcheltiefes Wasser, bükken sich, setzen Reispflanzen. Unsichtbare Chöre erfüllen die Luft mit anschwellenden Crescendos himmlischer Klänge. Katja greift in den fetten gelben Schlamm und bewirft ihn mit einer Handvoll davon. Klatsch! Er wirft zurück. Klatsch! Sie bepflastern einander damit, dann umarmen sie sich, schlüpfrig und schmutzig und naß. Was für ein schöner Schlamm! Sie lachen und toben, purzeln und wälzen sich, landen platschend im Reisfeld, und die Chinesenfrauen tanzen um sie herum. Katja Lindmans Beine umklammern seine Hüften. Ihre Schenkel sind wie Schraubzwingen. Sie zieht ihn zu sich in den Schlamm, wo sie sich wie brünstige Büffel paaren. Grunzend wälzen sie sich um und um. Fleisch klatscht auf Fleisch. Bauch an Bauch suhlen sie sich im Schlamm. Sehr zufriedenstellend. Er nimmt sein steifes Organ nicht als etwas wahr, was ihm angehört, sondern eher als ein unabhängiges Bindeglied, das mit schnellen Bewegungen zwischen ihren Körpern hin und her geht. Ohne einen Höhepunkt zu erreichen, stehen sie auf, baden, ziehen weiter nach New York. Ein heißer Wind bläst durch die Stadt der Wolkenkratzer. Konfettischauer gehen auf sie nieder; es prickelt und brennt. Jubelrufe der Bewohner. Alle haben hier Organzersetzung, aber man findet sich damit ab; niemand ist deswegen alarmiert. Die Körper der New Yorker sind durchsichtig, und Schadrach sieht die roten Verletzungen in ihnen, die Zonen von Gewebeauflösung und Zerfall, die Perforationen und Eiterungen von Eingeweiden, Lungen, Lebern, Nieren. Die Krankheit macht sich durch ausstrahlende Wellen elektromagnetischer Pulse bemerkbar, die immerfort auf seine Seele einhämmern. Diese Menschen sind halbverfault und voller Löcher, und doch sind sie glücklich, und warum sollten sie es nicht sein? Schadrach und Katja segeln die Fifth Avenue hinunter. Schadrachs Haut ist weiß, seine Lippen sind dünn, sein Haar ist glatt und lang; der Wind weht es ihm in die Stirn und nimmt ihm vorübergehend die Sicht, und als er die Strähnen aus dem Gesicht streift, sieht er, daß Katja jetzt schwarz ist. Sie hat eine platte, breite Nase, einen prachtvollen fettsteißigen Hintern, Quadratmeter von schokoladenbrauner Haut. Rubinrote Lippen, süßer als Wein.

Sie tanzen auf Schwertern. Sie tanzen auf Ananas. Er verkauft sie in die Sklaverei und löst sie mit seinem Erstgeborenen wieder aus.

»Sind wir tot?« fragt er sie. »Wirklich und wahrhaftig tot?«

»Mausetot.«

»Und das macht soviel Spaß?«

»Macht es dir Spaß?« fragt sie.

Sie sind in Mexiko. Es ist Frühling, die Kakteen und Frangipani blühen. Hohle, stachliggrüne Stangen, besetzt mit Büscheln gelber Blüten. Sie schlafwandeln durch Dickichte von Feigenkakteen. Der Szenenwechsel ist hektisch, und doch fühlt er sich ausgeruht. Er könnte die ganze Nacht Walzer tanzen. Beim Überqueren der Pyrenäen begegnen sie Sancho Pansa, einem gedrungenen, speckigen Burschen, der ihnen grünen Wein aus einer ledernen Bota anbietet und in schrilles Gekicher ausbricht, als sie sich bespritzen. Sancho leckt Wein von Katjas Brüsten. Sie gibt ihm einen Stoß, und er überschlägt sich mehrere Male. Schließlich folgen sie ihm nach Andorra. Ihnen zu Ehren werden Gedenkmünzen von hohem Nennwert geprägt.

