Kapitel 3

An ersten Donnerstag im Januar, dem sechsten Tag des neuen Jahrtausends, trugen Priam Jones und ich zusammen mit vier erstklassigen Hindernisjockeys Martin in seinem Sarg zunächst in die Friedhofskapelle und schließlich hinaus zu seinem Grab.

Die Sonne schien auf eisgraue Bäume. Bon-Bon sah ätherisch aus, Marigold war halbwegs nüchtern, Worthington nahm seine Chauffeursmütze ab und neigte ehrerbietig das kahle Haupt, die vier Kinder klopften mit den Fingern an den Sarg, als könnten sie den Vater im Innern auferwecken, Lloyd Baxter trug eine kurze, ansprechende Lobrede vor, und die gesamte Rennwelt, von dem Vorsitzenden des Jockey Clubs bis zu den Männern, die die Rasenstücke ersetzten, alle zwängten sich in die Bänke und drängten sich draußen auf den winterkalten Kirchhof, standen auf den uralten bemoosten Steinplatten. Martin hatte hohes Ansehen genossen, und nun wurde ihm Respekt gezollt.

Der Leichenwagen und die schweren Limousinen waren eine Meile aus der Stadt heraus zu dem neuen Friedhof am Hang gefahren. Dort, zwischen Bergen von Blumen, weinte Bon-Bon, als der Mann, mit dem sie tagtäglich gezankt hatte, in die stille, alles umfangende Erde hinabgelassen wurde, und ich, für den es nach meiner Mutter der zweite große Abschied innerhalb eines Monats war, überzeugte mich gewissenhaft davon, daß der Gastroservice genug

Grog mitgebracht hatte und daß der Kirchenchor sein Geld bekam, und sorgte auch sonst dafür, daß das teure Räderwerk des Todes rund lief.

Nachdem die vielen hundert Trauergäste gegessen und getrunken und sich mit einem Kuß von Bon-Bon verabschiedet hatten, ging auch ich zu ihr, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Sie stand gerade bei Lloyd Baxter und fragte ihn nach seinem Befinden.»Nehmen Sie immer Ihre Tabletten!«sagte sie, und er versicherte ihr peinlich berührt, das werde er tun. Mir nickte er kühl zu, als wäre er nie mit einer Flasche Dom Perignon zu mir gekommen.

Ich beglückwünschte Baxter zu seiner Trauerrede. Er fand das Kompliment berechtigt und lud mich in steifen Worten ein, mit ihm im Wychwood Dragon zu Abend zu essen.

«Geh nicht«, rief Bon-Bon bestürzt.»Bleib heute abend noch hier, Gerard. Du und Worthington, ihr habt die Kinder gebändigt. Dann haben wir wenigstens noch eine ruhige Nacht.«

Im Gedanken an Martin schlug ich Baxters Einladung aus und blieb, um Bon-Bon beizustehen, und als ich nach Mitternacht als einziger noch wach war, setzte ich mich in den Knautschsessel in Martins Zimmer und dachte lange über ihn nach. Dachte an sein Leben, die vielen Erfolge in seiner Laufbahn, und dachte schließlich über den letzten Tag in Cheltenham nach, über die Videokassette und die Frage, was er da aufgenommen haben mochte.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was für Informationen es sein könnten, die so umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen erforderten. Allerdings wußte ich, daß Bon-Bon, so lieb und bonbonsüß sie sein mochte, nicht gerade die verschwiegenste war. Bei Bon-Bon war ein Geheimnis nur bis zum nächsten Plausch mit ihrer besten Freundin sicher.

Viele ihrer Streitereien mit Martin waren daraus entstanden, daß Bon-Bon ausposaunte, was sie von Martin persönlich oder aus seinen Gesprächen mit anderen über die Siegchancen eines bestimmten Pferdes erfahren hatte.

Tief betrübt, mit hängenden Schultern, saß ich in Martins Sessel. Man hatte so wenig gute Freunde im Leben. Da war keiner entbehrlich. Seine Persönlichkeit erfüllte den Raum in einer Weise, als stünde er leibhaftig hinter mir an seinem Bücherregal und schaute etwas im Rennkalender nach. Das Gefühl, er sei im Zimmer, war so stark, daß ich mich tatsächlich nach ihm umdrehte, aber da waren eben doch nur Bücher, Reihe um Reihe, und kein Martin.

Es schien mir an der Zeit nachzusehen, ob die Außentüren abgeschlossen waren, und noch ein paar Stunden zu schlafen, ehe die letzte Nacht in Martins Haus vorbei war. Ich hatte ihm vor Wochen ein paar Bücher über alte Glasbläsertechniken geliehen, und da sie auf dem langen Tisch am Sofa lagen, bot es sich an, sie jetzt mitzunehmen, ohne Bon-Bon damit zu behelligen. Martins reges Interesse für aufwendig gearbeitete Trinkgläser und Schalen, dachte ich wehmütig, würde mir besonders fehlen.

Am anderen Morgen beim Abschied sagte ich Bescheid, daß ich die Bücher wieder mitnehmen wollte.»Gut, gut«, meinte Bon-Bon zerstreut.»Ich wünschte, du würdest bleiben.«

Sie ließ mich von Worthington mit ihrem weißen Stadtauto nach Broadway bringen.»Höchste Zeit, daß Sie hier verduften«, sagte Worthington unverblümt beim Losfahren,»sonst wird Bon-Bon für Sie zur Venusfliegenfalle.«

«Sie ist unglücklich«, wandte ich ein.

