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Am nächsten Morgen fliegt er weiter nach Jerusalem. Er blickt auf Länder, Flüsse und Seen hinab, glaubt die Rundung des Planeten unter sich zu fühlen und ist ergriffen von seiner Vielfalt, seinem Reichtum. Diese wunderbare Welt, die Athen und Samarkand trägt, Lhasa und Rangun, Timbuktu, Benares, Chartres, Cent, alle die alten und bedeutenden Kulturdenkmäler der verschwindenden Menschheit und alle die wunderbaren Naturdenkmäler, den Grand Canyon, den Amazonas, den Himalaya, die Sahara — so unendlich viel für einen kleinen kosmischen Klumpen, eine solche Fülle bunter Mannigfaltigkeit. Und alles ist sein — bis der alte Mann in Ulan Bator ihn ruft, daß er die Welt und sich selbst aufgebe.

Anders als Bhischma Das ist er nicht bereit, sich in sein Schicksal zu fügen, wann immer der Marschbefehl eintreffen mag. Die Schönheit der Erde rührt ihn an, er hat so wenig davon gesehen. Es gibt Berge zu ersteigen, Flüsse zu überqueren, Weine zu kosten. Er, der von der Seuche verschont blieb, will nicht dem Unsterblichkeitswahn eines anderen erliegen. Die Passivität ist von ihm abgefallen; er findet sich nicht mehr mit dem Schicksal ab, das ihm zugewiesen wurde. Bhischma Das nannte ihn einen Optimisten, einen weisen und guten Mann, dessen Augen leuchten, der von den besseren Zeiten der Zukunft spricht, und wenngleich Schadrach sich selbst nie so gesehen hat, so ist er doch erfreut, daß Bhischma Das ihn so sah. Es ist angenehm, als ein Mann zu gelten, der Freude verbreitet, der eine Quelle der Hoffnung und des Vertrauens ist. Er probiert die Vorstellung an und findet, daß sie ihm steht. Es ist ein wenig wie Lächeln, wenn einem nicht zum Lächeln zumute ist: man fühlt das Lächeln von den Gesichtsmuskeln tiefer dringen, bis es die Seele erreicht. Warum nicht lächeln, warum nicht in der Hoffnung auf Wiederauferstehung leben? Es kostet nichts. Es macht andere glücklicher. Zeigt sich nachher, daß man sich getäuscht hat, wie es zweifellos der Fall sein wird, so hat man seine Zeit wenigstens in einem warmen kleinen Raum inneren Lichts verbracht, statt in klammer dunkler Verzweiflung.

Aber es ist schwierig, dem eigenen Optimismus Überzeugungskraft zu verleihen, wenn die Drohung bevorstehenden Unheils über einem schwebt. Schadrach faßt den Entschluß, sich irgend etwas auszudenken, um dem Problem des AvataraProjekts zu begegnen.


8. September 2001

Also bleibt es mir doch erspart, ein Opfer der Organzersetzung zu werden. Heute bekam ich meine erste Dosis von Ronkevics Immunisierung. Es heißt, man sei sicher, wenn der Abstrich keine Spur von aktiven Viren zeige, während die Immunisierung wirkungslos bleibe, wenn der Erreger bereits aktiv und infektiös geworden sei. Meine Abstriche waren sauber: ich bin in Sicherheit. Es mag seltsam klingen, doch ich zweifelte nie daran, daß ich verschont bleiben würde. Es war mir nicht beschieden, im Viruskrieg umzukommen; das Schicksal hatte noch etwas mit mir vor. Ich mußte die allgemeine Katastrophe überleben und in dieser Zeit meine Erfüllung finden. »Sie werden hundert Jahre alt«, sagte Ronkevic heute früh zu mir. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll; es hieße, daß mir nur noch fünfundzwanzig Jahre blieben. Das ist nicht genug. Nicht genug.