»Ich dachte, der Tod würde eine ernstere Sache sein«, sagt Schadrach.

»Ist er auch.«

Als Tote können sie gehen, wohin sie wollen, und sie tun es. Aber die Reise ist nichtig und eitel, und das Essen beim Bankett ist nur gesponnene Luft, weniger süß als Zuckerwatte. Er verlangt nach mehr Substanz, und die Bediensteten bringen ihm Steine. Er ist wieder schwarz, schwarz ist auch Dschingis Khan II. Mao, der zehn Meter über ihm auf einem Thron aus mattschimmernder Jade sitzt. Cifolia, Buckmaster, Avogadro und Crowfoot sind da, und auch sie sind schwarz. Mangu ist der schwärzeste von allen. Aber das Schwarz ihrer Häute ist kein Negerschwarz, kein afrikanisches Schwarz, es ist Ebenholzschwarz, die Farbe des Weltraums. Sie sehen wie Wesen von einem anderen Stern aus. Schadrach wandert unter ihnen umher, klatscht in die Hände, begrüßt sie, aber niemand scheint ihn zu beachten. Sie sprechen Niggermongolisch untereinander, sie lachen und singen, schunkeln und hüpfen. Cifolia spielt Gitarre, Buckmaster Leier, Avogadro Banjo.

»So gut ist es eigentlich nicht«, sagt Schadrach zu Katja. »Wir machen uns was vor.«

»Es hat seine Vorzüge.«

»Ich kann ein mißtrauisches Gefühl nicht loswerden.«

»Selbst als Toter kannst du dich nicht richtig gehen lassen, was?« Sie nimmt ihn am Handgelenk und zieht ihn mit sich, durch eine Wüste glitzernden Sandes, durch einen Fluß hüpfender, gischtender Wasser, durch ein Dickicht duftender Brombeerranken, in den Ozean, die große salzige Mutter, und sie liegen auf dem Rücken und blicken zur Sonne auf. Er ist völlig zur Ruhe gekommen.

»Wie lange geht es so weiter?« fragt er.

»Für immer.«

»Wann endet es?«

»Es hat kein Ende.«

»Ist das wahr?«

»Es liegt in der Natur der Sache. Der Tod ist nichts als eine Fortsetzung des Lebens auf anderer Ebene.«

»Das glaube ich nicht. Dopo la morte, nulla.«

»Wo sind wir dann jetzt?«

»Wir träumen«, sagt er.