«Anhänglich, attraktiv, und wen sie einmal hat, für den gibt’s kein Entrinnen. «Worthington grinste.»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

«Und Marigold?«neckte ich ihn.»Wie steht’s mit der Marigold-Fliegenfalle?«

«Ich kann jederzeit gehen, wenn ich will«, wehrte er sich und fuhr die nächsten Kilometer mit einem Lächeln, als glaubte er daran.

Als er in Broadway anhielt, um mich vor dem Eingang meiner Galerie abzusetzen, sagte er in ernsterem Ton:»Ich habe einen Privatdetektiv beauftragt, sich nach dieser Rose zu erkundigen. «Er schwieg.»Viel weiter als Sie ist er auch nicht gekommen. Eddie Payne glaubt, sie hat gesehen, wer Martin die verdammte Kassette gegeben hat, aber an Ihrer Stelle würde ich nicht darauf bauen. Er hat Angst vor der eigenen Tochter, wenn Sie mich fragen.«

Das war auch mein Eindruck, und dabei beließen wir es. Meine drei Gehilfen nahmen mich freudig wieder im Arbeitsalltag auf, und ich zeigte Hickory — genau wie vor Weihnachten Pamela Jane —, wie man dreimal nacheinander mit der Pfeife Glas aufnahm, so heiß, daß es rot und halb flüssig war und die Form eines dicken Tropfens annahm, der dem Boden (und den Füßen) entgegenfloß, wenn man ihn nicht beizeiten auf der Bank verarbeitete. Er wußte, wie man den länglichen Tropfen in das Farbpulver eintippen mußte, bevor man die Pfeife unter ständigem Drehen wieder in den heißen Ofen steckte, um den mittlerweile schweren Klumpen Glas auf Arbeitstemperatur zu halten. Ich zeigte ihm, wie man die Form der leicht ballonförmigen Glasblase — des Kölbels — konstant hielt, während man weiter Ideen entwik-kelte, die in das Endergebnis einfließen sollten.

Hickory verfolgte den laufenden Vorgang mit unruhigem Blick und meinte wie Pamela Jane, als sie sich daran versucht hatte, so weit sei er noch nicht.

«Das ist klar. Üben Sie mit drei Posten. Mit zwei kommen Sie ja prima hin.«

Ein Posten ist die Menge Glasschmelze, die man mit der Glaspfeife dem Ofen entnimmt. Ein Posten kann beliebig groß sein, je nach Geschick und Körperkraft des Glasmachers. Der Umgang mit der schweren Glasmasse strengt an.

Da in Reisekoffern meist wenig Platz ist, wurde bei Logan Glas wenig Ware verkauft, die aus mehr als drei Posten bestand. Pamela Jane hatte den Schwung nach oben und die Blastechnik nie so recht gemeistert. Irish würde bei aller Begeisterung niemals ein erstklassiger Glasmacher werden. Bei Hickory indes hatte ich Hoffnung. Er war geschickt und vor allem furchtlos.

Glasbläser sind gemeinhin eingebildet, vornehmlich weil ihre Kunst so schwer zu lernen ist. Bei Hickory waren bereits Anzeichen von Arroganz zu erkennen, aber wenn er sich im Fach einen Namen machte, würde man ihm das nachsehen müssen. In meinem Fall hatte mein (denkbar arroganter) Onkel darauf bestanden, daß ich zunächst und vor allem Bescheidenheit lernte, und er hatte mich erst an seinen Schmelzofen herangelassen, als ich das letzte bißchen» Großspurigkeit«, wie er es nannte, abgeschüttelt hatte.

Die Großspurigkeit war nach seinem Tod regelmäßig wieder durchgeschlagen, und jedesmal war ich darüber beschämt gewesen. Nach etwa zehn Jahren hatte ich sie zwar in den Griff bekommen, aber wahrscheinlich mußte ich mein Leben lang auf der Hut sein.

Irish hatte es sich angewöhnt, den Tee zu kochen, den wir aus großen Bechern tranken, um den Flüssigkeitsverlust bei der Arbeit am Ofen auszugleichen. Ich setzte mich auf eine Kiste und stillte meinen Durst, und bis zum Feierabend sah ich meinen Schüler beträchtliche Fortschritte machen, wenn es auch zwischen den Erschöpfungspausen Flüche hagelte und jede Menge Glas zu Bruch ging.

Nur wenige Kunden unterbrachen den Unterricht, und gegen fünf an diesem tristkalten Januarnachmittag schickte ich meine drei Helfer nach Hause und erledigte schweren Herzens einige längst überfällige Büroarbeit. Die an Silvester gestohlenen Einnahmen hinterließen ein böses Loch in dem sonst lebhaften Saisongeschäft. Es fiel mir nicht schwer, die Verlustzahlen nach einer Weile beiseite zu legen und zu den Büchern zu greifen, die ich Martin geliehen hatte.

Mein liebstes von allen historischen Trinkgläsern war ein glutroter Kelch, sechzehneinhalb Zentimeter hoch, geschaffen um 300 v. Chr. (ziemlich alt also, vom Jahr 2000 aus betrachtet). Er bestand aus Glasklumpen, die ein ausgefeiltes goldenes Gitternetz zusammenhielt (die Glasbläserei war damals noch nicht erfunden), und leuchtete grün bei einem bestimmten Lichteinfall. Beim Durchblättern der ersten Seiten eines der Bücher freute ich mich wie gewohnt an einem Foto dieses Kelches, ein Wunderding genau wie ein paar Seiten weiter hinten der >Kretische Sonnenaufgangs die herrliche Halskette aus Gold und blauem Glas, die ich in tagelanger Arbeit einmal nachgebildet hatte. Ich war müde, und das Buch begann mir von den Knien zu rutschen und wäre beinah auf den blanken Steinboden geschlagen, doch zum Glück bekam ich es noch zu fassen, ehe der Prachtband Schaden nahm.

