10

Aber wurde Mangu wirklich ermordet? Avogadro, der in der Diele auf ihn wartet, als der Arzt seinen Schutzbefohlenen verläßt, scheint das nicht für eine ausgemachte Sache zu halten. Der Sicherheitschef, ein grobknochiger, schwerer Mann mit wachem Verstand, kühlen Augen und einem breiten, spöttischen Mund, nimmt Schadrach in der Nähe des Ausgangs beiseite und fragt mit gedämpfter Stimme: »Steht er unter dem Einfluß irgendwelcher Medikamente, die einen labilen Geisteszustand bewirken könnten?«

»Eigentlich nicht. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, weiter nichts. Warum?«

»Nein, ich meine vorher.«

»Vorher hat er ruhig geschlafen. Nach dem Eingriff gab es keinerlei Komplikationen, die eine gesonderte Behandlung notwendig gemacht hätten.«

»Ich habe ihn noch nie so verwirrt und aufgeregt gesehen.«

»Nun, es ist auch das erste Mal, daß sein Stellvertreter ermordet wurde.«

»Was verleitet Sie zu der Annahme, es habe einen Mordanschlag gegeben?«

»Weil ich — weil Ionigylakis es sagte —, weil der Vorsitzende selbst von einem Attentat sprach.« Schadrach hält konfus inne. »War es kein Attentat?«

»Wer weiß? Horthy sagt, er habe Mangu aus dem Fenster fallen sehen. Er sah niemanden, der ihn stieß. Wir haben bereits alle Kontrollsysteme überprüft, und es gibt keine Hinweise darauf, daß unbefugte Personen in der vergangenen Nacht oder heute früh den Gebäudekomplex betreten oder verlassen hätten.«

»Vielleicht hatten die Attentäter sich schon gestern eingeschlichen und über Nacht hier versteckt«, meint Schadrach.

Avogadro seufzt. Seine Augen zeigen einen Ausdruck von Erheiterung. »Ersparen Sie mir den Amateurdetektiv, Doktor. Natürlich haben wir auch die gestrigen Aufzeichnungen überprüft.«

»Es täte mir leid, wenn ich…«

»Ich wollte nicht sarkastisch sein. Ich weise nur darauf hin, daß wir die meisten der offensichtlichen Möglichkeiten berücksichtigt haben. Für einen Meuchelmörder ist es nicht einfach, in dieses Gebäude zu gelangen, und ich glaube nicht ernstlich, daß es sich so verhält. Selbstverständlich scheidet damit noch nicht die Möglichkeit aus, daß Mangu von jemandem aus dem Fenster gestoßen wurde, dessen Anwesenheit im Gebäude nicht ungewöhnlich erscheinen würde, wie zum Beispiel Gonchigdorge, Sie, oder ich…«

»Oder der Vorsitzende«, sagte Schadrach lächelnd. »Er kam auf Zehenspitzen vom Bett hergeschlichen und stieß Mangu durch das Fenster.«

»Sie haben mich verstanden. Was ich sagen will, ist, daß jeder hier oben Mangu getötet haben könnte. Nur daß es keinen Beweis dafür gibt. Sie wissen selbst, daß niemand hier oben durch eine Tür gehen kann, ohne daß es elektronisch registriert wird. Daher kann ich sagen, daß heute früh niemand in Mangus Wohnung gegangen ist, weder auf der Seite der Sperre, noch von der Aufzugseite. Der Letzte, der die Wohnung betrat, war Mangu selbst, ungefähr um Mitternacht. Die Untersuchungen sind natürlich noch nicht abgeschlossen, aber bisher konnten wir keine Spuren von Eindringlingen im Schlafzimmer feststellen, keine fremden Fingerabdrücke, keine Anzeichen eines Kampfes. Mangu war ein sehr kräftiger Mann, müssen Sie wissen. Nicht leicht zu überwältigen.«

»Deuten Sie damit an, daß es möglicherweise Selbstmord war?« fragt Schadrach.