»Einen und denselben Traum? Sei nicht albern.«

Die stumpfen Nasen von Haien durchstoßen die glatte Meeresoberfläche. Zähnestarrende Rachen gähnen. Schadrach praktiziert Furchtlosigkeit. Diese Bestien können ihm nichts anhaben. Schließlich ist er tot. Auch ist er Doktor der Medizin. Er schluckt Ozeanwasser, bis der glänzende, sandige Meeresboden trockenliegt. Die gestrandeten Haie zappeln verdrießlich, schnellen ihre glatten Körper hierhin und dorthin, fressen Krabben und Seesterne. Schadrach lacht. Der Tod ist Wirklichkeit, der Tod ist eine ernste Sache. Aus dem Norden kommen kalte Winde, fegen die Flanken des Himalaya herab. Unerschrocken setzen sie ihren Aufstieg fort, krallen sich von Mauerhaken zu Mauerhaken die Felsen empor, stapfen im Gänsemarsch über Steilhänge und Schneefelder, vor sich die furchteinflößende Gipfelgestalt über dem Talschluß. Sie frieren in ihren Parkas; mit müden Armen schwingen sie die Eispickel, hauen Stufen ins Gletschereis; die Traggurte der Sauerstoffgeräte schneiden in die schmerzenden Schultern, doch sie steigen weiter, hinauf in jene schwindelerregenden Bereiche über siebentausend Meter, wo nur der spreizfüßige Schneemensch zu gehen wagt. Der Gipfel ist in Sicht. Ungeheure Abgründe gähnen, aber sie haben keinen Schrecken; wo mit Mauerhaken und Stufenschlagen nicht weiterzukommen ist, stoßen sich Schadrach und Katja einfach zu gewaltigen, himmelüberspannenden Sprüngen vom Fels ab. Es ist zu einfach. Er hatte nicht erwartet, daß das Totenreich ein so frivoler Ort sein würde. Doch nun dunkelt der Himmel, das Tempo wird langsam; er hört feierliche Musik, er erfährt eine Abschwächung des frenetischen Bewegungsdrangs, der ihn bis hierher getrieben hat, er kommt in einer ägyptischen Zeitlosigkeit zur Ruhe. Er ist eins mit Ptah und Osiris. Er ist ein Memnonskoloß am Ufer des mächtigen Stroms und läßt die Zeitalter an sich vorüberziehen. Katja zwinkert ihm zu, und er blickt in finsterer Mißbilligung zurück. Der Tod ist eine ernste Sache, kein Urlaub. Ja, jetzt hat er das rechte Zeitmaß gefunden. Die Aufgabe, tot zu sein, nimmt ihn ganz in Anspruch. Er bewegt sich nicht. Er hat den Kern des Ereignisses erreicht. Hie jacet. Nascentes morimur, finisque ab origine pendet. Mors omnia solvit. Es ist sehr still hier. Wenn sie überhaupt sprechen, dann sprechen sie in Sanskrit, aramäisch, sunnerisch oder Latein. Thoth selbst spricht Latein. Zweifellos auch andere Sprachen, doch warum sollten Götter keine Launen haben? Wie süß es ist, unbeweglich zu sein und wenn überhaupt, dann nur in Sprachen zu denken, die niemand mehr versteht! Nullum est iam dictum quod non dictum est prius. Was für einen guten Klang das hat! Und nun bitte die Posaunen und die Bassetthörner:

Dies irae, dies illa

Solvet saeclum in favilla

Teste David cum Sibylla.

Die Stimmen entfernen sich allmählich. Die Musik wird leiser, der Klang der Instrumente ist jetzt hohl, ein bloßer Geräuschumriß, der nichts einschließt, me hr die Idee des Klangs als der Klang selbst, und der weit entfernte Chor singt die furchtbaren Worte des alten Gebets in einem schwach und raschelnd herüberwehenden Ton, der gleichwohl klar und durchdringend bleibt:

Quantus tremor est futurus

Quanto Judex est venturus

Cuncta stricte discussurus!

Und dann ist alles still. Er hat den Frieden gefunden. Er hat die Kernsubstanz des Traumtodes erreicht, alles Suchen und Bemühen hat ein Ende. Die Jagd ist vorbei. Wenn er wollte, könnte er jeden beliebigen Ort der Erde aufsuchen, und die Mühe des Reisens wäre nicht größer als die eines Augenzwinkers, aber es gibt keinen Grund, irgendwohin zu gehen, denn alle Orte sind eins geworden, und es ist besser, hier zu bleiben, bewegungslos im weichen, süßen, wolligen Vlies des Grabes zu bleiben, hier am Ruhepunkt. Er befindet sich in einem vollkommenen Gleichgewicht. Er ist endlich wahrhaft tot. Er weiß, daß er für immer schlafen wird.

Plötzlich erwacht er. Sein Verstand ist klar, der plötzliche Übergang zum Wachen erzeugt ein schmerzhaftes Prickeln. Katja liegt neben ihm, auf einen Ellbogen gestützt, und blickt mit einem sphinxartigen Lächeln in den Raum. Er sieht ihren breiten, fleischigen Rücken, die massigen Hinterbacken, und augenblicklich ist es um die Gemütsruhe des Traumtodes geschehen; Lust beherrscht ihn. »Laß uns gehen«, sagt er heiser.