Erleichtert, aber auch ungehalten über meine Nachlässigkeit, ermahnte ich mich, auf das gute Stück besser achtzugeben, und bemerkte zuerst gar nicht den gelben Briefumschlag, der zu meinen Füßen lag. Ich stutzte, dann wurde ich neugierig, legte den Bildband behutsam zur Seite und hob das neu aussehende Kuvert auf, das, wie ich annahm, zwischen den Seiten gesteckt hatte und herausgefallen war, als ich das Buch abfing.

Der Briefumschlag aus meinem Buch war per Computer nicht an mich, sondern an Jockey Martin Stukely adressiert.

Ich hatte keinerlei Bedenken, den aus einer Seite bestehenden Brief herauszunehmen und zu lesen.

Lieber Martin,

Sie haben recht, so ist es am besten. Ich werde die Kassette wie gewünscht an Silvester zum Pferderennen nach Cheltenham mitbringen.

Diese Informationen sind Sprengstoff.

Geben Sie gut darauf acht.

Victor Waltman Verity

Auch der Brief war computergeschrieben, wobei sich der als Unterschrift gesetzte Name in der Schriftart unterschied. Keine Absenderadresse, keine Telefonnummer, doch auf dem frankierten Kuvert war ein runder Poststempel schwach zu erkennen. Mit Hilfe eines Vergrößerungsglases entzifferte ich in der oberen Hälfte ein» xet «und in der unteren ein» evo«. Nur das Datum ließ sich trotz Farb-schwund ohne weiteres lesen.

Der Brief war am 17.12.99 abgeschickt worden.

17. Dezember. Vor noch nicht einem Monat.

xet

evo

Gar so viele Orte mit einem X im Namen gab es in Großbritannien nicht, und für die beiden Buchstabenkombinationen schien mir nur Exeter, Devon, in Frage zu kommen.

Über die Telefonauskunft erfuhr ich, daß es tatsächlich einen Victor Verity in Exeter gab. Eine geisterhafte Stimme sagte:»Die gewünschte Rufnummer ist…«Ich schrieb mit, aber als ich die Nummer wählte, meldete sich nicht Victor Verity, sondern seine Witwe. Ihr lieber Victor war im vergangenen Sommer gestorben. Der falsche Verity-

Ich fragte die Auskunft noch einmal.

«Bedaure«, sagte eine Stimme, die sich eher forsch als bedauernd anhörte,»sonst ist kein Victor oder V. Verity in Devon oder zumindest im Fernsprechbereich Exeter und Umgebung verzeichnet.«

«Und wenn es eine nicht verzeichnete Nummer ist?«

«Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«

Victor Waltman Verity besaß entweder eine Geheimnummer, oder er hatte den Brief fern von zu Hause aufgegeben.

Leise fluchend warf ich einen Blick auf die leider erst halb erledigte Abrechnung auf meinem Computer, und da lag natürlich die Antwort. Computer. Internet.

Das Internet konnte neben anderen Zaubereien fast jedem beliebigen Namen weltweit eine Adresse zuordnen. Ich gab meine Kennummer und mein Paßwort ein, wartete hoffnungsvoll und ging im Geist Möglichkeiten durch, während der Computer rodelte, bis eine Verbindung hergestellt war.

Bald darauf kam mir eine Web-Adresse in den Sinn, aber ich tippte sie ohne sonderliche Überzeugung: www.192. com.

192. com war richtig.

Ich suchte nach Verity in Devon, und dienstfertig präsentierte mir das Internet, nachdem es sämtliche allgemein zugänglichen Daten wie etwa die Wählerverzeichnisse durchforstet hatte, zweiundzwanzig in Devon wohnhafte Veritys, doch keiner davon hieß Victor.

Sackgasse.

Ich versuchte es mit Veritys in Cornwall: sechzehn, aber immer noch kein Victor.

Versuch’s mit Somerset, dachte ich. Kein Victor Verity weit und breit.

Bevor ich meine Suche abbrach, kämmte ich noch die Liste durch und stellte fest, daß in 19 Lorna Terrace, Taunton, Somerset, ein Mr. Waltman Verity wohnte. Einen Versuch ist es wert, dachte ich.

Bewaffnet mit der Adresse, rief ich erneut die Auskunft an, und auch diesmal wurde die» Auskunft «mir höflich verweigert. Geheimnummer. Bedaure. Nichts zu machen.

Auch am Sonnabend, der reichlich Kunden brachte, kehrten meine Gedanken immer wieder nach Taunton zu Victor Waltman Verity zurück.

Taunton… Da ich am Sonntag weiter nichts Dringendes zu tun hatte, nahm ich am nächsten Morgen einen Zug nach Westen und fragte mich in Taunton nach Lorna Terrace durch.

Ganz gleich, wie ich mir Victor Waltman Verity vorgestellt hatte, ich lag auf jeden Fall daneben. Victor Waltman Verity war gerade mal fünfzehn.

Die Tür des Hauses Nr. 19 wurde von einer mageren Frau in Hose, Pullover und Pantoffeln geöffnet, die eine Zigarette in der Hand hielt und große rosa Lockenwickler im Haar trug. Mitte Dreißig, höchstens vierzig, dachte ich.

