Kapitel 6

Tom Pigeon, der mit seinen drei kräftigen Dobermännern ein paar Gehminuten entfernt wohnte, kam am späten Samstagvormittag zur Eingangstür von Logan Glas und lud mich auf ein Bier ein. Egal wo, nur nicht im Dragon gegenüber, meinte er.

In einer überfüllten, dunklen Kneipe, vor der er die Hunde brav an eine Bank festband, trank Tom Pigeon durstig sein Pint und sagte mir, daß Worthington der Meinung war, ich bewiese im Umgang mit den Verity-Paynes mehr Mut als Verstand.

«Mhm. Ein Wespennest, hat er gesagt«, stimmte ich bei.

«Wann hat er sich denn mit Ihnen unterhalten?«

Tom Pigeon sah mich über den Glasrand an, während er austrank.»Er meinte, sonst seien Sie nicht auf den Kopf gefallen. Heute morgen hat er mir das gesagt. «Ein Lächeln.

«Er rief aus Gstaad an. Seiner Chefin ist ja nur das Beste gut genug.«

Er bestellte das zweite Pint, während ich mich noch an meinem ersten festhielt. Wegen seiner durchtrainierten Erscheinung und seinem leicht piratenhaften, dunklen kleinen Spitzbart ging man uns aus dem Weg. Ich war in seinem Alter und so groß wie er, aber niemand fand mich bedrohlich oder wich instinktiv vor mir zurück.

«Morgen ist es eine Woche her«, sagte er,»daß Sie vermöbelt worden sind, bis Sie kaum noch stehen konnten.«

Ich dankte ihm für meine Rettung.

«Worthington möchte, daß Sie derartigen Ärger meiden«, sagte er.»Besonders solange er in der Schweiz ist.«

Ich hörte jedoch heraus, was Tom Pigeon von solchen Strategien hielt. Sicherheit als Lebensmotto schien ihn genauso anzuöden wie Worthington selbst, als der mich neulich zum Pferderennen nach Leicester gelotst hatte.

«Worthington macht einen auf Papa«, sagte Tom.

«Auf Leibwächter«, meinte ich trocken,»und er fehlt mir.«

Tom Pigeon sagte beiläufig, aber mit unverkennbarer Aufrichtigkeit:»Nehmen Sie mich so lange.«

Ich überlegte kurz, daß es sicher nicht in Worthingtons Absicht gelegen hatte, Tom zu diesem Angebot zu veranlassen, und fragte mich, was meine liebe Kommissarin Dodd davon halten würde, wenn ich mich mit einem ehemaligen Knastbruder zusammentat, der einen Spitznamen wie Konter führte. Dessenungeachtet sagte ich:»Wenn Sie auf mich hören, ja.«

«Mal sehen.«

Ich lachte und erklärte ihm, was ihm vielleicht am morgigen Sonntag bevorstand. Er machte große Augen und war sofort Feuer und Flamme.»Nur legal muß es sein«, schränkte er ein.»Ich geh nicht noch mal in den Bau.«

«Es ist legal«, versicherte ich ihm, und als ich am nächsten Morgen den Zug nahm, saß im Dienstabteil meine neue Rückendeckung, begleitet von drei der unheimlichsten schwarzen Hunde, die mir jemals die Finger geleckt hatten.

Es war nur eine Zugverbindung möglich, wenn ich zur gleichen Zeit in Lorna Terrace ankommen wollte wie am vergangenen Sonntag. Und das mußte Victor gemeint ha-ben. Tom hatte den Plan ändern und einen Wagen nehmen wollen. Er werde fahren, sagte er. Ich schüttelte den Kopf und stimmte ihn um.

«Wenn es nun aber nicht der Hinterhalt ist, den Worthington befürchtet«, hatte ich eingewandt,»sondern lediglich ein Junge, der vor Kummer nicht mehr weiterweiß?«

Wäre ja möglich, hatte ich gesagt.

Wir fanden jedoch einen Kompromiß. Wir würden einen Wagen mit Fahrer mieten, der uns vom Bahnhof Taunton aus folgen und uns eisern auf den Fersen bleiben sollte, um uns bei Bedarf einzuladen, nach Broadway zurückzubringen und daheim abzusetzen.

«Das kostet«, hatte Tom Pigeon beanstandet.

«Ich zahle«, hatte ich gesagt.

Victor selbst erwartete uns auf dem Bahnsteig in Taunton, als der Zug sanft in die Station einfuhr. Ich hatte vorn gesessen, um eventuell unerwünschte kleine Empfangskomitees beizeiten ausmachen, unter die Lupe nehmen und mich an ihnen vorbeistehlen zu können, doch der Junge war offenbar allein. Und, wie mir schien, nervös. Und vom Januarwind durchgeblasen. Darüber hinaus ein Rätsel.

Toms Hunde sprangen aus dem hinteren Teil des Zuges auf den Bahnsteig und sorgten sofort für eine scharfe Trennung zwischen Hundefreunden und Leuten, die etwas gegen Reißzähne hatten.

