Kapitel 9

Auf der Heimfahrt schaute ich bei Bon-Bon vorbei, um mit ihr zu reden, und stellte fest, daß sie nicht mehr soviel weinte und ihr Erinnerungsvermögen sich gebessert hatte. Gern beantwortete sie meine Fragen, und als ich ihr sagte, welche Schritte wir unternehmen könnten, stimmte sie bereitwillig zu.

Bis Jim mich vor meinem Haus am Hang absetzte und ich gähnend ausstieg, waren wir beide müde. Er war mit Abstand der bürgerlichste meiner drei selbsternannten Aufpasser und wohnte ziemlich in der Nähe. Seine Frau hatte ihn auf die Idee gebracht, mich zu fragen, ob ich ihn nicht ganz als Fahrer haben wollte, bis ich meinen Führerschein zurückbekam. Ich überlegte mir das noch wegen der Kosten, und er überlegte es sich noch wegen des Radio- und Musikverbots. Wir wollten uns Bescheid geben.

An diesem Mittwochabend stand Catherines Motorrad aufgebockt vor dem Kücheneingang. Jim fuhr ab, und der Duft nach warmem Essen, der mich in der Küche empfing, erschien mir so natürlich, wie er mir bei anderen Frauen manchmal künstlich vorgekommen war.

«Tut mir leid. «Sie zeigte mit dem Ellbogen auf einen Rest Rührei.»Ich wußte nicht, wann du zurückkommst, und ich hatte Hunger.«

Ich fragte mich, ob sie bewußt darauf geachtet hatte,»zurück «statt» heim «zu sagen.

Sie schaute mich aufmerksam an und zog die Brauen hoch.

«Ich bin ein bißchen naß geworden«, sagte ich.

«Erzähl’s mir nachher. «Sie machte neues Rührei, während ich mich umzog, und wir aßen gemütlich zusammen.

Ich kochte uns Kaffee, und als wir ihn tranken, betrachtete ich ihr hübsches Gesicht mit dem feinen Teint und den welligen blonden Haaren und fragte mich, was diese Frau an mir fand.

«Ich habe heute Dr. Force wiedergesehen«, sagte ich.

Catherine lächelte.»Und war er immer noch so reizend und einnehmend und gut, daß er jedermann den Glauben an die Menschheit wiedergeben könnte?«

«Nicht ganz«, sagte ich.»Er hätte mich wahrscheinlich um die Ecke gebracht, wenn er gekonnt hätte. «Ich gähnte und erzählte ihr der Reihe nach, ohne Übertreibung, was ich erlebt hatte.

Sie hörte aufmerksam und mit Entsetzen zu.

Ich nahm ihr die Kaffeetasse ab und stellte sie in den Spülstein. Wir waren noch in der Küche, die dank meiner Mutter mit zwei großen, bequemen Sesseln und einer guten Heizung ausgestattet war.

Wir setzten uns zusammen in einen der Sessel und genossen die Nähe ebensosehr als wohltuende Entspannung wie als sinnliches Vergnügen.

Ich erzählte ihr von dem Professor und seiner Gleichung mit der Unbekannten.»Nach dieser Methode«, schloß ich,»gehe ich jetzt alles durch, was gesagt und getan worden ist, füge eine Unbekannte hinzu und schaue mir an, wohin das führt.«

«Hört sich schwierig an.«

«Es verändert das Bild.«

«Und wenn du ihn findest? Den Maskierten Nummer vier?«

«Er bereitet mir Alpträume«, sagte ich.

Ich strich ihr über das Haar. Es war schön, sie in den Armen zu halten, und sie kuschelte sich behaglich an mich.

Wollte ich den Maskierten Nummer vier in das Bild einfügen, so wie ich zuerst mit ihm konfrontiert worden war, mußte ich mir jeden einzelnen Schlag ins Gedächtnis rufen, den ich damals auf dem Gehsteig in Broadway abbekommen hatte, und, als wäre das noch nicht genug, unangenehmerweise auch noch jedes Wort von Rose.

«Brecht ihm die Handgelenke!«hatte sie geschrien.

Catherine bewegte sich in meinen Armen und schmiegte sich enger an mich, und statt an Rose dachte ich dann doch lieber ans Bett.

Catherine stand zeitig auf und fuhr vor Tagesanbruch zu ihrer Frühschicht, und ich ging im Dunkeln zum Geschäft hinunter, dachte über die beiden Tage in Lynton und Bristol nach und fragte mich genau wie Professor Lawson-Young, ob Dr. Force noch im Besitz der unersetzlichen Daten war, die er gestohlen hatte, und sie zum Verkauf anbieten konnte.

Strenggenommen ging einen hergelaufenen Glasmacher aus der Provinz die ganze Geschichte nichts an, aber meine gut heilenden Schrammen riefen mir in Erinnerung, daß nicht jeder diese Meinung teilte.

Strenggenommen war die ganze Sache auch einen toten Hindernisjockey nichts angegangen, und doch hatte man seine Frau und seine Kinder mit Gas betäubt und ihnen sämtliche Videorecorder entwendet.

Der für seine Forschung lebende Professor verließ sich, wie er gesagt hatte, ganz auf meine Kombinationsgabe, aber für mein Gefühl setzte er da, um mit Martin zu sprechen, alles auf einen Nichtstarter.

