Kapitel 4

Meine drei Gehilfen hatten jeder einen eigenen Schlüssel zur Galerie, und es war Pamela Jane, die ich durch schmale Augenschlitze als erste dort zu sehen bekam, als ich wider Willen am Montag morgen gegen acht aufwachte. Nachdem Catherine gegangen war, hatte ich eine Stunde herumüberlegt, ob ich mir nicht ein bequemes Bett im Wychwood Dragon (ohne den Drachen) gönnen sollte, hatte mich mangels Energie dann aber einfach in den großen Sessel in der Werkstatt fallen lassen und mein überreiztes, protestierendes Nervensystem kurzerhand ausgeblendet.

Catherine hatte mich — real und symbolisch — während der dunkelsten Nachtstunden warm und in Bewegung gehalten, aber sie war lange vor dem Morgengrauen gegangen, und danach hatte der Schlaf, der nicht halb so heilsam ist, wie man ihm immer nachsagt, mein Befinden eher verschlechtert.

Pamela Jane sagte entsetzt:»Ehrlich, Sie sehen aus, als hätte Sie eine Dampfwalze überrollt. Waren Sie die ganze Nacht hier?«

Die Antwort lag wohl auf der Hand. Ich war unrasiert, und jede Bewegung löste fürchterliche Reaktionen in meinem bleischweren Körper aus. Man konnte die Gelenke förmlich knacken hören. Nie wieder, versprach ich mir.

Ich hatte mir nicht überlegt, wie ich meinem kleinen Team die Lage erklären sollte. Als ich mit Pamela Jane

redete, fühlte sich sogar mein Hals wund an.

«Können Sie…«, ich schwieg, räusperte mich, setzte neu an.»Pam… Kännchen Tee?«

Sie hängte ihren Mantel in den Spind, kochte uns Tee, schloß die Seitentür auf, die wir als Notausgang offenhalten mußten, falls Feuer ausbrach, und machte sich allgemein nützlich. Bis Irish eintraf, war ich schon über das Schlimmste hinweg, und als schließlich Hickory kam, holte ich gerade das in der Nacht entstandene dreiteilige Porträt aus dem Ofen und setzte es sorgfältig zusammen, um es in die endgültige Form zu bringen. Meine Helfer wünschten einhellig, sie hätten gesehen, wie die einzelnen Teile entstanden waren. Ich versprach, es ihnen eines Tages an einer Nachbildung zu demonstrieren.

Es entging ihnen nicht, daß mir fast jede Bewegung zuviel war, aber Hickorys fröhlich geäußerter Verdacht, das müßten die Folgen eines Katers sein, hätte mir wirklich gestohlen bleiben können.

Der erste Kunde kam. Das Leben ging mehr oder minder wieder seinen normalen Gang. Irish legte im Ausstellungsraum einen Sockel für die Flügelskulptur an. Wenn ich mich aufs Glasblasen konzentrierte, konnte ich die vier schwarzen Kapuzenmasken mit den Augenlöchern vergessen.

Später am Morgen fuhr Marigolds Rolls draußen vor und nahm zwei Kundenparkplätze für sich in Anspruch. Worthington sah mit seiner Uniformmütze richtig vornehm aus hinter dem Steuer.

Marigold selbst, so berichtete er durch das heruntergelassene Fenster, sei mit Bon-Bon in Bon-Bons Wagen einkaufen gefahren. Beide hätten ihm den Tag freigegeben und ihm den Rolls überlassen, eine Geste, für die er sehr dankbar sei, denn er gedenke mit mir zum Pferderennen zu fahren.

Ich sah ihn unentschlossen an.

«Ich fahre nicht mit«, sagte ich.»Und wohin fahre ich nicht mit?«

«Leicester. Hindernismeeting. Eddie Payne wird dort sein. Rose wird dort sein. Norman Osprey hat dort einen Stand. Ich dachte, Sie wollten herausfinden, von wem Martin das Video bekommen hat. Interessiert es Sie nun, was da drauf ist und wer es gestohlen hat und wer die Frauen, die Kinder und mich mit Gas betäubt hat, oder möchten Sie lieber hierbleiben und in Ruhe hübsche rosa Väslein für Touristen machen?«

Ich antwortete nicht gleich, und er setzte einlenkend hinzu:»Na ja, wenn Sie nicht noch mal solche Prügel kassieren wollen wie gestern abend, kann ich das schon verstehen, dann bleiben Sie eben hier, und ich schnüffle alleine rum.«

«Wer hat Ihnen denn von gestern abend erzählt?«

Er nahm seine Mütze ab und wischte sich mit einem weißen Taschentuch über die Glatze.

«Das hat mir ein Vögelchen erzählt. Oder vielmehr ein mittelgroßer Vogel.«

«Eine Taube vielleicht?«fragte ich mit Bezug auf den Namen Pigeon.

«Gut geraten. «Er grinste.»Ja, eine Taube. Anscheinend hält Pigeon große Stücke auf Sie. Er hat mich extra bei Bon-Bon angerufen. Er sagte, ich solle die Losung ausgeben, daß in Zukunft jeder, der Ihnen zu nahe tritt, ihm zu nahe tritt.«

Ich war ebenso froh wie überrascht.»Wie gut kennen Sie ihn?«fragte ich. Er antwortete um ein paar Ecken.»Erinnern Sie sich an den sterbenskranken Gärtner von Martin? Der Sie den Führerschein gekostet hat, weil Sie gerast sind, um Martin noch rechtzeitig hinzubringen?«»Na klar erinnere ich mich.«

«Dieser Gärtner war Tom Pigeons Vater.«

«Ach so. Aber er ist nicht gestorben. Jedenfalls damals nicht.«

«Das tut nichts zur Sache. Kommen Sie mit nach Leicester.«

«Meinetwegen.«

Ich ging in die Werkstatt, zog mir eine Jacke über und sagte Pamela Jane, Irish und Hickory Bescheid, sie sollten Briefbeschwerer machen, bis ich vom Pferderennen wiederkäme. Alle drei hatten Martin lebend, als meinen Freund gekannt, und alle waren auch auf der Trauerfeier gewesen. Sie wünschten mir viel Glück beim Wetten.