Unbekümmert, ließ sich von fremden Besuchern nicht aus der Fassung bringen.

«Ehm… Mrs. Verity?«fragte ich.

«Ja. Was gibt’s?«Sie zog gelassen an der Zigarette.

«Mrs. Victor Waltman Verity?«

Sie lachte.»Ich bin Mrs. Waltman Verity, Victor ist mein Sohn.«Über ihre Schulter hinweg rief sie ins Innere des schmalen Reihenhauses:»Victor, hier ist jemand für dich«, und während wir darauf warteten, daß Victor erschien, musterte Mrs. Verity mich eingehend vom Scheitel bis zu den Turnschuhen und kicherte weiter vergnügt vor sich hin.

Victor Waltman Verity kam leise aus dem schmalen Hausflur und betrachtete mich neugierig, aber, wie mir schien, vielleicht auch eine Spur bestürzt. Er war so groß wie seine Mutter, so groß wie Martin. Er hatte braunes Haar, hellgraue Augen und trat auf, als wüßte er, daß er den Erwachsenen an Klugheit nicht nachstand. Wie sich zeigte, war er gerade im Stimmbruch, ein kieksiges Übergangsstadium, und das weiche Kindergesicht war dabei, männliche Konturen anzunehmen.

«Was hast du wieder ausgefressen, Vic?«fragte seine Mutter, und zu mir sagte sie:»Es ist saukalt hier draußen. Wollen Sie nicht reinkommen?«

«Ehm«, sagte ich. Ich war zwar eher verblüfft als kältescheu, aber sie wartete keine Antwort ab, sondern ging an dem Jungen vorbei und verschwand hinter ihm im Haus. Ich zog den an Martin adressierten Brief aus der Tasche, und prompt gewann Victors Bestürzung die Oberhand über seine Neugier.

«Daß Sie mich ausfindig machen, war nicht vorgesehen«, rief er,»und außerdem sind Sie tot.«»Ich bin nicht Martin Stukely«, sagte ich.

«Ach so. «Ein ausdrucksloser Blick.»Nein, natürlich nicht. «Verwirrung setzte ein.»Ich meine, was wollen Sie denn?«

«Zunächst mal«, sagte ich unverblümt,»würde ich gern die Einladung deiner Mutter annehmen.«

«Was?«

«Ins Warme zu kommen.«

«Ah. Klar. In der Küche ist es am wärmsten.«

«Dann mal los.«

Er zuckte die Achseln, zog die Tür hinter mir zu und führte mich an der Treppe vorbei ins Herz aller derartigen Reihenhäuser, den Raum, in dem sich das Leben abspielte. In der Mitte ein Tisch mit einem gemusterten Wachstischtuch und vier ungleichen Stühlen drum herum, daneben eine vollgekramte Küchenkommode. Ein Fernseher stand schief auf einem Abtropfbrett, auf dem sich ringsherum ungespültes Geschirr stapelte, und der Fußboden war mit karierten Vinylfliesen ausgelegt.

Bei aller Unordnung war der Raum hell und frisch gestrichen und hatte nichts unangenehm Schmuddliges an sich. Gelb war der vorherrschende Eindruck.

Mrs. Verity saß auf einem der Stühle, kippelte auf ihm herum und rauchte in tiefen Zügen, als ernährte sie sich davon.

«Uns besuchen alle möglichen Leute wegen Vic und seinem komischen Internet«, sagte sie freundlich.»Würde mich nicht wundern, wenn eines Tages noch ein waschechter Flaschengeist erscheint. «Sie wies zerstreut auf einen Stuhl, und ich setzte mich hin.

«Ich war mit Martin Stukely befreundet«, erklärte ich und fragte Vic, was auf der Kassette war, die er Martin nach Cheltenham gebracht oder geschickt hatte.

«Tja, also, es gibt keine Kassette«, antwortete er kurz.

«Ich bin nicht in Cheltenham gewesen.«

Ich nahm Martins Brief aus dem Kuvert und zeigte ihn ihm.

Er zuckte erneut die Achseln, las ihn und gab ihn mir zurück.

«Das war nur ein Spiel. Ich hab die Kassette erfunden.«

Trotzdem war er nervös.

«Was für Informationen waren denn da Sprengstoff?«

«Na, gar keine. «Er wurde ungeduldig.»Ich sag doch, ich hab das erfunden.«

«Warum hast du sie Martin Stukely geschickt?«

Ich achtete darauf, daß sich meine Fragen nicht zu aggressiv anhörten, aber aus Gründen, die ich nicht ahnte, verschloß er sich und bekam rote Wangen.

«Um was für eine Kassette geht’s denn da?«fragte mich seine Mutter.»Meinen Sie eine Videokassette? Vic hat keine Videos. In den nächsten Tagen bekommen wir allerdings einen Recorder, dann sieht das schon anders aus.«

Ich holte die fällige Erklärung nach.»Jemand hat Martin in Cheltenham eine Videokassette zukommen lassen. Martin gab sie dem Jockeydiener Ed Payne zur Aufbewahrung, und Ed gab sie an mich weiter, aber sie wurde mir gestohlen, bevor ich sehen konnte, was drauf war. Dann wurden sämtliche Videobänder aus Martins Wohnung gestohlen und danach sämtliche Videos aus meiner Wohnung.«

«Jetzt kommen Sie mir bloß nicht damit, daß Vic etwas gestohlen hätte. Ich versichere Ihnen, er klaut nicht.«

Mrs. Verity hatte einen Satz von mir falsch aufgefaßt und im übrigen nicht genau zugehört, so daß auch sie jetzt gereizt reagierte, und ich versuchte zwar einzulenken und sie zu beschwichtigen, aber ihre gute Laune war verdorben und mein Bleiben nicht mehr erwünscht. Sie drückte ihre Zigarette aus, statt sich eine neue daran anzuzünden, und bedeutete mir, indem sie aufstand, unmißverständlich, daß es Zeit sei zu gehen.