Ich erkannte, daß ich bei der Jagd nach der Videokassette bisher stets ins Leere gelaufen war: von einer Sackgasse in die andere. Der Professor war überzeugt, daß einer der Wege über kurz oder lang zu seinem Schatz führen müßte, und ich dachte mir Lloyd Baxter, Ed Payne, Victor, Rose, Norman Osprey, Bon-Bon und Adam Force als diese Wege, diese Sackgassen. Ich dachte an alles, was sie gesagt und getan hatten, denn der Professor hatte recht: Wenn es mir gelang, die Lügen auszusondern, würde ich die Wahrheit finden. Viel mehr Zeit und Energie und Kopfzerbrechen kostete mich seine Behauptung, wenn ich in meine Berechnungen die Unbekannte x (Schwarzmaske vier) miteinbeziehe, würden sie allesamt aufgehen.

Obwohl ich eine halbe Stunde vor dem normalen Arbeitsbeginn ins Geschäft kam, war Hickory bereits dort und versuchte hartnäckig noch einmal, das perfekte Segelboot zu zaubern. Diesmal hatte er das Boot viel größer angelegt und rote und blaue Streifen zum Mast hinaufgezogen, und das Ganze sah leichter und spielerischer aus.

Ich gratulierte ihm und bekam ein verächtliches Grunzen zur Antwort, so schnell konnte sein sonniges Gemüt in Donnerwetter umschlagen, und ich hoffte für ihn selbst und auch für unser eingespieltes kleines Team, daß sich der Sturm genauso ruckzuck wieder legte. Einstweilen räumte ich die Regale im Lager hinter dem Schmelzofen auf, den Hickory auf 1200 Grad Arbeitstemperatur eingestellt hatte. Im Umgang mit Glasschmelze, das mußte man ihm lassen, zeigte Hickory durchaus das Geschick, das er brauchen würde, um breite Anerkennung zu finden. Insgeheim dachte ich allerdings, daß es bei ihm nur für ein» beachtlich «und nicht für ein» grandios «reichte, und da er tief im Innern seine Grenzen kannte, waren seine derzeitigen Ressentiments etwas, dem man mit Nachsicht und freundlichem Lachen begegnen mußte, wenn er bleiben oder aber im guten scheiden sollte.

Irish und Pamela Jane kamen wie so oft gemeinsam und redeten gerade über einen Film, den sie gesehen hatten und in dem ein böser Glasbläser vorkam. Sie fragten Hickory nach seiner Meinung dazu und zogen ihn derart in die Diskussion hinein, daß Hickorys kostbares neues Segelboot mittendrin plötzlich mit einem mordsmäßigen Knall in fünf oder sechs Stücke zersprang. Es hatte frei auf der Bank gestanden und war an der Außenseite rascher abgekühlt als im ultraheißen Innern. Die Spannungen waren für das empfindliche Glas zu groß geworden. Das Boot war auseinandergeflogen, und die Scherben lagen auf dem Boden.

Entsetzte Gesichter bei meinen drei Gehilfen. Hickory sah auf seine Armbanduhr und sagte düster:»Das waren gerade mal drei Minuten. Ich wollte es in den Ofen stellen. Scheiß auf euern blöden Film.«

Niemand faßte die Scherben an oder machte Anstalten, sie aufzuheben. Sie waren noch fast so heiß wie in der Schmelze — man konnte seine Finger dran grillen.

«Machen Sie sich nichts draus. «Ich sah achselzuckend auf die traurigen Bruchstücke. Ich brauchte sie nicht daran zu erinnern, daß Späne flogen, wo gehobelt wurde. Es passierte wirklich jedem. Auch den besten.

Wir arbeiteten fleißig den ganzen Morgen und machten steil fliegende Vögel für Mobiles, die sich immer gut verkauften. Sie waren eine Spezialität von Pamela Jane, die am nächsten Morgen dann die Vögel auch auf Schnüre ziehen und sie gegen Mittag sorgfältig verpacken würde, so daß sie sich beim Herausnehmen nicht verhedderten.

Hickory, dem immer wunderschöne Vögel gelangen, hatte seine gute Laune wiedergefunden, als Worthington mit Marigolds Rolls-Royce vorfuhr. Marigold selbst entstieg ihrem blankpolierten Wagen in einem auffällig schwarzweiß gestreiften Kaftan und klimperte ausladend mit den dick getuschten Wimpern wie eine Giraffe. Sie sei gekommen, um mit mir im Wychwood Dragon essen zu gehen, sagte sie. Sie wolle mich um einen Gefallen bitten.

Worthington, immer einen Schritt hinter Marigold, wenn er als Leibwächter fungierte, sah nach dem Skiurlaub noch sonnengebräunter aus. Er hatte die meiste Zeit, wie er sagte, auf der Piste verbracht, während Marigolds Garderobe um drei riesengroße Koffer angewachsen war. Und beide hatten sich offenbar glänzend amüsiert.

Marigolds knisternde Vitalität brachte wie gewohnt alle um sie herum zum Schmunzeln, und sie und Hickory flirteten nicht zum ersten Mal ausgelassen miteinander.

Marigold hatte so viel Spaß daran, daß sie eine halbe Stunde blieb — ein Jahrhundert für sie —, während Worthington mich unauffällig zum Ofen hinüberzog und mir mit dem unglücklichsten Gesichtsausdruck mitteilte, daß die geheime Bruderschaft der Buchmacher mit meinem Untergang, wenn nicht gar meinem Tod rechnete.