Gleichgültig, was geschieht, ich werde den armen Ronkevic überleben. Er hat bereits die Organzersetzung. Sie frißt in seinen Eingeweiden. Wie hart hat er gearbeitet, um seine Immunisierung zu entwickeln, wie muß er gehofft haben, sich selbst zu retten! Aber es war zu spät. Die Seuche lebte zu früh in ihm auf, und er ist verloren. Er geht, ich bleibe. Er spielt die ihm zugemessene Rolle in dem Drama und verläßt die Bühne, während ich fortlebe, vielleicht für weitere fünfzig Jahre. Meine körperliche Vitalität ist immer außergewöhnlich gewesen. Ohne Zweifel sind meine physischen ebenso wie meine psychischen Energien von einer höheren Ordnung, denn ich bin bereits über die siebzig hinaus und habe die Lebenskraft eines jungen Mannes bewahrt. Ich habe allen Krankheiten und der Müdigkeit des Alters getrotzt. Die Berichte sagen, daß der Vorsitzende Mao, als er über siebzig war, in einer Stunde und fünf Minuten zwölf Kilometer im Yangtse schwamm. Schwimmen interessiert mich nicht; doch ich weiß, daß ich in diesen fünfundsechzig Minuten fünfzehn Kilometer schwimmen könnte, wenn es notwendig würde. Zwanzig könnte ich schwimmen!

Jerusalem ist kälter als Schadrach erwartete — beinahe kühl wie Ulan Bator an diesem Morgen im späten Frühling — und auch kleiner, erstaunlich klein für einen Ort, der soviel Geschichte gemacht hat. Für die im Krieg niedergebrannte Neustadt mit dem Regierungsviertel gab es nach Kriegsende keine Bewohner mehr, und so ebnete man sie größtenteils ein. Als Resultat bietet die biblische Stadt einen Anblick, wie man ihn seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr kannte. Schadrach logiert in einem kleinen Hotel beim Karmeliterkloster Et-Tur auf dem Ölberg. Von seinem Balkon genießt er einen prachtvollen Blick auf die ummauerte Altstadt. Ehrfurcht und Nachdenklichkeit erfüllen ihn, als er zum ersten Mal darüber hinblickt. Die zwei mächtigen schimmernden Kuppeln dort hinten — sein Stadtplan sagt ihm, daß die goldene Kuppel dem Felsendom gehört, der sich auf dem Platz von Salomos Tempel erhebt, während die silbrig schimmernde Halbkugel Teil der AI Aqsa-Moschee ist —, und die mit Türmen und Zinnen bewehrte Stadtmauer, die uralten Tore und das Gewirr der Gassen dahinter, alles zeugt von menschlicher Zähigkeit, von den langsamen Gezeiten der Geschichte, dem Kommen und Gehen von Eroberern und Reichen. Die Stadt Davids und Salomos, die von Nebukadnezar zerstört und von Nehemia wiederaufgebaut wurde, die Stadt der Makkabäer und des Herodes, die Stadt, wo Jesus litt und starb, und von den Toten wiedererstand, die Stadt, wo Mohammed in einer Vision zum Himmel auffuhr, die Stadt der Kreuzritter und Pilger, der Legenden und Märchen, wo die Schichten menschlicher Besiedlung und ihrer Geschichte einander so zahlreich und kompliziert überlagern wie an kaum einem anderen Ort — diese kleine Stadt aus lehmbraunem Stein sagt ihm, daß apokalyptische Stunden von solchen der Wiedergeburt und Neuaufbau gefolgt werden, daß kein Unheil ewig währt. Die Stimmung, die ihn überkam, als er mit Bhischma Das zusammen war, hat die Reise von Afrika hierher überlebt. Jerusalem ist wahrhaft eine Stadt des Lichts, eine Stadt der Freude. Jerusalem, die Goldene, die Stadt der Könige und Propheten, und hier steht er vor ihren Toren, zitternd vor Erwartung. Er verläßt das Hotel und wandert den Hang hinab, auf die Mauern zu, die auf dieser Seite wie vor Jahrtausenden die Stadtgrenze bilden.