«Ruf mich an«, sagte ich freundlich zu Victor und schrieb ihm, obwohl er den Kopf schüttelte, meine Han-dynummer auf den Rand einer Sonntagszeitung.

Dann verließ ich 19 Lorna Terrace, ging ohne Eile die Straße entlang und dachte über zwei merkwürdige offene Fragen nach.

Erstens, wie war Victor überhaupt an Martin geraten?

Zweitens, wieso hatte weder Mutter noch Sohn nach meinem Namen gefragt?

Lorna Terrace machte einen scharfen Knick nach links, so daß Nummer 19 hinter mir außer Sicht verschwand.

Ich blieb stehen und überlegte, ob ich nicht umkehren sollte. Mir war klar, daß ich mich nicht besonders geschickt angestellt hatte. Ich war losgezogen in der Erwartung, vielleicht nicht mühelos, aber doch ohne allzu großen Aufwand das Geheimnis der Videokassette zu lüften. Jetzt hatte ich den Eindruck, eher noch weniger zu wissen als vorher.

Unentschlossen trödelte ich herum und verpaßte den Zug, mit dem ich zurückfahren wollte. Glas blasen konnte ich ja, aber als Sherlock Holmes taugte ich wenig. Ein beschränkter Dr. Watson war ich. Es wurde dunkel, und ich kam erst spät zurück nach Broadway, hatte aber wenigstens das Glück, daß ein Nachbar, der auch im Zug saß, mich vom Bahnhof aus mit in den Ort nahm.

Ohne Martin, dachte ich deprimiert, würde ich mich entweder auf Autostopp verlegen müssen oder ein Vermö-gen für Taxis ausgeben. Meine Lizenz zum Rasen durfte ich erst in einundachtzig Tagen zurückverlangen.

Ich winkte dem freundlichen Dorfbewohner dankend nach, als er davonfuhr, langte nach meinem Schlüsselbund und stapfte auf die Galerietür zu. Sonntagabend. Kein Mensch zu sehen. Logan Glas erstrahlte in hellem Licht.

Ich hatte noch nicht gelernt, vor Schatten auf der Hut zu sein. Schwarze Gestalten tauchten aus dem tiefen Eingang des Antiquariats nebenan auf und kamen hinter den Mülleimern hervor, die für Montagmorgen herausgestellt worden waren.

Vermutlich waren es vier, die da im Dunkeln herumhuschten; ein Eindruck, gezählt habe ich sie nicht. Vier waren jedenfalls reichlich. Drei, zwei, vielleicht sogar einer hätte den Job erledigen können. Sie warteten da offenbar schon lange, und sie hatten die Nase voll davon.

Ich war auf einen neuerlichen Überfall nicht gefaßt gewesen. Die Erinnerung an den orangen Behälter mit Cy-clopropan war verblaßt. Die Gasflasche war, wie ich bald feststellte, leichter zu verschmerzen gewesen als die Lektion, die mir jetzt erteilt wurde. Ich bezog heftigste Prügel von allen Seiten und wurde dreimal gegen die unebene Mauer aus Cotswoldsteinen geknallt, die das Antiquariat mit meinem Laden verband.

Von den Schlägen benebelt, hörte ich wie aus der Ferne die Aufforderung, Informationen herauszugeben, von denen ich wußte, daß ich sie nicht besaß. Das versuchte ich zu erklären. Niemand hörte mir zu.

All das war schon ärgerlich genug, aber erst ihr zweites, zusätzliches Ziel setzte abrupt mein Selbstschutzprogramm in Gang und aktivierte halb verlernte Kickboxtechniken, die ich noch aus meiner Jugend kannte.

Anscheinend ging es ihnen nicht nur einfach ums Zusammenschlagen, denn eine hohe, aufgeregte Stimme gab immer wieder ausdrücklich Anweisung:»Brecht ihm die Handgelenke. Na los, brecht ihm die Handgelenke!«Und später frohlockte die gleiche Stimme aus der Dunkelheit:»Der ist hinüber.«

Aber sie sollte sich irren. Schmerz kroch mir den Arm hinauf. Ich dachte Gotteslästerliches. Ein Glasmacher war auf gesunde, kräftige, elastische Handgelenke ebensosehr angewiesen wie ein Turner an den Ringen.

Zwei der agilen schwarzen Gestalten schwangen Baseballschläger. In einem erkannte ich an den überentwickelten Schultern Norman Osprey. Als ich nachher zusammengekrümmt auf dem Gehsteig lag und zurückdachte, entsann ich mich, daß einer der beiden Keulenschwinger auf die glorreiche Idee gekommen war, meine Finger glatt an die Wand zu drücken, während sein Kollege mit dem Schlagholz eine Handbreit drunter zielte.

Ich hatte zu viel zu verlieren, und ich hatte nicht gewußt, wie verzweifelt man sich wehren kann, wenn es ums Ganze geht. Die Handgelenke wurden mir nicht gebrochen, nur meine voll getroffene Armbanduhr zerbarst und blieb stehen. Ich hatte überall Beulen und Blutergüsse. Rißwunden. Schrammen. Genug. Aber meine Finger waren heil, und das allein zählte.