Ich nahm an oder hoffte zumindest, daß Victor Tom und seine Hunde nicht vom Sehen kannte, wenn auch Rose und der Rest ihrer Familie sie nach dem Schwarzmaskenauftritt in Broadway bestimmt wiedererkennen würden.

Eine schwarze Maske brauchte ich für mein Treffen mit Victor zwar nicht, aber ich hatte schon von der Kripo gelernt und trug eine Baseballmütze im derzeit angesagten Winkel, einen marineblauen Trainingsanzug und darüber eine gefütterte Weste in hellerem Blau. Annehmbare Freizeitkleidung, weg von meiner üblichen Hose und dem weißen Hemd.

Bestärkt durch das verstohlene Kichern von Bon-Bons Kindern am Morgen und den ausdruckslosen Blick, mit dem mich Tom kurz danach gestreift hatte, als wäre ich ein Fremder, näherte ich mich auf leisen Turnschuhsohlen Victors Rücken und sagte ihm leise» Tag «ins Ohr.

Er fuhr herum und musterte überrascht mein verändertes Aussehen, schien vor allem aber erleichtert zu sein, daß ich überhaupt da war.

«Ich hatte Angst, Sie würden nicht kommen«, sagte er.

«Nachdem Sie so zusammengeschlagen worden sind, wie ich gehört habe. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich möchte, daß Sie mir helfen. Die lügen mich nur an. «Er zitterte ein wenig, aber wohl mehr aus Nervosität als vor Kälte.

«Gehen wir erst mal von dem zugigen Bahnsteig runter«, sagte ich,»und dann erzählst du mir, was deine Mutter meint, wo du jetzt bist.«

Draußen vor dem Bahnhof polierte der von mir gemietete Fahrer einen dunkelblauen Kombi, der für unsere Zwecke groß genug war. Tom Pigeon kam mit seinen Hunden aus dem Gebäude, sagte etwas zu dem Fahrer und verfrachtete die Dobermänner in den für sie hergerichteten Laderaum.

Victor, der noch nicht ahnte, daß der Kombi und die Hunde etwas mit ihm zu tun hatten, beantwortete meine Frage und ein Dutzend andere dazu.»Mum glaubt, ich bin zu Hause. Sie ist ins Gefängnis zu meinem Dad. Heute ist Besuchstag. Ich hab gehört, wie sie und Tante Rose ausgemacht haben, was sie mir sagen, nämlich daß Mum eine

Frau mit einer schlimmen Krankheit besuchen müßte, die mich abschreckt. Jedesmal, wenn sie Dad besuchen fährt, denken sie sich was aus, damit ich daheim bleibe. Und ich hab gehört, daß sie, wenn Mum von Dad zurück ist, noch mal versuchen wollen, aus Ihnen herauszukriegen, wo das Video ist, das Sie von Opa Payne bekommen haben. Das soll Millionen wert sein. Meine Tante Rose sagt, es ist Quatsch, wenn Sie behaupten, Sie wüßten nicht, wo das Band ist. Bitte, bitte sagen Sie es ihr, oder sagen Sie ihr, was drauf ist, denn ich halte es nicht aus, wenn sie die Leute mit Gewalt zum Sprechen bringt. Schon zweimal hab ich welche bei uns auf dem Dachboden schreien und stöhnen gehört, und da lacht sie bloß und sagt, die hätten Zahnweh.«

Ich drehte mich von Victor weg, damit er mir nicht das Entsetzen ansah, das mich überkam und mir zweifellos ins Gesicht geschrieben stand. Schon bei dem Gedanken, daß sich die rabiate Rose auch Zähne vornahm, schmolz jeder Widerstand, den zu leisten ich mir theoretisch zutraute, dahin.

Zähne.

Zähne und Handgelenke und weiß der Teufel was noch.

Jetzt mußte ich unter allen Umständen herausfinden, was für Geheimnisse das waren, die ich angeblich schon kannte, und dann entscheiden, was ich mit dem Wissen anfing. Victor, dachte ich, war vielleicht in der Lage, aus den unbewußten Tiefen seiner Erinnerung die Teilchen zutage zu fördern, die ich noch brauchte, um ein plausibles Ganzes zusammenzusetzen. Ich hatte Bruchstücke. Aber zu wenig.

Innerlich schaudernd fragte ich:»Wo ist deine Tante Rose jetzt? Besucht sie auch deinen Vater?«

Er schüttelte den Kopf.»Ich weiß nicht, wo sie ist. Mit zum Gefängnis ist sie nicht, weil Dad nicht mehr mit ihr redet, seit sie ihn verpfiffen hat. «Er schwieg, dann sagte er heftig:»Ich wünschte, ich würde einer normalen Familie angehören. Einmal habe ich Martin geschrieben und ihn gefragt, ob ich nicht eine Zeitlang bei ihm wohnen könnte, aber er meinte, sie hätten keinen Platz. Ich habe ihn angefleht…«Seine Stimme kippte.»Was soll ich nur machen?«

Offensichtlich hatte Victor schon sehr lange jemanden gebraucht, den er um Rat fragen konnte. Kein Wunder, daß er jetzt am Rand eines Nervenzusammenbruchs war.