«Rose schleicht immer noch herum und sinnt auf Rache, weil sie es nicht erträgt, daß Sie nicht vor ihr in die Knie gehen. Man lacht sie aus, weil Sie und Tom und ich zwei ihrer wohlgeplanten Abklatschereien heil überstanden haben, und diesen Gesichtsverlust wird sie auf keinen Fall hinnehmen. Seien Sie also auf der Hut, denn wie ich höre, werden Sie in Broadway beglast, und jede kleine Bewegung wird sofort Rose gemeldet.«

«Beglast?«

«Beobachtet. Leben Sie hinter dem Mond? Fernglas, Nachtglas, Opernglas. Aber ernstlich, Gerard, Tom Pigeon sagt, damit ist nicht zu spaßen.«

Ich versprach ihm, mich in acht zu nehmen, aber wer konnte schon auf Dauer im Alarmzustand leben?» Wenn das so ist«, sagte ich,»will ich Ihnen nicht verschweigen, daß Rose und Adam Force gestern schon versucht haben, mich umzubringen. Zumindest glaube ich das.«

Er hörte grimmig zu und stellte die unbeantwortbare Frage:»Wo ist Rose jetzt?«

Marigold und Hickory, die ihr Geschäker nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer zwanzig Jahre Altersunterschied genossen hatten, gaben sich zum Abschied einen Schmatz auf die Wange, und Marigold und ich betraten unter allgemeinem Köpfedrehen den Speiseraum des Wychwood Dragon. Der Drachen selbst eilte mit vollen Segeln zwischen den Tischen hindurch Marigold entgegen, zwei prächtige Frauen, die sich ins Auge faßten, um zu ergründen, wer die Stärkere war.

In der Wahl ihrer Kleidung war eine so extravagant wie die andere, aber im Wimperntuscheverbrauch hieß die Siegerin eindeutig Marigold, und fast zwei Stunden vergingen, bevor sie den unterschwelligen Machtkampf leid war und mir sagte, warum sie mich zum Essen eingeladen hatte.

Einleitend verkündete sie:»Ich bin Bon-Bons Mutter.«

«Aha«, sagte ich. Das war mir bekannt.

«Zu Weihnachten«, fuhr Marigold fort,»bekam BonBon von den Kindern eine Videokamera, und Martin wollte ihr noch eine Halskette schenken.«

Ich nickte.»Aber ein Paar warme Winterschuhe war ihr lieber.«

«Das dumme Kind hat keinen Geschmack.«

«Aber wenn sie doch kalte Füße bekommt…«

Marigold war Mode weitaus wichtiger als Wohlbefinden.

«Martin sagte, du hättest mal eine unwahrscheinlich schöne Kette gemacht und die bekämst du auch noch mal hin. Könntest du jetzt nicht für Bon-Bon so eine machen? Als Geschenk von mir, versteht sich. Und die würde ich dann gern vorher mal sehen.«

Sie wartete unerhört geduldig auf meine Antwort und sah mir dabei hoffnungsvoll ins Gesicht. Ich wußte wirklich nicht, was ich ihr sagen sollte. Zu antworten, daß die Kette mehr kosten würde als die Winterstiefel und die Videokamera zusammen, wäre ein Affront gewesen, auch wenn es stimmte, aber außerdem war die Kassette mit der auf Gramm und Grad genauen Herstellungsanleitung für die Kette verschwunden und gehörte möglicherweise zu den Dingen, für die Rose über Leichen ging. Als ich eingewilligt hatte, die Kette für Bon-Bon zu machen, hatte ich Rose nicht gekannt.

Auf mein zu langes Schweigen hin fragte Marigold:»Wo liegt das Problem? Ist es zu aufwendig?«

Da eine Antwort unerläßlich wurde, sagte ich:»Wünscht sich Bon-Bon denn so eine Kette?«

«Sie weiß nichts davon. Es soll eine nette Überraschung sein, um sie aufzuheitern. Erst wollte ich ihr was aus Paris mitbringen, aber dann fiel mir ein, was Martin mit dir ausgemacht hat, also wie steht’s?«

Ihr wurde so selten etwas abgeschlagen, daß sie mein Zögern nicht verstand. Ich setzte mein gewinnendstes Lächeln auf und bat um ein wenig Bedenkzeit. Sie zog einen Schmollmund, und mir fiel Martin ein, der einmal lachend bemerkt hatte, wenn Marigold schmollte, sei Sturm angesagt.

Verdammt, dachte ich, würde er bloß noch leben! Seit einundzwanzig Tagen war er tot, und an jedem einzelnen hatte ich ihn vermißt.

«Die Kette, die ich damals angefertigt habe, liegt bei der Bank an der Ecke im Tresor. Ich finde wirklich, du solltest sie erst einmal sehen, bevor wir weiterreden.«

Der Schmollmund wich einem breiten, einsichtigen Lächeln, und obwohl wir ohne weiteres zu Fuß hätten gehen können, rief Marigold mit großer Geste Worthington herbei, bezahlte mit nicht minder großer Geste und überstrahlte den armen Drachen auf dem ganzen Weg bis zum Rolls.

In der Bank verneigte sich der Filialleiter bodentief vor Marigold, während seine Untergebenen enteilten, um uns die Stahlkassette zu bringen, deren Inhalt wir begutachten wollten. Ich öffnete die Kassette, nahm das samtbezogene blaue Kästchen heraus, das die Kopie des >Kretischen Sonnenaufgangs< enthielt, und legte sie Marigold zur Ansicht vor.

Da ich das antike Original nur beleuchtet hinter Glas gesehen hatte, war ein direkter Vergleich nicht möglich, aber im kalten Licht des Schauraums der Bank funkelte mein Duplikat, als käme das Licht aus ihm selbst, und erfüllte mich mit einem solchen Stolz, daß mein Onkel Ron vor Scham die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.