Auf der Fahrt saß ich vorn neben Worthington. Wir hielten an, damit ich mir eine billige Armbanduhr kaufen konnte und eine Rennsportzeitung, um mich über die Pferde und Reiter zu informieren. In den Tagesnachrichten auf der Titelseite las ich unter einem Dutzend anderer Notizen, daß die Rennleitung in Leicester zum Gedenken an Jockey Martin Stukely heute Lloyd Baxter (den Besitzer des Hindernisstars Tallahassee) eingeladen hatte.

Nun ja.

Nach ein paar Kilometern erzählte ich Worthington eingehend von meinem Besuch in Lorna Terrace, Taunton. Die Ungereimtheiten im Verhalten von Mutter und Sohn entlockten ihm ein Stirnrunzeln, doch er schien regelrecht bestürzt, als ich fragte:»Haben Sie mir nicht gesagt, die Buchmacherfirma Arthur Robins, seit 1894, sei jetzt in den Händen gewisser Webbers, Browns… und Veritys?«

Die Bestürzung dauerte zehn Sekunden.»Und das Mut-ter-Sohn-Gespann in Taunton heißt Verity!«Er schwieg.

«Das ist sicher Zufall«, sagte er.

«An solche Zufälle glaube ich nicht.«

Worthington warf mir einen Blick zu, während er schweigend um einen Kreisel fuhr, und sagte schließlich:»Gerard, falls Sie irgendeine klare Vorstellung von all dem haben… was ist da los? Zum Beispiel, wer waren die schwarz Maskierten, die Sie gestern abend überfallen haben, und wozu? Was wollten sie?«

«Ich glaube, daß gestern der Mann dabei war, der Sie mit Cyclopropan betäubt und mich mit dem leeren Behälter umgehauen hat, und ich wüßte gern, wer das ist. Aber einer der Schwarzmasken, da bin ich mir sicher, war die duftende Rose.«

«Nicht, daß ich das bestreiten will, aber wieso?«

«Wer sonst würde Norman Osprey — oder sonstwem, aber er dürfte es gewesen sein — zuschreien, er solle mir die Handgelenke brechen? Die Stimme von Rose ist unverwechselbar. Dann auch die Art, wie sie sich bewegt… und was das Wozu angeht — erstens einmal, damit ich nicht mehr arbeiten kann, oder? Und zweitens, um von mir zu bekommen, was ich nicht habe. Und drittens, um zu verhindern, daß ich auf die Idee komme, das zu tun, was wir gerade vorhaben.«

«Kehren wir um«, sagte Worthington spontan.

«Wenn Sie bei mir bleiben, geht das schon.«

Worthington nahm mich beim Wort und schirmte mich ab wie ein Profi. Wir identifizierten eine der Schwarzmasken schnell und zweifelsfrei, so verblüfft war der gute Mann, mich dort herumlaufen zu sehen, wo sich doch jedes halbwegs vernünftige Überfallopfer mit Eispackungen und Aspirin auf der Couch erholt hätte. Martin selbst hatte mir vorexerziert, wie wenig sich Hindernisjockeys um Arm- oder Rippenbrüche und andere Verletzungen scheren. Nur mit einem gebrochenen Bein, sagte er, kann man wirklich ein paar Wochen nicht reiten. Blaue Flecken waren für ihn an der Tagesordnung, und Schmerzen bewältigte er, indem er abschaltete und an etwas anderes dachte.»Kümmer dich nicht drum«, sagte er. In Leicester folgte ich seinem Beispiel, so gut es ging.

Als Norman Osprey mich sah, hörte er abrupt damit auf, seinen Stand aufzubauen, und spannte seine schweren Muskeln an; und Rose, die das Pech hatte, in dem Moment gerade leicht und unbekümmert auf ihn zuzugehen, verfolgte die Richtung seines ungläubigen Blickes, und es war um ihre Selbstzufriedenheit geschehen.»Zum Teufel«, stieß sie hervor.

Wenn man sich Norman Ospreys Schultern in einem schwarzen Pullover vorstellte, war er eindeutig der Mann, der sich mit dem Baseballschläger mein Handgelenk vorgenommen und mir die Armbanduhr zerschmettert hatte. Ich war im entscheidenden Moment zurückgezuckt und hatte ihn heftig vors Schienbein getreten. Die schneidende Stimme, die ihn drängte, noch einmal zuzuschlagen, hatte ohne Zweifel zu Rose gehört.

«Schönen Gruß von Tom Pigeon«, sagte ich zu ihnen beiden.

Sie sahen nicht übermäßig erfreut aus. Worthington meinte leise, aber eindringlich zu mir, es sei nicht ratsam, in ein Wespennest zu stechen. Dabei ging er bereits auf Abstand zu Arthur Robins 1894, und zügig, aber nicht überhastet folgte ich ihm.

«Die wissen nicht genau, wonach sie suchen«, erklärte ich und ging wieder langsamer.»Sonst hätten sie das gestern abend ausdrücklich verlangt.«

«Hätten sie ja vielleicht noch, wenn Tom Pigeon mit seinen Hunden nicht dazwischengekommen wäre.«

Worthington lenkte uns stetig von Norman Osprey weg und schaute zur Sicherheit trotzdem nach, ob jemand hinter uns her kam.

Meinem Eindruck nach hatte die Aktion vor knapp fünfzehn Stunden den Zweck gehabt, mich zu verletzen und mich zum Sprechen zu bringen. Wenn aber Tom Pigeon nicht aufgetaucht wäre und ich ihre Fragen hätte beantworten können und sie beantworten müssen, um die vielen kleinen Handknochen zu schonen, die laut Martin niemals richtig heilten, hätte ich es dann getan.?