»Einverstanden.«

»Es ist nicht weit zum Hotel.«

»Nein. Nicht dort.« Sie hat bereits begonnen, sich anzukleiden. Die Wärterin mit der Löwenmaske ist auf der anderen Seite des Mittelgangs und begrüßt Neuankömmlinge. Das grelle Licht macht Schadrach benommen. Er ist überzeugt, daß Anubis und Thoth noch immer irgendwo in der Nähe lauern. Er müht sich, das verschwundene Gleichgewicht wiederzufinden, den Weg zum Ruhepunkt zurückzugehen, doch er weiß, daß es noch vieler Erfahrungen im Traumtod bedarf, ehe er diesen Ruheort aus eigener Kraft erreichen kann.

»Wo dann?« fragt er.

»Zu Hause. Ich verabscheue Stundenhotels, wußtest du das nicht?«

Also muß er sein Verlangen noch ein paar Stunden unterdrücken. Vielleicht ist das die Lektion des Traumtodes: Reinigung des Geistes durch Aufschub der Befriedigung. Oder vielleicht nicht. Der Schritt von der strahlenden Lichterfülle des Traumtod-Zeltes in die Dunkelheit draußen ist wie ein Schlag, die Nacht ist obendrein kalt, kalt sogar für den mongolischen Mai. Der Geruch von Schnee liegt in der Luft, und der durchdringende Wind fegt vereinzelte kleine Flocken durch die Straßen. Während der Rückfahrt sprechen sie kaum miteinander, doch als der Zug vor dem Eintreffen in Ulan Bator verlangsamt, sagt Schadrach: »Warst du wirklich da?«

»In deinem Traum?«

»Ja. Als wir Sancho Pansa trafen. Und den ersten Kaiser von China. Und als wir nach Mexiko gingen.«

»Das war dein Traum«, sagte sie. »Ich hatte andere.«

»Ach. Ich fragte mich schon, wie das möglich sei. Ich sprach mit dir, hatte dich neben mir, und alles schien sehr lebensecht.«

»So ist es in den Träumen immer.«

»Aber ich bin überrascht, wie spielerisch alles war. Sogar frivol.«

»So war es für dich?«

»Bis zum Ende«, sagte er. »Da wurde es feierlich. Als alles ruhig wurde. Aber vorher…«

»Frivol?«

»Sehr frivol, Katja.«

»Für mich war es die ganze Zeit feierlich. Eine große Stille.«

»Ist es für jeden anders?«

»Natürlich«, sagt sie. »Was dachtest du?«

»Oh.«

»Dachtest du, als du in deinem Traum mir begegnetest, ich sei tatsächlich da, spräche mit dir, teilte deine Erlebnisse mit dir?«

»Ich muß gestehen, daß ich es dachte.«

»Nein. Ich war nicht dort.«

»Nein. Natürlich nicht.« Er lachte. »Na gut, es war naiv von mir. Für dich war es, also ernst und feierlich. Für mich war es wie ein Spiel. Für mich war alles wie ein Spiel. Was sagt das über dich und über mich aus?«

»Nichts.«

»Wirklich nichts?«

»Überhaupt nichts.«

»In den Träumen, die wir für uns wählen, drücken wir nichts über unser inneres Wesen aus?«

»Nein«, sagt sie.

»Wie kannst du dessen so sicher sein?«

»Träume werden für uns ausgewählt. Von Fremden. Mehr weiß ich nicht, aber es ist eine Tatsache, daß die Frau in der Maske uns sagte, was wir träumen sollten. In groben Umrissen. Sie gab sozusagen die Tonart an.«

»Und wir haben keine Wahl, was den Inhalt betrifft?«

»In gewissem Sinne, ja. Ihre Instruktionen werden von unserem Empfindungsvermögen gefiltert, aber trotzdem…«

»Ist dein Traum immer der gleiche?«

»Im Inhalt oder in der Stimmung?«

»In der Stimmung.«

»Der Traum ist jedes Mal anders«, sagt sie. »Und doch ist die Stimmung immer die gleiche, denn auch der Tod ist immer gleich. Es geschieht jedes Mal etwas anderes, aber der Traum bringt einen am Ende immer in der gleichen Weise zum gleichen Ort.«

»Zum Ruhepunkt?«

»Man könnte es so nennen. Ja.«

»Und die Bedeutung dessen, was ich träumte…«

»Nein«, sagt sie. »Sprich nicht von Bedeutung. Der Traumtod hat nichts von der Bedeutung eines Orakels. Der Traum ist ohne Bedeutung.« Der Zug hat die Station erreicht und hält.