Marigold entfuhr ein überraschtes» Oh!«, dann holte sie Luft und sagte:»Ach du meine Güte«, und wurde sich nicht schlüssig, ob es ihr nun gefiel oder nicht.

Die vor dreitausendfünfhundert Jahren geschaffene Kette bestand aus zwanzig flachen Gliedern und jedes Glied aus dunkel- und aquamarinblauen Glasstückchen, die geschmolzenes Gold zusammenhielt. Die einzelnen Glieder waren fünf Zentimeter lang, einen Daumennagel breit und mit einem Blütenmotiv geprägt. Um den Hals getragen, fächerten die längsseitig aneinandergereihten Glieder wie die Strahlen der aufgehenden Sonne aus, und die Blütenmotive auf der Oberseite bildeten einen Kranz. Es war ein Schmuck von durchaus heidnischer antiker Pracht und von einigem Gewicht. Man konnte es der zarten Bon-Bon nicht verdenken, daß sie keinen Wert darauf gelegt hatte, ihn zu tragen.

Marigold kam wieder zu Atem und fragte, ob Martin die Kette gesehen habe.

«Ja«, sagte ich und nickte.»Er meinte, sie würde BonBon gut stehen, aber sie wollte lieber die Stiefel. «Ich hatte ihm die Nachbildung ohne Auflagen geliehen, und er hatte sie in der Jockeystube herumgezeigt. Zig Leute hatten sie gesehen.

Marigold, erstaunlicherweise schon wieder sprachlos, sah schweigend zu, wie ich die Kette wieder in ihre samtene Nacht sperrte und das Kästchen zurück in die Stahlkassette legte. Ich prüfte noch verschiedene Papiere — Testament, Versicherungspolicen, die Besitzurkunde für das Haus am Hang und andere Scheine, die üblicherweise zum Leben gehören, aber das Lehrvideo fehlte nach wie vor.

Noch einmal kämmte ich sorgfältig den Aktenstoß durch.

Keine Videokassette. Nichts. Dabei dachte ich, daß die Kette selbst mit der genauen Anleitung auf Video nicht gerade einfach anzufertigen war. Ich verwahrte sie nicht zuletzt deshalb im Safe, weil sie mich so viel Mühe und Tüftelei gekostet hatte.

Die Bankangestellten sperrten alles weg und händigten mir meinen Schlüssel aus, und Marigold befahl Worthington mit großer Geste, zu Logan Glas zurückzufahren. Von der Anweisung an ihren Chauffeur abgesehen, verhielt sie sich auf der kurzen Fahrt ungewöhnlich still, und schon im Wychwood Dragon war mir aufgefallen, daß sie ihren Ginkonsum drastisch eingeschränkt hatte.

Im Geschäft stolzierte sie dann durch den hell erleuchteten Ausstellungsraum, als wäre sie dort noch nie gewesen, und blieb schließlich vor Catherines Flügeln stehen, um uns allen — Worthington, Irish, Hickory, Pamela Jane und mir — eine Ansprache zu halten, als hätte sie die Schüler einer Grundschulklasse vor sich. Wir könnten uns glücklich schätzen, sagte sie, für ein so angesehenes Studio zu arbeiten. Sie aber werde dieses Ansehen durch einen ganz besonderen Auftrag noch wesentlich steigern,»denn Gerard«, hier warf sie mir eine Kußhand zu,»wird, natürlich mit Ihrer aller Unterstützung, eine wundervolle Halskette für mich kreieren, die ich den Marigold-Knight-Preis nennen und zur Erinnerung an meinen Schwiegersohn Martin Stukely alljährlich zu Silvester dem Sieger eines Hindernisrennens in Cheltenham überreichen werde… Na?«-sie breitete die Arme aus —»was haltet ihr davon?«

Was immer wir davon hielten, wir sahen sie in ehrfürchtigem Schweigen an.

«Also, Gerard«, wollte sie wissen,»was meinst du dazu?«

Ich sagte nicht:»Nun mal langsam. Das ist Wahnsinn«, aber ich dachte es.

«Davon hat jeder was«, fuhr Marigold triumphierend fort.»Es wird massenhaft neue Kunden hierherführen.«

Abgesehen von dem leidigen Problem der Versicherung hatte ihr Plan vor allem den Pferdefuß, daß jemand auf den Gedanken kommen konnte, die Nachbildung mit dem Original zu vertauschen, und das hätte Marigold mit dem Gesetz in Konflikt gebracht.

«Ich finde das eine wunderschöne Idee«, meinte Pamela Jane zu Marigold, und die anderen stimmten lächelnd bei. Nicht einmal Worthington meldete Bedenken an.

Hingerissen von dem Projekt, das sie sich da in zehn Minuten ausgedacht hatte, ging Marigold auch schon ins Detail. Sie würde sofort mit der Rennplanungskommission in Cheltenham sprechen. Gerard könne sich unverzüglich an die Arbeit machen. man müsse die Presse informieren.

Da hörte ich kaum noch zu. Fast alles hätte sich besser zum Rennpreis geeignet als die Kopie eines Schmuckstücks im Wert von Millionen. Auch die Glasskulptur für Martin, die ich im Kopf hatte, war dafür geeigneter. Glastrophäen gab es seit jeher im Rennsport, und den Auftrag, eine neue zu entwerfen, hätte ich mit Freuden angenommen.