Angeschlagen wie ich war, konnte ich mir nicht vorstellen, daß Martin Informationen besessen hatte, für die er mein Leben aufs Spiel gesetzt haben würde, und mir gefiel die Vorstellung nicht, daß sie — die Schwarzmasken — irrtümlich annehmen könnten, ich wüßte, was sie von mir hören wollten, und sei lediglich zu stur, es ihnen zu sagen.

Hätte ich genau gewußt, was sie wollten, und wäre Tom Pigeon mit seinen Hunden nicht dazwischengefahren, so gestand ich mir unwillig ein, dann würde ich jetzt wohl kaum auf irgendeiner Rennbahn herumlaufen, sondern hätte ihnen alles gesagt, damit sie mich in Ruhe ließen, und würde mich vor lauter Scham mit Selbstmordgedanken tragen. Und das erzählte ich bestimmt niemandem.

Nur Martins über mir schwebendem Geist konnte ich das anvertrauen. Zum Teufel mit dir, Alter, dachte ich. Was für eine Suppe hast du mir da eingebrockt?

Lloyd Baxter aß in Leicester mit der Rennleitung zu Mittag. In seiner Selbstherrlichkeit hielt er diese beneidenswerte Einladung für nicht mehr als recht und billig. Das gab er mir zu verstehen, als sich unsere Wege zwischen der Tribüne und dem Führring kreuzten.

Für Lloyd Baxter kam die Begegnung unerwartet, doch ich hatte ihn zeitig ausgemacht und mich, während er mit der Rennleitung Roastbeef, Käse und Kaffee genoß, im unangenehm kalten Wind draußen mit Worthington unterhalten.

In der Kälte wirkten Baxters Schädel und Oberkörper noch steinzeitlicher als sonst, und seine Haare waren in gerade mal acht — wenn auch stressigen — Tagen deutlich grauer geworden.

Er war nicht erfreut, mich zu sehen. Sicher reute ihn der ganze Abend in Broadway, doch er strengte sich an, höflich zu sein, und bestimmt war es unfein von mir, anzunehmen, er sei es nur, weil ich über seine Epilepsie Bescheid wußte. Anscheinend war die Krankheit sein Geheimnis, aber wenn er befürchtete, ich würde es herumerzählen oder mich sogar darüber lustig machen, dann hatte er wirklich keine sehr schmeichelhafte Meinung von mir.

Worthington ließ mich vorübergehend allein, und ich blieb bei Lloyd Baxter, der sich lobend über den Lunch der Rennleitung äußerte und die Qualitäten verschiedener Trainer ansprach, ausgenommen des armen Priam Jones.

«Es war nicht seine Schuld, daß Tallahassee in Cheltenham gestürzt ist«, gab ich zu bedenken.

«Das war Martins Schuld«, kam die schneidende Antwort.»Er hat ihn beim Angehen des Sprungs aus der Balance gebracht. Er war sich zu sicher.«

Martin hatte mir gesagt, ganz gleich, was passierte, bei einem unzufriedenen Besitzer sei generell der Jockey schuld.

«Pilotenfehler. «Er hatte gleichmütig die Achseln gezuckt.

«Es gibt aber auch ganz andere Besitzer, eben die, für die zu reiten eine Freude ist, die wissen, daß Pferde nicht unfehlbar sind, die sagen: >So ist der Rennsportc, wenn ein Unglück passiert, und die den Jockey trösten, der sie gerade um den Sieg ihres Lebens gebracht hat. Und glaub mir«, hatte Martin gesagt,»Lloyd Baxter ist keiner von der Sorte. Wenn ich bei dem ein Rennen verliere, schiebt er es auf mich.«

«Aber«, sagte ich in Leicester ruhig zu Lloyd Baxter,»wenn ein Pferd stürzt, kann jedenfalls der Trainer nichts dafür. Priam Jones war nicht schuld daran, daß Tallahassee gestürzt ist und den Coffee Cup verloren hat.«

«Er hätte ihn besser einspringen sollen.«

«Hm«, wandte ich ein,»das Pferd hatte ja nun bewiesen, daß es springen kann. Es hatte schon mehrmals gesiegt.«

«Ich möchte einen anderen Trainer. «Lloyd Baxters Entschluß stand fest. Mit Argumenten, sah ich, war da nichts zu machen.

Zusätzlich zum Lunch hatte Tallahassees Besitzer noch eine Karte für die Gästeloge der Rennleitung bekommen. Er entschuldigte sich gerade dafür, daß er mich dorthin nicht mitnehmen könne, als jemand von der Rennleitung mich ansprach und dem Ganzen eine neue Richtung gab.

«Sind Sie nicht der Glasmacher?«brummte er freundlich.

«Meine Frau ist Ihr größter Fan. Wir haben massenhaft Sachen von Ihnen daheim. Sie waren doch selbst bei uns, um die Beleuchtung für das tolle Pferd auszuklügeln, das Sie ihr gemacht haben, nicht wahr?«

Da ich mich an das Pferd und das Haus noch hinreichend erinnerte, wurde ich — nicht unbedingt zur Freude Lloyd Baxters — eingeladen, mit zum Balkon der Rennleitung zu kommen.

«Dieser junge Mann ist ein Genie, wenn es stimmt, was meine Frau sagt«, meinte das Rennleitungsmitglied zu

Baxter und komplimentierte uns hinein. Das Genie wünschte sich bloß, es hätte nicht so weiche Knie.

Daß Lloyd Baxter an der Urteilskraft der Frau des Rennleitungsmitglieds zweifelte, stand ihm in das knochige Gesicht geschrieben, aber vielleicht beeinflußte ihn ihre Meinung schließlich doch, denn als der Beifall für den nächsten Sieger verebbt war, legte er mir zu meiner großen Überraschung leicht die Hand auf den Arm, um anzudeuten, daß ich bleiben und mir anhören solle, was er zu sagen hatte. Da er damit aber noch zögerte, gab ich ihm Hilfestellung.