Vielleicht hätte ich eine frische Grube neben Martin bezogen, wenn die Bambule ihren Lauf genommen hätte, aber Broadway war keine Geisterstadt im Wilden Westen, sondern ein Ort, wo die Leute sonntagabends ihre Hunde ausführten, und ein Hundehalter war es dann auch, der meine Angreifer anschrie und dank seiner drei Dobermänner, die bellend und zähnefletschend an ihrer Leine zerrten, erreichte, daß die dunklen Gestalten schleunigst umdisponierten und so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren.

«Gerard Logan!«Der großgewachsene Hundehalter, der sich verblüfft über mich beugte, kannte mich, genau wie ich ihn, vom Sehen.»Alles in Ordnung?«

Nichts war in Ordnung.»Ja«, sagte ich, wie man das so tut.

Er half mir auf die Beine, obwohl ich eigentlich nur den Wunsch hatte, mich auf einer weichen Matratze auszustrecken.

«Soll ich die Polizei rufen?«fragte er, dabei war er keineswegs ein Freund der Ordnungshüter; weit entfernt davon.

«Tom… vielen Dank. Aber keine Polizei.«

«Was war denn da los?«Er hörte sich erleichtert an.»Sind Sie in Schwierigkeiten? Das sah mir nach einem Racheakt aus.«

«Ein Raubüberfall.«

Tom Pigeon, der das Leben einigermaßen von seiner rauhen Seite kannte, sah mich halb lächelnd, halb enttäuscht an und nahm seine hungrigen Lebensretter kürzer an die Leine. Sie seien eher laut als bissig, hatte er mir einmal versichert. Ob man ihm das glauben konnte?

Er selbst sah aus, als brauchte er nicht laut zu werden. Man spürte, daß er Kraft hatte, obwohl er weder stiernak-kig noch besonders breitschultrig war, und sein kurzgeschnittener dunkler Spitzbart ließ ihn älter und weitaus gefährlicher erscheinen als Altersgenossen wie mich.

Tom Pigeon sagte mir, ich hätte Blut in den Haaren, und wenn ich ihm meinen Schlüssel gäbe, würde er mir die Tür aufschließen.

«Den habe ich fallen lassen«, sagte ich und lehnte mich vorsichtig gegen die Bruchsteinmauer. Alles schwamm und drehte sich mir vor den Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so groggy gewesen zu sein, und noch nicht einmal, als ich bei einem ausgesprochen unfreundlichen Rugbymatch in der Schule zuunterst im Gedränge gelandet war und mir das Schulterblatt gebrochen hatte, war mir so speiübel gewesen.

Tom Pigeon suchte, bis er mit dem Fuß gegen meine klirrenden Schlüssel stieß. Er schloß die Galerietür auf, legte mir den Arm um die Taille und brachte mich bis zur Schwelle. Seine Hunde blieben aufmerksam bei Fuß.

«Mit den Tieren komme ich besser nicht in Ihr Glashaus, hm?«sagte er.»Wird es jetzt gehen?«

Ich nickte. Er lehnte mich gegen den Türrahmen und ließ mich erst los, als er sicher war, daß ich mich auf den Beinen halten konnte.

Tom Pigeon hatte im Ort den Spitznamen Konter, den er seiner Schlagfertigkeit und seinen ebenso schnellen Fäusten verdankte. Er hatte unversehrt achtzehn Monate Gefängnis wegen schweren Einbruchs überstanden und sich als abgebrühter Teufelskerl zurückgemeldet, von dem man voll Ehrfurcht sprach. Zwielichtig oder nicht, er hatte mich unzweifelhaft gerettet, und ich fühlte mich durch seine Hilfsbereitschaft außerordentlich geehrt.

Er wartete, bis ich mich leidlich unter Kontrolle bekam, und blickte mir scharf in die Augen. Was ich in seinen sah, war nicht direkt Freundschaft, aber so etwas wie ein Wiedererkennen.

«Schaffen Sie sich einen Pitbull an«, sagte er.

Ich betrat meinen hell erleuchteten Laden und sperrte die gewalttätige Welt aus. Schade, daß ich die erlittenen Bles-suren nicht ebenso leicht aussperren konnte. Schade, daß ich mir so blöd vorkam. Daß ich so wütend und so wacklig war. Vor allem aber, daß ich so gar nicht wußte, was gespielt wurde.

Im hinteren Teil der Werkstatt gab es fließendes Wasser zum Gesicht- und Händewaschen und einen bequemen Sessel zum Ausruhen und Entspannen. Ich setzte mich und ächzte eine Weile, dann rief ich das Taxiunternehmen an und erfuhr, daß sie diesen Samstag und Sonntag leider keine Kapazitäten mehr frei hätten, mich aber auf die Dringlichkeitsliste setzen würden… ja, danke… ja, bitte… ja, gut. Ich hätte einen doppelten Cyclopropanshake mit Eis gebrauchen können. Worthington fiel mir ein, aber als ich ihn anrief, kam Bon-Bon an den Apparat.

«Gerard, mein Lieber. Ich bin so allein. «Sie schien wirklich, wie ihr ältester Sohn sich ausgedrückt hätte, voll auf Trauer zu sein.»Kannst du nicht vorbeikommen und mir Gesellschaft leisten? Worthington holt dich auch ab, und nach Hause fahre ich dich selbst. Versprochen.«

Ich sagte bedauernd, ich wolle sie nicht mit meiner Grippe anstecken, und tat den ganzen unbefriedigenden Abend lang so gut wie gar nichts mehr. Worthingtons Warnung vor der Fliegenfalle ging mir nach. Ich schätzte Bon-Bon als Freundin, wollte sie aber nicht zur Frau.

