Kapitel 2

Da das Wychwood Dragon fest in den Händen eines Drachens war, einer Direktorin, die eine Kollektion bunter Glastierchen auf ihrem Frisiertisch stehen hatte und mich gelegentlich einlud, das Bett mit ihr zu teilen, konnte ich dort sozusagen nach Belieben ein und aus gehen. Die Glastierchen waren allerdings eher Trostpflaster als Trophäen, denn bei den dreißig Jahren Altersunterschied zwischen uns hatte sie zum Glück Verständnis dafür, wenn ich nein sagte. Ihre Gewohnheit, mich vor allen Leuten» Liebster «zu nennen, war trotzdem peinlich, und ich wußte, daß in Broadway weithin angenommen wurde, sie verspeise mich mit Rührei zum Frühstück.

Jedenfalls hatte niemand etwas dagegen, daß ich in Lloyd Baxters Zimmer schlief. Am anderen Morgen packte ich seine Sachen zusammen, erklärte alles dem Drachen und bat ihn, das Gepäck ins Krankenhaus zu schicken. Dann ging ich in meine Werkstatt hinüber, doch so lebhaft ich Martins Bild auch im Kopf hatte, er weigerte sich, in Glas Gestalt anzunehmen. Eingebungen kommen nach ihrer eigenen Uhr, und ich hatte oft die Erfahrung gemacht, daß sie sich nicht zwingen ließen.

Das Feuer toste im Ofen. Ich setzte mich an die Werkbank, einen Tisch aus rostfreiem Stahl, auf dem ich jetzt Flüssigglasklumpen in unvergängliche Form hatte bringen wollen, und sah nur den lebenden Martin in Natur vor mir, Martin, wie er lachte und Rennen gewann, und dachte an

Martins verlorengegangene Nachricht auf der Videokassette. Wo war diese Kassette, was war darauf, und wem war sie wichtig genug, um sie zu stehlen?

Diese unergiebigen Gedanken wurden durch die Türglocke unterbrochen. Es war erst neun, und wir hatten angekündigt, es sei ab zehn geöffnet.

Vor der Tür stand kein mir bekannter Kunde, sondern eine junge Frau in einem weiten Schlabberpullover, der ihr bis zu den Knien ging, mit einer Baseballmütze auf dem rotblond gefärbten und gesträhnten Strubbelkopf. Wir schauten uns interessiert an, ihre braunen Augen waren lebhaft und neugierig, ihr Kinn in rhythmischer Bewegung dank eines Kaugummis.

Ich sagte höflich:»Guten Morgen.«

«Ja, genau. «Sie lachte.»Frohes neues Jahrtausend und den ganzen Quatsch. Sind Sie Gerard Logan?«

Ihr Akzent war Estuary, Essex oder Themse: mußte man abwarten.

«Logan«, nickte ich.»Und Sie?«

«Kriminalkommissarin Dodd.«

Ich blinzelte.»Zivilfahndung?«

«Lachen Sie nur«, sagte sie, intensiv kauend.»Sie haben heute früh um halb eins einen Diebstahl gemeldet. Darf ich reinkommen?«

Sie trat in die hell erleuchtete Galerie und fing Feuer.

Aus Gewohnheit setzte ich sie geistig in Glas um, Gefühl und Licht gebündelt zu einer abstrakten Form, genau der instinktive Vorgang, der mir bei Martin nicht gelungen war.

Kriminalkommissarin Dodd, die davon nichts mitbekam, präsentierte nüchtern ihren Dienstausweis, der sie in Uniform zeigte und mir ihren Vornamen verriet, Catherine.

Ich gab ihr den Ausweis zurück und beantwortete ihre Fragen, doch die Ansicht der Polizei stand bereits fest. Zu dumm, daß ich eine Tasche voller Geld hatte herumstehen lassen, meinte sie. Wer machte denn so was? Und Videokassetten gab es im Dutzend billiger. Die steckte man ein, ohne groß nachzudenken.

«Was war denn drauf?«fragte sie, den Stift schreibbereit überm Notizblock.

«Ich habe keine Ahnung. «Ich erklärte ihr, wie das in braunes Papier eingeschlagene Päckchen in meinen Besitz gekommen war.

«Pornografie. Mit Sicherheit. «Ein weltmüdes Urteil, kurz und bündig ausgesprochen.»Anonym. «Sie zuckte die Achseln.»Würden Sie sie unter anderen Videokassetten herauskennen, wenn Sie sie noch mal sehen?«

«Sie war unbeschriftet.«

Ich langte in den Papierkorb und gab ihr das zerknüllte und zerrissene Einwickelpapier.»Das ist so für mich abgegeben worden«, sagte ich.»Ohne Briefmarke.«

Skeptischen Blickes nahm sie das Papier, verschloß es in eine Plastiktüte, ließ mich auf dem Clip unterschreiben und stopfte es irgendwo unter ihren superweiten Pullover.

Meine Antwort auf ihre Frage nach dem gestohlenen Betrag ließ sie zwar ihre Augenbrauen hochziehen, doch sie nahm offensichtlich an, ich würde die Segeltuchtasche und das kleine Vermögen darin nie wiedersehen. Schecks und Kreditkartenbelege hatte ich natürlich noch, aber die Touristen unter meinen Kunden zahlten meistens bar.

Ich erzählte ihr von Lloyd Baxter und seinem epileptischen Anfall.»Vielleicht hat er den Dieb gesehen«, sagte ich.

Sie runzelte die Stirn.»Vielleicht ist er der Dieb. Könnte er den Anfall simuliert haben?«

«Die Sanitäter waren anscheinend nicht der Meinung.«

Sie seufzte.»Wie lange waren Sie denn draußen auf der Straße?«

«Glockenläuten, >Auld Lang Synec, frohes neues Jahrtausend.«

«Eine knappe halbe Stunde?«Sie sah auf ihren Notizblock.»Um 0 Uhr 27 haben Sie den Rettungsdienst verständigt.«

Sie schlenderte durch den Verkaufsraum, betrachtete die bunten kleinen Vasen, die Clowns, Segelboote, Fische und Pferde. Sie nahm einen Engel mit Heiligenschein in die Hand und stieß sich an dem Preisschild unter seinen Füßen. Ihre rote Mähne fiel nach vorn, rahmte das aufmerksame Gesicht ein, und wieder war der scharfe Verstand hinter der saloppen Staffage für mich deutlich zu erkennen. Sie war Polizeibeamtin durch und durch, nicht so sehr eine Schmeichelkatze.