«Ich habe mich oft gefragt«, sagte ich freundlich,»ob Sie nicht gesehen haben, wer an Silvester in meine Galerie gekommen ist. Ich meine, klar, Sie waren bewußtlos… aber davor… Als ich draußen auf der Straße war, ist da jemand gekommen?«

Nach einem längeren Schweigen nickte er schwach.»Es kam jemand in den großen Ausstellungsraum, den Sie da haben. Ich weiß noch, daß er nach Ihnen gefragt hat und ich gesagt habe, Sie seien auf der Straße. Aber ich konnte ihn nicht richtig sehen, weil meine Augen… manchmal fangen die an, hin und her zu zucken…«Er schwieg, aber ich sprach für ihn weiter.

«Sie haben doch sicher Tabletten.«

«Ja, natürlich!«Er war gereizt.»Aber in der Aufregung des Tages hatte ich vergessen, sie einzunehmen, und diese winzigen Airtaxis hasse ich sowieso, und den Trainer werde ich auf jeden Fall wechseln. «Mehr sagte er nicht, aber er hatte seine Nöte so klar dargestellt, daß auch ein Schimpanse sie verstanden hätte.

Ich fragte ihn, ob er trotz des Augenzuckens meinen unbekannten Besucher beschreiben könnte.

«Nein«, antwortete er.»Ich sagte ihm, Sie seien draußen, und als ich das nächste Mal richtig zu mir kam, war ich im

Krankenhaus. «Er schwieg, während ich mich über seinen Filmriß betrübte, und setzte dann zaghaft hinzu:»Ich weiß, daß ich Ihnen für Ihre Verschwiegenheit Dank schulde. Sie könnten mich immer noch arg in Verlegenheit bringen.«

«Davon hätte niemand was«, sagte ich.

Er musterte eine Weile mein Gesicht, so wie ich einmal das seine studiert hatte. Das Ergebnis überraschte mich.

«Sind Sie krank?«fragte er.

«Nein. Müde. Unausgeschlafen.«

«Der Mann, der da war«, sagte er unvermittelt, ohne auf meine Antwort einzugehen,»war dünn, mit einem weißen Bart, und über fünfzig.«

Als Beschreibung eines Diebes hörte sich das sehr unwahrscheinlich an, und offenbar hatte er mir meine Skepsis angesehen, denn um mich zu überzeugen, fuhr er fort:»Als ich ihn sah, fiel mir gleich Priam Jones ein, der seit Jahren davon redet, daß er sich einen Bart wachsen lassen will. Ich sagte ihm, dann würde er wie ein Waldschrat aussehen.«

Fast hätte ich gelacht — das Bild stimmte.

Baxter sagte, der Mann mit dem weißen Bart habe am ehesten wie ein Universitätsprofessor ausgesehen. Ein Dozent.

«Hat er etwas gesagt?«fragte ich.»War es ein normaler Kunde? Hat er von Glas gesprochen?«

Lloyd Baxter konnte sich nicht erinnern.»Wenn er überhaupt etwas gesagt hat, kam das bei mir nur als Wortsalat an. Meine Wahrnehmung verzerrt sich manchmal. Das ist dann so eine Art Warnung. Meistens bekomme ich das einigermaßen unter Kontrolle oder kann wenigstens Vorkehrungen treffen… aber an dem Abend ging alles zu schnell.«

Er war ungewöhnlich offen, fand ich. So viel Vertrauen hätte ich nicht erwartet.

«Der Mann mit dem Bart«, sagte ich,»muß doch zumindest etwas, ehm. von Ihrem Anfall mitbekommen haben. Wieso hat er Ihnen also nicht geholfen? Meinen Sie, er wußte einfach nicht, was tun, und ist bloß abgehauen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen, wie man das kennt, oder hat er sich mit der Beute, ehm… mit der Segeltuchtasche voller Geld davongemacht?«

«Und mit der Videokassette«, sagte Baxter.

Totenstille trat ein. Dann sagte ich:»Was für eine Videokassette?«

Lloyd Baxter runzelte die Stirn.»Er hat danach gefragt.«

«Und Sie haben sie ihm gegeben?«

«Nein. Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«

Offensichtlich war Lloyd Baxters Erinnerung an seinen Abend in Broadway ein gut verrührtes Gemisch aus Ordnung und Chaos. Ich wußte nicht, ob ein Hochschullehrer mit weißem Bart außerhalb seiner Phantasie existierte.

Wir saßen noch weitere zehn Minuten ungestört am idealsten Ort, den es dafür auf einer Rennbahn gibt — dem Balkon für die Gäste der Rennleitung —, und es gelang mir, Lloyd Baxter dazu zu bringen, daß er in Ruhe noch einmal über die ersten Minuten des Jahres 2000 nachdachte, aber es nützte wenig, er blieb bei dem dürren Mann mit dem weißen Bart, der, wenn es ihn denn überhaupt gab, wahrscheinlich — oder auch nur vielleicht — nach einer Videokassette gefragt hatte.

Er gab sich wirklich Mühe. Sein Verhalten mir gegenüber hatte sich merklich geändert, so daß er jetzt eher ein Verbündeter als ein Starrkopf war.

Auch über Martin und mich konnte er mir jetzt Dinge sagen, die früher nicht über seine Lippen gekommen wären.»Ich habe mich in Ihnen getäuscht«, gab er unter heftigem Stirnrunzeln zu.»Martin hat aus der Freundschaft mit Ihnen Kraft geschöpft, und ich dachte immer, es sei umgekehrt.«

«Wir haben einer vom anderen gelernt.«

Nach einem Augenblick sagte er:»Also der Kerl mit dem weißen Bart, der war wirklich da. Und er wollte die Videokassette. Wenn ich mehr wüßte, würde ich es Ihnen sagen.«

Zu guter Letzt glaubte ich ihm. Es war einfach Pech, daß Baxter ausgerechnet in dem Moment den Anfall bekommen hatte, und Pech für den Weißbart, daß Baxter dort gewesen war, aber wie es aussah, war tatsächlich in der Zeit, als ich im Freien die Ankunft des Jahres 2000 feierte, ein dünner, professorenhafter Mann mit weißem Bart in meine Galerie gekommen, hatte etwas von einer Videokassette gesagt und war mitsamt der Kassette und dem zufällig dabeiliegenden Geld wieder verschwunden, bevor ich zurückkam.

