Kapitel 7

Ich nahm den stillen alten Weg durch die Wälder, den übergrünten, sanft ansteigenden Fahrweg, den der rücksichtsvolle Sir George Newnes in den Fels hatte sprengen lassen, damit sich die Kutschpferde an dem gar zu steilen Schloßberg nicht überanstrengten.

An diesem Dienstag im Januar ging ich allein durch den Wald. Der Autoverkehr, allenfalls als ein fernes Summen vernehmbar, kleckerte über eine moderne Straße auf der anderen Seite des Berges zu dem Neubaukomplex hinauf, der neben dem alten Schloß errichtet worden war.

Es gab keine Vögel, wo ich ging, keine Lieder. Mitten am Tag war es dunkel, die dichtstehenden immergrünen Bäume wuchsen über mir zusammen. Meine Füße tappten geräuschlos über Fichtennadeln, und stellenweise schaute noch der blanke, aufgesprengte graue Fels hervor. Der hundert Jahre alte Weg bescherte mir eine Gänsehaut. Er führte an einem verwilderten Tennisplatz vorbei, auf dem Leute aus einer anderen Welt gelacht und gespielt hatten. Gespenstisch war schon das richtige Wort dafür, aber Gespenster sah ich nicht.

Ich kam von oben herunter zum Hollerday Phoenix House, wie der» Sprecher «es vorhergesagt hatte, und sah, daß sich das Dach weitgehend aus großen, metallgerahmten Glasplatten zusammensetzte, die sich öffnen und schließen ließen wie bei einem Gewächshaus. Das Glas interessierte mich natürlich — es war dickes, getöntes Floatglas, das die ultravioletten A- und B-Strahlen des Sonnenlichts herausfilterte —, und ich mußte an die Sanatorien von einst denken, wo sich Schwindsüchtige in der trügerischen Hoffnung, viel Luft und Sonne würde sie heilen, ganz unromantisch aus dem Leben husteten.

Hollerday Phoenix House bestand aus einem Haupttrakt mit zwei langen Flügeln. Ich ging nach vorn zu dem imposanten Eingangstor und stellte fest, daß das Gebäude, das ich am Ende des gespenstischen Weges betrat, eindeutig einundzwanzigstes Jahrhundert war und keinesfalls ein Tummelplatz für Geister.

Die Eingangshalle sah aus wie eine Hotelhalle, doch wie es tiefer drinnen ausschaute, bekam ich wegen der beiden weißbekittelten Personen, die sich am Empfang unterhielten, erst einmal nicht mit. Es waren ein Mann und eine Frau, und der Mann hatte einen Bart in der Farbe seines Kittels und trug tatsächlich orange Socken.

Sie sahen flüchtig zu mir herüber, als ich eintrat, wurden dann aber berufsbedingt auf meine Schrammen und blauen Flecke aufmerksam, an die ich, bis sie mich anschauten, gar nicht mehr gedacht hatte.

«Dr. Force?«versuchte ich mein Glück, und Weißbart antwortete wie gewünscht:»Ja?«

Seine sechsundfünfzig Jahre standen ihm gut zu Gesicht, und die gepflegte Frisur und der Bart gaben seinem Kopf eine Form, die für Filmstars bares Geld war. Dem vertrauen die Patienten, dachte ich. Ich hätte ihn vielleicht auch selbst gern als Arzt gehabt. Bei der Autorität, die er ausstrahlte, würde es nicht leicht sein, ihn dahin zu schocken, wo ich ihn haben wollte.

Und fast sofort wurde mir klar, daß die Schwierigkeit nicht darin bestand, ihn zu schocken, sondern den verschlungenen Wegen seines Verstandes zu folgen. Immer wieder schwenkte er, während wir uns unterhielten, von scheinbar liebenswürdiger Freundlichkeit auf Abwehr oder unterdrückte Feindseligkeit um. Er war auf Draht, und er war klug, und obwohl ich ihn im großen ganzen sympathisch fand, überkam mich zwischendurch doch manchmal eine heftige Abneigung. Adam Force, so schien mir, war eine sehr anziehende Persönlichkeit, deren Charme kommen und gehen konnte wie Flut und Ebbe.