Entschieden stellte sie den Engel wieder ins Regal, klappte ihren Notizblock zu, steckte ihn weg und zeigte mit ihrer Körpersprache an, daß die Unterredung trotz fehlender Ergebnisse damit zu Ende war. Die diensttuende Kriminalkommissarin Dodd schickte sich an, auf die Straße zu gehen.

«Warum?«fragte ich.

«Warum was?«Sie konzentrierte sich auf den Rollenwechsel.

«Warum der zu große Pullover und die Baseballmütze?«

Sie blitzte mich mit amüsierten Augen an und wandte sich wieder der Außenwelt zu.»Sie sind zufällig in meinem Revier beraubt worden. Ich bin auf eine Autoknak-kerbande angesetzt, die hier um Broadway herum an Feiertagen Autos stiehlt. Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«

Sie grinste vergnügt und schlurfte die Straße hinunter, blieb aber bei einem Mann stehen, der wie ein Obdachloser aussah und zusammengekauert in einem Ladeneingang saß.

Schade, daß das Blumenkind und der Penner nicht um Mitternacht auf Autoknackerstreife waren, dachte ich bei mir und rief im Krankenhaus an, um zu hören, wie es Baxter ging.

Bei Bewußtsein und brummig war er, wenn ich es recht verstand. Ich ließ ihm schöne Grüße bestellen.

Dann war es Zeit für Bon-Bon.

«Aber Gerard«, jammerte sie mir unglücklich ins Ohr,»mit keinem Wort habe ich Priam gesagt, daß er dich nicht mitbringen soll. Wie kannst du so etwas nur glauben? Dich hätte Martin als erstes hier haben wollen. Bitte, bitte komm, sobald du kannst, die Kinder heulen, und alles ist furchtbar. «Sie holte zittrig Atem, das Weinen verzerrte ihre Stimme.»Wir wollten auf eine Silvesterfeier… und die Babysitterin war da und sagte, sie hätte gern den vollen Lohn, auch wenn Martin tot sei, kannst du dir das vorstellen? Und von Priam mußte ich mir anhören, wie schwierig es ist, mitten in der Saison einen neuen Jockey auf zutreiben. Der alte Narr, andauernd hat er mich getätschelt.«

«Er war sehr aufgewühlt«, versicherte ich ihr.»Er mußte weinen.«

«Priam?«

Ich dachte stirnrunzelnd zurück, aber es kam mir nicht so vor, als sei das Weinen unecht gewesen.

«Wie lange ist er geblieben?«fragte ich.

«Geblieben? Nicht lange. Zehn Minuten oder eine Viertelstunde vielleicht. Meine Mutter hat uns heimgesucht, als er da war, und du kennst sie, du weißt, wie sie ist. Priam hat meist nur mit Martin zusammengesteckt. Er meinte dauernd, er müsse rechtzeitig zur Stallkontrolle daheim sein, er konnte nicht stillsitzen. «Bon-Bons Verzweiflung schwappte über.»Kannst du nicht kommen? Bitte komm doch vorbei. Allein werde ich mit meiner Mutter nicht fertig.«

«Laß mich nur eine Sache noch erledigen, dann schau ich, wie ich hinkomme. Sagen wir… gegen Mittag.«

«Stimmt, du hast ja kein Auto. Wo bist du? Zu Hause?«

«Ich bin in meiner Werkstatt.«

«Dann komme ich dich holen.«

«Nein. Füll du erst mal deine Mama mit Gin ab und laß die Kinder auf sie los, dann schließ dich in Martins Zimmer ein und schau dir die Videos von Martins drei Siegen im Grand National an, bloß fahr in deinem Zustand kein Auto. Ich finde schon was, aber wenn alle Stricke reißen, können wir deine bemerkenswerte Mutter vielleicht überreden, daß sie mir Worthington und den Rolls schickt.«

Der vielseitig begabte Chauffeur von Bon-Bons Mutter verdrehte zwar oft die Augen über Marigolds ausgefallene Wünsche, aber er hatte schon einen offenen Landrover nachts mit flammenden Scheinwerfern über die Felder gejagt, während seine Brotgeberin hinter ihm mit einer Schrotflinte verdutzte Karnickel aufs Korn nahm. Martin sagte, es sei ein Anblick zum Fürchten gewesen, aber Worthington und Marigold hätten vierzig Langohren zur Strecke gebracht und ihr Land von einer gefräßigen Plage befreit.

Worthington, fünfzig und kahlköpfig, war eher ein Erlebnis als ein letzter Ausweg.

Am Neujahrstag 2000 blieb in England praktisch alles stehen und liegen. Einer der besten Renntage der ganzen Hindernissaison mußte ausfallen, weil das Totopersonal an diesem Samstag zu Hause bleiben wollte. Es gab weder Pferderennen noch Fußball zur Unterhaltung der nicht arbeitenden Massen vor dem Fernseher oder sonstwo.

Logan Glas erstaunte die anderen Bewohner Broadways, indem es seine Pforten den Kunden vom Vortag öffnete, die ihre über Nacht abgekühlten Andenken abholten. Zu meiner eigenen Überraschung tauchten, wenn auch mit verschlafenen Augen, zwei meiner Gehilfen auf, die meinten, einer allein könne das alles gar nicht verpacken, und so begann für mich das neue Jahr mit Schwung und guter Laune. Später sollte ich auf diese ruhigen Vormittagsstunden mit dem Gefühl zurückschauen, das Leben könnte unmöglich einmal so harmlos und einfach gewesen sein.