«Fahren wir ein Stück?«fragte ich freundlich und hielt ihm die Tür hinter dem Fahrer des Kombis auf.»Ich bringe dich nach Hause, bevor du vermißt wirst, und erst mal können wir uns über deine Probleme unterhalten.«

Er zögerte nur kurz. Schließlich hatte er mich ja kommen lassen, damit ich ihm half, und offenbar war ich für ihn jemand, dem man trauen konnte, auch wenn seine Familie mich als Feind ansah. In seinem verzweifelten Zustand konnte Victor weder klar denken noch handeln.

Wenn dies ein Hinterhalt war, dann war Victor das ahnungslose Opferlamm.

Ich fragte ihn, ob er wußte, wo Adam Force zu finden war. Auf die Frage hin zögerte er sehr viel länger, um dann den Kopf zu schütteln. Er weiß es, dachte ich, aber wenn er es mir sagt, wäre das vielleicht gepetzt.

Tom Pigeon saß neben dem Fahrer und machte ihn durch seine bloße Anwesenheit nervös. Victor und ich saßen auf der Rückbank, von den Hunden im Laderaum durch ein Gitter getrennt. Der Fahrer, der noch kein Wort gesagt hatte, fuhr los, sobald wir eingestiegen waren, und über gewundene Landstraßen ging es durch Somerset, bis wir schließlich zu dem weitgedehnten Heideland von Exmoor kamen. Ich konnte mir vorstellen, daß das selbst im Som-mer ein grimmiger und öder Landstrich war, ein Ort unerfüllt gebliebener Träume, dessen weiter Horizont im Nebelregen verschwamm. An diesem Sonntag im Januar war der wolkenlose Himmel klar, kalt und frisch. Der Fahrer lenkte von der Straße herunter auf einen befestigten Touristenparkplatz, wies mit knappen Worten auf einen gerade noch erkennbaren Pfad weiter vorn und sagte mir, daß er in wegloses Moor führte, wenn man weit genug ging.

Er werde auf uns warten, sagte er, und wir könnten uns Zeit lassen. Wie vereinbart habe er ein Picknickpaket für uns alle mitgebracht.

Tom Pigeons Hunde, endlich frei, sprangen begeistert umher und schnüffelten mit unvorstellbarem Genuß an Heidekraut und fetter dunkelroter Erde. Tom selbst stieg aus, streckte die Arme, dehnte die Brust und atmete in tiefen Zügen die reine Luft.

Victor, wie verwandelt durch den Wechsel vom Reihen-haus-Taunton zum weiten, offenen Land, sah beinah unbeschwert, beinah glücklich aus.

Tom und seine schwarzen Gefährten liefen zügig den Weg entlang und wurden bald von der hügeligen Landschaft verschluckt. Victor und ich blieben hinter ihnen, gingen aber bald langsamer, während Victor sein Herz ausschüttete und von seinem verheerenden Elternhaus, seinen Schwierigkeiten redete wie vermutlich noch nie in seinem Leben.

«Mum ist in Ordnung«, sagte er.»Und Dad eigentlich auch, außer wenn er in der Kneipe war. Wenn Mum oder ich ihm dann zu nahe kommen, scheuert er uns ein paar.«

Er schluckte.»Nein, das wollte ich jetzt nicht sagen. Aber letztes Mal hat er ihr die Rippen und das Nasenbein gebrochen, und ihr Gesicht war auf der einen Seite ganz blau, und als Tante Rose das sah, ist sie zu Polizei, was irgendwie seltsam ist, denn ich habe auch schon gesehen, wie sie meinen Vater geschlagen hat. Sie hat Fäuste wie ein Boxer, wenn’s drauf ankommt. Sie kann austeilen, bis die armen Kerle um Gnade flehen, und dann lacht sie sie aus, und wenn sie ihnen dann noch eine oder zwei gelangt hat, tritt sie einen Schritt zurück und lächelt… und manchmal gibt sie dem Verprügelten dann einen Kuß. «Gespannt warf er mir einen Blick zu, um zu sehen, was ich vom Verhalten seiner Tante Rose hielt.

Ich dachte bei mir, daß ich in der Nacht der Schwarzmasken vielleicht noch glimpflich davongekommen war, weil Rose jemand gefunden hatte, der ihr an Rabiatheit nicht nachstand — meinen Freund mit den Hunden, der jetzt vor uns übers Moor ging.

«Hat Rose dich auch schon mal geschlagen?«fragte ich Victor.

Er war verblüfft.»Natürlich nicht. Sie ist doch meine Tante.«

In ein, zwei Jahren würde seine Tante ihn als erwachsenen Mann betrachten und nicht mehr als Kind.

Wir gingen ein Stück weiter, während ich überlegte, wie wenig ich von der Psychologie einer Frau wie Rose verstand. Männer, die sich gern von einer Frau schlagen ließen, waren nicht ihr Fall. Es ging ihr darum, den Willen der Männer zu brechen.

Der Weg war schmaler geworden, so daß ich, zum Reden eher ungünstig, vor Victor hergehen mußte, aber dann kamen wir plötzlich auf einen breit angelegten Platz, der eine gute Aussicht nach allen Seiten bot. Tom Pigeon stand weiter unten vor uns, und die Dobermänner tollten ausgelassen um ihn herum.