«Sir«, redete ich ihn als den Älteren an,»ich bin wegen Martin Stukely hier.«

Er setzte eine Trauermiene auf und teilte mir mit, daß Martin Stukely tot war. Gleichzeitig spannten sich seine Gesichtsmuskeln vor Schreck; diesen Namen hatte er auf Lyntons Hollerday Hill nicht zu hören erwartet. Ich sagte ihm, ich wisse, daß Martin Stukely tot sei.

«Sind Sie Journalist?«fragte er argwöhnisch.

«Nein«, sagte ich,»Glasmacher. «Und setzte meinen Namen hinzu.»Gerard Logan.«

Sein ganzer Körper straffte sich. Er schluckte und verdaute die Überraschung und fragte schließlich entgegenkommend:»Was wünschen Sie?«

Ich sagte ebenso freundlich:»Ich hätte gern die Videokassette zurück, die Sie an Silvester aus dem Ausstellungsraum von Logan Glas in Broadway entwendet haben.«

«Hätten Sie gern, hm?«Er lächelte. Darauf war er vorbereitet. Es lag ihm fern, mir den Wunsch zu erfüllen, und er gewann seine Fassung zurück.»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Dr. Force musterte mich in meinem bewußt konservativen Anzug mit Krawatte langsam von Kopf bis Fuß, und ich spürte so sicher, als hätte er es ausgesprochen, daß er sich fragte, ob ich imstande sei, ihm Schwierigkeiten zu machen. Offenbar war er Realist genug, sich eine ehrliche, wenn auch unliebsame Antwort darauf zu geben, denn er sagte nicht einfach» Schwirr ab«, sondern schlug vor, wir sollten die Sache im Freien besprechen.

Mit» im Freien«, so stellte sich heraus, meinte er den Weg, den ich gerade heraufgekommen war. Er führte mich dorthin und musterte mich heimlich von der Seite, um den Grad meines Unbehagens abzuschätzen, der gleich Null war. Lächelnd tippte ich an, daß mir auf dem Weg nach oben keine herumstreifenden Gespenster begegnet waren.

Falls ihm mein Gesicht etwas lädiert vorkomme, sagte ich, so hätte ich das Rose Payne zu verdanken, die überzeugt sei, ich müsse entweder im Besitz seiner Videokassette sein oder wissen, was drauf war.»Sie glaubt, wenn sie mir genügend zusetzt, gebe ich ihr die Kassette oder die Information, nur habe ich beides nicht. «Ich hielt inne und sagte:»Was schlagen Sie vor?«

«Geben Sie ihr irgendwas«, antwortete er prompt.»Diese Kassetten sehen doch alle gleich aus.«

«Sie glaubt, Ihre Kassette sei eine Million wert.«

Adam Force schwieg.

«Stimmt das?«fragte ich.

«Ich weiß es nicht«, erwiderte Force leise, und das hörte sich nach der Wahrheit an.

«Martin Stukely«, sagte ich ebenso leise, ohne Angriffslust,»hat Ihnen einen Scheck mit vielen Nullen ausgestellt.«

Force, hocherregt, sagte scharf:»Er hat versprochen, das niemand zu erzählen — «

«Er hat es nicht erzählt.«

«Aber — «

«Er ist gestorben«, sagte ich.»Er hat Scheckhefte mit Kontrollabschnitten hinterlassen.«

Ich spürte förmlich, wie er überlegte, was Martin sonst noch hinterlassen hatte, und ich ließ ihn spekulieren. Schließlich fragte er in scheinbar echter Besorgnis:»Wie haben Sie mich gefunden?«

«Dachten Sie, ich würde das nicht schaffen?«

Er schüttelte kurz den Kopf und lächelte ein wenig.»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie überhaupt suchen. Die meisten Leute überlassen so etwas der Polizei.«

Er hätte mir durchaus sympathisch sein können, dachte ich, wäre da nicht Lloyd Baxters epileptischer Anfall gewesen und eine verschwundene Tasche voll Geld.