Irish ergriff begeistert Marigolds Hand und schüttelte sie zu ihrer Überraschung heftig. Hickory strahlte. Bei Logan Glas waren alle für die Halskettenidee, aber der Kommission in Cheltenham gefiel sie vielleicht weniger.

Die Kommission in Cheltenham mußte erst einmal davon erfahren. Marigold benutzte mein Telefon und überredete ein einflußreiches Kommissionsmitglied, Logan Glas umgehend einen Besuch abzustatten.

Eine Stunde später empfing Marigold, die mächtige Männer zu bezaubern verstand, Kenneth Trubshaw, den Gentleman aus Cheltenham, mit einem zwanglosen Küß-chen und erläuterte ihren Plan, bevor sie ihn noch mit Irish, Hickory und Pamela Jane bekannt machte.

Der elegante, weltgewandte Mann vom Rennvereinsvorstand nickte mir zu. Wir kannten uns vom Sehen, hatten aber bis dahin noch nicht miteinander gesprochen. Marigold schwang die Arme in die Luft, um das zu ändern.

«Sie kennen doch Gerard Logan, mein Lieber?«

«Ehm… ja, natürlich.«

«Denn Gerard hat diese fabelhafte Halskette gemacht, die Sie sich unbedingt ansehen müssen, sie liegt hier auf der Bank.«

Alle schauten auf ihre Armbanduhr oder auf die Wanduhr in der Galerie. Die Bank hatte seit fünf Minuten geschlossen, und Marigold sah frustriert aus. Die Zeit war zu schnell vergangen.

Zögernd schlug ich vor, damit Mr. Trubshaw nicht umsonst gekommen sei, könne er sich ja vielleicht einige andere Sachen von mir ansehen, aber das war Marigold auch nicht recht.»Die Kette«, wandte sie ein,»ist wenigstens zum Teil aus Gold, mein Lieber, und es soll doch so eine Art Gold Cup sein.«

Kenneth Trubshaw tat, vielleicht mehr aus Höflichkeit als aus Interesse, unverbindlich ein paar Schritte in den Ausstellungsraum hinein. Dann schien er erfreulicherweise doch hinzuschauen, stockte, ging einen Schritt zurück und blieb nachdenklich vor Catherines Flügeln stehen.

«Wieviel kostet das?«fragte er.»Es steht kein Preis dran.«

«Das ist verkauft«, sagte ich.

Einhellige Überraschung bei meinen drei Mitarbeitern.

«Schade«, meinte Trubshaw.

«Da ist zu wenig Gold dran«, bemäkelte Marigold.

«Nun«, sagte ich,»ich habe schon mal ein Pferd gemacht, das über ein Hindernis geht. Das Hindernis war aus massivem Gold, die Hufe auch. Das übrige Pferd bestand aus Kristall, der Boden und der Sockel aus schwarzem Glas mit kleinen goldenen Einschlüssen.«

«Wo ist das jetzt?«fragte Kenneth.

«In Dubai.«

Er lächelte.

«Und was ist mit der Kette?«fragte Marigold verärgert.

Ihr Kenneth beschwichtigte sie sanft.»Ich komme morgen noch mal und schaue sie mir an, aber der junge Mann hier hat mehr als bloß eine Kette vorzuweisen. Allein die Flügel…«Er sah hin und neigte den Kopf zur Seite.»Können Sie die nicht noch mal machen? Wenn sie verkauft sind?«

«So etwas verkaufe ich als Unikat«, entschuldigte ich mich. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich die Flügel noch einmal hinbekommen hätte. Ihre kraftvolle, beeindruckende Linienführung kam direkt aus dem Unbewußten. Ich hatte noch nicht mal meine Notizen dazu ins reine geschrieben.

Er fragte, ob ich statt dessen ein Andenken an Martin Stukely entwerfen könne.

«Ich könnte ein golddurchwirktes Pferd im Sprung machen. Ein Pferd, das Cheltenhams würdig wäre.«

«Ich komme morgen wieder«, sagte der Rennplanungsvorstand und umarmte Marigold zum Abschied mit einem begeisterten Lächeln.

Da Marigold mit ihrer Tochter vereinbart hatte, mich bei ihr abzusetzen, fuhren sie, Worthington und ich danach zu Bon-Bon und trafen zur gleichen Zeit dort ein wie Priam Jones, der die ruinierten Reifen seines Wagens durch teure neue ersetzt hatte und entsprechend vorsichtig die kiesbestreute Einfahrt entlangfuhr. Bon-Bon hatte mir erzählt, daß er doch darauf verzichtet hatte, die Stadt wegen der über Nacht aufgestellten spitzzackigen Sperren zu verklagen, und daß sein ganzer Unmut sich jetzt gegen Lloyd Baxter richtete, der seine Pferde einschließlich Tallahassee in einen Trainingsstall im Norden in der Nähe seines Wohnorts verlegt hatte.

Bon-Bon kam zur Begrüßung aus dem Haus, und da Priam Jones nichts davon wußte, daß er auf meinen Wunsch eingeladen worden war, fiel es mir nicht schwer, so zu tun, als wäre unser Wiedersehen hier ein Zufall. Priam schien mir die letzte Sackgasse zu sein.

«Bon-Bon hat mich zu einem frühen Abendessen eingeladen«, erklärte Priam ein wenig wichtigtuerisch.