Pamela Jane, blaß, zapplig, eifrig, steckendürr, aber nicht unhübsch, bestand darauf, mich persönlich zu BonBon zu fahren, setzte mich an der Einfahrt ab, winkte kurz und eilte auch schon wieder zurück zum Laden, da sie Irish dort allein gelassen hatte.

Bei ihrem Haus, einem Juwel aus dem achtzehnten Jahrhundert, das sie mit Marigolds Unterstützung gekauft hatten, waren Martin und Bon-Bon sich ausnahmsweise einig gewesen. Ich bewunderte es jedesmal von neuem.

Ein kleiner Lieferwagen stand auf dem Kies, dunkelblau mit einem aufgedruckten Firmennamen in Gelb: Thompson Electronics. Wohl weil ich selbst gearbeitet hatte, fiel mir nicht gleich ein, daß der 1. Januar ein gesetzlicher Feiertag war — mit Sicherheit nicht die Zeit für Fernsehreparaturen.

Chaos ist ein zu schwaches Wort für das, was ich in Martins Haus vorfand. Es fing damit an, daß die Haustür angelehnt war und ich nur daran zu tippen brauchte. Normalerweise war es die Küchentür, die offenstand, um Freunden und Lieferanten Einlaß zu gewähren.

Mit einem etwas unguten Gefühl trat ich durch die massive, geschnitzte Haustür und rief, bekam aber keine Antwort, und nach ein paar Schritten sah ich, was es mit meinem Unbehagen auf sich hatte.

Bon-Bons Mutter Marigold, das plüschige graue Haar und die wallenden Purpurgewänder wie üblich in Unordnung, lag bewußtlos auf der Treppe. Worthington, ihr eigenwilliger Chauffeur, lag wie ein betäubter mittelalterlicher Schloßhund zu ihren Füßen hingestreckt.

Die vier Kinder waren nicht zu sehen und unheimlicherweise nicht zu hören, und auch hinter der geschlossenen Tür von Martins Zimmer, seiner» Bude«, war es still.

Ich stieß sie ohne Zögern auf, und da lag Bon-Bon der Länge nach auf dem Parkettboden. Wie schon bei Lloyd Baxter kniete ich mich hin und faßte ihr an den Hals, um den Puls zu fühlen, aber diesmal voller Angst; und bei dem kräftigen Babum, Babum war ich um so erleichterter. Da ich mich auf Bon-Bon konzentrierte, sah ich zu spät, aus dem Augenwinkel, die Bewegung hinter meiner rechten Schulter… eine dunkle Gestalt, die aus ihrem Versteck hinter der Tür hervorstürzte.

Ich schoß halb in die Höhe, kam aber nicht schnell genug zum Stehen. Für einen Sekundenbruchteil erblickte ich einen kleinen Gasbehälter — etwa so groß wie ein Haushaltsfeuerlöscher. Nur war der Behälter nicht rot. Er war orange. Und er traf mich am Kopf. Martins Zimmer wurde grau, schwarzgrau, dann schwarz. Ein tiefer, leerer Brunnenschacht.

Umringt von Zuschauern kam ich langsam wieder zu mir. Verschwommen sah ich ein Augenpaar neben dem anderen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder was vorging. Es mußte aber etwas Schlimmes sein, denn die Augen der Kinder waren schreckgeweitet.

Ich lag auf dem Rücken. Nach und nach füllten sich die weißen Stellen meiner Erinnerung mit dem Bild eines orangen Gasbehälters in den Händen einer Gestalt mit Augenschlitzen in einer schwarzen Kapuzenmaske.

Als meine Wahrnehmung klarer wurde, konzentrierte ich mich auf Bon-Bons Gesicht und versuchte aufzustehen.

Bon-Bon sagte bei diesen Anzeichen des Wiedererstar-kens meiner Lebensgeister erleichtert:»Gott sei Dank geht’s dir gut. Wir sind alle mit Gas betäubt worden und übergeben uns, seit wir wieder auf den Beinen sind. Sei so gut und schlepp dich aufs Klo, mein Lieber. Kotz nicht hier hin.«

Der Kopf, nicht der Magen machte mir zu schaffen. Mein Kopf war mit dem Gasbehälter, nicht mit dem Inhalt traktiert worden. Es war mir zu anstrengend, darauf hinzuweisen.

Worthington sah ungeachtet seiner Muskeln, die er durch regelmäßiges Training in einer Boxhalle gewissenhaft in Form hielt, blaß, zittrig und überhaupt nicht gut aus. Er hielt jedoch die beiden jüngsten Kinder an der Hand, um ihnen, so gut es ging, Trost und ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Für sie war er ein Alleskönner, und da hatten sie beinah recht.

Bon-Bon hatte mir einmal gesagt, was ihre Mutter an Worthington am meisten schätze, sei sein Draht zu den Buchmachern, denn Marigold selbst laufe ungern zwischen den Leuten herum, die da ihre Quoten ausriefen, und Worthington hole stets das Beste für sie heraus. Ein vielseitiger und hoffnungslos guter Mensch, Worthington, wenn es auch nicht immer so aussah.

Nur Marigold fehlte in dem Krankenaufgebot. Ich fragte nach ihr, und Daniel, Martins Ältester, sagte, sie sei betrunken.»Sie liegt auf der Treppe und schnarcht«, erläuterte die ältere der beiden Töchter. Die Kinder des Jahres 2000 redeten Klartext.

Während ich mich langsam vom Parkett aufraffte, meinte Bon-Bon verärgert, ihr Arzt habe erklärt, er mache keine Hausbesuche mehr, auch nicht bei Patienten, die von einem Sterbefall betroffen seien. Viel Ruhe und viel trinken, dann werde alles gut. Wasser, hatte er gesagt.

«Gin«, versetzte eines der Kinder trocken.

Ich fand es unerhört, daß Bon-Bons Arzt es nicht für nötig hielt, nach ihnen zu sehen, und rief selbst bei ihm an. Gewandt lenkte er ein und versprach» vorbeizukommen«, auch wenn es Neujahr sei. Er habe Mrs. Stukely nicht ganz verstanden, entschuldigte er sich. Vor allem nicht, daß sie überfallen worden sei. Sie habe ein wenig unzusammenhängend geredet. Hatten wir die Polizei verständigt?