«Rose Payne«, sagte ich ausdrücklich noch einmal — und diesmal berührte ihr Name bei Adam Force eine empfindliche Saite —,»Rose«, wiederholte ich,»ist überzeugt, daß ich weiß, wo Ihre Videokassette ist, und wie gesagt steht für sie fest, daß ich weiß, was drauf ist. Wenn Sie nicht einen Weg finden, sie mir buchstäblich vom Leib zu halten, könnte es sein, daß mir ihre Aufmerksamkeiten zuviel werden und daß ich ihr sage, was sie unbedingt wissen will.«

Als hätte er wirklich keinen Schimmer, wovon ich redete, fragte er:»Wollen Sie damit sagen, daß ich diese Rose kenne? Und wollen Sie andeuten, daß ich gewissermaßen für Ihre, ehm… Verletzungen verantwortlich bin?«

«Genau«, sagte ich vergnügt.

«Das ist Unsinn. «Sein Gesicht war voller Berechnung, als wüßte er nicht recht, wie er die heikle Situation angehen sollte, schlösse aber, nomen est omen, auch Gewaltanwendung nicht aus.

Schon im Begriff, ihm zu verraten, weshalb ich glaubte, so gut Bescheid zu wissen, meinte ich auf einmal Worthington und Tom Pigeon zu hören, wie sie mir zuriefen, man müsse aufpassen, wenn man in Wespennestern stochere. Ihre besorgten Vorhaltungen hallten durch die Stille des dunklen Fichtenwaldes. Ich sah in das nachdenklich-gütige Gesicht des Arztes und setzte eine reuige Miene auf.

Kopfschüttelnd gab ich ihm recht: Natürlich hätte ich Unsinn geredet.»Aber die Kassette«, fügte ich nach Rücksprache mit meinen beiden abwesenden Leibwächtern hinzu,»die Kassette haben Sie mir trotzdem gestohlen, also sagen Sie mir doch bitte wenigstens, wo sie jetzt ist.«

Mein veränderter Tonfall beruhigte ihn weitgehend. Worthington und Tom Pigeon verstummten wieder. Dr. Force beriet sich mit seinem eigenen inneren Wachdienst und antwortete mir unbefriedigend.

«Nehmen wir mal an, Sie haben recht und ich habe das Video. Da Martin für die sichere Aufbewahrung der Informationen nicht mehr zur Verfügung stand, wurde es nicht mehr gebraucht. Vielleicht habe ich es also überspielt und eine Sportsendung darauf aufgezeichnet. Auf der Kassette sind jetzt vielleicht nur noch Pferderennen zu sehen.«

Er hatte Martin geschrieben, die Informationen auf dem Video seien Sprengstoff. Wenn er den Sprengstoff mit Pferderennen entschärft und quasi Millionen durch den Schornstein (oder den Aufnahmeknopf) gejagt hatte, dann besaß er mit Sicherheit noch alles Nötige, um einen Klon zu erstellen.

Niemand tilgt so nebenbei ein Vermögen, wenn er nicht sicher ist, daß er es zurückholen kann. Zumindest tut es niemand absichtlich.

Also fragte ich ihn:»Haben Sie es absichtlich gelöscht oder aus Versehen?«

Er lachte in seinen Bart.»Versehen gibt es bei mir nicht.«

Der Schauder, den ich empfand, war kein Nervenzittern im tiefen winterlichen Fichtenwald, sondern die sehr viel nüchternere Reaktion auf eine bekannte und ganz und gar menschliche Schwäche: Mochte er noch so einnehmend sein, der Herr Doktor hielt sich für Gott.

Er blieb neben einem umgestürzten Fichtenstamm stehen, setzte kurz einen Fuß darauf und sagte, hier werde er umkehren, da er Patienten zu versorgen habe.»Wenn man bis hierher gekommen ist, ist normalerweise alles gesagt«, fuhr er fort, und sein Tonfall entließ mich:»Sie finden bestimmt allein nach unten.«

«Ein paar Fragen hätte ich noch«, sagte ich. Meine Stimme klang dumpf, es war keine Akustik zwischen den Bäumen.

Er nahm den Fuß vom Baumstamm und machte sich wieder auf den Weg nach oben. Sichtlich zu seinem Ärger ging ich mit ihm.

«Ich sagte, unsere Unterredung ist beendet, Mr. Logan.«

«Tja…«, ich zögerte, aber Worthington und Tom Pigeon waren still, und von den Hunden kam kein Piep,»wie haben Sie Martin Stukely denn kennengelernt?«

«Das braucht Sie nicht zu kümmern«, erwiderte er ruhig.