«Na, großartig«, meinte ich herzlich.»Mich auch.«

Seinem Gesichtsausdruck nach legte Priam keinen Wert auf meine Anwesenheit, und so konnte es ihm nicht recht sein, daß Bon-Bon dann auch noch ihre Mutter zu einer Kleiderschau ins Haus entführte und im Weggehen über ihre Schulter sagte:»Gerard, schenk doch bitte Priam was zu trinken ein, ja? Du findest alles im Schrank.«

Bon-Bons Trauer um Martin hatte ein Stadium erreicht, in dem der Schmerz wie ein Halt gebender Anker ist. Sie hatte die Kinder besser im Griff und führte auch den Haushalt wieder souveräner. Ich hatte sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Priam zum Essen einzuladen, aber daß sie ihn so geschickt meiner Fürsorge überlassen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

In diesem Moment kamen die Kinder aus dem Haus gestürzt, die mich zu meinem Erstaunen als» Onkel Gerard «und Priam mit» Sir «anredeten. Sie drängten sich dann um Worthington und schleppten ihn zum Spielen zu den Garagen hinüber. Priam und ich gingen allein ins Haus und setzten uns in Martins Zimmer. Ich spielte wie gewünscht den Gastgeber und überredete ihn mit Engelszungen, mir von seinen rennsportlichen Erfolgen zu berichten, da ich in der Zeitung Lobendes über einen seiner Sieger gelesen hatte.

Mit einem Anflug der alten Großtuerei erzählte er mir, daß seine Pferde siegten, weil er es wie kein zweiter verstehe, sie zur rechten Zeit fit zu bekommen. Niemand könne ein Pferd so zielsicher wie er auf ein bestimmtes Rennen vorbereiten.

Er strich sich über das lichte weiße Haar, durch das die rosa Kopfhaut schimmerte, und räumte ein, daß Martin hin und wieder ein wenig zu seinen Trainingserfolgen beigetragen habe.

Entspannt lehnte er sich auf der Couch zurück, die ich ihm zugewiesen hatte, und trank Scotch mit Soda, während ich auf Martins Drehstuhl saß und mit den Stiften auf seinem Schreibtisch spielte. Ich mußte an Priams Tränenausbruch in Cheltenham denken und fragte mich nicht zum ersten Mal, ob Priam vielleicht weniger selbstsicher war, als er tat. Wenn es mir gelang, ihn auf der Ebene der Tränen anzusprechen, würde er mir vielleicht einiges erzählen, was ich noch nicht wußte, und diesmal würde mir kein Gartenschlauch dazwischenkommen.

«Wie gut«, fragte ich im Plauderton,»kennen Sie Eddie Payne, Martins alten Jockeydiener?«

Überrascht antwortete Priam:»Ich kenne ihn nicht näher, falls Sie das meinen, aber manchmal übergebe ich ihm die Farben, und da rede ich dann schon mit ihm.«

«Und Rose?«tippte ich an.

«Bitte?«

«Eddie Paynes Tochter. Kennen Sie die auch?«

«Wie kommen Sie darauf?«Er hörte sich verwundert an, aber er hatte die Frage nicht beantwortet. Eddie und seine Tochter hatten unter schwarzen Kapuzenmasken gesteckt, dachte ich, aber konnte Priam Maske Nummer vier gewesen sein?

«Priam«, sagte ich herzlich,»an dem unglückseligen Tag, als Martin starb, waren Sie so nett, mir die Kassette nach Broadway zu bringen, die ich dummerweise in meinem Regenmantel in Martins Wagen hatte liegenlassen. Dafür wollte ich Ihnen noch mal aufrichtig danken. «Ich schwieg und setzte dann hinzu, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun:»Mir sind wilde Gerüchte zu Ohren gekommen, daß Sie die Kassette vertauscht hätten. Sie hätten sie behalten und mir eine andere in die Tasche gesteckt.«

«Unsinn!«

«Das denke ich auch«, sagte ich lächelnd und nickte.»Ich bin sicher, daß Sie mir die Kassette nach Broadway gebracht haben, die ich in Cheltenham bekommen hatte.«

«Gut. «Er hörte sich erleichtert an.»Warum haben Sie mir das dann alles erzählt?«

«Nun, weil es natürlich schon stimmt, daß Sie, wenn Sie hier waren, auch Martins Riesenvideosammlung gesehen haben. Aus Neugier könnten Sie die Kassette, die ich im Auto vergessen hatte, in seinen Recorder eingelegt haben, um mal reinzuschauen, und dann fanden Sie sie vielleicht langweilig oder konnten nichts damit anfangen und haben sie zurückgespult und wieder eingepackt und sie mir nach Broadway gebracht.«

«Das sind doch jetzt bloß Vermutungen«, beanstandete Priam.

«Schon. Aber vermute ich richtig?«

Priam wollte seine Neugier nicht eingestehen. Ich argumentierte, es könne für ihn nur von Vorteil sein, wenn feststehe, welche Kassette aus dem Geschäft verschwunden sei.

Er schien das einzusehen und machte wieder ein selbstzufriedenes Gesicht, und wieder brachte ich ihn arg aus der Fassung, indem ich fragte, wem er an jenem Abend oder früh am nächsten Morgen auf Anfrage versichert hatte, daß die von ihm nach Broadway gebrachte Kassette nichts mit einer antiken Halskette zu tun habe, ob die nun Millionen wert sei oder nicht.

Priams Gesicht verschloß sich. Diese Frage wollte er eindeutig nicht beantworten.

«War es Rose Payne?«fragte ich ohne Nachdruck.

Er starrte mich nur an, war nicht bereit, seine lange ge-zügelte Zunge zu lösen.