Es schien auf der Hand zu liegen, daß die Massenbetäubung aus räuberischen Motiven erfolgt war. Drei Fernsehgeräte mit eingebautem Video fehlten. Bon-Bon hatte in ihrem Zorn nachgesehen.

Ebenso verschwunden war der separate Videorecorder, auf dem sie sich Martin angeschaut hatte, zusammen mit zig Kassetten. Außerdem fehlten zwei Laptop-Computer samt Druckern und zahlreichen Disketten, doch Worthington sagte voraus, die Polizei werde kaum versprechen können, daß sich davon etwas wiederfand, da Martin die Seriennummer der Geräte nirgends notiert hatte.

Bon-Bon begann in der verfahrenen Situation still vor sich hin zu weinen, und so übernahm der wieder zu Kräf-ten kommende Worthington den Anruf bei der überlasteten nächsten Polizeidienststelle. Meine Kommissarin Catherine Dodd, so erfuhr er, gehörte zu einer anderen Abteilung. Aber die Kripo würde demnächst bei den Stukelys erscheinen.

Der Lieferwagen von Thompson Electronics war natürlich nicht mehr da.

Marigold schnarchte weiter auf der Treppe.

Worthington machte zur Beruhigung Butterbrote mit Honig und Banane für die Kinder.

Mitgenommen setzte ich mich in den schwarzen Ledersessel in Martins Zimmer, während Bon-Bon gegenüber auf dem Sofa ihren vielschichtigen Kummer in Papiertüchern erstickte und dann nur lückenhaft auf die Frage antwortete, die ich ihr wiederholt stellte, nämlich:»Was war auf dem Band, das Martin mir nach dem Rennen geben wollte, und wo kam es her? Das heißt, wer hat es Martin in Cheltenham gegeben?«

Bon-Bon musterte mich mit feuchten Augen und putzte sich die Nase.»Ich weiß, daß Martin dir gestern etwas sagen wollte, aber er hatte ja noch die anderen im Wagen, und weil Priam nicht hören sollte, was er mit dir bespricht, hatte er vor, dich als letzten nach Hause zu bringen, nach den anderen, obwohl du am nächsten an der Rennbahn wohnst.«

Selbst im Unglück war sie porzellanhaft hübsch, ihre vollen Rundungen kamen gut zur Geltung in dem schwarzen Wollkleid, dessen Schnitt eher dazu gedacht war, einen lebenden Ehemann zu erfreuen als trauernde Nachbarn.

«Er hat dir vertraut«, meinte sie schließlich.

«M-hm. «Etwas anderes hätte mich auch sehr gewundert.

«Nein, du verstehst nicht. «Bon-Bon zögerte und sprach dann langsam weiter.»Er kannte ein Geheimnis. Was für eins, hat er mir nicht gesagt. Er meinte, das würde mich nur aufregen. Aber er wollte jemanden einweihen. Darüber haben wir gesprochen, und ich war mit ihm einig, daß du derjenige sein solltest. Du solltest seine Sicherheit sein. Für alle Fälle. Ach herrje… Er hat das, was du erfahren solltest, auf ein gutes altes Videoband aufnehmen lassen, nicht auf CDROM oder auf Diskette, und zwar deshalb, weil es seinem Informanten so lieber war, glaube ich. Ich bin mir nicht sicher. Und außerdem meinte er, das sei auch leichter zu handhaben. Besser Video als PC, denn du weißt ja, mein lieber Gerard, daß ich mit Computern nicht so zurechtkomme. Die Kinder lachen mich schon aus. Aber wie man eine Videokassette abspielt, weiß ich. Martin wollte, daß ich diese Möglichkeit habe, falls er stirbt, wobei er natürlich — natürlich nicht ernsthaft an seinen Tod geglaubt hat.«

«Könntest du auch selbst Videoaufnahmen machen?«fragte ich.

Sie nickte.»Martin hat mir eine Videokamera zu Weihnachten geschenkt. Damit kann man filmen, aber ich hatte noch kaum Gelegenheit, mich damit vertraut zu machen.«

«Und er hat nicht mal angedeutet, was auf der Kassette ist, die ich bekommen sollte?«

«Mit keinem Wort.«

Ich schüttelte hilflos den Kopf. Die aus meinem Verkaufsraum gestohlene Kassette war doch sicher die mit dem Geheimnis. Das Video, das Martin bekommen hatte, dann Eddie der Jockeydiener, dann ich. Aber wenn der Dieb oder die Diebe von Broadway sich das Band angesehen hatten — und dazu hatten sie die ganze Nacht Zeit —, wieso mußten sie dann zehn Stunden später noch Martins Wohnung plündern?

Enthielt die aus dem Verkaufsraum gestohlene Kassette wirklich Martins Geheimnis?

Vielleicht nicht.

Steckte hinter dem zweiten Raub ein anderer Dieb, der von dem ersten nichts wußte?

Ich hatte keine Antworten, nur Mutmaßungen.

In diesem Moment stolperte Marigold ins Zimmer, als nähme sie Anlauf zum völligen Zusammenbruch. Ich kannte Marigold, seit Martin mich vor vier Jahren mit unbewegter Miene seiner drallen Schwiegermutter vorgestellt hatte, einem voluminösen Abbild seiner hübschen Frau. Marigold konnte enorm schlagfertig oder unangenehm streitlustig sein, je nachdem, wieviel Gin sie getrunken hatte, aber jetzt schienen Gas und Alkohol zusammen sie in heulendes Elend gestürzt zu haben, ein Zustand, der weniger Schadenfreude als echtes Mitgefühl hervorrief.

Die Polizei traf vor dem Arzt bei Bon-Bon ein, und BonBons Kinder beschrieben die Kleidung ihres Angreifers bis hin zu den Schnürsenkeln. Er hatte sie durch seine schwarze Kapuzenmaske mit großen Augen angestarrt, während er den orangen Behälter von einem Gesicht zum nächsten schwenkte und sie mit einem fast unsichtbaren, hochwirksamen Gas einnebelte, das sie betäubte, ehe sie wußten, wie ihnen geschah. Und Daniel, dem Ältesten, fiel ein, daß der Mann unter der Maske etwas Weißes auf dem Gesicht getragen hatte. Eine einfache Gasmaske, nahm ich an. Ein Schutz, damit der Räuber das Zeug nicht selbst einatmete.