«Sie kannten sich, aber Sie waren nicht befreundet.«

«Haben Sie nicht gehört?«rief er.»Das geht Sie nichts an.«

Er legte einen Zahn zu, als wollte er fliehen.

Ich sagte:»Martin hat Ihnen einen schönen Batzen Geld gegeben für die Informationen, die Sie als Sprengstoff bezeichnet haben.«

«Nein, da liegen Sie falsch. «Er ging schneller, aber ich hielt mühelos mit ihm Schritt.»Sie sind überhaupt nicht im Bilde«, sagte er,»und ich möchte, daß Sie gehen.«

Ich erwiderte, ich hätte nicht die Absicht, so bald schon zu gehen, wo doch jetzt die Antwort auf zahlreiche ungelöste Rätsel vielleicht zum Greifen nahe sei.

«Wußten Sie«, fragte ich ihn,»daß Lloyd Baxter, der Mann, den Sie in meiner Galerie seinem epileptischen Krampfanfall überlassen haben, der Besitzer von Tallahassee ist, dem Pferd, das Martin Stukely erdrückt hat?«

Er stieg rascher bergauf. Ich blieb an ihm dran.

«Hätten Sie gedacht«, fragte ich im Gesprächston,»daß Lloyd Baxter Sie trotz des einsetzenden epileptischen Anfalls noch bis auf die Socken beschreiben konnte?«

«Hören Sie auf.«

«Und natürlich wissen Sie, daß Norman Osprey und Rose und Gina ausgesprochen gewalttätig sind.«

«Nein. «Er hob die Stimme, und er hustete.

«Und was mein Geld angeht, das Sie zusammen mit der Kassette haben verschwinden lassen.«

Adam Force hörte ganz plötzlich auf zu gehen, und in der Stille hörte ich deutlich das pfeifende Atemgeräusch in seiner Brust.

Ich erschrak. Statt ihm noch mehr einzuheizen, fragte ich besorgt, ob es ihm gutgehe.

«Nein, dank Ihnen. «Sein Atem pfiff weiter, bis er aus der Tasche seines weißen Kittels ein Spray hervorzog, wie ich es von Asthmatikern kannte. Er nahm zwei Sprühstö-ße, atmete tief durch und sah mich dabei voller Abneigung an.

Ich war versucht, mich zu entschuldigen, aber sein Charme und sein einnehmendes Äußeres konnten nicht davon ablenken, daß ich es ihm zu verdanken hatte, in Broadway von den Schwarzmasken und in einem Tauntoner Hinterhof mit einem Stück Schlauch bearbeitet worden zu sein; und wenn es dabei blieb, konnte ich noch von Glück sagen. Also ließ ich ihn wortlos den Rest des Steilwegs hinauf japsen und keuchen. Allerdings begleitete ich ihn, damit er unterwegs nicht zusammenklappte, und im Empfangsbereich setzte ich ihn in einen bequemen Sessel und ging jemand suchen, dessen Obhut ich ihn übergeben konnte.

Ich hörte, wie er mich keuchend zurückrief, aber da war ich schon halbwegs durch einen der Flügel gelaufen, ohne auch nur eine Menschenseele erblickt zu haben, ob Krankenschwester, Patient, Arzt, Frau mit Bücherwagen oder Blumenmädchen. Nicht, daß in den Zimmern dort keine Betten gestanden hätten. Sämtliche Zimmer waren mit Betten, Nachttischen, Lehnstühlen und eigenem Bad ausgestattet, aber menschenleer. Von jedem Zimmer ging eine Fenstertür auf ein sehr gepflegtes, gepflastertes Areal hinaus. Teile des Glasdachs standen so weit offen, wie es eben ging.

Ich hielt kurz vor einem als» Apotheke «ausgewiesenen Raum, der ein geöffnetes Oberlicht und eine weitmaschige Gittertür zum Flur hatte. Durch das Gitter war eine Fülle beschrifteter Medikamente zu sehen, aber immer noch kein Mensch.

Irgendwo muß doch jemand sein, dachte ich, und als ich die einzige geschlossene Tür am Ende des Flügels öffnete, herrschte dahinter ein geradezu emsiges Treiben.