Ich hatte keine weißbärtige Gestalt auf der Straße gesehen. Für Knecht Ruprecht und seinen Chef war es ein paar Tage zu spät gewesen. Lloyd Baxter konnte mir nicht sagen, ob der Bart echt oder der Amtstracht des Weihnachtsmanns entlehnt war.

Als wir uns trennten, gaben wir uns zum allerersten Mal die Hand. Ich ließ ihn bei der Rennleitung zurück und ging hinaus zu Worthington, der zitternd und offensichtlich hungrig in der Kälte stand. Zum nächsten Imbiß war es nicht weit, und er langte mit enormem Appetit zu.

«Warum essen Sie nichts?«fragte er mit vollem Mund.

«Aus Gewohnheit«, sagte ich. Eine Gewohnheit, die auf das Exempel eines gewichtsbewußten Jockeys zurückging.

Martin hatte mein Leben offenbar stärker beeinflußt, als mir bewußt war.

Ich erklärte Worthington, während er zwei volle Portionen Fleischpastete mit Nieren vertilgte — nämlich meine und seine —, daß wir jetzt hinter einem dünnen Mann in den Fünfzigern mit weißem Bart her waren, der wie ein Hochschuldozent aussah.

Worthington schaute mich ernst an, während er Pastete auf seine Gabel lud.»Das«, meinte er,»klingt mir aber gar nicht nach jemand, der eine Tasche voll Geld stiehlt.«

«Sie überraschen mich, Worthington«, neckte ich ihn.

«Ich dachte, Sie müßten doch eigentlich wissen, daß ein Bart nicht unbedingt für Ehrlichkeit steht! Lassen Sie mich das mal ausspinnen. Sagen wir, Mr. Weißbart gibt Martin eine Kassette, der gibt sie an Eddie Payne weiter, und der gibt sie mir. Als Martin dann stirbt, hätte Mr. Weißbart seine Kassette gern zurück, und er forscht nach, wo sie geblieben ist… das heißt, er kommt nach Broadway. Er findet die Kassette und nimmt sie an sich, und weil die Gelegenheit günstig ist, läßt er noch die Geldtasche mitgehen, die ich dummerweise habe herumstehen lassen, und nun wird er sich hüten, irgend jemand zu erzählen, daß er seine Kassette wiederhat.«

«Weil er sonst den Gelddiebstahl zugibt?«

«Genau.«

Mein Leibwächter putzte seinen Teller leer.»Und dann?«fragte er.»Wie ging es dann weiter?«

«Da kann ich nur raten.«

«Bitte. Tun Sie das. Es war nämlich kein alter Knacker, der uns mit dem Gas betäubt hat. Daniel hat ja die Turnschuhe beschrieben, die der Gasmann anhatte, und wirklich, so was bindet sich nur Jungvolk an die Füße.«

Dieser Meinung war ich nicht. Exzentrische Weißbärte konnten alles mögliche anziehen. Sie konnten auch Sexvideos aufnehmen. Sie konnten auch jemandem erzählen, das Video sei ein Vermögen wert und in den Händen Gerard Logans. Warum nicht ein paar kleine Lügen? Ablenkungsmanöver. Greift euch Logan, schlagt ihn, bis er entweder das Video herausrückt oder wenigstens ausspuckt, was drauf war.

Was hatte Martin mir zur Aufbewahrung geben wollen?

Wollte ich das überhaupt noch wissen?

Was ich nicht wußte, konnte ich nicht ausplaudern. Wenn sie aber dachten, ich wüßte Bescheid und wollte nur nichts sagen… Verdammt, dachte ich, so weit waren wir doch fast schon mal, und du kannst nicht erwarten, daß Tom Pigeon und die Dobermänner jedesmal zur Stelle sind.

Das Geheimnis auf dem Video nicht zu kennen war vielleicht schlimmer, als es zu kennen. Kurz und gut, ich kam zu dem Schluß, daß ich nicht nur herausfinden mußte, wer es gestohlen hatte, sondern auch, was die Diebe sich davon versprochen hatten und was wirklich darauf zu sehen war.

Als Worthingtons Hunger vorerst gestillt war und wir unser Geld auf ein Pferd verwettet hatten, das Martin sonst geritten hätte, kehrten wir zu den dicht gestaffelten Ständen der Buchmacher zurück, die schon ihre Quoten für das letzte Rennen ausriefen.

Mit Worthingtons wohlbekannter Muskelkraft als Sicherheit und Garantie für freien Abzug näherten wir uns dem Herrschaftsbereich von Arthur Robins (seit 1894). Norman Ospreys Reibeisenstimme übertönte ungehemmt die seiner Nachbarn, bis er uns unter seinen Zuhörern bemerkte, und als er dann verstummte, bekam endlich auch die Konkurrenz eine Chance.

So nah, daß ich die einzelnen Härchen seiner Elviskoteletten sehen konnte, sagte ich:»Richten Sie Rose aus — «

«Sagen Sie’s ihr selbst«, unterbrach er mich laut.»Sie steht direkt hinter Ihnen.«

Ich drehte mich ohne Eile um, so daß ich Worthington im Rücken hatte. Rose starrte mich böse an, und aus ihrer steifen Körperhaltung sprach ein Haß, den ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand. Wieder sah ich in ihrer spröden Haut das Anzeichen eines berechnenden Charakters, doch heute hatte ich noch weitere gute Gründe für diese Annahme, da ich auf Baseballschläger, zerbrochene Uhren, fliegende Fäuste und eine ganze Latte anderer Tätlichkeiten, inszeniert und beklatscht als Sonntagabendunterhaltung für die Truppe, zurückblicken konnte.