»Ja, das vermute ich. In diesem Stadium der Untersuchung nehmen meine Leute keine andere Theorie mehr ernst. Aber der Vorsitzende ist überzeugt, daß es ein Mordanschlag war, und Sie hätten ihn sehen sollen, bevor Sie herkamen. Wildblikkend, in hysterischer Raserei. Sie können sich denken, daß es für mich und meine Männer nicht gut aussieht, wenn er glaubt, es habe einen Mordanschlag gegeben. Unsere Aufgabe besteht ja gerade darin, Attentate hier im Bereich des Regierungsviertels unmöglich zu machen. Aber es geht nicht allein darum, ob ich meinen Posten verliere oder nicht, Doktor. Da ist diese ganze fantastische Säuberungsaktion, die er anlaufen läßt, die Verhaftungen, die Verhöre und verschärften Sicherheitsmaßnahmen, eine enorm unangenehme und kostspielige Angelegenheit, und, soweit ich sehen kann, absolut nutzlos. Was ich wissen möchte«, sagt Avogadro, »ist, ob Sie meinen, daß der Vorsitzende im weiteren Verlauf seiner Genesung möglicherweise bereit sein wird, eine vernünftigere Haltung zu Mangus Tod einzunehmen.«

»Schwer zu sagen. Aber ich glaube es nicht. Ich habe nie erlebt, daß er seine Meinung über etwas geändert hätte.«

»Aber die Operation…«

»Hat ihn geschwächt, gewiß. Körperlich und geistig. Aber soweit ich es beurteilen kann, hat sie weder seinen Verstand noch seine Denkweise in irgendeiner Form beeinflußt. Diese Ideen von mö glichen Gefahren durch Meuchelmörder und Attentäter sind bei ihm nichts Neues, und offenbar vermutet er, daß Mangu ermordet wurde, weil die Vorstellung irgendein inneres Bedürfnis befriedigt, einer dunklen und verschlungenen Fantasieprojektion entgegenkommt. Ich denke, er hätte aus Mangus Tod die gleiche Schlußfolgerung gezogen, wenn er zu dem Zeitpunkt bei bester Gesundheit gewesen wäre. Seine Genesung wird, für sich selbst genommen, kein Faktor sein, der ihn zu einer Neueinschätzung des Vorfalls bewegen könnte. Ich kann Ihnen nur den Vorschlag machen, daß Sie drei oder vier Tage warten, bis er hinreichend erholt ist, um seine Pflichten wieder wahrzunehmen, und dann mit den Ergebnissen Ihrer Nachforschungen zu ihm zu gehen und schlüssig zu beweisen, daß es keinerlei Anhaltspunkte für einen Mord gibt. Und dann müssen wir darauf hoffen, daß sein gesunder Menschenverstand ihn allmählich zu dem Sichabfinden mit der Tatsache des Selbstmords führen wird.«

»Angenommen, ich würde ihm den Untersuchungsbericht heute Nachmittag vorlegen?«

»Er ist für all diesen Streß wirklich noch zu schwach. Außerdem, würde ihm eine so schnell abgeschlossene Untersuchung plausibel erscheinen? Nein, ich würde empfehlen, wenigstens drei Tage zu warten, besser vier oder fünf.«

»Und einstweilen«, sagt Avogadro, »wird man Verdächtige zusammentreiben und verhören, Unschuldige werden leiden, meine Leute werden ihre Energie auf die alberne Verfolgung eines nichtexistenten Attentäters vergeuden…«

»Können Sie denn nicht die Säuberungsaktion ein paar Tage aufschieben?«

»Er hat Befehl gegeben, sofort damit zu beginnen, Doktor.«

»Ja, ich weiß, aber…«

»Er befahl, sofort anzufangen, und wir haben es getan.«

»Schon?«

»Ja. Ich weiß, was ein Befehl vom Vorsitzenden bedeutet. Die ersten Verhaftungen haben bereits stattgefunden. Ich kann versuchen, die Verhöre ein wenig aufzuschieben, so daß den Gefangenen so wenig Schaden wie möglich zugefügt wird, bevor ich den Untersuchungsbericht vorlegen kann, aber ich habe keine Möglichkeit, seine Befehle zu ignorieren.« In vertraulichem Ton fügt er hinzu: »Ich möchte es auch nicht riskieren.«

»Dann wird es eine Säuberungsaktion geben«, sagte Schadrach achselzuckend. »Ich bedaure das so sehr wie Sie, denke ich, aber es gibt wohl keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Und ich habe keine wirkliche Hoffnung, daß es Ihnen gelingen wird, dem Vorsitzenden die Selbstmordtheorie schmackhaft zu machen, nicht heute Nachmittag und auch nicht nächste Woche: nicht wenn er glauben will, daß Mangu ermordet wurde. Tut mir leid.«

»Mir auch«, sagt der Sicherheitschef. »Gut. Danke für Ihre Auskunft, Doktor.« Er wendet sich zum Gehen, dann verhält er noch einmal und wirft Schadrach einen tiefen, unbehaglich forschenden Blick zu und sagt: »Ach, noch etwas, Doktor. Wissen Sie von irgendeinem Grund, den Mangu gehabt haben könnte, sich das Leben zu nehmen?«

Schadrach runzelt die Stirn. Er überdenkt die Situation.