Gut zwanzig Männer und Frauen in dicken weißen Frotteebademänteln nahmen offenbar willig an einer umfassenden medizinischen Untersuchung teil, deren einzelne Schritte in Druckschrift auf Tafeln abzulesen waren wie etwa» Hier wird Ihr Blutdruck gemessen «oder» Wie ist Ihr Cholesterinspiegel heute?«Eine sehr alte Dame befolgte den Rat» Halten Sie sich fit auf dem Laufband«, und an einer dickwandigen separaten Kabine stand:»Zum Röntgen. Bitte warten, bis Sie hereingerufen werden.«

Die Testergebnisse wurden auf Klemmbrettern notiert und an einem zentral stehenden Tisch in Computern gespeichert. Optimismus lag in der Luft.

Als ich eintrat, sah mich eine Krankenschwester, die gerade die Vorhänge um eine Kabine mit dem schlichten Hinweisschild» Urologie «geschlossen hatte. Auf quietschenden Gummisohlen kam sie durch den blitzblanken Raum, um mir lächelnd mitzuteilen, ich sei spät dran, und meinte nur:

«Oje«, als ich ihr sagte, der gute Dr. Force liege womöglich in den letzten Zügen.

«Er kriegt oft Anfälle, wenn er Besuch hat«, vertraute mir die mütterliche Schwester an.»Wenn Sie weg sind, legt er sich wahrscheinlich hin und schläft.«

Der gute Dr. Force hatte nichts dergleichen vor. Vor Wut zitternd, kochend wie ein Boiler, dampfte er heran und wies auf eine Tür, an der verhüllend» Das Örtchen«, aber auch» Hier geht’s hinaus «geschrieben stand. Ich erklärte treuherzig, daß es mir nur darum gegangen sei, Hilfe wegen seines Asthmas zu holen, und er entgegnete schroff, das sei nicht nötig. Er kam mit einer Spritze in einer Metallschale auf mich zu, und bald konnte ich sehen, daß die Spritze fast ganz mit einer Flüssigkeit gefüllt war. Dann nahm er das wahrhaft bedrohliche Utensil in die Hand und zeigte damit auf mich und auf den Ausgang; und diesmal dankte ich ihm für seine Aufmerksamkeit und ging.

Vorbei an zahlreichen Umkleidekabinen kam ich vom Untersuchungsraum in eine großzügige Halle und von dort auf einen Vorplatz.

Unverhofft sah ich dort den Mietwagen stehen, und daneben lief mein Fahrer Jim nervös auf und ab. Während er mir den Schlag aufhielt, erklärte er, die Sorge um mein Wohlergehen habe über seine ureigenen Instinkte gesiegt. Ich dankte es ihm von Herzen.

Dr. Force, der mir nach draußen gefolgt war, wartete, bis ich im Wagen saß, und ging erst wieder hinein, nachdem ich ihm unschuldig-fröhlich zum Abschied gewinkt hatte, ein Gruß, den er nicht erwiderte.

«Ist das der Typ, den Sie sprechen wollten?«fragte Jim.

«Ja.«

«Nicht übermäßig freundlich, was?«

Ich konnte nicht genau sagen, was mit dieser Örtlichkeit nicht stimmte, und als dann ein elegant einbiegender großer Reisebus auf dem Vorplatz zum Stehen kam, war ich auch noch nicht schlauer. Avon Paradise Tours stand schwarzweiß auf den lila Seitenflächen des Busses, und in kleinerer Schrift darunter eine Adresse in Clifton, Bristol.

Jim fuhr schnell bergab, bis wir uns wieder in der seines Erachtens spukgeschützten Innenstadt befanden. Und er erklärte sich bereit, mich, wenn ich nicht wieder von irgendwelchen Schrecken der Nacht anfing, in Lynton herumzufahren, damit ich mir die Stadt ansehen konnte.

Um die Wahrheit zu sagen, war ich in vieler Hinsicht unzufrieden mit mir, und ich wollte Zeit zum Nachdenken, bevor wir zurückfuhren. Wie gern hätte ich jetzt meinen Wagen und die damit verbundene Freiheit gehabt, aber es war nicht zu ändern. Tatsächlich war ich oft genug unbehelligt gerast, bevor ich auf der Fahrt zu dem schwerkranken Gärtner erwischt wurde, und wenn Zivilfahnderin Catherine Dodd vorhatte, die Zukunft mit mir zu teilen, würde ich ohnehin den Fuß vom Gas nehmen müssen.