Nachdem ich ein Weilchen zugesehen hatte, stieß ich einen scharfen Pfiff aus — mein Vater und mein Bruder hat-ten so das schier unmögliche Kunststück zustande gebracht, im dicksten Londoner Regen Taxis anzuhalten.

Tom Pigeon blieb stehen, drehte sich in dem hügeligen Gelände um, winkte als Antwort und kam uns entgegen. Die Hunde hielten schnurgerade auf mich zu.

«Mensch«, sagte Victor beeindruckt.»Wie machen Sie das?«

«Leg die Zunge an den Gaumen. «Ich zeigte es ihm, und ich bat ihn noch einmal, mir von Dr. Force zu erzählen. Den müsse ich sprechen, sagte ich.

«Wen?«

«Du weißt doch ganz genau, wen. Dr. Adam Force. Der Schreiber des Briefs, den du kopiert und an Martin geschickt hast.«

Solcherart zurechtgewiesen, brauchte Victor einen Augenblick, bis er wieder in Gang kam.

«Martin wußte, daß es ein Spiel war«, sagte er schließlich.

«Das glaube ich schon«, pflichtete ich ihm bei.»Er hat dich gekannt, er kannte Adam Force, und Adam Force kennt dich. «Ich beobachtete, wie Tom Pigeon zu uns heraufstapfte.»Vielleicht kennst du auch ihr Geheimnis, das Geheimnis auf dem Video, von dem alle reden.«

«Nein«, sagte Victor,»keine Ahnung.«

«Lüg nicht«, ermahnte ich ihn.»Du hältst doch nichts von Lügnern.«

«Ich lüge nicht«, sagte er empört.»Martin wußte, was auf dem Band war, und Dr. Force natürlich auch. Als ich Martin den Brief schickte, hab ich einfach nur Dr. Force gespielt. Ich spiele oft andere Leute, auch Tiere manchmal. Manchmal rede ich mit Leuten, die es gar nicht gibt.«

Harvey das Kaninchen, dachte ich — und ich selbst war früher Lokführer und Rennreiter gewesen. Victor würde das bald hinter sich lassen, aber jetzt im Januar 2000 noch nicht.

Ich fragte ihn, wie er an den Brief von Dr. Force gekommen sei, den er dann unter seinem eigenen Namen an Martin geschickt hatte.

Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern.

Ich fragte ihn einmal mehr, wo dieser Dr. Force zu finden sei, aber er druckste herum und meinte, Martin habe das bestimmt irgendwo notiert.

Anzunehmen. Victor wußte, wo, aber er wollte es mir nicht sagen. Irgendwie mußte ich ihn überreden — ihn dahin bringen, daß er es mir sagen wollte.

Tom Pigeon und seine drei lebhaften Gefährten kamen zu uns auf die Aussichtsplattform, und alle waren sichtlich guter Laune.

«Das nenne ich einen Pfiff«, meinte Tom Pigeon bewundernd, worauf ich ihn in voller Lautstärke wiederholte, so daß die Hunde mit wachen Blicken, zuckenden Nüstern mir verblüfft die Schnauzen zukehrten. Tom tätschelte sie, und sie wedelten wie wild mit den Stummelschwänzen.

Auf dem Rückweg zum Wagen mühte sich Victor redlich, die Hunde mit einem ähnlich starken Pfiff zu beeindrucken, doch seine hauchigen Versuche zeigten keine Wirkung. Den Tieren stand der Sinn jetzt mehr nach Wasser und reichlich Hundekuchen, die ihr Halter mitgebracht hatte, und danach war es Zeit für ihre Siesta.

Tom selbst, der Fahrer, Victor und ich verzehrten Sandwiches im Wagen, vor dem Wind geschützt; dann hielten auch sie ein Schläfchen. Ich stieg aus, ging gemütlich noch einmal den Fußweg entlang, versuchte Victors Verwirrspiel zu verstehen, es mir möglichst einfach zu erklären und die Möglichkeiten im Verity-Payne-Videokasset-tenkarussell auf die wahrscheinlichsten einzugrenzen. Es blieb dabei, daß ich zunächst einmal unbedingt Adam Force finden mußte, und der Weg zu ihm führte immer noch über Victor.

Ich mußte Victor dahin bringen, mir intuitiv so zu vertrauen, daß er mir, ohne zu überlegen, seine geheimsten Gedanken mitteilte. Außerdem mußte ich ihn schnell dahin bringen, und ich wußte nicht, ob solch eine totale Gehirnwäsche machbar, geschweige denn ethisch vertretbar war.

Als sich am Wagen etwas regte, kehrte ich um und sagte den gähnenden Ausflüglern, nach meiner billigen neuen Uhr sei es Zeit aufzubrechen, wenn wir wieder in Lorna Terrace sein wollten, bevor Victor seine Mum zurückerwartete.

Tom ging in die Büsche, um sich zu erleichtern, und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, ich solle mitkommen.

Krisenplanung stand an. Der Tag war ihm zu glatt gelaufen. Hatte ich auch gewisse Eventualitäten bedacht?