Aber als er durch das Stephanstor die Stadt betritt und der Via Dolorosa folgt, beginnen sich seine romantischen und verklärenden Träume unerwartet zu verflüchtigen, und er fragt sich, wie er dem biederen Inder so leichtfertig von den kommenden guten Zeiten hatte erzählen können. Mit seinen schmalen, steilen Gassen und ineinander verschachtelten uralten Häusern, den offenen Verkaufsständen und Basaren, wo sich Töpfe und Pfannen, Fische und Äpfel, Backwaren und abgehäutete Lämmer stapeln, mit seinen orientalischen Gerüchen und Gewürzen, seinen hakennasigen alten Arabern ist Jerusalem unleugbar malerisch, aber ein kalter Wind fegt durch die schmutzigen Gassen, und alle, die er sieht, Kinder und Bettler, Händler und Käufer, Lastenträger und Arbeiter scheinen von dumpfer Verzweiflung gezeichnet, von jenem hohläugigen, resignierten Ausdruck, der nicht das Zeichen von ausdauerndem Beharren ist, sondern von erwarteter Niederlage und Schicksalsergebung: die Assyrer kommen, die Römer kommen, die Perser kommen, die Sarazenen kommen, die Türken kommen, die Organzersetzung kommt, und wir werden zerschmettert, werden für immer ausgelöscht werden.

Selbst im Inneren dieser mittelalterlichen Mauern ist es unmöglich, dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu entfliehen. Wie er nach Golgatha hinaufsteigt, sieht Schadrach überall das gewohnte Trauerplakat mit Mangus Konterfei, das ernste, kluge Gesicht vor dem leuchtendgelben Hintergrund. Natürlich waren diese Plakate auch in Nairobi angeschlagen, doch in jener weitläufig und luftig angelegten Stadt waren sie, von der allgegenwärtigen Blütenpracht verdeckt und zurückgedrängt, weniger auffällig gewesen. Hier leuchten die Plakate von Torbögen über Durchgängen, die kaum breit genug sind, daß zwei Menschen nebeneinander gehen können, gelbe Leuchtzeichen, denen niemand ausweichen kann. Für Schadrach ist der Anblick eine unwillkommene Erinnerung an eine Welt, der er zu entfliehen sucht, und ihm ist, als hätte sich die Hand des fernen alten Mannes unversehens auf die Stadt gelegt. Wenig später sieht er, daß Dschingis Khan II. Mao noch unmittelbarer gegenwärtig ist: die vertrauten lederigen Züge blikken an allen größeren Straßenkreuzungen von windgeblähten roten Transparenten, flankiert von Parolen in weißen arabischen Schriftzeichen. Die Einheimischen nehmen diese Bilder und Zeichen so gleichgültig hin, wie sie in früheren Zeiten die Anschläge und Banner von Nebukadnezar, Ptolemäus, Titus, Chosroes, Saladin, Suleiman dem Prächtigen und all den anderen fremden Eroberern hingenommen haben mögen, aber Schadrach fühlt sich von diesen vervielfältigten Mongolengesichtern unablässig an die dahinschwindenden Stunden seines Lebens gemahnt.

Hinzu kommt, daß die Seuche auch hier allgegenwärtig ist. Vielleicht nicht so auffallend wie in Nairobi, dessen breite Straßen die mühsam sich dahinschleppenden Gestalten der Kranken unbarmherzig den Blicken preisgaben. Dafür ist das alte Jerusalem zu verwinkelt. Doch auch hier fehlt es nicht an Opfern, die in höhlenartigen Eingängen und auf Stufen kauern und sich wankend die Mauern der Gassen entlangtasten.