Worthington hatte bei dem Überfall am meisten abbekommen und war als erster bewußtlos geworden und BonBon in Martins Zimmer als letzte. Als ich hinzukam, war das Gas vielleicht schon aufgebraucht gewesen; ein einfacher Schlag auf den Kopf hatte genügt.

Worthington hatte recht gehabt mit der Annahme, die Polizei werde Bon-Bon keine Hoffnung machen, daß die verschwundenen Sachen je wieder auftauchten. Der Verlust der Videofilme von Martins Grand-National-Siegen schmerzte sie weniger, als ich befürchtet hatte; sie könne sich davon Kopien besorgen, erklärte sie.

Kaum waren die Notizbücher der Kripo zugeklappt, eilte auch Bon-Bons Hausarzt zur Tür herein, der kein Wort der Entschuldigung für angebracht hielt, sondern den Eindruck vermittelte, er mache hier aus reiner Gutmütigkeit eine große Ausnahme.

Erst die Farbe Orange ließ ihn aufhorchen und veranlaß-te ihn, mehr Eifer an den Tag zu legen. Er und die Polizei hörten Daniel zu, und die Notizbücher wurden wieder hervorgeholt. Als die Kriminalbeamten gingen, riet ihnen der Arzt, den Täter in Kreisen zu suchen, die Zugang zu dem hochentzündlichen Narkosegas Cyclopropan hatten, das in orangen Behältern verkauft werde, aber wegen seiner Explosionsgefahr nicht sehr gefragt sei.

Nach prüfenden Blicken in Augen und Schlund und sorgfältigem Abhorchen des Brustkorbs wurde jedem Mitglied der Familie bescheinigt, daß es außer Lebensgefahr sei. Als dann endlich auch der Arzt gegangen war, ließ sich die liebe Bon-Bon auf das Sofa im Büro fallen und sagte, sie sei vollkommen erschöpft und brauche Hilfe. Sie brauche meine Hilfe, und auch Martin würde mich darum gebeten haben.

Also blieb ich und machte mich nützlich, und das war vielleicht ganz gut für meinen wehen Schädel, denn in dieser Nacht brachen Diebe in mein Haus am Hang ein und stahlen alles, was irgendwie nach Videokassette aussah.

Am Montag fuhr ich, nachdem ich frühmorgens in der Werkstatt einen Posten kleiner Stücke auf Vorrat gefertigt hatte, mit dem Taxi zur Rennbahn von Cheltenham, um mich noch einmal mit Eddie Payne, dem Jockeydiener, zu unterhalten.

Ed oder Eddie — er hörte auf beides — hätte mir gern weitergeholfen, konnte aber nicht. Er habe das ganze Wochenende an Martin gedacht, sagte er, während sein Blick über meine Schulter huschte und wieder zu meinem Gesicht zurückkehrte, aber ihm sei beim besten Willen nichts eingefallen, was er mir nicht schon am Freitag gesagt habe. Ich dachte an den Augenblick zurück, in dem uns das Verlustgefühl verbunden hatte. Dieser Moment tiefempfundener Leere war vorbei.

Den Unterschied zwischen Freitag und Montag machte eine grimmig blickende Frau von Ende Dreißig aus, die jetzt ein paar Schritte hinter mir stand und die Ed seine Tochter nannte. Noch einmal warf er ihr einen ausdruckslosen Blick zu, dann sagte er, ohne die Lippen zu bewegen und so leise, daß ich es kaum hören konnte, wie ein Bauchredner zu mir:

«Sie kennt den Mann, der Martin die Kassette gegeben hat.«

Die Frau fragte scharf:»Was sagst du, Pa? Sprich lauter!«

«Ich sagte, daß Martin uns sehr fehlt«, erwiderte Eddie,»und daß ich wieder in die Jockeystube muß. Gib du Gerard — Mr. Logan — doch bitte Auskunft, ja?«

Er trollte sich und sagte im Weggehen bedrückt, als müsse er sich entschuldigen:»Sie heißt Rose. Im Grunde ist sie ein braves Mädchen.«

Rose, das brave Mädchen, blitzte mich mit so haßerfüllten Augen an, daß ich mich fragte, was in aller Welt ich ihr getan haben könnte, hatte ich doch vor wenigen Sekunden noch gar nichts von ihrer Existenz gewußt. Sie war kantig und knochig und hatte mittelbraunes Haar mit krausen, hochstehenden Locken. Ihr Teint war trocken und von Sommersprossen übersät, und obwohl die Kleider an ihrem dünnen Körper viel zu weit wirkten, ging eine außergewöhnliche Anziehung von ihr aus.

«Ehm, Rose — «, begann ich.

«Mrs. Robins«, unterbrach sie schroff.

Ich räusperte mich und setzte neu an.

«Mrs. Robins also, dürfte ich Sie zu einem Kaffee oder auf ein Glas in der Bar einladen?«

«Sie dürfen nicht!«entgegnete sie mit Nachdruck.»Kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten«, setzte sie hinzu.

«Mrs. Robins, haben Sie gesehen, wer Martin Stukely am vergangenen Freitag hier in Cheltenham ein in braunes Papier verpacktes Päckchen gegeben hat?«

Eine ganz einfache Frage. Sie kniff die Lippen zusammen, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon, als hätte sie keineswegs vor, in absehbarer Zeit zurückzukommen.

Nach ein paar Augenblicken folgte ich ihr. Da sie auf den Buchmacherplatz vor der Tribüne zuhielt, schaute ich ab und zu wie ein Wettlustiger auf mein Rennprogramm, während ich hinter ihr herzockelte. Sie blieb vor dem Stand von Arthur Robins, Prestwick, seit 1894 stehen und unterhielt sich mit einem Elvis-Presley-Doppelgänger mit dicken schwarzen Koteletten, der auf einer Kiste stand, sich vorbeugte, um den Leuten ihr Geld abzunehmen, und die angelegten Wetten einem Schreiber diktierte, der sie in einen Computer eingab.