»Nein«, antwortet er nach kurzer Pause. »Nein, nicht, daß ich wüßte.«

Er geht weiter in Kontrollraum i, wo sich viele Leute eingefunden haben, darunter mehrere, die zuvor aus dem Schlafzimmer des Vorsitzenden vertrieben wurden. Er beginnt sich ein wenig komisch vorzukommen, weil er als einziger noch immer halb angezogen herumläuft. Gonchigdorge sitzt an dem mehrere Meter langen Schaltpult, wo die eingehenden Übertragungen der Fernsehkameras in aller Welt ausgewählt und eingeschaltet werden. Während der Mann die Knöpfe drückt, verschwinden auf den Bildschirmen ringsum Ansichten und Szenen aus dem Leben und werden durch andere ersetzt. Gonchigdorge scheint die Einschaltungen ohne System und ohne tiefere Absicht vorzunehmen, in einer Art von mißmutiger Ungeduld, als hoffe er durch Zufall auf eine Bande von Desperados zu stoßen, die ein Transparent mit der Aufschrift WIR SIND VERSCHWÖRER schwenken. Aber die übertragenen Szenen enthüllen nur das übliche Menschenschicksal: Leute, die arbeiten, gehen, leiden, streiten, sterben.

Plötzlich erscheint Horthy an Schadrachs Seite und sagt mit einem gewissen Vergnügen: »Die Verhaftungen haben bereits begonnen.«

»Ich weiß. Avogadro hat es mir erzählt.«

»Hat er Ihnen auch gesagt, daß sie einen Hauptverdächtigen haben?«

»Nein. Wen?«

Horthy reibt sich mit den Mittelfingern die vorquellenden, blutunterlaufenen Augen. Noch immer scheint ihn eine psychedelische Ausdünstung zu umgeben. »Roger Buckmaster«, sagt er. »Der Experte für Mikorelektronik, wissen Sie.«

»Ja, ich kenne ihn. Ich habe mit ihm gearbeitet.«

»Vergangene Nacht führte er in Karakorum aufrührerische Reden, die von verschiedenen Leuten gehört wurden«, sagt Horthy. »Er rief zum Sturz des Vorsitzenden auf, schrie subversive Parolen. Schließlich nahm ihn die Volksmiliz fest, kam aber zu dem Schluß, daß er bloß betrunken sei, und ließ ihn laufen.«

»Ist es das, was Ihnen passiert ist?« fragt Schadrach mit gedämpfter Stimme.

»Mir? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»In der U-Bahnstation. Wir sahen uns dort, erinnern Sie sich? Die Fernsehnachrichten brachten gerade einen Ausschnitt aus Mangus Rede. Sie machten ein paar Bemerkungen über das Verteilungsprogramm für die Ronkevic-Immunisierung, und dann kamen zwei Milizionäre und stiegen mit Ihnen in den Zug.«

»Nein«, sagte Horthy. »Sie müssen sich irren.« Seine Augen begegnen Schadrachs Blick und halten ihn fest. Es sind einschüchternde Augen, kalt und feindselig, trotz ihrer blutunterlaufenen Verschwommenheit. Langsam und mit Nachdruck sagt Horthy: »Es war jemand anders, den Sie in Karakorum sahen, Doktor Mordechai.«

»Sie waren letzte Nacht nicht dort?«

»Es war jemand anders.«

Schadrach beschließt den unverblümten Wink zu befolgen und von seiner Version abzulassen. »Wie Sie wollen. Erzählen Sie mir von Buckmaster. Warum hält man ihn für den Tatverdächtigen?«