In die Hauswände der Via Dolorosa eingelassene Marmortafeln bezeichnen die Kreuzwegstationen: hier nahm Jesus das Kreuz auf sich, hier fiel Er zum ersten Mal, hier begegnete Er Seiner Mutter und so weiter. Und heute schleppen sich diese Todkranken und Sterbenden die Via Dolorosa hinauf, jeder gefangen in seiner eigenen Kreuzigung. Wie in Nairobi starren sie ihn an, ohne daß sie ihn zu sehen scheinen. Nur wenige strecken unauffällig die Hand aus, wenn der gutgekleidete schwarze Mann des Weges kommt. In der neuen Zeit ist Betteln verpönt; die Regierung erhebt den Anspruch, für alle zu sorgen und jedem sein Auskommen zu garantieren. Aber vielleicht wollen die Unglücklichen gar nicht betteln; vielleicht erbitten sie seinen Segen? Dies ist eine Stadt, wo Wunder einst nicht ungewöhnlich waren, und der schwarze Fremdling ist ein Mann von Würde und Haltung: wer weiß, vielleicht wandelt ein neuer Erlöser durch diese Gassen? Doch Schadrach hat keine Wunder zu bieten. Er ist hilflos. Er ist ebenso ein toter Mann wie sie es sind, obgleich er wie ein Gesunder umhergeht.

Er kommt sich allzu auffallend vor, zu groß, zu schwarz, zu fremdartig, zu gesund. Kinder laufen ihm nach, rufen und lachen. Es gibt zu viele Kinder hier, die ihre freien Stunden unbeaufsichtigt verbringen und in Rudeln die Gassen durchstreifen. Viele von ihnen sind Waisen, eine wilde, rohe Generation, die zu früh die Geborgenheit des Elternhauses entbehren mußte. Schadrach hat die demographischen Untersuchungen gesehen: am schlimmsten hat die Seuche sich auf jene Altersgruppe ausgewirkt, die jetzt zwischen fünfundzwanzig und vierzig ist und der auch Schadrach angehört. Es sind diejenigen Menschen, die während des Viruskriegs Kinder waren. Viele von ihnen überlebten die Eltern und wuchsen zu scheinbar gesunden Erwachsenen heran; sie heirateten und setzten Kinder in die Welt, und dann, nachdem sie die Welt mit kleinen Wilden versehen hatten, starben sie. Die Partei hat eine Jugendorganisation gegründet und überall Heime und Lager für diese verlassenen Kinder eingerichtet, aber die bereits verwahrlosten Jugendlichen finden keinen Geschmack an der geforderten Disziplin, und das System leidet unter dem Mangel an Erziehern und vielen anderen Engpässen.

Es ist zuviel für Schadrach — die aufdringlichen Kinder, die in allen Winkeln kauernden und liegenden Kranken, der Schmutz, die ungewohnte Dichte der Bevölkerung, die sich in dieser kleinen ummauerten Stadt drängt. Es gibt keine Möglichkeit, der überwältigenden Traurigkeit des Ortes zu entkommen. Er hätte die Stadt niemals betreten sollen; es wäre weit besser gewesen, wenn er sie von seinem Hotelbalkon aus betrachtet und romantische Gedanken über Salomo und Saladin nachgehangen hätte. Er wird angestoßen, betastet und gerempelt; er bekommt rau und unfreundlich klingende Worte in Sprachen zu hören, die er nicht versteht; er wird von hartnäckigen Schwarzhändlern verfolgt, die ihm seine Kleidung und seine Uhr abkaufen und Silberschmuck und anderes verkaufen wollen. Verdächtig aussehende Gestalten wollen ihn wahlweise zu den religiösen Städten oder zu willfährigen Frauen führen, deren Schönheitsattribute mit drastischen Gesten angedeutet werden. Ohne die Hilfe solcher Führer findet er den Weg zur Grabeskirche, einem schmierigen und unschönen Gebäude, geht aber nicht hinein, denn vor dem Haupteingang streiten Priester verschiedener Sekten, brüllen gegeneinander an, schütteln die Fäuste und werden sogar handgemein, zerren einander an Bärten und Soutanen, zerreißen sich die Chorröcke. Sich abwendend, findet er hinter der Kirche einen geschäftigen Basar — genauer gesagt einen Flohmarkt —, wo die Überreste der untergegangenen Ära zum Verkauf ausliegen: zerbrochene und schadhafte Transistorradios, Fernsehgeräte, Außenbordmotoren, ein Durcheinander von Autobestandteilen, Rädern, Kameras, Elektrorasierern, Telefongeräten, Pumpen und Staubsaugern, von Tonbandgeräten, Taschenrechnern, Mikroskopen, Plattenspielern, Waschmaschinen und Verstärkern, alles verstaubt und mehr oder minder defekt, die Trümmer des verschwenderischen zwanzigsten Jahrhunderts, angespült an diesen seltsamen Strand. Trotz des desolaten Zustands der meisten Waren haben die Händler sich nicht über mangelndes Interesse zu beklagen. Schadrach sieht sich außerstande, zu erraten, welchen Verwendungen diese Überreste und Bruchstücke im palästinensischen Hinterland zugeführt werden mögen.