«Wenn Sie mir sagen, wer es war, können wir dem Gerede von den Kassetten, die Sie angeblich vertauscht haben, entgegentreten.«

«Die Wahrheit zu sagen, hat noch nie geschadet«, wandte Priam ein, aber das stimmte natürlich nicht, die Wahrheit ließ sich in Zweifel ziehen, und sie konnte schmerzlich sein.

«Wer?«fragte ich noch einmal, ohne ihn zu bedrängen, und gerade das bewog ihn vielleicht, mit der Sprache herauszurücken.

«Nach Martins Tod«, sagte er,»habe ich seine Sachen hierhergebracht, wie Sie wissen, und da mein Wagen in der Werkstatt war wegen der, ehm. weil die Reifen gewechselt werden mußten.«

Ich nickte unverfänglich und lächelte nicht.

Priam erzählte beruhigt weiter.»Nun, Bon-Bon sagte, ich könne Martins Wagen nehmen — sie war so verstört, sie hätte zu allem ja gesagt —, und so bin ich mit Martins Wagen erst nach Hause gefahren und dann mit Baxters Tasche und Ihrem Regenmantel wieder nach Broadway, und von dort schließlich wieder nach Hause. Als ich am nächsten Tag von der Morgenarbeit mit dem ersten Lot zurückkam, klingelte mein Telefon, und Eddie Payne war dran…«Priam holte Atem, war aber offenbar entschlossen, fertig zu erzählen.»Tja… Eddie wollte wissen, ob die Kassette, die ich Ihnen gebracht habe, auch bestimmt die war, die er Ihnen in Cheltenham gegeben hatte, und ich sagte, da sei ich mir ganz sicher, und da sonst nichts anlag, legte er auf.«

Priams Geschichte war zu Ende. Er nahm einen großen Schluck Whisky, und ich schenkte ihm zur Erholung von der Beichte gut und reichlich nach.

Eddie selbst war auch zur Beichte gegangen. Eddie hatte sich vor Martins Beerdigung gedrückt. Eddie hatte Angst vor seiner Tochter Rose, und Eddie hatte sich schwarz maskiert, um an der Prügelaktion gegen mich teilzunehmen. Wären Tom und die Dobermänner nicht zufällig dahergekommen, hätte Eddie wohl noch wesentlich größere Sünden zu bekennen gehabt.

Meine simple Frage hatte Priam derart in Angst versetzt, daß ich seine Antwort auf mögliche wichtige Hinweise abklopfte, die mir bis jetzt entgangen waren.

Konnte er Maske Nummer vier sein? Die Unbekannte in der Gleichung?

Ed Payne hatte Rose wahrscheinlich erzählt, daß es auf der Kassette, die in der Neujahrsnacht aus meinem Geschäft entwendet wurde, um eine Halskette ging. Rose hatte ihm nicht unbedingt geglaubt. Wenn Rose aber wußte, daß es eine solche Kette gab, und fälschlicherweise angenommen hatte, auch das Video darüber sei wertvoll, ja sogar eine Million wert, konnte sie durchaus so versessen darauf gewesen sein, daß sie Bon-Bons ganze Familie betäubt hatte, um sämtliche Videokassetten im Haus an sich zu bringen.

Damals hatte ich angenommen, es sei ein Mann gewesen, der mich an der Haustür überrumpelt und bewußtlos geschlagen hatte, aber wenn ich recht überlegte, konnte es auch Rose selbst gewesen sein. Sie war kräftig, wendig, resolut und hatte allemal das Zeug, einen Mann anzugreifen. Das wußte ich aus Erfahrung.

Nachdenklich, als wüßte ich nicht mehr, daß ich ihm die Frage schon einmal gestellt hatte, fragte ich Priam:»Wie gut kennen Sie Rose Payne?«

«Die kenne ich nicht«, erwiderte er prompt, revidierte dann aber seine Antwort und schwächte sie ab.»Gesehen habe ich sie wohl schon.«

«Was würden Sie sagen, wie gut sie Adam Force kennt? Meinen Sie, Dr. Force wäre dumm genug, ihr aus einer Klinik, die er betreut, eine Flasche mit Gas zu besorgen?«

Priam machte ein Gesicht, als hätte ich ihn mit Schwertern durchbohrt, aber leider gab er keinerlei Schuldbewußtsein zu erkennen. Er fühlte sich nicht schuldig; so gut wie niemand fühlte sich schuldig.

Bon-Bons» frühes Abendessen «erwies sich zu Priams gelinder Enttäuschung als ebendies und nicht mehr. Er hatte es gern exklusiver, aber wir saßen einfach alle um den großen Küchentisch, Marigold, Worthington, die Kinder, Bon-Bon, ich und Priam selbst. Ich fungierte außerdem als Kellner, wie ich das als Gast hier gewohnt war, auch wenn Daniel, der ältere Sohn, manchmal das Geschirr abräumen half.

«Gerard«, sagte Daniel zwischen zwei Gängen und stellte sich direkt vor mich, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen,»wer ist Victor?«

Ich spitzte die Ohren und sagte:»Das ist ein Junge. Sag mir, was du gehört hast.«

«Gilt die Abmachung noch?«fragte Daniel.»Gibt es Goldtaler?«

«Aber natürlich nicht«, schimpfte Bon-Bon.»Das war doch ein Spiel.«»Ist das hier auch«, versicherte ich ihr,»da können wir die Regeln ruhig beibehalten.«

Ich langte in meine Tasche und fand zu meiner Überraschung sogar noch Kleingeld, obwohl mir die Kinder neulich mindestens zwanzig» Taler «abgeknöpft hatten.