Als sie jetzt gerade einmal zwei, drei Meter von mir entfernt stand, liefen mir Schauer über das gegerbte Fell, aber sie dachte anscheinend, mit schwarzer Maske und schwarzem Gymnastikanzug sei sie unmöglich zu erkennen gewesen.

Ich stellte ihr noch einmal die Frage, auf die sie mir die Antwort verweigert hatte.

«Wer hat Martin Stukely in Cheltenham ein Video gegeben?«

Diesmal antwortete sie, sie wisse es nicht.

«Heißt das«, sagte ich,»Sie haben nicht gesehen, wie jemand Martin ein Päckchen gegeben hat, oder Sie haben es gesehen, kennen aber den Überbringer nicht?«

«Ein ganz Schlauer, was?«meinte Rose sarkastisch.»Suchen Sie es sich aus.«

Mit Worten, dachte ich, ließ sich Rose nicht aufs Glatteis führen. Wahrscheinlich hatte sie die Übergabe gesehen und kannte auch den Überbringer, aber selbst ein Großinquisitor hätte Mühe gehabt, das aus ihr herauszuholen, und wir hatten bei Logan Glas keine Daumenschrauben.

Ohne groß zu hoffen, daß sie mir glaubte, sagte ich:»Ich weiß nicht, wo das Video geblieben ist, um das es Ihnen geht. Ich weiß nicht, wer es gestohlen hat, und ich weiß nicht, warum. Aber ich habe es nicht.«

Rose schürzte die Lippen.

Als wir davongingen, stieß Worthington einen frustrierten Seufzer aus.»Man sollte meinen, Norman Osprey sei der starke Mann in dem Verein. Er ist so gebaut, und er tönt auch so. Alle denken, er ist bei Arthur Robins am Drücker. Aber haben Sie gesehen, wie er Rose ansieht? Sie kann noch soviel Mist bauen, sie ist und bleibt der Kopf. Sie ist der Boss. Sie gibt den Ton an. Mein Privatdetektiv hat mich angerufen. Ich muß sagen, er ist sehr von ihr beeindruckt.«

Ich nickte.

Worthington, der Welterfahrene, fügte an:»Sie haßt Sie. Schon gemerkt?«

Ich antwortete ihm, das sei mir in der Tat aufgefallen.

«Aber ich weiß nicht, warum.«

«Genau erklären kann Ihnen das wohl nur ein Psychiater, aber was ich da gehört habe, kriegen Sie gratis. Sie sind ein Mann, Sie sind kräftig, sehen gut aus, Sie haben Erfolg im Beruf, und Sie haben keine Angst vor ihr. Ich wüßte noch mehr, aber das reicht erst mal. Dann läßt sie Sie vermöbeln, und schon stehen Sie wieder vor ihr wie neu, wenn Sie sich auch nicht so fühlen, und lachen ihr praktisch ins Gesicht, und glauben Sie mir, bei mir dürfte ein Widersacher noch nicht mal gähnen, da würde ich ihn schon über den nächsten Zaun befördern.«

Worthingtons Einschätzung war sicher klug, aber ich sagte:»Ich habe ihr nichts getan.«

«Sie fühlt sich durch Sie bedroht. Sie sind ihr überlegen. Sie würden das Match gewinnen. Da läßt sie Sie vielleicht lieber umbringen. Sie wird es nicht selbst tun. Und schieben Sie meine Warnung nicht einfach weg. Es gibt Menschen, die aus Haß töten, Menschen, die unbedingt gewinnen wollen.«

Nicht zu reden von Mord aus rassistischen oder religiösen Motiven, dachte ich; aber um sich vorzustellen, daß man selbst davon betroffen sein könnte, mußte einem erst mal die Uhr zertrümmert werden.

Ich nahm natürlich an, Rose habe ihrem Vater, Eddie Payne, erzählt, daß ich auf der Rennbahn war, aber da irrte ich. Worthington und ich legten uns nach dem letzten Rennen auf die Lauer und nahmen ihn problemlos in die Zange, als er aus der Jockeystube kam, um zu seinem Wagen zu gehen.

Er freute sich nicht. Wie ein in die Enge getriebenes Tier blickte er von einem zum anderen, und ich sagte ruhig, als gelte es ein verschrecktes Pferd zu besänftigen:»Tag, Ed. Wie geht’s?«

«Ich weiß nicht mehr, als ich schon gesagt habe«, begehrte er auf.

Wenn du ihm ein paar hübsche Köder hinwirfst, dachte ich, beißt vielleicht ein Fisch an, von dem du gar nichts ahnst; eine im Uferschilf versteckte Forelle sozusagen.

Also fragte ich:»Ist Rose mit Norman Osprey verheiratet?«

Sein Gesicht hellte sich fast zu einem Lachen auf.»Rose heißt immer noch Rose Payne, nennt sich aber Robins oder auch Mrs. Robins, wenn’s ihr paßt, aber sie mag keine Männer, meine Rose. Schade drum, aber so ist es nun mal.«

«Aber sie kommandiert sie gern?«

«Sie hat schon immer Jungs nach ihrer Pfeife tanzen lassen.«

«Waren Sie gestern abend mit ihr zusammen?«Ich stellte ihm die Frage beiläufig, aber er wußte sofort, wovon ich sprach.

«Ich habe Sie nicht angerührt«, sagte er schnell.»Ich war das nicht. «Er blickte von mir zu Worthington und wieder zurück, jetzt jedoch eher verwirrt als erschrocken.»Hören Sie«, säuselte er, als bitte er um Verzeihung,»gegen die hatten Sie keine Chance. Ich sagte Rose, das sei unfair. «Er stockte und schwieg.

«Heißt das, Sie waren selbst einer der Schwarzmaskierten gestern abend in Broadway?«fragte ich interessiert und konnte es kaum glauben, als ich den Ausdruck der Scham auf seinem Gesicht sah, mit dem er es zugab.