»Sein exzentrisches Verhalten in der vergangenen Nacht war verdächtig.«

»Ist das alles?«

»Was den Rest angeht, so werden Sie die Sicherheitsleute fragen müssen.«

»Wurde er zum Zeitpunkt der Tat in der Nähe von Mangus Wohnung angetroffen?«

»Das kann ich nicht sagen, Doktor Mordechai.«

»Ich verstehe.« Auf einem der Bildschirme sieht man ein junges Mädchen Blut spucken. Ein Opfer der Organzersetzung. Horthy scheint bei dem Anblick ein Lächeln zu unterdrücken, als sei ihm kein Schrecken fremd. Schadrach sagt: »Noch etwas. Sie sahen Mangu fallen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und dann verständigten Sie den Vorsitzenden?«

»Zuerst verständigte ich die Palastwache.«

»Natürlich.«

»Dann eilte ich hinauf. Die Sicherheitsleute hatten das obere Geschoß bereits gesperrt, aber sie ließen mich durch.«

»Und Sie gingen direkt zum Schlafraum des Vorsitzenden?«

Horthy nickt. »Auch der war bewacht. Ich erhielt nur Zutritt, weil ich auf meinen Beraterstatus pochte und erklärte, daß ich eine außerordentlich wichtige Nachricht hätte.«

»War der Vorsitzende wach?«

»Ja. Er las Akten, die der Revolutionsrat ihm zur Entscheidung weitergeleitet hatte.«

»Wie war nach Ihrem Eindruck sein allgemeiner Gesundheitszustand?«

»Recht gut. Er sah blaß und schwach aus, aber nicht übermäßig, und in Anbetracht seiner schweren Operation erschien er mir sogar verhältnismäßig frisch. Er begrüßte mich und sah meiner Miene an, daß etwas vorgefallen war, fragte mich, und ich erzählte ihm, was geschehen war.«

»Und das war?«

»Daß Mangu aus dem Fenster gefallen war, natürlich«, sagte Horthy mit einem Anflug von Gereiztheit.

»Drückten Sie es so aus? ›Mango ist aus seinem Fenster gefallen‹?«

»Ungefähr so.«

»Sagten Sie vielleicht, daß er hinausgestoßen wurde?«

»Warum verhören Sie mich, Doktor Mordechai?«

»Bitte antworten Sie. Es ist wichtig. Ich muß wissen, ob der Vorsitzende allein zu der Schlußfolgerung gelangte, daß Mangu ermordet wurde, oder ob Sie es ihm unabsichtlich suggerierten.«

Horthy starrt ihn unheilvoll an. »Ich sagte dem Vorsitzenden genau, was ich gesehen hatte: daß Mangu aus dem Fenster gefallen war. Ich zog keine Schlüsse, wie es geschehen sein mochte. Selbst wenn jemand ihn gestoßen hätte, wie hätte ich das vom Hof aus sehen können? Ich wurde ja erst durch den Sturz auf ihn aufmerksam und erkannte ihn nicht eher, als bis er den Boden beinahe erreicht hatte.« Ein beunruhigendes Leuchten erscheint in Horthys Augen. Er beugt sich näher zu Schadrach und sagt in einem vertraulichen Ton: »Er sah so heiter aus, Doktor Mordechai! Wie er so herabflog, die Augen weit offen, das Haar vom Luftzug aus der Stirn gestrichen, da konnte ich einen Augenblick lang seine Zähne sehen. Ich glaube, er lächelte. Lächelte! Und dann schlug er am Boden auf.«

Ionigylakis, der den Schluß offenbar mitangehört hat, tritt zu ihnen und ergreift ungefragt das Wort. »Das ist seltsam. Wenn jemand ihn gerade aus dem Fenster gestoßen hatte, warum sollte er dann gelächelt haben?«

Schadrach schüttelt den Kopf. »Ich bezweifle, daß er kurz vor dem Aufprall lächelte. Dieser Ausdruck entstand wahrscheinlich ungewollt durch die Fallbeschleunigung und die Erwartung des Todes.«

»Vielleicht«, sagt Horthy geheimnisvoll. »Vielleicht auch nicht.«

»Fahren Sie fort«, sagt Schadrach. »Sie informierten den Vorsitzenden vom Fenstersturz Magnus. Was geschah dann?«

»Er setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Zuerst dachte ich, er würde die Schlauchleitungen und die medizinischen Kontrollgeräte an und um ihn dabei losreißen. Er bekam ein rotes Gesicht und begann zu schwitzen. Ich hörte ihn keuchen und nach Luft schnappen. Es war ein schlimmer Augenblick, Doktor Mordechai. Ich befürchtete, er werde vor Aufregung sterben. Dann fing er an mit den Armen zu fuchteln und etwas über Attentäter zu rufen. Dann fiel er plötzlich in das Kissen zurück und griff sich an die Brust…«