Rose Robins, weit jüngeren Datums als 1894, hatte ziemlich viel zu sagen. Der Elvis-Doppelgänger hörte ihr stirnrunzelnd zu, und ich zog mich zurück. So kräftig und wendig ich auch sein mochte, Roses Gesprächspartner gehörte einer anderen Gewichtsklasse an. Ob der ZweitElvis Arthur Robins’ rechtmäßiger Nachfahr und Erbe war oder nicht, er besaß die Schultern eines GorillaOpas.

Geduldig ging ich auf die Tribüne und sah zu, wie die drei Buchmacher von Arthur Robins, seit 1894 Wetten auf die beiden letzten Rennen des Nachmittags entgegennahmen, bevor ihr Chef, der Elvis-Doppelgänger, den Stand abschlug, die Tageskasse an sich nahm und, begleitet von Rose und seinen beiden Helfern, zum Ausgang strebte. Ich schaute ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Allem Anschein nach verließen sie die Rennbahn. Als Personenverband kamen sie einem Panzer gleich.

Aus meiner Erfahrung mit Martin wußte ich, daß Jok-keydiener erst mit der Arbeit fertig werden, wenn die meisten Zuschauer gegangen sind. Ein Jockeydiener hilft den Jockeys beim raschen Umziehen zwischen den Rennen. Außerdem hält er ihre Ausrüstung in Schuß — Sattel, Reithosen, Stiefel und so weiter — und sorgt dafür, daß alles für den nächsten Ritt parat ist. Martin hatte mir gesagt, daß Jockeydiener immer eine ganze Reihe Jockeys betreuten und daß sie ihren Dienst von Renntag zu Renntag koordinierten. Während Eddie also Sättel, Reitzeug und Schmutzwäsche zusammenpackte, wartete ich in der Hoffnung, zu guter Letzt werde er schon aus der Jockeystube wieder auftauchen.

Als er herauskam, war er zunächst erschrocken, mich zu sehen, trug es dann aber mit Fassung.

«Rose hat wohl nicht mit Ihnen geredet«, sagte er.

«Nein«, gab ich zu.»Könnten Sie sie bitte Martin zuliebe etwas fragen?«

«Hm…«:, meinte er zögernd.»Kommt drauf an.«

«Fragen Sie sie, ob die Kassette, die Ihnen Martin gegeben hat, die war, für die er sie gehalten hat.«

Er brauchte ein paar Sekunden, um das auseinanderzudröseln.

«Heißt das«, fragte er unsicher,»daß meine Tochter glaubt, Martin hatte die falsche Kassette?«

«Ich glaube«, gestand ich,»wenn Martins Kassette nach dem ganzen Durcheinander und der Klauerei überhaupt je wieder auftaucht, ist das ziemliches Glück.«

Selbstgerecht wandte er ein, er habe mir Martins Kassette in gutem Glauben gegeben. Ich versicherte ihm, daß ich davon überzeugt sei. Über Rose fiel kein Wort mehr.

Nach den Zeitungen vom Tage wußte Eddie wie jeder andere im Rennsport, daß Martins Beerdigung für Donnerstag angesetzt war, sofern bei der amtlichen Totenschau am Mittwoch nichts dazwischenkam. Mit niedergeschlagenen Augen murmelte er etwas davon, daß wir uns dort wohl sehen würden, und enteilte in den inneren Bereich der Umkleideräume, der für Normalsterbliche, die unangenehme Fragen stellten, gesperrt war.

Rose Robins und ihre Feindseligkeit ließen eine ohnehin verzwickte Situation noch verwickelter erscheinen.

Ich nahm an der Rennbahn einen Bus, der sich von Ortschaft zu Ortschaft vorarbeitete und schließlich auch in Broadway hielt. Obwohl ich die ganze Zeit überlegte, was Eddies kratzbürstige Tochter mit der Geschichte zu tun haben könnte, war ich nachher kein Stück schlauer und wußte nur, daß irgend jemand Martin eine Kassette gegeben hatte und daß Martin sie Eddie und Eddie sie mir gegeben hatte und daß ich sie mir dummerweise hatte stehlen lassen.

Die vertraulichen Daten, die Martin mir überlassen wollte, geisterten jetzt irgendwo herum. In gewisser Hinsicht war das egal, es spielte keine Rolle, solange die betreffenden Informationen nicht brandheiß waren oder mit einer unangenehmen Wahrheit kollidierten. Da ich jedoch keinen Hinweis auf die Art der Informationen hatte, konnte ich Probleme weder vorhersehen noch ihnen vorbeugen.

Unrealistischerweise hoffte ich einfach, Martins Geheimnis würde für immer im unbekannten All verborgen bleiben und wir hier unten könnten unser normales Leben weiterführen.

Es war halb sechs vorbei, bis ich endlich wieder in den Laden kam, und noch immer waren meine Gehilfen dort; zwei machten mit viel Eifer Briefbeschwerer, und der dritte bediente. Bon-Bon habe angerufen, sagten sie mir; ich möchte ihr doch bitte weiterhin zur Seite stehen, wenigstens bis zur Beerdigung, dafür würde ich auch überallhin gefahren — und zur großen Belustigung war das Auto, das sie mir dann gegen Abend schickte, nicht ihr kleiner Stadtwagen, sondern Marigolds Rolls.

Wenn ich allein mit Worthington fuhr, setzte ich mich immer neben ihn. Von ihm aus hätte ich auch den vornehmen, bequemen Rücksitz nehmen können, den seine Chefin vorzog, aber da kam ich mir fehl am Platz vor. Und wie sich in den letzten Tagen gezeigt hatte, neigte er dazu, mich mit» Sir «anzureden, wenn ich hinten saß, und ehrerbietig zu schweigen, statt markige, respektlose Sprüche von sich zu geben. Saß ich vorn, war Marigold» Marigold«; saß ich hinten, war sie» Mrs. Knight«. War ich an der Seite ihres Fahrers, zeigte er sein wahres Gesicht.