Einstweilen überredete ich Jim, in einer Nebenstraße anzuhalten. Den Stadtplan in der Hand, ging ich von dort zum North Walk, einem Fußweg auf einem grasbewachsenen Kliff, der im kalten Januarwind mehr oder minder verlassen war.

Bänke standen in Abständen am Wegrand. Ich setzte mich eine Zeitlang und fror und dachte über den Adam Force nach, der farbenblind, asthmatisch, wetterwendisch und unsteten Wesens war und Visite in einer obskuren Privatklinik machte, nur um den Menschen Gutes zu tun. Ein unbedeutender Arzt, wie es schien, trotz besten Qualifikationen und einem Ruf als brillanter Forscher. Ein Mann, der seine Talente vergeudete. Ein Mann, der an einem empfindlich kalten Tag mit einem Besucher nach draußen ging und sich in einen Asthmaanfall manövrierte.

Ich stapfte langsam umher, genoß die herrliche Aussicht vom North Walk, wünschte den Sommer herbei. Ich dachte an allerlei Unzusammenhängendes wie Zufall und Ausdauer und Videokassetten, die eine Million wert waren und die Welt retten konnten. Und ich dachte an das Schmuckstück aus Glas und Gold, das ich gefertigt hatte und das nicht nur wirklich alt aussah, sondern von dem 3500 Jahre alten Original nicht zu unterscheiden war. Eine Kette im Wert von einer Million… aber nur die echte Kette, das in einem Museum liegende antike Stück, hatte diesen Wert. Die Replik, die ich nach einem bei Bedarf wiederholbaren Verfahren angefertigt hatte, war buchstäblich nur ihr Gewicht in achtzehnkarätigem Gold wert, plus die Kosten der farbigen Glasteile und vielleicht noch mal soviel für das technische Wissen und Können, das darin steckte.

Wie viele Künstler und Kunsthandwerker konnte ich den Grad der Meisterschaft, die ich in meinem Fach erlangt hatte, nur mir selbst eingestehen. Und auch das Arroganzverbot meines Onkels Ron trug dazu bei, daß ich meine Sachen ohne Pauken und Trompeten in die Welt setzte.

Wenn es sich in den Jockeystuben herumgesprochen hatte, daß es von mir ein Video über die Herstellung der Kette gab, dann störte mich das nicht. Ich hatte sie selbst gemacht. Ich hatte den Vorgang mit Worten beschrieben und Handgriff für Handgriff gezeigt, wie es ging. Ich hatte es so aufgezeichnet, wie mein Onkel Ron es mir in jungen Jahren beigebracht hatte. Die von mir nachgebildete Kette lag, wie das Video normalerweise auch, in einem Bankfach. Davon überzeugte ich mich am besten noch einmal. Das Lehrvideo hatte ich ja Martin geliehen, und mir war gleich, ob er es anderen gezeigt hatte, aber ich wünschte doch sehr, er hätte es mir zurückgegeben, bevor es mit all den anderen aus seinem Zimmer verschwand.

Ziemlich entschlossen kehrte ich zum Anfang des Spazierwegs zurück, wo Jim hin und her lief und versuchte, sich die Finger zu wärmen. Ich dachte, er hätte vielleicht keine Lust, mich am nächsten Tag noch einmal zu fahren, aber zu meiner Überraschung war er damit einverstanden.

«Sonst hetzt Tom Pigeon seine Hunde auf mich«, meinte er.

«Er hat mich gerade im Auto angerufen, ich soll nach Ihnen sehen.«

Ich unterdrückte ein Lachen. Solche Leibwächter lobte ich mir.

Jim entschuldigte sich dafür, daß er im Kickboxen mit Worthington und Tom nicht mithalten könne.

«Aber ich kann Köpfe gegen Wände knallen«, sagte er.

Lächelnd meinte ich, das werde schon reichen.

«Ich wußte gar nichts über Sie, als ich Sie abgeholt habe«, bekannte Jim.»Ich dachte, Sie wären irgend so ein Windei. Doch Tom erzählte mir gerade dies und jenes am Telefon, und einer, für den Tom kämpft, der kann auch auf mich zählen.«

«Danke«, sagte ich schwach.