Wir bedachten sie gemeinsam und kehrten zum Wagen zurück, wo der schweigsame Fahrer einen Draht zu Victor entdeckt hatte und mit ihm über Computer fachsimpelte.

Die Zufriedenheit über den Tag draußen auf dem Moor schwand nach und nach und verflüchtigte sich, als der Kombi unausweichlich auf Lorna Terrace zusteuerte. Victors Nervenzittern machte sich wieder bemerkbar, und er versuchte mir vom Gesicht abzulesen, ob ich vorhatte, ihn wieder in sein unbefriedigendes Leben zurückzustoßen. Er wußte genau, daß er in seinem Alter auf Gedeih und Verderb der Justiz ausgeliefert wäre und daß ihn die Justiz mit Sicherheit der Obhut seiner Mutter unterstellen würde. Selbst die kettenrauchende Gina mit den großen Lockenwicklern würde dann sehr wahrscheinlich als von einem undankbaren Kind im Stich gelassene Mama betrachtet werden. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die immer und überall etwas bedrohlich wirkte, würde sie vor Gericht so dastehen, wie ich sie zuerst erlebt hatte, als eine ausgeglichene, tolerante und liebevolle Mutter, die unter schwierigen Bedingungen ihr Bestes gab.

Der Fahrer hielt auf Tom Pigeons Geheiß an einer Straßenecke, damit der Wagen von Nr. 19 aus nicht gesehen werden konnte. Victor und ich stiegen an der Ecke aus, und ich konnte ihm die Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit, die sich in den jetzt wieder gekrümmten Schultern zeigten, sehr gut nachfühlen. Ich ging mit ihm zur Haustür von Nummer 19, die man wie bei vielen derartigen Reihenhäusern über einen betonierten Fußweg erreichte, der durch ein kleines Gartenviereck mit staubigem Gras führte. Victor zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und führte mich wie schon einmal durch den Flur in die helle, wohnliche kleine Küche, da ich ihm versprochen hatte, mit ihm dort zu warten, bis seine Mutter nach Hause kam, auch wenn ihr das vielleicht nicht gefiel.

Beim Anblick der Küchentür blieb Victor verwirrt und unbehaglich stehen.»Ich bin sicher, ich hab die Tür verriegelt, bevor ich weg bin. «Er zuckte die Achseln.»Na ja, die Tür vom Hinterhof hab ich auf jeden Fall verriegelt. Wenn ich das vergesse, wird Mum böse.«

Er öffnete die Küchentür und trat hinaus in den Hinterhof mit seinem Unkraut und welken Gras. Die hohe Ziegelmauer hatte ein großes braunes Tor auf der anderen Seite, aber die beiden Riegel oben und unten waren auch dort nicht vorgeschoben, was Victor erst recht beunruhigte.

«Mach sie zu«, drängte ich, aber Victor blieb betreten und verwirrt vor mir stehen, und obwohl mir schlagartig klar wurde, was los war, kam ich nicht schnell genug an ihm vorbei. In dem Moment, als ich von der Küche über den Rasen darauf zulief, wurde das Tor geöffnet.

Rose kam von der Straße herein. Gina und der Gorilla Norman Osprey kamen triumphierend hinter uns aus dem Haus marschiert. Rose und Osprey waren mit abgeschnittenen Gartenschlauchstücken bewaffnet. Das von Rose war mit einem Hahn versehen.

Victor stand wie erstarrt neben mir und wollte nicht glauben, was er sah. Die Worte, die er dann an seine Mutter richtete, waren ein kaum verständliches» Du bist schon wieder da?«

Rose pirschte sich wie eine Löwin auf der Jagd an mich heran, schwang den grünen Schlauch mit dem schweren Messinghahn und leckte sich förmlich die Lippen.

Gina, ausnahmsweise ohne Lockenwickler und entsprechend hübsch, versuchte das Bevorstehende damit zu rechtfertigen, daß sie Victor wehleidig erklärte, sein eingesperrter Vater habe ihr gesagt, sie solle sich verziehen, er sei nicht in der Stimmung, sich ihr dämliches Gewäsch anzuhören. In ihrer Wut sagte sie Victor zum ersten Mal, daß sein Vater >im Bau< sei und daß er es verdiene.

«Er kann ein fieses Schwein sein, dein Vater«, sagte Gina.

«Und dafür fahren wir die ganze Strecke! Also hat Rose mich wieder hergebracht, und die Hexe nebenan meinte, du hättest dich heimlich zum Bahnhof geschlichen. Sie ist dir nämlich nachgegangen, weil sie sowieso da lang mußte, und du hast dich mit dem Kerl da getroffen, dem Kerl, der uns, wie Rose sagt, eine Million stehlen will. Wie kannst du nur, Vic? Rose meint, daß sie ihn diesmal schon dazu bringen wird, uns zu sagen, was wir wissen wollen, aber bei dir brauchten wir uns dafür nicht zu bedanken.«

Ich hörte nur ein Teil davon. Ich beobachtete Victors Gesicht und sah mit Erleichterung, wie Ginas selbstgerechter Tonfall ihn zunehmend befremdete. Je mehr sie sagte, desto weniger gefiel es ihm. Man sah dem Jungen an, wie sein Widerstand wuchs.