Abgesehen davon, daß er kahl, fünfzig und kinderlieb war, konnte Worthington prinzipiell die Polizei nicht leiden, bezeichnete die Ehe als Fron und hielt es für nützlich, jeden anderen Kraftkerl, der daherkam, weghauen zu können. So schätzte ich Worthington jetzt weniger als Fahrer denn als potentiellen Leibwächter.

Der Elvis-Doppelgänger hatte etwas sehr Bedrohliches an sich gehabt, das mir so ausgeprägt noch nie begegnet war und das mir nicht gefiel; als Zündsatz aber war ihm die grimmige, dornige Rose beigesellt, und an sie dachte ich, als ich Worthington beiläufig fragte, ob er auf der Rennbahn schon einmal eine Wette bei Arthur Robins, seit 1894, angelegt habe.

«Zunächst mal«, antwortete er sarkastisch und schnallte sich an, als wäre er es gewohnt, sich an die Vorschriften zu halten,»gibt es gar keine Familie Robins. Der Haufen Betrüger, der als Arthur Robins firmiert, besteht hauptsächlich aus Veritys und Webbers, plus dem einen oder anderen Brown. Einen richtigen Arthur Robins hat es nie gegeben. Das ist bloß ein Name, der gut klingt.«

Mit erstaunt hochgezogenen Brauen fragte ich:»Woher wissen Sie das alles?«

«Mein alter Herr war Buchmacher«, sagte er.»Schnallen Sie sich an, Gerard. Die Polente hier wacht mit Adleraugen.

Wie gesagt, mein alter Herr war Buchmacher, er hat mir gezeigt, wie das läuft. Um dabei zu verdienen, muß man aber wirklich rechnen können, und so fix bin ich da nicht. Aber Arthur Robins, der Name steht für ein paar eiskalte Abzocker. Ich rate Ihnen, bei denen nicht zu wetten.«

«Wußten Sie, daß Martins Jockeydiener, Eddie Payne, eine Tochter namens Rose hat, die sich Mrs. Robins nennt und auf Schmusekurs mit einem Elvis-Doppelgänger ist, der bei Arthur Robins Wetten annimmt?«

Worthington, der gerade den Wagen starten wollte, um uns von Logan Glas zu Bon-Bon zu fahren, lehnte sich in seinen Sitz zurück und ließ die Hände auf den Schenkeln ruhen.

«Nein«, sagte er nachdenklich,»das wußte ich nicht. «Er überlegte eine Weile mit Sorgenfalten auf der Stirn.»Dieser Elvistyp«, sagte er schließlich,»das ist Norman Osprey. Mit dem läßt man sich besser nicht ein.«

«Und Rose?«

Worthington schüttelte den Kopf.»Die kenne ich nicht. Ich höre mich um. «Er gab sich einen Ruck und ließ den Wagen an, der schnurrend losfuhr.

Bis Donnerstag, dem Tag von Martins Beerdigung, hatte die Polizei in einem von Videokassetten überschwemmten Land wie erwartet noch keine von Martins Kassetten gefunden.

Am Tag vor der Beerdigung stellte sich eine junge Motorradfahrerin — Riesenhelm, schwarze Ledermontur, schwere Stiefel — auf einen der fünf Parkplätze vor Logan Glas. Sie nahm in der kalten Januarluft den Helm ab und schüttelte ihr rotblondes Haar aus, bevor sie ganz und gar nicht rok-kerhaft die Ladengalerie betrat, als kenne sie den Weg.

Ich legte gerade letzte Hand an eine Vase an, die in den Kühlofen sollte, während Pamela Jane einer Gruppe amerikanischer Touristen den Vorgang erklärte, doch irgendwie nahm die Motorradfahrerin meine Aufmerksamkeit gefangen, und als ich sie mir in Glas vorstellte, wußte ich sofort, wer sie war.

«Catherine Dodd«, sagte ich.

«Die meisten Leute erkennen mich so nicht. «Sie war belustigt, nicht gereizt.

Mit Interesse bemerkte ich, wie die Touristen ein wenig enger zusammenrückten, als wollten sie die bedrohlich gekleidete Fremde aussperren.

Pamela Jane beendete ihren Vortrag, und einer der Amerikaner meinte, die Vasen seien zwar hübsch, aber zu teuer, auch wenn sie handgefertigt seien. Damit stieß er auf einhellige Zustimmung, und sichtlich erleichtert entschieden sich die Urlauber dann doch lieber für schlichte Delphine und Schälchen. Während Hickory die Ware verpackte und Quittungen schrieb, fragte ich die Motorradfahrerin, ob es Neuigkeiten von meiner vermißten Kassette gab.

Sie sah mir zu, wie ich die Vase in feuerfesten Faserstoff einschlug und sie in den Kühlofen stellte.

«Ich fürchte«, sagte die wandlungsfähige Zivilfahnderin Dodd,»die Kassette können Sie abschreiben.«

Ich sagte ihr, daß sie ein Geheimnis enthielt.

«Was für ein Geheimnis?«

«Das ist es ja eben, ich weiß es nicht. Martin Stukely sagte seiner Frau, er wolle mir ein Geheimnis auf Video zur Aufbewahrung geben, falls er — man könnte fast darüber lachen — tödlich mit dem Wagen verunglückt oder so etwas.«

«Mit einem Hindernispferd zum Beispiel?«

«Damit hat er nicht gerechnet.«

Catherine Dodds kriminalistischer Verstand kam schnell auf die beiden zentralen Punkte, die ich mir widerstrebend klargemacht hatte, nachdem Norman Osprey mit seinen Elviskoteletten in meinen Gesichtskreis getreten war. Erstens, jemand kannte Martins Geheimnis, und zweitens, jemand — aber nicht unbedingt derselbe — dachte vielleicht, auch mir sei das Geheimnis bekannt. Es konnte sein, daß jemand annahm, ich hätte mir das Video am Abend nach Martins Tod angesehen und es sicherheitshalber gelöscht.