«Wohin fahren wir also morgen?«»Was halten Sie von Bristol?«sagte ich.»In eine Gegend mit Krankenhaus?«

Er lächelte breit, und sein eben noch verdrießliches Gesicht strahlte. In Bristol kannte er sich aus. Ein Krankenhaus gab es in der Horfield Road und in der Commercial Road unten am Fluß. Überhaupt kein Problem. Er sei dort ein Jahr lang Ambulanzfahrer gewesen, sagte Jim.

Boxen und Treten, meinte er, sei nicht so sein Ding, aber im Fahren mache ihm so schnell keiner was vor. Wir gaben uns die Hand darauf, und ich hatte Bodyguard Nummer drei, einen, der schneller um die Ecken düste als die Formel eins.

Jim fuhr mich nach Hause, kam offenbar auf Tom Pigeons Drängen mit hinein und kontrollierte sämtliche zehn Zimmer auf unerbetene Besucher.

«Sie brauchen eine kleinere Wohnung«, befand er, als er mit der Inspektion der Fensterschlösser durch war.

«Oder…«, er sah mich von der Seite an,»eine Horde Kinder.«

Genau in dem Moment traf Catherine auf ihrem Motorrad ein. Jim warf einen vielsagenden Blick auf sie, und ich mußte das mit der Horde Kinder erklären. Kommissarin Dodd fand die Idee offenbar gar nicht schlecht.

Quietschvergnügt fuhr Jim davon. Catherine regte sich über meine jüngsten Scherereien auf und sagte, das Klassentreffen habe sie von der ersten bis zur letzten Minute gelangweilt.

«Nächstes Mal pfeif auf die Langeweile und komm nach Hause.«

Das war mir einfach so herausgerutscht. Ich hatte nicht bewußt» nach Hause «gesagt. Ich hatte ihr nur das Haus als Zuflucht anbieten wollen. Das erklärte ich ihr. Sie nickte. Erst später, als ich sie im Bett in den Armen hielt, mußte ich an Sigmund Freud und seinen berühmten Versprecher denken.

In Bristol nieselte es.

Mein Fahrer —»Sagen Sie Jim zu mir«- war klein und untersetzt und konnte nicht begreifen, daß ich lieber Ruhe im Auto hatte statt Dauerberieselung durchs Radio.

Verständlicherweise fragte er, wo wir in der Stadt genau hin wollten. Zum nächsten Telefonbuch, antwortete ich, und in den gelben Seiten fand ich ohne Mühe die Avon Paradise Tours. Sie boten Erlebnisreisen durch Cornwall, Devon, Somerset und rund um London an.

Jim, dessen Krankentransportfahrergedächtnis nützlicher war als jede Karte, fuhr uns zielsicher zu ihrem lila Stammsitz und präsentierte mir mit großer Geste das Busdepot wie ein aus dem Hut gezaubertes Kaninchen.

Als die Frauen im Sekretariat von Avon Paradise Tours erst einmal erfaßt hatten, was ich wissen wollte, waren sie zwar einigermaßen hilfsbereit, gaben aber doch nur zurückhaltend Auskunft, um nicht gegen irgendwelche Hausregeln zu verstoßen.

Das verstand ich doch, oder?

Ich verstand.

Daraufhin öffneten sie die harmlosen Schleusen und sagten mir alles.

Die Mitglieder eines Fitneßclubs aus der Gegend von Bristol unternahmen regelmäßig dienstags Busfahrten zum Hollerday Phoenix House, um sich in der dortigen Klinik auf Herz und Nieren prüfen zu lassen und Gesundheitstips mit nach Hause zu nehmen. Dr. Force, der die Klinik betrieb, weil er in Lynton wohnte, wurde für seinen einmal wöchentlichen Dienst von dem Fitneßclub und Avon Paradise Tours gemeinsam bezahlt. Die Sekretärinnen steckten die Köpfe zusammen und fügten an, das Forschungslabor, in dem Dr. Force gearbeitet hatte, habe auf ihn verzichtet (»ihn also entlassen, Sie verstehen?«).

Welches Labor? Das wußten sie nicht. Sie schüttelten gemeinsam die Köpfe, doch eine sagte, sie habe gehört, sein Fachgebiet seien Lungenkrankheiten gewesen.