»Sie dachten, er werde an der Aufregung sterben«, sagt Schadrach, »aber vorher kam es Ihnen keinen Augenblick in den Sinn, daß es unklug sein könnte, ihn bei seinem Gesundheitszustand mit derartigen Nachrichten zu beunruhigen.«

»In einer solchen Situation denkt man nicht klar.«

»Man sollte es aber tun, wenn man in einer verantwortlichen Position ist.«

»Man urteilt nicht immer unter Abwägung aller Gesichtspunkte«, versetzt Horthy. »Schon gar nicht, wenn man ein paar Minuten vorher beinahe vom Körper eines herabstürzenden Menschen erschlagen worden wäre. Und wenn man erkennt, daß der Tote eine wichtige Figur in der Regierung ist, tatsächlich sogar der stellvertretende Vorsitzende, dann ist ein solches Versagen der Urteilskraft wohl entschuldbar. Und wenn man darüber hinaus argwöhnt, daß der Tod dieses Mannes auf einen Mordanschlag zurückzuführen sein mag, und daß dieses Attentat den Beginn eines konterrevolutionären Aufstands signalisieren könnte…«

»Schon gut, schon gut«, sagt Schadrach. »Er hat den unnötigen Schock überlebt. Aber was Sie taten, Horthy, war äußerst riskant. Schlimmer noch, es war dumm.« Er runzelt die Stirn. »Sie meinen, es gebe eine Verschwörung, wie?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist eine Möglichkeit, nicht wahr?«

»Das gilt auch für Selbstmord.«

»Glauben Sie, daß es Selbstmord war, Doktor?« fragt Ionigylakis.

»Avogadro glaubt es, und er muß es wissen.«

»Aber Avogadros Leute haben Buckmaster festgenommen.«

»Ich habe es gehört. Armer, verrückter Teufel. Ich bedaure ihn.«

Gonchigdorge reagiert sich noch immer am Schaltpult ab. Donna Labile kommt von der anderen Seite in den Raum und ruft Horthy, der Schadrach einen frostigen, vielleicht warnenden Blick zuwirft und fortgeht. Schadrach wird aus dem Mann nicht schlau, aber auf einmal scheint es ihm nicht mehr wichtig. Nichts erscheint ihm wichtig. Dieser Raum, worin er mit bloßem Oberkörper ein wenig fröstelnd herumsteht, benommen von der Aktivität ringsum wie von den Ereignissen der letzten Stunden, kommt ihm wie ein Tollhaus vor. Er fühlt sich dieser Umgebung nicht zugehörig. Plötzlich zeigen mehrere Bildschirme gleichzeitig ein wild tanzendes Zackenmuster in Blau, Grün und Rot. Gonchigdorge hat bei seiner plumpen Fahndung nach Verschwörern irgend etwas beschädigt. »Cifolia!« schreit er in den Raum. »Rufen Sie Franco Cifolia herauf! Die Anlage muß repariert werden!«

Cifolia ist bereits anwesend. Halblaute Verwünschungen auf den Lippen, drängt er sich durch die Menge zum Bedienungspult. Als er an Schadrach vorbeikommt, murmelt er: »Ihr Freund Buckmaster ist schon im Vernehmungszimmer. Ich nehme an, Sie werden nicht darüber weinen.«

»Im Gegenteil. Buckmaster war nicht bei Sinnen, als er heute nacht über mich herzog. Und nun muß er dafür bezahlen.«

»Wie ich höre, wird Avogadro selbst das Verhör führen.«

»Avogadro glaubt, daß es Selbstmord war.«

»Ich auch«, sagt Cifolia und arbeitet sich weiter.