Die augenblickliche und sich anbahnende Situation hier hatte zwar nicht zu den Eventualitäten gehört, die Tom und ich im Gebüsch durchgespielt hatten, aber eventuell — wenn ich mir schnell etwas einfallen ließ, wenn ich mir Victors Entsetzen über den Sermon seiner Mutter zunutze machen konnte, wenn ich Roses Überredungskünsten ein wenig standhielt — bekam Victor nach dem unbeschwerten Tag im Moor doch noch Lust, mir zu erzählen, was er mit Sicherheit wußte. Vielleicht würde ihn der Anblick seiner brutal auf mich losgehenden Tante Rose dazu treiben, mir als Wiedergutmachung ein Geschenk anzubieten… mir das anzubieten, von dem er wußte, daß ich es haben wollte. Dafür ließ sich ein wenig Unbehagen vielleicht aushalten. Also los, sagte ich mir. Wenn’s sein muß, dann bring es hinter dich.

Vorigen Sonntag, dachte ich, hatten die Schwarzmasken mich überrumpelt. Diesen Sonntag war es anders. Ich konnte den Angriff selbst herausfordern, und das tat ich, indem ich Richtung Tor lief, direkt auf Rose und ihren schwingenden Wasserschlauch zu.

Sie war schnell und hemmungslos und konnte zwei Treffer anbringen, ehe ich ihren rechten Arm zu fassen bekam und ihn ihr auf den Rücken drehte, ihr Gesicht mit den Sommersprossen und dem trockenen Teint nah an meinem, die Zähne vor Haß und jähem Schmerz gebleckt. Gina fluchte gotteslästerlich und schrie mir ins Ohr, ich solle ihre Schwester loslassen.

Ganz kurz sah ich Victors entsetztes Gesicht, bevor Norman Osprey mich von hinten mit seinem Schlauchstück erwischte. Rose wand sich aus meinem Griff, stieß Gina aus dem Weg und holte schon wieder mit dem

Schlauch aus. Ich brachte aus der Drehung einen Kickboxschlag an, der Norman den Gorilla erst einmal mit dem Gesicht aufs Gras warf, und kassierte dafür einen fürchterlichen Kinntreffer von Rose, der mir die Haut aufriß.

Genug, dachte ich. Nein, mehr als reichlich. Überall floß Blut. Ich griff zu meiner einzigen echten Waffe, dem gellenden SOS-Pfiff, der nach Absprache mit Tom >Sofort kommen< bedeutete.

Aber was, wenn ich pfiff und er kam nicht…?

Ich pfiff noch einmal, lauter und länger, nicht, um im Londoner Regen ein Taxi zu ergattern, sondern um unentstellt und mit intakter Selbstachtung davonzukommen. Ich hätte Rose zwar nicht direkt sagen können, wo sich die begehrte Videokassette befand, aber wenn ich zu arg in Bedrängnis geraten wäre, hätte ich mir wohl etwas aus den Fingern gesogen. Ob sie mir dann geglaubt hätte oder nicht, stand auf einem anderen Blatt, und ich brauchte es hoffentlich nicht herauszufinden.

Glücklicherweise brauchte ich auch nicht herauszufinden, wie sich Rose den Abschluß ihrer sportlichen Sonntagnachmittagsbetätigung gedacht hatte. Ein lautes Krachen und Klirren ertönte, dann die Stimme von Tom, der seinen Hunden ein Kommando zurief, und drei knurrende Dobermänner schossen sturmwindartig durch die weit offene Küchentür auf den engen kleinen Hinterhof.

Tom hatte eine Eisenstange dabei, die von einem Stadteigenen Geländer stammte. Norman Osprey wich vor ihm zurück, denn dagegen war sein Gummischlauch nun schlapp und nutzlos, und vorbei war das fröhliche Sonntagsvergnügen.

Rose, das Zielobjekt der Hunde, gab Fersengeld und verließ recht überstürzt den Schauplatz durch das Tor, indem sie sich durch einen Spalt zwängte und es hinter sich zuzog.

Ich verließ mich darauf, daß die Hunde mich gut genug kannten, um ihre Fänge bei sich zu behalten, ging zwischen ihnen durch und legte die beiden Riegel am Tor vor, damit Rose auch ja draußen blieb.

Gina schrie Tom lediglich einmal und ohne allzu großen Einsatz an, als sei es sinnlos, sich gegen einen solchen Fels zu stemmen. Sie war sogar still, als sie feststellte, daß Tom die Haustür eingetreten hatte, um hereinzukommen. Sie versuchte nicht, ihren Sohn zurückzuhalten, als der an ihr vorbei durchs Haus rannte und im Flur hinter mir her rief.

Tom und die Dobermänner waren bereits draußen auf dem Gehsteig und unterwegs zum Wagen.

Ich blieb sofort stehen, als Victor rief, und wartete, bis er bei mir war. Entweder sagte er es mir jetzt oder nicht. Entweder der Schlauch und der Wasserhahn hatten sich ausgezahlt oder nicht. Es würde sich zeigen.