Ich ließ mir von den Avon-Paradise-Damen ein Branchenverzeichnis geben, rief an Ort und Stelle die unterschiedlichsten in Frage kommenden Institute an und erkundigte mich nach einem Dr. Force. Dr. Force? Unbekannt, unbekannt, unbekannt. Der allseits unbekannte Dr. Force trieb mich ans Fenster, wo ich den in der Ferne schimmernden, Hochwasser führenden Avon erblickte und mich fragte, was nun?

Lungenkrankheiten.

Kontrollabschnitte. Lauter Nullen. Zahlungsempfänger… Puste. Ein handgeschriebenes Wort von Martin, das weder Bon-Bon noch mir etwas gesagt hatte.

Im Telefonbuch für Bristol und Umgebung war nichts und niemand namens Puste verzeichnet, und mehr wußte auch die Auskunft nicht.

Aber Martin hatte in großen Blockbuchstaben unmißverständlich PUSTE notiert.

PUSTE konnte sehr wohl für Lunge stehen.

Meine Gedanken schweiften ab. Regen platschte an das Fenster. Die Damen wurden unruhig und gaben zu verstehen, daß ich lange genug geblieben sei.

PUSTE.

Nun ja, warum nicht?

Unvermittelt fragte ich, ob ich noch einmal ihr Telefon benutzen dürfe, und als sie mir das nun doch etwas widerstrebend gestatteten, sah ich mir die Tastenziffern für Puste an, die auf 78783 lauteten. Sorgfältig drückte ich die Nummer. Ich hatte nichts zu verlieren.

Als ich es rund ein dutzendmal hatte klingeln lassen und es gerade aufgeben wollte, meldete sich eilig und energisch eine Frau:»Ja? Wer ist da?«

«Könnte ich bitte Dr. Force sprechen?«

Ein langes Schweigen trat ein. Ich wollte schon auflegen, um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, da erkundigte sich ein Mann mit tiefer Stimme, ob ich der Anrufer sei, der nach Dr. Force gefragt habe.

«Ja«, erwiderte ich.»Ist er da?«

«Bedaure. Nein. Hier ist er seit einigen Wochen nicht mehr. Würden Sie mir Ihren Namen sagen?«

Ich war mir nicht sicher, wie ich darauf antworten sollte. Allmählich wurde ich doch vorsichtig. Ich sagte, ich würde gleich noch einmal anrufen, und legte auf. Zur Verwunderung der Paradise-Damen bedankte ich mich dann aber nur herzlich, nahm Jim ins Schlepptau und ging.

«Wohin?«fragte er.

«Zum Essen in ein Pub.«

Jims Gesicht hellte sich auf wie der lichte Morgenhimmel.»Kunden wie Sie könnte ich den ganzen Tag fahren.«

In der Kneipe trank er dann lediglich ein großes Glas Bier mit Limo, ganz wie ich es mir von einem guten Fahrer wünschte.

Das Pub hatte ein Münztelefon. Als wir im Begriff waren zu gehen, wählte ich noch einmal PUSTE, und sofort meldete sich die Stimme des Mannes.

Er sagte:»Ich habe mich mit Avon Paradise Tours unterhalten.«

«Dachte ich mir schon«, erwiderte ich lächelnd.»Und jetzt haben Sie wahrscheinlich die Nummer der Fernsprechzelle auf dem Display. Spart es nicht Zeit, wenn wir uns einfach treffen? Sagen Sie, wo, und ich komme hin.«

Ich nannte Jim den vorgeschlagenen Treffpunkt und ersah aus seinem Nicken, daß er ihn kannte.»Halbe Stunde«, sagte Jim, und zweiundzwanzig Minuten später hielt er im Halteverbot vor dem Eingang eines winterlichen Parks. Entgegen der einhelligen Ermahnung von Worthington, Tom Pigeon und Jim, ohne sie keinen unbekannten Ort aufzusuchen, stieg ich aus, bedeutete Jim weiterzufahren und ging allein in den Park.

Der Nieselregen hörte langsam auf.

Die Anweisung für das Treffen hatte geheißen:»Gehen Sie nach links bis zum Standbild«, und dort, neben einem tänzelnden Pferd aus Kupfer, traf ich einen großgewachsenen Mann, der sehr gebildet und vernünftig aussah und sich vergewisserte, daß ich derjenige war, auf den er wartete.

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