»Komm«, sagt Katja.

Sie gehen in ihre Wohnung, die im selben Gebäudeteil wie Nicki Crowfoots Wohnung ist, kleine, kärglich möblierte Räume, mit steifen, schweren Vorhängen. Wieder stehen sie nackt voreinander, und wieder fühlt er die überwältigende Anziehungskraft ihres dicken, stämmigen Körpers; er tritt steif auf sie zu, umarmt sie, bohrt die Fingerspitzen in das tiefe, weiche Fleisch ihrer Schultern und ihres Rückens. Aber er bringt es nicht über sich, diesen schreckenerregenden Mund zu küssen. Er denkt an die fröhlichen Paarungen, die er im Traumtod mit ihr hatte, im Reisfeld, und er zieht sie mit sich aufs Bett, doch obgleich er an ihren Brüsten herumknautscht und sich wieder und wieder an sie drängt, ist er von ihrer körperlichen Nähe völlig entmannt, hilflos und schlaff. Und nicht zum ersten Mal: ihre sporadischen Liebesabenteuer sind immer von solchen Schwierigkeiten gekennzeichnet, die er bei anderen Frauen selten erlebt. Katja läßt sich dadurch nicht entmutigen. Ruhig drückt sie ihn aufs Kissen zurück, beugt sich über ihn und macht sich mit dem Mund an die Arbeit, ihrem unheimlichen, grausamen scharfzahnigen Mund, und er fühlt die Feuchtigkeit und Wärme von Lippen und Zunge, und unter ihrer kundigen Zuwendung entspannt er sich, vergißt die Angst vor ihr und wird endlich steif. Geschickt schiebt sie sich über ihn — es ist ein Manöver, das sie offensichtlich häufig geübt hat — und rammt sich mit einem jähen Stoß abwärts, spießt sich an ihm auf. Sie kauert rittlings auf ihm, bauernstark, und schaukelt. Er sieht ihr Gesicht von den ersten Wellen der Ekstase verzerrt, mit geblähten Nasenflügeln, fest geschlossenen Augen, in wilder Grimasse gebleckten Zähnen; dann schließt er selbst die Augen und überläßt sich der Vereinigung. Eine erschreckende Energie durchströmt ihn. Sie reitet ihn, erhebt sich, daß kaum noch Kontakt zwischen ihnen ist und preßt sich wieder gegen seinen Körper, aber immer bleibt sie auf ihm, behält die Initiative. Er hat nichts dagegen. Sie windet sich, stößt und mahlt, und plötzlich richtet sie sich auf und bricht in heiseres Lachen aus; es ist ihr Signal, das weiß er, und er ergreift ihre Brüste und erreicht mit ihr den endgültigen Höhepunkt.

Danach schläft er ein, um sie beim Erwachen leise schluchzen zu hören. Wie seltsam, wie untypisch für sie! Er hat sich nie vorstellen können, daß Katja Lindman imstande sei, Tränen zu weinen. »Was ist los?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Nun sag schon, was hast du?«

»Nichts. Bitte.«

»Komm schon. Was ist?«

Das Gesicht ins Kissen gedrückt, sagt sie mit dumpfer Stimme: »Ich fürchte für dich.«

»Warum? Weswegen?«

Sie dreht den Kopf und schaut ihn an. Ihr Mund sieht auf einmal überhaupt nicht bedrohlich aus. Es ist ein Kindermund. Sie hat Angst. »Katja?«

»Bitte, Schadrach.«

»Ich verstehe nicht.«

Sie sagt nichts und schüttelt den Kopf.

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