Er geht in südlicher Richtung weiter und gelangt nach wenigen Minuten zu Stufen, die auf eine freie Fläche hinabführen, einen gepflasterten Platz, dessen Rückseite von einer mächtigen Wand aus riesigen, roh behauenen Steinblöcken eingenommen wird. Schadrach schlendert über den Platz und auf die gigantische Mauer zu und studiert dabei seinen Stadtplan, um die Orientierung wiederzufinden. Er erinnert sich, daß er bei der Zitadelle nach links und später wieder nach rechts abgebogen ist; vielleicht befindet er sich im alten Judenviertel und schon wieder in der Nähe des Felsendoms und der AI Aqsa-Moschee. In diesem Fall…

»Sie sollten an diesem Ort den Kopf bedecken«, sagt eine ruhige Stimme neben ihm. »Sie stehen auf heiligem Boden.«

Ein kleiner, dicker alter Mann ist auf ihn zugetreten. Aus dem gebräunten, gefurchten Gesicht blinzeln kleine Äuglein unter buschigen weißen Brauen zu Schadrach auf. Der Mann trägt eine runde schwarze Judenkappe und zieht nun eine zweite aus der Tasche, um sie Schadrach mit höflicher, aber bestimmter Gebärde hinzustrecken.

»Ist nicht diese ganze Stadt heiliger Boden?« sagt Schadrach, als er die Kappe nimmt.

»Jeder Fußbreit ist jemandem heilig, ja. Die Araber haben ihre heiligen Stätten, die Kopten, die Griechisch-Orthodoxen, die Armenier, die Maroniten, alle. Aber dies ist unsere heilige Stätte. Kennen Sie die Mauer nicht?«

»Die Mauer?« sagt Schadrach verlegen und starrt die großen, verwitterten Steinblöcke an, um dann seinen Stadtplan zu Hilfe zu nehmen. »Ach ja, natürlich. Sie meinen, dies ist die Klagemauer? Ich türlich. Sie meinen, dies ist die Klagemauer? Ich wußte nicht…«

»Nach der Rückeroberung im Jahre 1067, als das Klagen eine Zeitlang aufhörte, nannten wir sie die Westliche Mauer. Jetzt ist sie wieder die Klagemauer. Obwohl ich persönlich nicht so sehr an den Nutzen der Klage glaube, nicht einmal in Zeiten wie diesen.« Der kleine alte Mann lächelt. »Unter welchem Namen sie auch immer erscheinen mag, für uns Juden ist sie ein Allerheiligstes. Der letzte Überrest des Tempels.«

»Ja, richtig. Sie gehörte zu Salomons Tempel, nicht wahr?«

»Nein, diese nicht. Die Babylonier zerstörten den ersten Tempel vor zweitausendsiebenhundert Jahren. Dies ist die Mauer des zweiten Tempels, des Tempels des Herodes, der von den Römern unter Titus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Mauer ist alles, was die Römer stehen ließen. Wir verehren sie, weil sie für uns ein Symbol nicht nur der Verfolgung ist, sondern der Ausdauer und des Überlebens. Ist dies Ihr erster Besuch in Jerusalem?«

»Ja.«

»Amerikaner?«

»Ja«, sagt Schadrach.