«Gerard…«Er war außer Atem, nicht vom Laufen, sondern von dem, was er auf dem Hof gesehen hatte.»Das halte ich alles nicht aus. Wenn Sie’s wissen wollen… Dr. Force wohnt in Lynton«, sagte er.»Valley of the Rocks Road.«

«Danke«, sagte ich.

Victor sah unglücklich zu, wie ich mir mit Küchentüchern seiner Mutter das Blut abtupfte, das mir am Gesicht herunterlief.»Und denk dran, es gibt E-Mail.«

«Wieso sprechen Sie überhaupt noch mit mir?«

Ich grinste ihn an.»Weil ich noch meine Zähne habe.«

«Seien Sie vor Rose auf der Hut«, meinte er besorgt.»Sie gibt nie auf.«

«Frag doch mal, ob du bei deinem Großvater wohnen kannst«, riet ich ihm.»Da wärst du sicherer als hier.«

Schon wirkte er nicht mehr ganz so gequält. Ich legte ihm zum Abschied die Hände auf die Schulter und ging dann die Lorna Terrace hinunter zu Tom Pigeon.

Tom betrachtete mein ramponiertes Gesicht und meinte:

«Sie haben sich mit dem Pfeifen verdammt lang Zeit gelassen.«

«Mhm. «Ich lächelte.»Dumm von mir.«

«Sie haben absichtlich gewartet!«rief er, und ihm ging ein Licht auf.»Diese Furie sollte Sie schlagen!«

«Im großen ganzen bekommt man, wofür man bezahlt«, sagte ich.

Blaue Flecke gehen meistens innerhalb von acht Tagen weg, hatte Martin gesagt; und die große Rißwunde ließ ich mir am Montag von einem Arzt verpflastern.

«Du hast dich wohl wieder an einer schwarzmaskierten Tür gestoßen«, vermutete Zivilfahnderin Dodd entgeistert.

«Dir mag ja Rose keine Angst machen, aber nach allem, was ich so mitkriege, hätte ich eine Heidenangst vor ihr.«

«Rose hat auf die Maske verzichtet«, sagte ich, als ich am Montag abend in der Küche meines Hauses am Hang ein würziges Reisgericht zubereitete.»Magst du Knoblauch?«

«Nicht besonders. Was gedenkst du gegen Rose Payne zu unternehmen? Du solltest zur Polizei Taunton gehen und sie wegen Körperverletzung anzeigen. Die Wunde da fällt vielleicht schon unter schwere Körperverletzung.«

Schwere Körperverletzung, dachte ich. Nicht halb so schwer, wie sie es beabsichtigt hatte.

«Was soll ich denen denn sagen — eine flüchtige Bekannte hat mich derart verprügelt, daß ihr ein vorbestrafter Freund von mir die Tür eintreten und seine Hunde auf sie hetzen mußte?«

Sie fand das nicht lustig.»Was willst du also machen?«hakte sie nach.

Ich antwortete nicht direkt. Statt dessen sagte ich:»Morgen fahre ich nach Lynton in Devon, und es wäre mir lieber, wenn sie das nicht wüßte. «Stirnrunzelnd betrachtete ich eine grüne Paprikaschote.»Ein kluger Mensch kennt seine Feinde«, fügte ich hinzu,»und ich kenne unsere Rose.«

«Im biblischen Sinn?«

«Gott behüte!«

«Aber Rose Payne ist nicht die einzige«, sagte Catherine, die wie üblich Mineralwasser trank.»Du sagst, es waren vier Schwarzmaskierte.«

Ich nickte.»Norman Osprey, der Buchmacher, war Nummer zwei, und Ed Payne, der Jockeydiener von Martin Stukely und Vater von Rose, war Nummer drei und bereut es, und diese drei wissen, daß ich sie erkannt habe. Auch der letzte kam mir bekannt vor, aber da muß ich mich geirrt haben. Er war derjenige, der mich festgehalten hat, damit die anderen schlagen konnten, und ich denke ihn mir als Nummer vier. Er war meistens hinter mir.«

Catherine hörte schweigend zu und schien zu warten.

Immer wieder einmal glitt der noch nicht Identifizierte, den ich einfach als Schwarzmaske vier bezeichnete, durch meine lückenhafte Erinnerung, und ich entsann mich bei ihm hauptsächlich an die Unmenschlichkeit, mit der er zu Werke gegangen war. Norman Osprey hatte mir zwar die Armbanduhr zerschmettert, aber Schwarzmaske vier hatte ihm meine Finger hingehalten. Trotz der ungeheuren Kräfte Norman Ospreys war Schwarzmaske vier derjenige, der mir am meisten Angst eingejagt hatte und der jetzt, neun Tage danach, auf beängstigende Weise in meine Träume eindrang, Alpträume, in denen der Vermummte darauf aus war, mich in die 1400 Grad heiße Glasschmelze im Innern meines Ofens zu werfen.

Als in dieser Nacht Kommissarin Dodd friedlich in meinen Armen schlief, war sie es, die von Schwarzmaske vier in den todbringenden Ofen gestoßen wurde.