«Rose sagte, wir würden Ihnen nur einen Schreck einjagen. «Er sah mich mit unglücklichen Augen an.»Ehrlich, ich habe versucht, sie zurückzuhalten. Ich hätte nie gedacht, daß Sie heute hierherkommen. So schlimm, wie es aussah, kann es also nicht gewesen sein — aber ich weiß, es war furchtbar. Ich bin gleich zur Beichte und habe um Vergebung gebeten.«

«Das waren also Sie und Rose«, meinte ich sachlich, obwohl ich aus dem Staunen nicht herauskam,»und Norman Osprey. Und wer noch? Einer von Norman Ospreys Schreibern, oder?«

«Nein.«

Die Angst brachte ihn plötzlich zum Schweigen. Er hatte schon viel mehr gesagt, als seiner Tochter recht sein konnte, und wenn der noch unerkannte Schwarzmaskierte einer der beiden Schreiber war, die bei Norman Osprey für Ar-thur Robins (seit 1894) arbeiteten, würde Eddie das nun nicht mehr ohne weiteres zugeben.

Ich versuchte es mit einem neuen Köder.

«Kennen Sie irgend jemanden, der an Betäubungsmittel herankommt?«

Fehlanzeige.

Weiter.

«Oder jemanden mit einem weißen Bart, den Martin kannte?«

Da zögerte er zunächst, schüttelte aber schließlich den Kopf.

Ich sagte:»Kennen Sie persönlich jemanden mit einem weißen Bart, der wie ein Hochschullehrer aussieht?«

«Nein. «Mit fester Stimme geantwortet, aber sein Blick wich mir aus.

«War das Päckchen im braunen Papier, das Sie mir in Cheltenham gegeben haben, dasselbe, das Sie an dem Tag von Martin bekommen hatten?«

Diesmal nickte er, ohne erst hin und her zu überlegen.

«Ja, es war dasselbe. Rose war wütend. Sie meinte, ich hätte es nach Martins Tod stillschweigend einbehalten sollen. Wenn wir es behalten hätten, wäre nicht so ein Theater darum gemacht worden.«

«Wußte Rose, was in dem Päckchen war?«

«Genau wußte das nur Martin. Ich habe ihn mehr oder weniger direkt gefragt, was drin sei, und er meinte, die Zukunft des Planeten, aber das war natürlich ein Scherz.«

Martins Scherz klang mir zu plausibel, um lustig zu sein.

Ed war noch nicht fertig.»Ein paar Wochen vor Weihnachten«, fuhr er immer noch belustigt fort,»sagte Martin im Gespräch mit den anderen Jockeys, als sie sich vor der

Heimfahrt beim Umziehen darüber unterhielten, was sie ihren Frauen, ihren Freundinnen schenken wollten. das war nur so nebenher geredet, aber er sagte, er würde BonBon eine antike Halskette aus Gold und Glas schenken oder vielmehr — und da lachte er — eine wesentlich billigere Replik davon, die Sie ihm erst noch machen müßten. Er sagte, Sie hätten ein Lernvideo darüber. Dann war das gleich schon wieder vergessen, weil ihm einfiel, daß sich Bon-Bon ein Paar gefütterte Stiefel wünschte, und hauptsächlich hat er sowieso von der King George Chase am Zweiten Weihnachtstag in Kempton geredet und daß er nichts von der Gans essen darf, weil er noch abnehmen muß. Um sein Gewicht war er ja immer besorgt, wie die meisten Jockeys.«

«Er hat sich viel mit Ihnen unterhalten«, meinte ich.

«Mehr als andere.«

Das fand Ed nicht. Er rede immer gern mit den Jungs, sagte er. Über die könne er uns so einiges erzählen. Dabei zwinkerte er, als wären alle Jockeys ausgemachte Schürzenjäger, und mit dieser kleinen Vertraulichkeit gewann er mehr oder weniger die Gelassenheit des kompetenten Jok-keydieners zurück, als den ich ihn durch Martin kennengelernt hatte.

Worthington faßte auf der Heimfahrt unsere Ausbeute an Informationen zusammen.»Ich würde sagen, Martin und Weißbart war es Ernst mit diesem Video.«

«Ja«, stimmte ich bei.

«Und vielleicht ist Rose durch ihren Vater auf die Idee gekommen, auf dem Video sei zu sehen, wie eine antike Halskette hergestellt wird.«

«Da muß mehr dahinter sein«, meinte ich skeptisch.

«Nun. vielleicht wird da ja gesagt, wo die Kette sich befindet.«

«Eine Schatzsuche?«Ich schüttelte den Kopf.»Mir ist nur eine einzige wertvolle antike Kette aus Gold und Glas bekannt, obwohl ich mich auf dem Gebiet ziemlich auskenne, und die liegt in einem Museum. Unbezahlbar. Sie ist vor dreieinhalbtausend Jahren auf Kreta oder jedenfalls in der Ägäis geschaffen worden. >Kretischer Sonnenauf-gang< heißt sie. Davon habe ich allerdings eine Replik gemacht, und die habe ich Martin mal geliehen. Und es gibt ein Video, in dem ich erkläre, wie die Kette im einzelnen entstanden ist. Das habe ich Martin auch geliehen, und er hat es noch — oder vielmehr, weiß der Teufel, wo das jetzt ist.«

«Und wenn es zwei gibt?«fragte Worthington.

«Meinen Sie jetzt, zwei Videos? Oder zwei Ketten?«

«Warum nicht zwei Videos?«überlegte Worthington, als spreche plötzlich einiges dafür.»Rose könnte sie durcheinandergebracht haben.«

Es war ebensogut möglich, daß Worthington und ich hier alles durcheinanderwarfen, aber als wir bei Bon-Bon ankamen, konnten wir zumindest zweierlei als gesichert ansehen: Erstens, Rose, Eddie Payne und Norman Osprey hatten den Sonntagabend gemeinsam in Broadway zugebracht, und zweitens, ein schon älterer, magerer Hochschullehrertyp mit weißem Bart war in meinen Laden marschiert, als das neue Jahrtausend eingeläutet wurde, und hatte sich nicht damit aufgehalten, dem von einem epileptischen Anfall heimgesuchten Lloyd Baxter zu helfen.