»Das bin ich auch, sozusagen. Aber ich verbrachte dort nur die ersten sechs Jahre meines Lebens. 1948 brachten meine Eltern mich hierher, und seitdem lebe ich in Jerusalem. Für mich ist die Mauer noch immer der Mittelpunkt der Welt. Jeden Tag komme ich hierher. Obwohl es einen Staat Israel nicht mehr gibt, obwohl es überhaupt keine Nationalstaaten mehr gibt, keine Träume, keine…«Er hält inne. »Vergeben Sie mir. Ich rede zuviel. Möchten Sie an der Mauer beten?«

»Ich bin kein Jude«, sagt Schadrach.

»Das macht nichts. Kommen Sie mit mir. Sind Sie Christ?«

»Eigentlich nicht.«

»Haben Sie überhaupt keine Religion?«

»Nein. Aber ich würde mir die Mauer gern aus der Nähe ansehen.«

»Dann kommen Sie.« Sie wandern gemächlich über den Platz. Nach einer Weile sagt der kleine alte Mann: »Übrigens, ich bin Mischach Jakov.«

»Mischach?«

»Ja. Es ist ein Name aus der Bibel, aus dem Buch Daniel. Mischach war einer der drei Juden, die sich Nebukadnezar widersetzten, als der König ihnen befahl…«

»Ich weiß«, sagt Schadrach lachend, »ich weiß! Sie brauchen mir die Geschichte nicht zu erzählen. Ich bin Schadrach!«

»Wie bitte?«

»Schadrach. Schadrach Mordechai. Das ist mein Name.«

»So, Ihr Name«, sagt Mischach Jakov. Auch er lacht jetzt. »Schadrach Mordechai: das ist ein schöner Name. Ein schöner jüdischer Name. Wie kommt es, daß Sie ihn tragen, obwohl Sie kein Jude sind?«

»Ich bekam den Namen meinem Taufpaten zu Ehren, der genauso hieß und ein Wohltäter meiner Eltern war.«

»Ich verstehe. Also, Schalom, Schadrach!«

»Schalom, Mischach!«

Sie lachen fröhlich über das seltsame Zusamme ntreffen. Schadrach blickt umher. Der Milizionär, der dort drüben steht — ist er am Ende Abdenago? Sie erreichen die Mauer, und ihr Lachen verstummt. Die großen verwitterten Steinblöcke scheinen unglaublich alt, so alt wie die Pyramiden, wie die Arche Noah. Mischach Jakov schließt die Augen, beugt sich vorwärts und berührt die Mauer mit der Stirn, als wolle er sie grüßen. Offenbar betet er. Schadrach hört ihn leise in einer Sprache murmeln, die Hebräisch sein muß. Schadrach kann die Frömmigkeit des Alten nicht teilen. Er betrachtet die raue Oberfläche des Steins, aber er kann nur an die wilden Kinder denken, an die Organzersetzung, die leeren, schicksalsergebenen Gesichter entlang der Via Dolorosa, an die Plakate von Mangu und die Transparente mit dem Bild des Vorsitzenden. Diese Reise ist ein Fehlschlag gewesen. Er hat nichts gelernt, nichts erreicht. Genauso gut kann er morgen nach Ulan Bator zurückkehren und sich dem Unausweichlichen stellen. Doch er verwirft den Gedanken, kaum daß er ihn formuliert hat. Wo ist der Optimismus geblieben, den er beim Tee mit Bhischma Das zur Schau stellte? Er steht vor der Mauer, lauscht in die Stille seines Körpers, die das Fehlen von Signalen des Vorsitzenden ist, und entscheidet, daß die Zeit zur Rückkehr noch nicht gekommen ist. Er wird weitergehen und seine Rundreise vollenden.