Ich erwachte schweißgebadet und verwünschte Rose Payne mit Wörtern, die ich sonst selten gebrauchte, und mehr denn je widerstrebte es mir, Catherine zu ihrer riskanten verdeckten Ermittlungsarbeit ziehen zu lassen.

«Sieh du mal selber zu, daß du heil wiederkommst«, sagte sie besorgt, als sie im Morgengrauen davonbrauste, und fest entschlossen, mich an ihre Weisung zu halten, ging ich in die Stadt zu meinem unschuldigen Ofen und erledigte die Tagesarbeit, bevor sich meine drei Gehilfen einfanden.

Tags zuvor hatten sie noch über meine wiederkehrenden Montagsblessuren gewitzelt, die nach Irishs fester Überzeugung nur von Wirtshausschlägereien stammen konnten. Ich hatte das nicht bestritten, und am Dienstag ließ ich sie im Alleingang Schälchen machen, während ich gutgelaunt loszog, um den Bus zu nehmen.

Weder Rose noch Gina noch sonst jemand, den ich kannte, war zu sehen, und als ich in der nächsten Stadt vor einer großen Zeitschriftenhandlung ausstieg und mich in den dorthin bestellten Wagen mit Fahrer setzte, war ich mir sicher, von niemand beschattet zu werden. Tom Pigeon, der Erfinder dieses >simplen Abgangs für Glasbläsers hatte mich bekniet, wenn schon nicht ihn, dann doch wenigstens einen seiner Hunde mitzunehmen. War ich nicht schon genug verprügelt worden? fragte er. Hatte er mich nicht schon zweimal retten müssen? War es nicht Wahnsinn, jetzt unbedingt allein losziehen zu wollen?

Wahrscheinlich schon, gab ich zu. Und bat ihn um Rat.

Dank seiner Tips kam ich also unbehelligt nach Lynton an der Küste des nördlichen Devon und schlug im Wählerregister die vollständige Adresse des Dr. Adam Force in der Valley of the Rocks Road nach.

Nach dieser gelungenen kleinen Recherche war zu meiner großen Enttäuschung niemand zu Hause.

Ich klopfte und klingelte, wartete und versuchte es noch einmal, aber das hohe graue Gebäude wirkte völlig verlassen und hallte hohl wider, als ich an der Hintertür rüttelte. Bei den Nachbarn klopfte ich vergebens. Einer war nicht da und der andere halb taub. Eine Hausfrau, die vorüberging, meinte, Dr. Force arbeite wohl in Bristol und komme nur zum Wochenende nach Hause. Ach was, widersprach ein dahinschlurfender Alter, der wütend seinen Gehstock schwenkte, dienstags finde man Dr. Force in dem Pflegeheim oben auf Hollerday Hill.

Der Zorn des alten Mannes, erklärte die Frau, sei eine geistige Störung. Dr. Force sei jeden Dienstag im Hollerday Phoenix House, insistierte der Gehstock.

Mein Fahrer —»Sagen Sie Jim zu mir«- wendete geduldig und fuhr zurück ins Stadtzentrum, wo wir zu unserem Vergnügen herausfanden, daß beide Auskünfte richtig waren. Dr. Force arbeitete drei Tage pro Woche in Bristol, hielt sich sonntags und montags in der tristen Valley of the Rocks Road auf und fuhr dienstags zum Pflegeheim. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen zeigte uns den Weg zum Hollerday Phoenix House und sagte, wir sollten dort nicht hinfahren wegen der Gespenster.

Gespenster?

Ja, wußten wir denn nicht, daß es im Phoenix House spukte?

Im Rathaus hatte man für die Gespenstermär nur Spott übrig, da man die Frühlings- und Sommerurlauber nicht abschrecken wollte.

Einer der hier wie überall so nützlichen» Sprecher «erklärte, das von Sir George Newnes auf Hollerday Hill errichtete Landschloß sei 1913 durch Brandstiftung von bis heute unbekannter Hand zerstört und später im Rahmen einer Heeresübung in die Luft gesprengt worden. Das in unmittelbarer Nachbarschaft der überwachsenen Ruine neu errichtete Phoenix House sei eine Privatklinik. Von Gespenstern könne dort keine Rede sein. Dr. Force habe Patienten in der Klinik, die er dienstags empfange.

Mein Fahrer, der an das Übernatürliche glaubte, war zu feig, um mich zum Hollerday Phoenix House zu bringen, so daß ich zu Fuß gehen mußte, doch er versprach mir hoch und heilig, er werde warten, bis ich zurück sei, und das glaubte ich ihm, denn er hatte sein Geld noch nicht.

Ich dankte dem» Sprecher «für seine Hilfe. Konnte er mir Dr. Force noch beschreiben, damit ich ihn erkannte, wenn ich ihn sah?

«Klar«, sagte der Sprecher,»den erkennen Sie leicht. Er hat tiefblaue Augen, einen kurzen weißen Bart und trägt bestimmt orange Socken.«

Ich blinzelte.

«Er kann rot und grün nicht sehen«, sagte der Sprecher.

«Er ist farbenblind.«

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