Ich hatte zwar keinen Videorecorder im Laden, aber im Dragon auf der anderen Straßenseite gab es einen für die Gäste, und der Drachen warb damit auf hundertfach verteilten Prospekten.

«Hätte ich einen Videorecorder zur Hand gehabt«, sagte ich,»dann hätte ich mir das Band wohl wirklich gegen Abend angesehen, und im Zweifelsfall hätte ich es vielleicht auch gelöscht.«

«Das wäre aber entgegen dem Wunsch Ihres Freundes Martin gewesen.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte ich:»Wenn er genau gewußt hätte, was er will, hätte er nicht mit Videos herumgespielt, sondern mir das große Geheimnis einfach verraten. «Ich brach ab.»Hätte, wäre, wenn. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«

«Geht nicht. Tut mir leid. Ich bin im Dienst. «Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln.»Ich komme später noch mal. Ach ja! Ehe ich’s vergesse. «Sie zog den unverzichtbaren Notizblock aus ihrer Jacke hervor.»Wie heißen denn Ihre Gehilfen?«

«Pamela Jane Evans, John Irish und John Hickory. Statt John und John nennen wir die Männer bei ihren Nachnamen, das macht’s einfacher.«

«Wer ist der ältere?«

«Irish. Er hat Hickory und auch Pamela Jane rund zehn Jahre voraus.«

«Und wie lange arbeiten sie schon bei Ihnen?«

«Pamela Jane seit ungefähr einem Jahr, Irish und Hickory seit vierzehn, fünfzehn Monaten. Sie können mir glauben, die sind alle okay.«

«Ich glaube Ihnen. Das ist nur für die Akten. Deswegen, ehm… bin ich eigentlich vorbeigekommen.«

Ich sah ihr ins Gesicht. Sie wurde beinah rot.

«Es ist besser, ich gehe jetzt«, sagte sie.

Mit Bedauern brachte ich sie zur Tür, wo sie sich verabschiedete, da sie auf der Straße nicht direkt mit mir gesehen werden wollte. Sie schloß sich vielmehr den Touristen an, die gerade lautstark von einem dicken Mann hinausgepeitscht wurden, der fand, sie hätten den Nachmittag sinnlos vergeudet, und sich auf dem ganzen Weg zum warmen Reisebus der Gruppe darüber beklagte. Sein breiter Rük-ken versperrte mir den Blick auf die entschwindende Kriminalkommissarin Dodd, und das störte mich mehr, als ich gedacht hätte.

An Bon-Bons Telefon erfuhr ich vom Drachen persönlich, daß Lloyd Baxter es für angebracht gehalten hatte, zum (wie er es nannte)»letzten Ritt seines Jockeys «von Nordengland herunterzukommen, daß er aber nicht bei Priam Jones wohnen wollte, da er die Absicht hatte, sich von dem Trainer zu trennen. Der Drachen lachte leise und setzte schelmisch hinzu:»Du hättest auch nicht unbedingt zu Bon-Bon Stukely gehen müssen, wenn du nach dem Einbruch nicht bei dir zu Hause schlafen wolltest. Du konntest doch zu mir kommen, Liebster.«

«Hat sich das rumgesprochen?«meinte ich trocken.

«Weißt du nicht, daß man in dieser Stadt immer von dir spricht?«

Ich wußte es schon, aber so aufregend fand ich mich gar nicht.

Ebenfalls am Abend vor Martins Beerdigung rief Priam Jones bei Bon-Bon an, bekam aber mich an den Apparat.

Immer wenn ich dort war, half ich die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Auch Marigold, Worthington und sogar die Kinder übten sich mit viel Erfolg in Danksagung und Feingefühl. Martin, dachte ich bei mir, hätte sicher gegrinst, wenn er die plötzlich und unerwartet verbesserten Umgangsformen in seiner Familie erlebt hätte.

Priam gebrauchte große Worte, aber wenn ich es recht verstand, bot er seine Hilfe bei der Durchführung der Trauerfeier an. Im Gedanken an seine spontan vergossenen Tränen setzte ich ihn auf die Liste und fragte ihn, ob Martin, bevor er mich am Freitag morgen zu Hause abholte, zufällig etwas von einer Videokassette gesagt habe, die er in Cheltenham erwartete.

«Das haben Sie mich am Tag nach seinem Tod doch schon gefragt«, entgegnete Priam gereizt.»Die Antwort ist immer noch ja. Er sagte, er werde die Rennbahn erst verlassen, wenn er ein Päckchen in Empfang genommen habe, das Sie bekommen sollten. Und das hab ich Ihnen doch gegeben, oder? Sie hatten es im Auto liegenlassen, in Ihrem Regenmantel, und den habe ich Ihnen in Broadway vorbeigebracht… Also dann bis morgen, Gerard. Grüßen Sie Bon-Bon von mir.«

Ebenso am Abend vor Martins Beerdigung ging Eddie Payne in die katholische Kirche seiner Gemeinde, beichtete seine alten und neuen Sünden und bat um Vergebung und Absolution. Das erzählte er mir stolz, als ich an BonBons Stelle seine Kondolenz entgegennahm. Er habe alles versucht, um jemand zu finden, der auf der Rennbahn für ihn einsprang, aber leider vergebens, daher könne er an der Beerdigung nicht teilnehmen, und das bedaure er zutiefst, sei er doch sechs oder sieben Jahre lang Martins Jockeydiener gewesen. Wenn mich mein ungläubiges Ohr nicht trog, hatte Eddie sich vor dem Griff zum Telefon Mut angetrunken, und außerdem hatte er sich gleich schon wieder versündigt, denn es war klar, daß er für diese Beerdigung leichter eine Vertretung bekommen hätte als für die seiner eigenen Großmutter.

Am gleichen Abend (davon erfuhr ich erst später) setzte Ed Paynes Tochter Rose einem Grüppchen brutaler Schläger auseinander, wie sie Gerard Logan dazu bekommen konnten, ihnen das Geheimnis zu verraten, das ihm in Cheltenham anvertraut worden war.

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