Nach seinem Gebet an der Klagemauer lädt Mischach Jakov seinen neuen Bekannten zum Abendessen ein; und Schadrach, der inzwischen bedauert, daß er Bhischma Das’ Einladung abgelehnt hat, nimmt an. Jakov wohnt in Thalbieh, einem der wenigen teilweise erhaltenen modernen Vororte im Westen der Altstadt. Der Wohnblock, Teil eines größeren Komplexes, zeigt das glatte, kalte Gesicht aus Glas und Beton, wie es im späten zwanzigsten Jahrhundert bevorzugt wurde, aber die Zeichen des Verfalls sind überall festzustellen. Die Fenster sind staubig, viele sogar zerbrochen, die Türen schließen nicht, die Balkone sind streifig vom Rost, der Aufzug hat längst den Betrieb eingestellt. Jakov erzählt seinem Gast, daß das Gebäude mehr als zur Hälfte leerstehe. Mit dem Dahinschwinden der Bevölkerung und den verschlechterten Dienstleistungen hätten viele Leute diese einst geschätzte Wohnsiedlung verlassen, um in die Altstadt zu ziehen, wo die Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs besser sei als hier draußen. Aber er wohne schon vierzig Jahre hier, sagt er stolz, und er habe vor, auch den Rest seiner Lebenszeit in Thalbieh zu bleiben.

Jakovs Wohnung ist klein, sauber, in einer geschmackvollen, altmodischen Weise kärglich möbliert. »Meine Schwester Rebekka«, sagt er. »Meine Enkelkinder, Joseph und Lea.« Er sagt ihnen Schadrachs Namen, und alle lachen herzlich über die Koinzidenz, die enge biblische Verbindung. Die Schwester ist eine weißhaarige, gutmütige Frau Mitte siebzig, Joseph ungefähr achtzehn, Lea zwölf oder dreizehn. An der Wand sind schwarz eingerahmte Fotografien — Jakovs Frau, vermutet Schadrach, und drei erwachsene Kinder, wahrscheinlich allesamt Opfer der Seuche. Jakov geht nicht darauf ein, und Schadrach fragt ihn nicht.

»Sind Sie Jude?« fragte Lea. Schadrach verneint lächelnd.

»Es gibt aber schwarze Juden«, sagt sie. »Ich weiß es. Es soll sogar chinesische Juden geben.«

»Der Vorsitzende ist ein Jude«, sagt Joseph und bricht in Gelächter aus. Aber er lacht allein. Mischach Jakov wirft ihm einen tadelnden, warnenden Blick zu, die alte Frau macht ein erschrockenes Gesicht, und Lea schaut verlegen drein.

»Rede keinen Unsinn«, knurrt Jakov den Jungen an.

»Es war nicht so gemeint«, protestiert Joseph.

»Dann sei lieber still«, sagt Jakov ärgerlich. Zu Schadrach gewandt, fügt er erläuternd hinzu: »Wir sind hier keine großen Bewunderer des Vorsitzenden. Aber ich möchte über diese Dinge nicht diskutieren. Ich bitte für die Albernheit des Jungen um Entschuldigung.«

»Das ist schon gut«, sagt Schadrach.

»Warum haben Sie einen jüdischen Namen?«

»Unter amerikanischen Negern war es lange Zeit üblich, biblische Vornamen zu tragen«, erzählt Schadrah. »Ich habe einen Onkel, der Absalom heißt. Das heißt, ich hatte. Und ein Vetter von mir heißt Saul.«

»Aber der Nachname«, beharrt das Mädchen. »Der ist auch jüdisch. In Deutschland gab es vor langer Zeit einen berühmten Rabbi namens Mordechai. Wir hörten in der Schule von ihm. Wählen die Schwarzen auch ihre Nachnamen selbst aus?«

»Nein. Im allgemeinen wurden sie uns von unseren Besitzern gegeben. Meine Familie muß einmal jemandem mit Namen Mordechai gehört haben.«

»Gehört?«

»Als sie Sklaven waren«, flüstert Joseph ihr zu.