Gegen halb elf schlief ich in dem weichen Sessel ein, und eine halbe Stunde darauf weckte mich die Türglocke.

Ich mußte erst überlegen, wo ich war, fühlte mich elend, konnte kaum aufstehen und wollte es auch gar nicht.

Es läutete weiter. Ich war immer noch schlapp, stand aber schließlich mit wackligen Beinen auf und ächzte zur Werkstatt hinüber, um nachzusehen, wer um diese Zeit was von mir wollte. Trotz der üblen Abreibung, die ich bekommen hatte, war ich auch jetzt noch nicht so schlau, mich vorsichtshalber zu bewaffnen.

Allerdings entpuppte sich meine späte Besucherin als ziemlich harmlos. Und als willkommen. Wenn sie mich jetzt noch küßte und mich in den Arm nahm, dachte ich, wäre das genau die richtige Medizin.

Kommissarin Catherine Dodd nahm den Finger vom Klingelknopf, als sie mich sah, und lächelte erleichtert, als ich sie hereinließ.

«Wir haben zwei Anrufe aus dem Ort bekommen«, sagte sie als erstes.»Beide Zeugen haben offenbar beobachtet, wie Sie hier vor der Tür überfallen worden sind. Aber Sie selbst haben uns nicht verständigt, obwohl es aussah, als könnten Sie sich kaum noch auf den Beinen halten… na, jedenfalls dachte ich, ich schaue auf der Heimfahrt mal bei Ihnen vorbei.«

Sie trug wieder ihren ledernen Motorradanzug und hatte die Maschine am Bordstein geparkt. Wie schon einmal nahm sie mit einer routinierten Bewegung den Helm ab und schüttelte die rotblonde Mähne frei.

«Einer der Zeugen«, ergänzte sie,»will gesehen haben, daß Ihr Angreifer Tom Pigeon war, mit seinen Hunden. Der Mann ist ein verdammter Quälgeist.«

«Nein, im Gegenteil. Er hat die Quälgeister vertrieben. Wirklich böse Quälgeister.«

«Würden Sie sie wiedererkennen?«

Ich deutete mit einer Handbewegung an, daß ich mir nicht sicher war, führte sie zerstreut von der Galerie zur Werkstatt und bot ihr den Sessel an.

Sie betrachtete den Sessel, betrachtete die Schweißperlen, die ich auf meiner Stirn spürte, und setzte sich auf die Bank, die sonst Irish, Hickory und Pamela Jane vorbehalten war. Dankbar ließ ich mich in den weichen Sessel sinken und antwortete vage auf ihr Wer und Warum, ohne zu wissen, ob sie nun dienstlich oder einfach aus Neugier danach fragte.

«Gerard«, sagte sie,»ich habe schon öfter Leute in Ihrem Zustand gesehen.«

«Die Armen.«

«Seien Sie mal ernst, das ist nicht komisch.«

«Tragisch aber auch nicht.«

«Warum haben Sie meine Kollegen nicht gerufen?«

Tja, dachte ich, gute Frage.

«Weil ich nicht genau weiß, wer mich im Visier hat und weshalb«, sagte ich leichthin,»und weil ich jedesmal, wenn ich meine, weitergekommen zu sein, feststelle, daß ich immer noch im dunkeln tappe. Ihre Kollegen mögen keine Ungewißheit.«

Darüber dachte sie einen Moment nach.

«Dann erzählen Sie mir, was los ist«, sagte sie.

«Jemand sucht etwas, das ich nicht habe. Ich weiß nicht, was. Und ich weiß nicht, wer es sucht. Wie hört sich das an?«

«Das ergibt keinen Sinn.«

Ich verzog das Gesicht und machte ein Lächeln daraus.

«Eben. Es ergibt keinen Sinn. «Aber dafür, dachte ich mit bissigem Humor, habe ich wenigstens Bon-Bon und den Drachen, vor denen ich mich hüten muß, und ich hätte gern Kriminalkommissarin Dodd, weiß aber nicht, ob ich sie kriegen kann, und ich habe Tom Pigeon und Worthington als Schutzengel, Rose Payne alias Robins als mögliche Verdächtige und als Informant den jungen Victor Walt-man, der entweder nichts sagen kann oder nichts sagen will.

Was aber den epileptischen Lloyd Baxter anging, den Videos verwahrenden und Videos weitergebenden Eddie Payne, den 1894er Buchmacher Norman Osprey mit den Gorillaschultern oder die liebe, überdrehte Marigold, die oft schon vor dem Frühstück und regelmäßig vor dem Mittagessen stramm war, so konnten sie alle etwas mit Kassetten im Sinn haben und mehr darüber wissen, als ich mir träumen ließ.

Kommissarin Dodd zog die Augenbrauen hoch, so daß sich Falten auf ihrer glatten hellen Haut abzeichneten, und da die Fragestunde noch nicht zu Ende schien, sagte ich ohne Überleitung:»Sind Sie verheiratet?«

Sie sah ein paar Sekunden lang auf ihre ringlosen Hände, bevor sie zurückgab:»Wieso fragen Sie?«

«Sie haben diese Ausstrahlung.«

«Er ist tot.«

Sie schwieg eine Weile, dann erwiderte sie ruhig meine Frage:»Und Sie?«

«Noch nicht«, antwortete ich.