Schadrach hat genug. Er geht zum Ausgang und stellt sich der Elektronik zur Überprüfung. Während er auf Durchlaß wartet, blickt er zurück auf das Durcheinander, die flackernden Bildstörungen auf den Mattscheiben, sieht Gonchigdorge wie ein zorniges Kind toben, Horthy und Donna Labile in ein mysteriöses Gespräch vertieft, das sie mit heftigen italienisch-magyarischen Gestikulationen begleiten, Ionigylakis mit dröhnender Stimme seine Ahnungslosigkeit und Verwirrung bekennen, Franco Cifolia vor einer abgenommenen Verkleidung kauern und mit einem Schraubenzieher zwischen den turbulenten bunten Spaghetti Tausender von Schaltkreisen stochern. Während Avogadro, der nicht an einen Mord glaubt, irgendwo in den Tiefen dieses großen Gebäudekomplexes nichtsdestoweniger Anstalten trifft, Roger Buckmaster dem peinlichen Verhör zu unterziehen, obgleich Buckmaster mit großer Wahrscheinlichkeit unschuldig ist, weil er an diesem Morgen kaum imstande gewesen sein konnte, jemanden umzubringen. Und im Schlafzimmer des Vorsitzenden liegt unterdessen dieser uralte Mann, der seinen nahezu tödlichen Schock so gut wie überwunden hat, zwischen Schlauchleitungen und Meßgeräten im Bett und plant mit verrückter Hingabe, wie er die Erinnerung an den hingeschiedenen Stellvertreter am besten heiligen und wie er seine mutmaßlichen Mörder zerstören kann. Genug, mehr als genug: zuviel. Die Sperre öffnet sich vor ihm, läßt ihn durch, und er kehrt eilig in seine Wohnung zurück.

Wie friedlich es hier ist! Während seiner Abwesenheit ist Nicki Crowfoot gekommen und erwartet ihn im Wohnzimmer. Sie ist frisch gewaschen und hat von der Dusche noch feuchtes Haar, sieht aber übernächtig und matt aus. »Nachdem ich heute sowieso zu spät ins Labor komme«, sagt sie lächelnd, »habe ich unterwegs bei dir hereingeschaut.« Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, und sie sieht ihn fragend an. »Aber wo kommst du her? Warum bist du halb angezogen? Was ist geschehen?«

»Alles. Mangu ist tot, den Vorsitzenden traf beinahe der Schlag, als er es erfuhr; Buckmaster ist verhaftet worden, eine allgemeine Säuberungswelle gegen unzuverlässige Elemente läuft an, Horthy ist…«

»Warte!« ruft sie und springt auf. »Tot? Mangu? Wie?«

»Fiel aus dem Fenster. Sprang oder wurde gestoßen.«

»Oh!« Sie erbleicht. »O Gott. Wann war das?«

»Vor vielleicht einer halben Stunde.«

Sie beißt mit den kräftigen Vorderzähnen in die Unterlippe und beginnt im Zimmer auf und ab zu wandern, den Blick angestrengt auf den Fußboden gerichtet. Nach einer Weile bleibt sie stehen, sieht ihn an und fragt: »Aus welchem Fenster?«

»Seinem eigenen, natürlich«, sagt er verdutzt. »Dem Schlafzimmerfenster, soviel ich weiß.«

»Von oben also«, murmelt sie kopfschüttelnd. »Dann muß sein Körper zerschmettert worden sein.«

»Das ist anzunehmen. Aber was…«

»Ach, Schadrach! Mein Projekt!«

»Was ist damit?«

»Ich weiß, es hört sich unmenschlich an, aber was soll jetzt aus meinem Projekt werden? Ohne Mangu…«

»Ach«, sagte er stumpfsinnig. »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Du weißt, er war vorgesehen, um als…«

»Ja. Sag es nicht.«

»Es ist schlecht von mir, diese Reaktion zu haben«, murmelt sie.

»War das ganze Projekt auf Mangu als den einzigen und spezifischen Empfänger abgestellt?«

»Nicht unbedingt. Aber… ich verstehe das nicht. Wer sollte ein Interesse daran gehabt haben, Mangu umzubringen? Was geht vor? Glaubst du, daß es einen Aufstand geben wird, Schadrach?«

»Mangu könnte Mangu umgebracht haben«, sagt er ihr. »Bis jetzt weiß niemand Genaueres. Avogadros Leute entdeckten keinerlei Anzeichen von fremden Eindringlingen in seiner Wohnung.«

»Trotzdem haben sie Buckmaster verhaftet?«

»Wegen des Unsinns, den er letzte Nacht in Karakorum von sich gab, nehme ich an. Aber sie haben Horthy nicht verhaftet, der genauso aufrührerisches Zeug faselte. Horthy war derjenige, der dem Vorsitzenden die Nachricht von Mangus Tod brachte. Viel fehlte nicht, und er hätte den alten Mann durch den Schock getötet.«

Nicki blickte nachdenklich auf und sagt: »Wer weiß, vielleicht bezweckte er genau das.«

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