»Sie waren Sklaven?« sagt das Mädchen erstaunt. »Das wußte ich nicht.«

Schadrach lächelt. »Bis 1.865 waren die meisten Schwarzen in Amerika Sklaven.«

»Und Ihr Besitzer war Jude? Ich kann mir nicht denken, daß ein Jude Sklavenhalter sein würde!«

Schadrach möchte ihr erklären, daß es in den Zeiten der Sklaverei auch Juden gab, die Plantagen besaßen und Sklaven hielten; aber die Diskussion verursacht Mischach Jakov offenbar Unbehagen, und mit einer Abruptheit, die allen weiteren Fragen der Jugendlichen einen Riegel vorschiebt, wechselt er das Thema und fragt seine Schwester, ob das Essen bald fertig sei.

»Fünfzehn Minuten«, sagt sie aus der Küche.

Als beachteten sie eine unausgesprochene Warnung, den Gast in Ruhe zu lassen, ziehen sich Joseph und Lea zu einer Couch auf der anderen Seite des Wohnzimmers zurück und beginnen dort eine gestelzte, gekünstelte Unterhaltung über Schulereignisse — wie es scheint, sollen alle Schulen am Tag von Mangus Staatsbegräbnis geschlossen bleiben, was den beiden sehr gefällt. Lea wiederholt eine Bemerkung, die der Chef des Jerusalemer Revolutionsrates über die Bedeutung des Staatstrauertages gemacht hat und wie es darauf ankomme, dem großen Toten die letzte Ehre zu erweisen, was Rebekka in der Küche mit höhnischem Geschrei und einem schroffen Kommentar zur geistigen Gesundheit des Betreffenden beantwortet, und im Nu entspinnt sich ein lautstarker und unverständlicher Streit über örtliche politische Fragen, an dem alle vier Jakovs in einem wütenden Wettstreit des gegenseitigen Überschreiens teilnehmen. Anfangs versucht Mischach seinem Gast etwas über die zur Diskussion stehenden Leute und den Hintergrund zu erklären, doch bald hat er sich so leidenschaftlich in die Auseinandersetzung verstrickt, daß er seine Erläuterungen vergißt. Schadrach sieht verblüfft und amüsiert zu, wie diese redelustigen Leute sich in den Haaren liegen, bis das Abendessen auf den Tisch gebracht wird und die Diskussion jäh zum Stillstand bringt. Er hat keine Ahnung, worum es bei dem Streit gegangen ist — zuletzt hatte es offenbar mit der Sitzverteilung im Stadtrat zu tun —, aber die Schaustellung von Energie und Engagement muntert ihn auf. In Ulan Bator hat er nie solche wütenden Meinungsverschiedenheiten erlebt; doch mag das nicht so sehr am Grad der allgemeinen Überwachung als vielmehr daran liegen, daß er. zu lange außerhalb des Familienverbands gelebt hat, um sich zu erinnern, was eine temperamentvolle Diskussion ist.

Nach dem Essen, das in friedlicher Atmosphäre verläuft, setzt Schadrach sich mit dem alten Jakov in eine Ecke, um eine Karte der Umgebung zu studieren, denn sie sind während der Mahlzeit übereingekommen, am nächsten Morgen mit einem großen Besichtigungsprogramm zu beginnen: die Altstadt mit ihren Basaren, Moscheen und Kirchen, das angebliche Grab Absaloms im nahen Kidrontal, das Grab Davids auf dem Berg Sion, das archäologische Museum, dann das Provinzialmuseum, wo die Schriftrollen vom Toten Meer verwahrt werden, und…

»Warten Sie, warten Sie«, sagt Schadrach. »Alles das an einem Tag?«

»Nun, dann machen wir es eben in zwei Tagen«, erwidert Mischach.

»Trotzdem. Können wir wirklich in so kurzer Zeit so viel besichtigen?«

»Warum nicht? Sie sehen kräftig und gesund aus. Ich denke, Sie werden mit einem alten Mann Schritt halten können.« Und er lacht behäbig.

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