Stille kann mitunter sprechen. Sie lauschte auf das, was ich wahrscheinlich bald fragen würde, und wirkte zufrieden und entspannt.

Die Werkstatt war wie immer durch den Glasofen beheizt, auch wenn nachts und sonntags ein großer feuerfester Schirm das dröhnende Feuer in Schach hielt.

Als ich jetzt Catherine Dodds Gesicht über der engen dunklen Lederkleidung betrachtete, sah ich sie ganz deutlich in Glas vor mir — so klar und deutlich, daß der Wunsch, der Impuls, sofort ans Werk zu gehen, sich nicht zurückdrängen ließ. Ich stand auf, rückte den Schutzschirm auf die Seite und entriegelte die Schiebetür, die Zugang zu der Glasschmelze im Hafen bot.

Ich stellte die Zeitschaltuhr aus, damit auch nach zwölf noch das Licht anblieb, und zog Jacke und Hemd aus, um wie gewohnt im Unterhemd, mit blanken Armen zu arbeiten.

«Was machen Sie denn?«Sie hörte sich bestürzt an, aber dazu bestand kein Anlaß.

«Ein Porträt«, sagte ich.»Halten Sie still. «Ich drehte die Ofentemperatur auf, suchte mir die nötigen Glasmacherpfeifen heraus und legte, weil ich Schwarz brauchte, eine hinreichende Menge Manganpulver bereit.

«Aber Ihre Prellungen…«, wandte sie ein.»Die blauen Flecke. Das sieht ja schrecklich aus.«

«Die spüre ich nicht.«

Ich spürte wirklich nichts außer der seltenen Erregung, die mit der Inspiration einhergeht. Wie oft hatte ich mich schon an Glasschmelze verbrannt und nichts davon gespürt. An diesem Sonntagabend nahmen das Bild von der Fahnderin, die wie durch dunkles Glas Einsicht in die Taten anderer erlangt, und die Hoffnung, das Gute könnte sich über das Böse erheben, mich so sehr gefangen, daß meine Wunden und meine Schmerzen nicht nur gestillt, sondern praktisch aus der Welt waren, bis die Flamme der Eingebung ihr Werk getan hatte. Manchmal hatten solche inneren Bilder während der Gestaltung ihre Überzeugungskraft verloren und waren zu Asche geworden, und wenn das geschah, ließ ich das mißlungene Stück auf der Bank stehen, statt es behutsam in den Kühlofen zu stellen. Nach einiger Zeit zerstörte es sich dann durch die unaufgelösten Materialspannungen selbst und ging mit einem dramatischen Krachen zu Bruch — zerbarst, zersprang in lauter Scherben.

Manchen Zuschauern war es etwas unheimlich mit anzusehen, wie ein scheinbar fester Gegenstand ohne ersichtlichen Grund in Stücke ging. Mir zeigte sein Zerspringen lediglich, daß die Grundidee nicht klar und nicht stark genug gewesen war. An diesem Sonntag aber gab es für mich kein Zaudern, kein Überlegen, und ich hantierte mit

Glasposten, die, auch wenn ich fit gewesen wäre, meine ganze Kraft beansprucht hätten.

An diesem Abend gestaltete ich Catherine Dodd in drei Teilen, die später zusammengefügt werden sollten. Ich formte kein lebensechtes Porträt ihres Kopfes, sondern ein symbolisches Abbild ihrer beruflichen Tätigkeit. Es kam im wesentlichen auf ein weit geöffnetes Flügelpaar hinaus, der eine Flügel schwarz und glänzend, ausgreifend von einer schwarz-weiß-transparenten Mitte, die zweite Schwinge ein schimmernd golddurchsträhnter, steiler Bogen.

Das Gold faszinierte mein Modell.

«Ist das echtes Gold?«

«Eisenpyrit. Echtes Gold würde genauso schmelzen… aber ich habe meinen ganzen Vorrat vor acht Tagen aufgebraucht.«

Behutsam hüllte ich die zerbrechliche zweite Schwinge in hitzebeständigen Faserstoff und legte sie vorsichtig in einen der sechs Kühlöfen, und da erst, als alle drei Teile unbeschadet abkühlten, nahm ich die kaum noch erträgliche Anspannung in meinen Gliedern wahr und meinte selbst zu zerspringen.

Catherine stand auf und brauchte eine Weile, bis sie etwas sagen konnte. Schließlich räusperte sie sich und fragte, was ich mit dem fertigen Flügelpaar vorhätte, und ich, der vom schöpferischen Höhenflug wieder zurück auf die Erde kam, hielt mich, wie schon öfter bei solchen Gelegenheiten, ans Greifbare und antwortete, wahrscheinlich würde ich einen Sockel dafür machen und es mit ein, zwei Spots beleuchten, damit seine Form in der Galerie gut zur Geltung kam.

Wir schauten uns an, als wüßten wir beide nicht, was wir noch sagen sollten. Ich beugte mich vor und küßte sie auf die Wange, dann machten wir beide durch kleine Bewegungen einen Mundkuß daraus, der durchaus schon Leidenschaft enthielt, die aber noch nicht überströmte.

Motorradkleidung ist bei einer Umarmung eher hinderlich. Außerdem ließen meine Schmerzen mich unwillkürlich zusammenzucken, und so löste sie sich mit trauriger Belustigung von mir und meinte:»Vielleicht ein andermal.«

«Laß das >vielleicht< weg«, antwortete ich.

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