«Was ist mit Victor?«fragte ich. Ich legte ein Geldstück auf den Tisch, und Daniel sagte:»Es sind zwei Sachen«, also legte ich noch eins dazu.

«Du verziehst die Kinder völlig«, rügte Marigold.

Theoretisch gab ich ihr vielleicht recht, aber unerwarteterweise meldete sich Daniel zu Wort:»Gerard selber hat zu Worthington und einem Bekannten gesagt, daß man bezahlen muß für das, was man bekommt.«

Marigold setzte ihren Chauffeur mit auf die Liste der schlechten Erzieher, aber Daniel, der davon nichts mitbekam, wartete nur auf sein Stichwort.

«Schieß los«, sagte ich.»Zwei Goldtaler. Die muß es aber auch wert sein. «Ich grinste ihn an.

Er legte seine Patschfinger auf die Münzen und sagte direkt zu mir:»Er will dir ein Geheimnis verraten.«

«Wann hat er das gesagt?«Ich nahm ihn ernst, aber die anderen Erwachsenen lachten.

Daniel nahm die erste Münze weg. Berechnender kleiner Satan, dachte ich.

Daniel sagte:»Er hat hier angerufen. Mami war draußen im Garten, da bin ich drangegangen. Er sagte, hier ist Victor. Er wollte nur mit dir, nicht mit Mami sprechen. Du warst nicht da, aber ich sagte ihm, daß du zum Abendessen kommst, und er sagte, er probiert’s dann noch mal, wenn er kann.«

Daniels Hand schwebte über der zweiten Münze in der Luft. Ich nickte stoisch, und er ließ sie blitzartig verschwinden.

«Das ist doch unerhört!«schimpfte Marigold mit mir.

«Du bringst meinem Enkel nichts als Unarten bei.«

«Es ist ein Spiel«, sagte ich noch einmal; und es war eins für Elfjährige. Daniel war auch sonst klug, aber ich fand, hier hatte er gute Arbeit geleistet.

Das» frühe Abendessen «endete um halb acht, eine Stunde bevor die jüngeren Kinder ins Bett mußten. Marigold, deren gute Laune wiederhergestellt war, drückte Daniel zum Abschied versöhnlich in die Falten ihres Kaftans, und nach dem Kaffee, drei Gläschen Grand Marnier und einem verkicherten Telefonplausch mit Kenneth Trubshaw über die Stiftung eines gewissen Goldpokals entschwebte Marigold auf Wolken der Gutmütigkeit hinaus zum Rolls, nahm mit Worthingtons fürsorglicher Unterstützung im Fond Platz und ließ sich nach Hause fahren.

Priam Jones fühlte sich unter Wert behandelt. Er dankte Bon-Bon zwar für ihre Gastfreundschaft, gab ihr aber zu verstehen, daß er sich als renommierter Trainer und insbesondere als Hauptarbeitgeber ihres verstorbenen Mannes ein wenig mehr Aufmerksamkeit und Beachtung gewünscht hätte. Von mir verabschiedete er sich mit einem noch kühleren Nicken, und die neuen Reifen bekamen, als er über den Kies davonsägte, das ganze Ausmaß seiner Ungehaltenheit zu spüren. Armer Priam, dachte ich. Es war sicher nicht sehr schön, in seiner Haut zu stecken.

Victor ließ mich lange warten. Bon-Bon, die nach oben ging, um den Kindern etwas vorzulesen, gab mir einen Gutenachtkuß und schickte mich in Martins Zimmer, aber es wurde elf Uhr und später, bis sich schließlich die vertraute Kieksstimme aus Taunton meldete.

«Gerard? Ich bin in einer Telefonzelle. Mum glaubt, ich sei im Bett. Sie hat Ihre Handynummer weggeworfen, und mailen kann ich auch nicht — Tante Rose hat mir meinen

Computer abgenommen. Das kotzt mich alles an. Ich möchte Sie sprechen. Sagen Sie, wo. Mir geht das Geld aus.«

Schon klickte es mehrmals bedenklich in der Leitung. Wahrscheinlich warf er seine letzten Pennys ein. Als es einen Moment still war, sagte ich:»Ich komme am Sonntag, gleicher Zug, Bahnhof Taunton.«

«Nein. Morgen. Bitte morgen!«

Ich sagte ja, und die Verbindung brach ab.

«Sie sind völlig verrückt, wissen Sie das?«sagte Tom Pigeon, als ich ihn früh um sieben anrief, um ihm Bescheid zu sagen.»Heute ist Freitag. Der Junge hat doch Schule.«

«Eben. Darum geht’s wahrscheinlich. Die Schule kann er schwänzen, ohne daß seine Mutter es merkt.«

«Sie fahren nicht«, sagte Tom entschieden, und ein paar Sekunden später dann:»Wir lassen uns von Jim fahren. In seinen Kombi gehen auch die Hunde rein. Wo sind Sie?«

«Bei den Stukelys. Holt ihr mich hier ab?«

«Vor fünf Tagen, am vorigen Sonntag«, sagte Tom mit gespielter Geduld,»hat Ihnen Rose das Gesicht mit einem Schlauch und einem Wasserhahn bearbeitet.«

«Mhm«, gab ich zu.

«Und vorgestern sind Sie, wie ich höre, beinah umgebracht worden.«

«Tja…«

«Wie wär’s, wenn Sie zu Hause blieben?«

Ich lächelte über den blöden Vorschlag.

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