Als wir auf dem knirschenden Kies von Bon-Bons Einfahrt anhielten, kam Marigold mit weit ausgebreiteten Armen zu uns heraus.

«Bon-Bon braucht mich nicht mehr«, verkündete sie theatralisch.»Holen Sie die Landkarten raus, Worthington. Wir fahren Skilaufen.«

«Ehm. wann?«fragte ohne Verwunderung der Chauffeur.

«Morgen früh natürlich. Tanken Sie voll. Wir fahren über Paris. Ich brauche was Neues zum Anziehen.«

Worthington nahm das gelassener als ich. Er flüsterte mir zu, daß sich Marigold mehrmals die Woche neue Kleider kaufe und daß der Skiurlaub insgesamt höchstens zehn Tage dauern werde. Sie werde bald davon genug haben und nach Hause wollen.

Bon-Bon nahm die Nachricht von der Abreise ihrer Mutter mit wohlverhüllter Erleichterung auf und fragte mich hoffnungsvoll, ob» die leidige Videogeschichte «jetzt erledigt sei. Sie wollte, daß Ruhe in ihr Leben einkehrte, und ich hatte keine Ahnung, ob damit zu rechnen war. Ich erzählte ihr weder von Rose noch von der heftigen Unruhe, die Rose verbreitete.

Ich fragte Bon-Bon nach dem Weißbart. Sie sagte, sie habe ihn noch nie gesehen und nie von ihm gehört. Als ich erklärte, was mit ihm war, rief sie Priam Jones an, der, durch Lloyd Baxters Trainerwechsel stark in seiner Selbstachtung gekränkt, bedauerte, ihr nicht helfen zu können.

Bon-Bon wandte sich noch an mehrere andere Trainer, doch unter den Besitzern von Rennpferden gab es anscheinend keine dünnen, schon etwas älteren mit weißem Bart. Als sie es leid war, überredete sie ihre Mutter, Worthington erst noch einmal freizugeben, da ich sicher noch weiter wolle. Ich küßte sie dankbar und wollte nichts als heim zu meinem Haus am Hang und mich hinlegen.

Worthington sagte, als wir losfuhren, er freue sich aufs Skilaufen. Er möge Paris. Er möge Marigold. Er bewundere ihre Vorliebe für ausgefallene Mode. Mit der Löwin Rose müsse ich nun leider allein fertig werden. Viel Glück, meinte er fröhlich.

«Ich könnte Sie erwürgen«, sagte ich.

Während Worthington hinterm Steuer vergnügt in sich hineinlachte, schaltete ich mein Handy ein, um Irish daheim anzurufen und mich zu erkundigen, wie es im Laden gelaufen war, doch bevor ich die Nummer drücken konnte, meldete sich meine Mailbox, und die metallische Stimme des jungen Victor W. V. sagte mir knapp ins Ohr:»Schik-ken Sie mir Ihre E-Mail-Adresse an vicv@freenet.com.«

Verdammt noch mal, dachte ich, Victor hatte mir etwas mitzuteilen. Hinlegen konnte ich mich nachher noch. Nur mein Computer in Broadway war für E-Mail gerüstet. Resigniert änderte Worthington die Fahrtrichtung, hielt schließlich vor der großen Glastür und bestand darauf, mit mir in den Laden zu kommen und nachzusehen, ob sich dort keine maskierten oder anderen Finsterlinge versteckt hielten.

Der Laden war leer. Keine Rose im Hinterhalt. Wieder draußen am Rolls, gab mir Worthington die Hand, sagte mir, ich solle auf mich aufpassen, und nachdem er noch einmal prophezeit hatte, daß er in spätestens zwei Wochen zurück sei, fuhr er wohlgemut davon.

Fast sofort vermißte ich den Muskelmann, nicht nur als Schutzschirm, sondern auch als Vertreter einer realistischen Lebensanschauung. Paris und Skilaufen waren eine Reise wert. Ich seufzte über meine unentrinnbaren Blessu-ren, startete meinen schlummernden Computer, ging ins Internet und schickte Victor eine E-Mail mit meiner Adresse.

Ich nahm an, es würde eine ganze Weile dauern, bis ich von Victor hörte, aber fast augenblicklich — das hieß, er hatte am Computer gesessen und gewartet — erschien auf dem Bildschirm meines Laptops die Frage:»Wer sind Sie?«

Ich mailte:»Martin Stukelys Freund.«

Er fragte:»Name?«, und ich gab an:»Gerard Logan.«

Seine Antwort lautete:»Was wünschen Sie?«

«Woher kanntest du Martin Stukely?«

«Ich kannte ihn von früher, habe ihn mit meinem Großvater oft beim Pferderennen gesehen.«

Ich schrieb:»Warum hast du Martin diesen Brief geschickt? Woher wußtest du von einem Video? Bitte sag mir die Wahrheit.«

«Ich habe gehört, wie meine Tante meiner Mutter davon erzählt hat.«

«Woher wußte deine Tante davon?«

«Meine Tante weiß alles.«

Ich begann an seinem Wirklichkeitssinn zu zweifeln, und mir fiel ein, daß er gesagt hatte, er spiele ein Spiel.

«Wie heißt deine Tante?«Ich erwartete nichts Bestimmtes, ganz sicher aber keine Antwort, bei der mir die Spuk-ke wegblieb.

«Meine Tante heißt Rose. Ihren Nachnamen ändert sie dauernd. Sie ist die Schwester meiner Mutter. «Kaum hatte ich das gelesen, hängte er an:»Ich mach jetzt besser Schluß. Sie ist gerade gekommen!«

«Warte. «Gebannt von seiner Enthüllung, gab ich rasch ein:»Kennst du einen dünnen alten Mann mit weißem Bart?«

Als ich mich längst damit abgefunden hatte, keine Antwort zu bekommen, erschienen drei Wörter.

«Dr. Force. Wiedersehen.«

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